Aus Tamara Bach, Jetzt ist Hier

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Aus Tamara Bach, Jetzt ist Hier
Seite 181-203
Die Gelben Seiten sagen, dass das nächste Geschäft Brittas Blumenladen in der Leopoldstraße ist.
Bowie zieht sich an, steckt den Schein in seine Geldbörse. Bowie steht an der offenen Haustür, als er
die Jacke schließen will und sein Schal über seiner Schulter liegt. Bowie hält inne. Warm, denkt er. Er
richtet sich auf, lässt versuchsweise die Jacke offen, es reicht, es ist warm, da ist ein leichter Wind, der
einem nicht die obere Hautschicht vom Gesicht abpellt wie letzte Woche, der sich leicht und weich an
ihm vorbeischlängelt, peripher. Und Sonne. Bowie lässt die gefütterten Handschuhe auf der Anrichte
liegen und entspannt die Schultern nach Wochen der Kälte, denn die Schultern bleiben endlich mal
unten, klemmen nicht seinen Kopf zwischen sich ein.
Bowie beschließt, nicht den Bus zu nehmen, heute geht er die paar Meter. Bowie taut an. Sieht zu
seinen Füßen Pfützen, nur noch Wasser, das langsam dem Rinnstein entgegenfließt.
In Brittas Blumenladen ist die Luft schwül und riecht nach Moos und feuchter Rinde. Eine Frau in
grüner Schürze steht hinter einem braunen langen Tisch, schneidet Blumen für eine Frau im Mantel
zurecht.
»Noch ein bisschen Schleierkraut dazu?«, fragt die Schürze.
»Ja bitte«, sagt der Mantel.
Bowie schaut auf die Hände der Schürze. Keiner sagt was, Bowie wird hypnotisiert. Die Art, wie
Menschen Abläufe vollziehen, die so in der Art schon tausendmal vollzogen wurden, die Routine,
Eleganz, irgendwie so was. Es wird bezahlt, beim Rausgehen raschelt ein Mantel, klingelt eine
Türglocke, knistert Papier, das Blumen schützt. Bowie tritt nach vorne.
»Was kann ich für dich tun?«, fragt die Schürze, die vielleicht Britta heißt.
»Meine Mutter hat heute Geburtstag«, sagt Bowie geistesabwesend, weil er in einer Ecke Mamas
Lieblingsblumen sieht.
»So einen Sohn hätte ich auch gerne, der sich an den Geburtstag seiner Mutter erinnert und ihr
Blumen kauft.«
Die eventuelle Britta geht auf den Blumenkübel zu, den Bowie anschaut, und Bowie erschrickt.
»Nein!«, ruft er.
Die Frau bleibt ruckhaft stehen.
»Nicht die Tigerlilien?«
»Ich brauche ein Grabgesteck«, sagt Bowie.
Im Laden summt eine Lampe, tröpfelt irgendwo Wasser auf Pflanzen, und draußen auf der Straße
gehen Kinder aus der Krippe mit ihren Eltern nach Hause zum Mittagessen.
»Was macht man denn da so?«, fragt Bowie hilflos.
Wenn Zanker heute kommt, dann wird alles … Wie auch immer es wird. Heute ist Fienchen ein
Mädchen, und heute wird Zanker das auch sehen.
And so be it. Moment mal, was heißt eigentlich »später«? Zanker hat gesagt, er macht Hausarbeiten.
Vielleicht danach. Wenn er mit seinen Aufgaben fertig ist. Zanker könnte Hunger haben. Fienchen
könnte ihm was zu essen machen, ihn nähren, sie könnte was kochen, was er gerne isst. Fienchen
schaut in den Spiegel, hat sich heute mehr Mühe gegeben als gestern, die Haare sind frisch gewaschen,
die Klamotten sauber und ungeknittert, die Klamotten verraten einem, dass Fienchen untendrunter
auch einen Körper hat, und ganz leicht schwebt da ein Duft um Fienchen, einmal Parfüm in die Luft
sprühen, dann durchlaufen.
Also, Essen kochen. Was könnte Zanker essen? Anders gefragt, was gibt es in Fienchens Haushalt
noch zu essen, was man zubereiten könnte? So ein Braten oder so was wäre gut, wenn Fienchen
wüsste, wie das geht. Geht eh nicht, haben sie eh nicht da. Besser keine Experimente. Fienchen schaut
auf die Uhr, denkt, wenn, dann sollte sie jetzt anfangen. Und wenn sie noch nicht fertig ist, wenn
Zanker kommt, auch nicht schlimm, umso besser, sieht er sie beim Kochen, kann nur positiv
rüberkommen, und dann kann sie auch ganz nebenbei fragen, ob er Hunger hat und mitessen will.
Kerzen? Können ja brennen, weil Fienchen es eben gemütlich mag. Wenn es nicht aufgesetzt wäre,
dann würde Fienchen auch einen von Mamas Weinen aufmachen. Nee, geht nicht. Essen, also was
kochen? Da ist noch ein bisschen Gemüse, da sind noch ein paar Garnelen im Gefrierfach und dazu …
Couscous. Fienchen hat die Oberhand über die Nahrungsmittel, die kennt sie, die kann sie klein
schneiden und kochen und alles ist gut. Fienchen drückt ein bisschen Knoblauch in das heiße
Olivenöl.
