3.6 Reproduktion sozialer Ungleichheit

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Inhalt
3 Theoretische Überlegungen .................................. 1
3.1 Mikro- und Makrolevelanalyse des Lebenslaufs ........... 2
3.1.1 Soziale Konstruktion und individuelle Organisation des
Lebenslaufs ........................................................... 3
3.1.2 Wechselwirkungen zwischen der sozialen Mikro- und Makroebene .... 5
3.2 Die Institutionalisierung des Lebenslaufs in der modernen
Gesellschaft ............................................... 8
3.2.1 Stabilisierung der Lebenszeit .................................. 10
3.2.2 Staatliche Regulierung des Lebenslaufs ......................... 14
3.2.3 Prekäre Balance ................................................ 17
3.3 Destandardisierung institutionalisierter Ablaufmuster . 20
3.4 Individuen als Handlungszentrum der Risikogesellschaft 25
3.4.1 Individualisierungsschub im Modernisierungsprozess ............. 25
3.4.2 Entscheidungen in der Multioptionsgesellschaft ................. 29
3.5 Soziale Ungleichheit und soziale Lage ................. 31
3.5.1 Das mehrdimensionale Statusmodell .............................. 32
3.5.2 Ungleichheit der sozialen Lage ................................. 33
3.5.3 Die (anhaltende) Bedeutung traditioneller Dimensionen sozialer
Ungleichheit ......................................................... 37
3.6 Reproduktion sozialer Ungleichheit