Bowie soll das Gesteck in einer Stunde abholen. Eigentlich bestellt man so was mindestens zwei Tage
im Voraus. Aber er hat Glück, weil sie gerade Zeit hat. Sagt sie milde. Bowie muss eine Stunde
totschlagen, Grablicht, denkt er, sucht einen Laden, findet einen kleinen Spar. Da sind ganz normale
Kerzen, aber es muss ein Grablicht sein, Wachs in einer roten Plastikhülle. Bowie kauft ein großes.
Das länger brennt. Bowie schaut auf die Uhr und hat gerade mal zehn Minuten rumgekriegt.
Das Wasser kocht. Fienchen nimmt es von der Flamme, rührt das Couscous ein, schaut auf die Uhr,
schaut nach dem Gemüse in der Pfanne. Lauscht, aber die Türklingel klingelt nicht. Was heißt
»später« wohl?
Zanker setzt Kaffee auf, aus dem Zimmer der Eltern riecht er den Geruch frischer Wäsche. Die
Kaffeemaschine beginnt zu blubbern.
Mono will gerade nach Ziska rufen, da steht die schon in der Tür. »Soll ich den Tisch decken?«
»Bist du krank?«
»Nö.«
Mono fühlt sicherheitshalber doch mal die Stirn. Fühlt sich normal an.
»Soll ich den Tisch jetzt decken?«
»Ja bitte«, sagt Mono und wundert sich weiter. Vielleicht haben Außerirdische letzte Nacht seine
Schwester gekidnappt und sie durch einen Klon ersetzt. Das Telefon klingelt, es ist Mama.
»Mono, wann hast du dich denn heute bei den Heilands angemeldet?«
»Um drei soll ich da sein.«
Mama schweigt in Monos Richtung, legt eine Hand auf die Muschel und spricht mit jemand
anderem. Mono hört nur Stimmspuren durch Fingerritzen.
»Gut, ich bin früh genug da.«
Mono atmet auf.
Das Couscous ist fertig gequollen, ist lockerkörnig, lässt sich leicht zwischen dem Gemüse verteilen,
klumpt nicht. Fienchen überlegt, ob sie warten soll. Sitzt am Tisch, die Pfanne vor ihr dampft vor sich
hin. An der Kerze läuft leise ein Wachsrinnsal entlang. Fienchen hält ihren Finger hinein, spürt das
heiße Wachs auf ihrer Haut, tut nicht weh, bleibt nur ein kleiner roter Staudamm.
Kaffee ist ’ne wunderbare Sache, denkt Zanker.
Kaffee wäre nett, denkt Bowie. Die Ecke hier ist ihm relativ unbekannt. Bowie sieht die Straße
entlang, ziemlich öde hier. Bowie zählt einszweidreivier Banken. Sieht eine Frau auf hohen Schuhen
mit Kinderwagen. Kaffee, wo gibt es hier Kaffee, stinknormalen schwarzen Kaffee in einem kleinen
Pappbecher, muss nicht mal Milch drin sein, muss heute nicht mal Zucker rein, nur schwarzes Wasser,
das heiß ist und wach macht. Bowie schaut auf die Uhr, schnauft und biegt um die nächste Ecke.
Fienchen merkt, dass sie Hunger hat. Schaut auf die Uhr. Wägt ab, aber der Körper, der Hunger ist
stark, wird von Minute zu Minute stärker, Fienchen denkt sich, dass sie ja eigentlich noch im
Wachstum ist, scheiß auf Zanker, wegen Zanker wird sie bestimmt nicht noch mal hungern, hat letzten
Sommer allein schon vier Kilo wegen dem Sack abgenommen, und wenn Fienchen Hunger hat, ist sie
schlecht gelaunt, und schlecht gelaunt will sie Zanker auch nicht begegnen. Fienchen zieht den Teller
an die Pfanne ran und gibt sich eine ordentliche Portion.
Zanker gießt sich noch eine Tasse ein.
Bowie gibt es auf. Im nächsten Laden holt er sich eine Cola. Und obwohl es für die Jahreszeit warm
ist, ist die Cola viel zu kalt und lässt ihn kurz frösteln. Bowie sieht eine Bank, diesmal eine, auf die er
sich setzen kann.
Fienchen überlegt. Der Hunger ist zwar weg und da ist noch eine Portion, die noch für einen zweiten
Menschen, der gesagt hat, er würde später vorbeikommen, reichen würde. Aber das war schon sehr
lecker. Und wird ja auch kalt. Fienchen gönnt sich noch eine Portion.
Zanker sitzt am Tisch, hört die Mutter nach Hause kommen, den Bruder, hört, wie die Wohnung sich
wieder mit Familienmitgliedern füllt, die Mutter läuft an ihm vorbei in die Küche, er folgt ihr, hilft ihr
beim Ausladen des Einkaufs, und sie schenkt ihm ein Lächeln dafür. Sagt, in einer halben Stunde gibt
es Essen.
Fienchen stellt die Pfanne zurück in die Küche auf den Herd, der Herd ist kalt, die Flamme aus,
Fienchen stellt den Teller in die Geschirrspülmaschine, nimmt den Löffel, zögert, isst den Rest direkt
aus der Pfanne. Und dann steht Fienchen da und zuckt mal kurz mit den Schultern. Löffel in die
Maschine, Pfanne auch, sie macht die Klappe zu, geht zum Tisch und pustet die Kerze aus.
»Mmh, lecker, Mama«, sagt Zanker.
Die Mutter strahlt und hat keine Augen für den anderen Sohn.
Bowie bewegt sich in Zeitlupe zurück, schlendert, klebt sich vor die wenigen Schaufenster, die hier so
sind, gibt es irgendwann auf. Zurück zum Blumenladen.
Bowie schaut auf die Uhr und ist fast zehn Minuten zu früh dran. Was soll’s, er öffnet die Tür, tritt
ein, die Schürze schaut hoch, schaut hoch von seinem Gesteck. »Hast du ein Glück, ich bin gerade
fertig geworden«, sagt sie, Bowie lächelt halb, reicht den Hunderter über die Theke, sie gibt ihm das
Wechselgeld. »Soll ich es noch einpacken?«, aber Bowie winkt ab. Die paar Meter. Wie einen
Säugling legt sie ihm die Schale in den Arm, vor seinen Blick schieben sich winterresistente Zweige.
Fienchen liegt auf ihrem Bett und fragt sich, was sie mit ihrem Anruf überhaupt erreichen wollte.
Zanker kommt, wann er will, wenn er überhaupt kommt. Das war schon immer so. Wenn er mal an sie
denkt und in der Nähe ist, dann steht er eben vor ihrer Tür und will ihre Zeit, die sie dann mit ihm
teilen muss. Das passiert aber immer nur dann, wenn sie es nicht erwartet. Wenn sie sich nicht darauf
vorbereiten kann. Dann ist er da und alles ist voll mit ihm, dann läuft er durch ihr Zimmer, legt sich
auf ihr Bett, dann fasst er alles einmal an, nur Fienchen nicht. Fienchen liegt da, es ist halb zwei, es ist
Nachmittag, es ist einfach nur Winter. Fienchen legt sich auf die Seite und schließt die Augen.
Selbst in der Straße vor dem Friedhof wickelt sich die Stille schon um Bowie. Hier fährt kein Auto,
hier sind keine Menschen, niemand spricht, nirgendwo geht ein Handy los, keine Alarmanlage, diese
Straße negiert die Großstadt. Der Friedhof ist umschlossen von einer dichten Hecke, Buchsbaum,
akkurat rechteckig geschoren, eine Mauer aus Zweigen und dickhäutigen Blättern, an denen der
Winter abprallt. Davor ein betoniertes Becken, in das die Hinterbliebenen Blumengerippe werfen. Hier
ein Wasserhahn. Unter Bowies Füßen knirscht Schotter. Bowie zieht sich die Kopfhörer über die
Ohren, Let’s go outside, Lieder für den ersten Schnee. Der Schnee ist geschmolzen, das Lied zu
harmonisch. Bowie hat die Hände voll mit Ehrerbietung, mit einem Zeichen, dass die Verstorbenen
nicht vergessen werden, an den Wegrändern stehen vereinzelt Bänke. Es ist zu kalt, das Holz klamm.
Bowie sucht sich seinen Weg. Steht am Grab, sieht Dürers »Betende Hände«, auf die der Vater
bestanden hat, sieht ein anderes Gesteck, sieht eine andere Kerze brennen, jemand war hier. Oma hat
gestern nicht auf den Anrufbeantworter gesprochen, aber sie war hier. Bestimmt hat sie auf der Bank
hier gesessen, eine Weile, hat dagesessen und es immer noch nicht fassen können, dass ihre Tochter da
liegt, unter dunkler kalter Erde. Bowie stellt die Schüssel ab, die Kerze irgendwo dazu, sucht in seinen
Taschen nach einem Feuerzeug und steckt das Grablicht an.
Da steht einer vor einem Grab. Da steht einer vor Erde und Marmor und nichts davon erinnert an
die, an die es erinnern soll. Er hätte einen Kuchen backen sollen.
Fienchen wird wach, weil sie aufschreckt, weiß aber nicht, warum sie aufschreckt. Fienchen sitzt still
und starr auf ihrem Bett, über den Beinen die Tagesdecke, der Atem geht schneller, das Herz auch,
und lauscht nach einem Einbrecher, nach irgendwas oder irgendwem. Dann klingelt es, und Fienchen
steht zu schnell auf, hat kleine Sterne vor den Augen, taumelt zur Tür, drückt den Summer, öffnet die
Wohnungstür und lauscht in den Hausflur. Jemand läuft mit großen Schritten die Treppe hinauf,
jemand überspringt Stufen, Fienchens Herz mag sich nicht mehr beruhigen. Im zweiten Stock biegt
jemand um die Treppenecke und hat Zankers blonde Haare. Er schaut hoch mit einem atemlosen
Grinsen auf den Lippen, im Vorderhaus sind die Stufen höher als im Seitenflügel. Fienchen hält sich
am Türrahmen fest, schummrig, da ist er. »Hi«, sagt er, und Fienchen fragt: »Wie spät ist es
eigentlich?«
Zanker kommt an. Seine Schultern zucken und Fienchen lässt ihn rein.
Bowie fährt nur ein paar Stationen mit der Straßenbahn, dann ist er da. An einem Tisch sitzt ein Paar,
das bald keines mehr sein wird, an einem anderen Tisch liest eine Frau ein Buch, zwei Omas teilen
sich ein Kännchen Tee.
Bowie geht zum Tresen, neben dem Tresen steht ein Glasschrank mit Kuchen auf fünf Etagen.
Die Bedienung sitzt auf einem Stuhl an der Wand und betrachtet ihre Fingernägel.
»Verzeihung«, sagt Bowie, und sie sieht gelangweilt hoch. »Ich hätte gern ein Kännchen Kaffee
und ein Stück Schneewittchenkuchen.«
Sie nickt in Zeitlupe und überlegt, ob sie aufstehen soll.
Bowie sucht sich einen Tisch am Fenster, kennt den Tisch. »Hier kann man sich so schön die Leute
anschauen«, erinnert er sich und muss lächeln.
Die Bedienung denkt sich, dass heute bestimmt kein Trinkgeld rumkommt.
»Soll ich Kaffee kochen?«, fragt Fienchen, dabei braucht sie gar kein Koffein mehr.
»Von mir aus«, sagt er und sein Handy piept.
Fienchen grinst zu breit und macht sich auf in Richtung Küche.
Zanker lehnt sich zurück, da auf seinem Platz auf Fienchens Bett. Wer ist Ricarda?, fragt er sich.
Ricarda. Ob er heute noch Zeit hätte.
Fienchen kocht Monos Kaffee, mit Salz und Zucker und Muskat, mit allem Drum, mit allem Dran.
Jetzt nur nichts verbocken. Wenn er schon mal hier ist. Fienchen beeilt sich.
Mono hat die Sachen zusammengesucht und schaut nervös auf die Uhr. Es ist halb drei. Monos Mutter
müsste jetzt langsam mal kommen, sonst kommt er nicht zeitig genug los und kann auch nicht
pünktlich fertig werden. Und wenn er nicht pünktlich fertig wird, dann kommt er nicht rechtzeitig zur
Schwedenbrücke. Mono greift zu seinem Handy. Wenn Mama in drei Minuten nicht da ist, dann ruft
er an. Drei Minuten.
Ziska kommt in die Küche, sieht ihn da sitzen und guckt ihn an.
»Was’n?«, fragt Mono.
Ziska: »Nichts.«
Was, wenn Mama nicht rechtzeitig zurückkommt? Was dann mit Ziska? »Ziska, kannst du auch mal
ein bisschen allein hier sein? Ich muss gleich los, und Mama ist noch nicht zurück.«
Ziska guckt, als hätte jemand ihr Lieblingskaninchen am Schlafittchen.
»Mama kommt bald, echt, du musst dann nur ein paar Minuten … oder so … weiß nicht … du bist
doch schon ’ne Große.«
Ziska schluckt. Fragt: »Fünf Minuten?«
Wenn Mono jetzt nickt, dann sieht sie, dass er lügt. Warum ist die denn plötzlich so? Die hat doch
sonst keine Angst, mal ’ne halbe Stunde allein zu sein. Mono schaut auf die Uhr. Die drei Minuten
sind vorbei.
»Wart mal«, sagt Mono und wählt Mamas Nummer an. Lässt es klingeln. Dann geht die Mailbox
dran. Mono legt auf. Schaut Ziska an. »Mama ist bestimmt schon im Auto. Deswegen hört die ihr
Handy auch nicht.«
Ziska nickt langsam.
Mono sieht in ihr kleines Gesicht und kommt sich plötzlich vor wie der letzte Egoist.
Fienchen kommt ins Zimmer mit zwei Tassen Kaffee zurück, lächelt, als sei sie aus den Fünfzigern
und Hausfrau.
»Supa«, sagt Zanker, und Fienchen stellt den Kaffee vor seinen Füßen ab. Merkt, hier ist es viel zu
still. Musik, denkt Fienchen und rutscht zu ihrer Anlage. »Was magste denn hören?«
Und er nur: »Mir wurscht.«
Wurscht, na super, damit kann Fienchen jetzt nicht arbeiten. Was ist denn hier in diesem Moment
die richtige Musik? Fienchen überlässt es dem Schicksal, hängt ihren iPod an die Anlage und schaltet
auf Zufall. Kleines Gebet. Interpol, okay, geht für Fienchen klar, sie lehnt sich zurück und schaut in
Zankers Richtung und verzieht den Mund.
»Interpol«, sagt Zanker abfällig.
Fienchen zerbröselt. »Was anderes?«
Zanker macht nur »Pff«, dann erst mal nichts, dann aber: »Wenn man halt Joy Division kennt, hört
man, dass das alles nur Neuauflage ist.«
Fienchen hat einen Gott verloren.
Als Mamas Auto in die Straße biegt, stehen Mono und Ziska am Fenster. Mono ist erleichtert, aber
auch viel zu spät dran. Als Mama unten die Wagentür zuschmeißt, ist Mono schon zur Tür raus. Hüpft
viel zu viele Stufen auf einmal runter, schnell, er ist zu spät, viel zu spät. Am untersten Treppenabsatz
kreuzt sein Weg Mamas, sie sagt »Moritz«, aber da ist er schon zur Haustür raus, um die Bahn zu
erreichen, die dreiundfünfzig Meter weiter steht und darauf wartet, dass sie endlich losfahren kann,
dass das Signal kommt, wenn der Verkehr von rechts Rot bekommt. Monos Riesenschritte auf den
letzten Metern, er springt über die Straße und hat Glück, dass der Verkehr nicht dicht ist. Er erreicht
das Gleis, läuft der Bahn entgegen. Der Bahnfahrer entdeckt ihn und in seinem Gesicht etwas, das ihn
an seinen Jugendfreund Kalle erinnert, und er verharrt den Moment, den es braucht, dass Mono die
Tür erreicht, reinspringt, denn das Zeichen für die Bahn steht schon längst auf Weiterfahren. Mono
sitzt, die Bahn fährt an, jetzt kann er nichts mehr machen, jetzt kann er nur sitzen und warten.
Von dem Kuchen sind nur noch Krümel übrig. Bowie tippt sie mit dem Zeigefinger auf, legt sie sich
auf die Zunge. In der Tasse ist kein Kaffee mehr, er versucht es mit dem Kännchen, auch leer. Er
könnte sich jetzt noch einen Kaffee bestellen, vielleicht ein Glas Leitungswasser dazu. Noch ein Stück
Kuchen. Aber es ist vorbei. Hier ist nicht der Ort für Bowie. Plötzlich ist er falsch hier. Das Café, der
Tag, die Sonne, die dem Winter widerscheint, als sei es ein Feiertag. »Heute feiern wir, dass es dich
gibt«, hat Mama an Bowies Geburtstag immer gesagt. Falsch, denkt Bowie und schüttelt den Kopf,
das war der falsche Ansatz, denn es gibt nichts zu feiern. Bowie will weg, rechnet schnell Kaffee und
Kuchen zusammen, legt zu viel Geld auf den Tisch. Er sammelt so hastig seine Sachen zusammen,
dass die Kellnerin aus ihrer nachmittäglichen Lethargie erwacht. Der will die Zeche prellen, der
Wichser!, denkt die Kellnerin, springt auf, eilt Bowie entgegen, der schon an der Tür angelangt ist.
»Hey!«, ruft die Kellnerin, sieht dann aber das Geld und bleibt stehen. Hat sich geirrt, dieses eine
Mal, zieht keine Schlüsse für die Zukunft draus, und während Bowie um die nächste Ecke biegt, sich
die Luft im Café wieder erwärmt, geht sie wieder zurück an ihren Platz hinter dem Tresen.
»Sorry«, sagt Mono atemlos, die letzten Meter ist er gerannt, er fällt zur Tür rein, dass sich Frau
Heiland kurz an ihren Mann erinnert, sich kurz erinnert, wie er war, als sie ihn kennengelernt hat.
Mono stolpert an ihr vorbei in den Flur, reißt sich die Jacke vom Körper, legt die Tasche fast zu
schnell auf den Boden, denkt allerdings noch rechtzeitig an die Weinflaschen, ist froh, dass er die
eingepackt hat, erleichtert, dass er die Tasche überhaupt mitgenommen hat. Sieht sich um, findet einen
Haken für seine Jacke, dann wieder Frau Heiland, sein fragendes Gesicht reißt sie aus den Gedanken.
»Ach ja«, sagt sie und führt ihn zu Lene.
Mono schaut kurz auf die Uhr. Fünf nach drei.
Bowie streift durch die Straßen, weil nach Hause gehen keine Option ist, die sich gut anfühlt, weil er
irgendwo sein muss, aber nicht zu Hause. Bowie durchläuft den Stadtteil, der zu klein ist, der so tut,
als gehöre er nicht zur Stadt, als sei das hier Dorf, als sei das hier das Land, auf das die Menschen so
gerne zurückgekehrt wären, sich aber nicht getraut haben, das Einzugsgebiet vollständig zu verlassen,
als wäre das Stadtzentrum ein Magnet, der zu stark wäre. Wenn man Bowie so sieht, mit den großen
Schritten, den Blick auf den Boden gerichtet, wie er die Füße aufsetzt, die Hände in den Taschen, läuft
er zu einem Rhythmus, den keiner hört, der nur in seinem Kopf ist, man könnte Angst kriegen, denkt
ein alter Mann und zieht seinen Dackel an der Leine zurück zu sich.
Zanker hat seine Tasche aus dem Flur geholt, hat darin rumgekramt, hat sich eine Zigarette angesteckt,
sitzt da vor Fienchens Anlage und legt CDs ein. Zwischendrin ein erklärendes Murmeln, dass das neue
Musik von Bowie sei. Zanker kniet vor der Anlage, starrt das Display an, ein Fuß auf dem Boden, die
Hände liegen auf dem Knie. Zanker nickt zur Musik, skippt sich durch die Lieder, verharrt bei einem,
bis es ihm nicht mehr gefällt. Wieder piept sein Handy, er greift danach. Schaut, fragt sich, wer das
sein soll. Löscht die Nachricht. Eine sitzt in einer Ecke und wohnt hier eigentlich, und eigentlich ist
das ihr Zimmer, auch wenn der Kerl da drüben tut, als wohne er hier, als sei sie nur geduldeter Gast.
Fienchen wird wütend. Zanker dreht sich kurz um, immer noch das Taktnicken. »Geil, was?«, sagt er,
damit sie ihm zustimmt.
Fienchen nickt lahm. Keine Energie für Widerspruch. Zanker dreht sich wieder zur Musik, Fienchen
schaut aus dem Fenster. Langweilig.
»Hast du Lust, Backgammon zu spielen?«, fragt sie mal so.
Nach drei Sekunden: »Was?« Nicht, dass er sich ihr zuwendet.
»Backgammon«, wiederholt sich Fienchen.
»Nee«, sagt Zanker viel zu leise.
»Echt nicht?«
Jetzt antwortet er nicht mal. Die Musik ist laut. Und schraddelig.
»Was’n das?«, fragt Fienchen ohne Interesse.
»Gang of Four«, sagt Zanker.
»Aha.« Fienchen rubbelt die Socke über den Fuß, der nicht juckt.
Lene spielt die Tonleitern hoch und runter, kleine Finger. Mono denkt, so klein waren seine Hände
damals bestimmt nicht. Lenes Beine baumeln vom Klavierhocker. Frau Heiland steht kurz im
Türrahmen zum Wohnzimmer, sieht, ihre Tochter benimmt sich, und geht erleichtert zurück an ihren
Computer.
»Gut machst du das«, sagt Mono freundlich, weil er an Natalie denkt.
Natalie … Da gab es doch mal ein Lied … Irgendwas Französisches. Von wem? Hat er das mal
spielen müssen? Dann wüsste er nicht, dass das Lied französisch ist. Auf den Text achtet Mono nie.
Woher kennt er das? Was heißt kennen. Kennen heißt, dass er weiß, von wem das Lied ist, wer es
singt, wie der Text geht. Nichts.
Lene schaut ihn fragend an. Mono schreckt aus seinen Gedanken auf. »So, ähm, das reicht. Was
hast du denn als Letztes gespielt?«, fragt er.
Bowie sitzt an einer Kreuzung auf einer Bank. Als seien die Straßen gepflastert mit Bänken. Weil hier
so viele alte Menschen wohnen, die alle zwei Meter verschnaufen müssen. Bowie muss nachdenken.
Holt sein Handy raus. Wählt.
Zankers Handy klingelt. Fienchen seufzt unhörbar und schmeißt sich endgültig aufs Bett. Starrt die
Decke an. Zanker geht ran, steht auf, öffnet die Balkontür und geht nach draußen. Fienchen fühlt die
Luft. Fröstelt ein bisschen, nicht zu viel. Nur ein wenig. Zanker bleibt eine Ewigkeit auf dem Balkon.
Fienchen hat die Schnauze gestrichen voll. Okay, denkt sie sich, wenn er jetzt reinkommt und sich
nicht in den nächsten fünf Minuten irgendwie freundlicher anstellt, dann schmeiß ich ihn raus.
»Nee, können wir machen«, sagt Zanker und geht dann wieder weiter auf den Balkon, dass
Fienchen ihn nicht mehr hört.
»Nee, nicht jetzt, später vielleicht, bin grade bei Fienchen«, sagt Zanker.
Ach so, denkt Bowie und sitzt selbst nur auf einer Bank.
»Lass dann mal telefonieren«, sagt Zanker und Bowie sagt: »Klar« und »Bis dann«, und legt auf.
Zanker geht rein, bekommt schon wieder eine SMS, schaut schon wieder auf sein Handy, lässt die
Balkontür einfach offen stehen, brummt. Wer verdammt noch mal …? Löschen. Zanker schaut auf die
Uhr. Sieht Fienchen auf dem Bett liegen.
Fienchen dreht sich zur Seite, sieht Zanker da stehen, setzt sich wieder auf. Kein Lächeln.
»Mach mal die Tür zu.« Nur gesagt, nicht mal ein Satzzeichen gebraucht. Nicht mal einen Punkt.
»Klar«, sagt er und schiebt die Tür mit Schmackes zu, drückt den Riegel nach unten. Steht dann da,
denkt sich, blödes Handy, stellt es wenigstens mal auf lautlos. Sieht dann wieder Fienchen. Was guckt
die denn so?
»Alles klar?«
»Logisch!«, sagt Fienchen angepisst.
»Sicher?«
»Total sicher!« Bisschen zu laut.
Hui, denkt Zanker, was geht denn mit der? Lächelt mal, aber das zieht nicht.
Fienchen wartet. Nee, mit ’nem Lächeln kommt er heute nicht durch, heute muss mehr passieren.
Nicht nach dem Auftritt, den er hier bisher geliefert hat.
Fienchen geht an den CD-Player, legt Phoenix ein, I’m an actor.
»Hey«, sagt Zanker, ist schnell an ihrer Seite, reicht mit der Hand schon nach dem Knopf zum
Skippen, da hält Fienchen ihn am Handgelenk. »Ich mag das Lied«, sagt sie. Hält die Hand fest, weil
er »Aber …« sagt. Zanker spürt Fienchens Griff, mag er nicht, dass sie ihn so festhält, ihn so anstarrt.
Ist doch nur ein Lied. Nicht mal das beste auf der CD. Ist cool, ja, aber nicht das beste. Fienchen lässt
langsam los. Lässt ihn aber nicht aus den Augen. Zankers Hand sinkt wieder nach unten. Fienchen
dreht das Lied noch ein bisschen lauter.
Irgendwann schaut Mono auf die Uhr.
»So, Lene«, sagt er, »das reicht für heute. Üb noch mal die beiden Lieder bis nächste Woche, ja?«
Lene nickt schweigend. Mono kreuzt ihr die Lieder an, schreibt das Datum drüber. Steht auf und
sucht Lenes Mutter. Im übernächsten Zimmer steht die Tür offen, sie sitzt da und schreckt auf, als
Mono sich räuspert.
»Ich geh dann.«
»Ach so. Warte, du kriegst ja noch das Geld.«
Geld, denkt Mono, stimmt! Ein kleines Glück durchfährt ihn. Erweitert sämtliche Möglichkeiten
des anstehenden Treffens.
»Wo hab ich denn …?«, murmelt Frau Heiland und braucht viel zu lange, um die Geldbörse zu
finden, Mono hört förmlich den Minutenzeiger auf seiner Uhr, Schwedenbrücke, denkt er, überlegt
sich den allerschnellsten Weg dahin. »Ah, da ist sie ja!«, sagt die Frau, zieht die Börse aus einer
Handtasche, zieht zwei Scheine aus dem Portemonnaie, hält sie Mono entgegen, der ihr das Geld fast
entreißt, dann aber noch »Danke« sagt und schon halb auf dem Flur ist, zu einem Viertel an der Tür.
»Nächste Woche selbe Zeit?«, ruft Frau Heiland ihm noch hinterher, und Mono nickt, was sie nicht
hört, und zieht die Tür laut hinter sich zu.
Bowie hat die Bahn genommen, sitzt jetzt im Krügers, das nicht wie ein Café aussieht, in der Luft
hängt noch der Rauch vom Vorabend, liegt noch schaler Biergeruch. Bowie greift sich die aktuelle
Intro und bestellt sich einen Tee.
Zanker hat sich eine Zeitschrift genommen, während Fienchen jetzt Musik auflegt, nickt, wenn
Fienchen ein neues Lied ansagt. Fienchen schaut auf die Uhr. Zehn Minuten sind vorbei. Eigentlich
schon fünfzehn. Es reicht. Vollkommen.
»So«, sagt sie und steht auf, »ich schmeiß dich jetzt mal raus, ich wollt noch laufen gehen, bevor es
dunkel wird.«
»Okay«, sagt Zanker und schließt das Heft.
Nicht mal das. Nicht mal betteln, nicht mal fragen, wann sie sich das nächste Mal sehen oder ob sie
später noch was vorhat oder was sie am Wochenende macht. Nicht. Mal. Das. Zanker zieht sich
wieder an, packt seine CDs ein, nimmt seine Tasche, nimmt Fienchen irgendwie in den Arm und geht.
Fienchen steht wieder da, allein, nicht viel anders, nur, dass ihre Musik noch läuft.
Make-up-Verschwendung, denkt Fienchen, wäscht sich im Bad das Gesicht, schlüpft aus den
Kleidern, zieht sich Trainingshosen und Pulli an. Mütze, Handschuhe. Nimmt den MP3-Player, drückt
sich durch bis zur Playlist, die sie sich zum Laufen angelegt hat. Schlüssel, los.
Let’s push things forward. »Round here we say birds, not bitches«, singt Fienchen mit und lächelt,
weil die Sonne noch scheint.
Da ist sie. Mono lehnt sich ans Brückengeländer, neben ihm die Tasche, da ist sie, da läuft sie auf die
Brücke. Jetzt, denkt Mono, und plötzlich fällt es ihm ein, Natalie ist von Gilbert Bécaud. Klar.
Bowie schaut nach draußen und sieht die Sonne langsam untergehen.
Eine Frau im roten Mantel fährt über eine Brücke und sieht zwei Jungs, schaut über ihre Schulter,
sieht die beiden, rollt von der Brücke. Fragt sich, warum die beiden da sitzen. Zwei Jungs mit zwei
Flaschen Wein.
Mono war zuerst da. Er war nicht allein. Aber dann ging jemand. Mono saß also alleine da, nein,
warte, das stimmt nicht ganz. Er hatte ja zwei Flaschen Rotwein dabei. Vater weiß, wo man Wein zu
kaufen hat. Guten Wein. Keinen Wein, von dem man am nächsten Tag einen dicken Kopf bekommt.
Der Rotwein ist noch da.
»Wieso hast du denn keinen Flaschenöffner dabei?«, hat sie gefragt.
Schulterzucken darauf.
»Sag doch mal!«
»Weiß nicht.« Mono starrt auf die Schienen, die liegen da unten. Unten fahren immer wieder die SBahnen. Oben laufen immer wieder Menschen zu Fuß vorbei. Meistens mit Tüten. Auf der anderen
Seite der Brücke ist ein Kaiser’s, der einzige Laden hier in der Ecke. Die meisten wollen noch kurz auf
dem Nachhauseweg Besorgungen machen. Als ob die verhungern würden, wenn sie nicht jetzt noch
Ziegenkäse kaufen. Es wäre eine gute Idee gewesen.
»Haste denn nicht wenigstens ein Taschenmesser dabei?«
Mono schüttelt den Kopf, und dabei fallen ihm noch ein paar Worte aus den Ohren, die er eigentlich
sagen könnte. Da, da ist grade was rausgerutscht, was witzig war. Was sie zum Lachen gebracht hätte.
Aber weil Mono nicht schnell genug greift, rutscht’s schon durch die Gitter runter auf die Schienen
und ist weg. Die Passanten starren. Sie nehmen Platz weg, wie sie da sitzen. Ist eh schon so wenig
Platz, weil nicht nur Menschen mit Tüten zu Fuß, nein, auch Menschen auf Rädern, mit Kinderwagen,
mit Kindern an den Händen und Tüten, und Hunde sind da. So wenig Platz auf so einer kleinen
schmalen Brücke. Mono bemerkt, wie die Sonne langsam rot wird. Ganz leicht nur. Der Himmel sirrt.
»Mir ist kalt«, sagt sie.
Da wäre der Wein, der wärmen könnte. Aber da ist kein Korkenzieher.
Sie steht auf.
Mono schaut hoch. Natürlich ist auch sein Hintern kalt, werden seine Finger steif, aber das sind
Tausend Gründe, die nicht zählen, wenn es einen Grund gibt, zu bleiben. Du brauchst nur einen guten
Grund.
Sie schaut runter, das sollte sie nicht.
Mono sucht nach den Worten, die sagen: »Schau doch einfach nur zum Himmel, dahinten, wie die
Sonne rot glüht. Und weißt du eigentlich, wie dein Gesicht jetzt aussieht? Wie feinster Samt, wie
schönste Pfirsiche, du bist so wunderschön sanft. Bleib und schau. Und warm kann uns später noch
werden. Bleib einfach. Weil es immer einen Grund gibt, zu bleiben.«
Es gibt Menschen, die können so was sagen, und vielleicht laufen grade welche vorbei, mit Spüli
und Buttermilch in der Tüte. Wenn nur einer anhalten könnte, jetzt, wo sie sich über die Hose streicht,
die Jacke runterzieht, dabei reicht sie ihr kaum über den Po. Nur ein Mensch müsste anhalten.
Sagen: »Hey, Mädchen. Nicht aufstehen. Bleib sitzen. Siehst du nicht, dass dahinten die Sonne
untergeht? Und weißt du nicht, dass man die besten Küsse auf Brücken haben kann?«
Und Mono könnte dann sagen: »Erste Küsse.«
Und der Mensch mit der Tüte sagt dann vielleicht, ja, Brücken seien ideal für erste Küsse. Und
zufällig hat er auch einen Flaschenöffner dabei. Lässt ihn bei den beiden auf der Brücke, und vielleicht
sind dann da auch plötzlich Gläser und eine Decke, auf der sie sitzen können, damit es nicht ganz so
kalt ist. Und dann wird es vielleicht auch warm werden. Und alle Tütenmenschen sind dann schnell
nach Hause gegangen, um schnell Feierabend zu haben. Dafür war nämlich der Ziegenkäse. Man kann
den Feierabend nur mit Ziegenkäse begehen, sagt der Tütenmann vielleicht, geht und mit ihm die
anderen. Und dann geht die Sonne unter. Aber sie wird bleiben.
»Ich geh.«
Irgendwann dann »Warum denn?«. Warum denn jetzt schon? Warum musst du überhaupt gehen?
Warum verdammt noch mal nicht bleiben? Und wo gehst du überhaupt hin?
»Ich hab noch was vor.«
Da sagt Mono nichts mehr. Mono bleibt sitzen, schaut kurz runter auf seine Füße, die da vor ihren
Füßen liegen. Ich liege dir zu Füßen, siehst du das denn nicht, fang einfach bei den Sohlen an und
schau und bleib. BITTE.
Als sie »Na dann, tschüs« sagt, weiß Mono, dass es zu spät ist. Heute werden sie sich nicht küssen.
Jemand anderes könnte jetzt vielleicht noch das Ruder rumreißen. Aber so einer ist Mono nicht.
Jemand anderes ist auch nicht hier. Sie geht. Unter ihren wippenden Schritten glaubt Mono die Brücke
schwingen zu fühlen. Ganz leicht, aber vielleicht ist das auch nur sein Herz oder sein Kopf oder sein
Bauch oder die Welt, die sich einfach weiterdreht, als wäre nichts gewesen.
Einer, der alles kann, kommt dann vorbei, ohne Tüte. Mit beiden Händen ohne Kind, ohne Fahrrad,
die Hände einfach in den Taschen, sagt »Alter, dass ich dich noch treffe, das muss ein Wink des
Schicksals sein«, und Mono weiß, Zanker, der kann mit Worten, der ist besser als er. Zanker würde
nicht nur sagen, dass ein Gesicht wie feinster Samt oder so, Zanker würde etwas einfallen, was keiner
vorher gesagt hat. Und er würde es sagen. Zanker gehen nie die Worte aus. Manchmal fragt Mono
sich, woher er all die Worte hat, die er so braucht.
»Oh, Wein, das Getränk, das voll von Weisheit ist, lass trinken, alter compadre, lass trinken.«
Mono schaut nur. Zankers Gesicht ist Grinsen. Mono ist Schweigen. Und selbst zu sagen, dass er
keinen Korkenzieher dabeihat, geht nicht. Sind mit ihr gegangen, alle Worte. Alle weg. Wieder eine SBahn, die Brücke wackelt leicht, ein Jogger sportelt an beiden vorbei, eine Frau in rotem Mantel, die
beiden einen schönen Blick zuwirft, bevor sie auf dem Rad von der Brücke rollt. Jetzt ist die Sonne
schon zu zwei Dritteln rot. Zanker nimmt eine Flasche, nimmt die nächste, reißt an beiden das Plastik
vom Hals und drückt mit seinem Daumen die Korken in die Flasche.
»Slontje!«, sagt er, schaut der Frau auf dem Rad hinterher. Trinkt.
Das ist Mono nicht eingefallen. Wie auch. Er ist ja auch nicht Zanker.
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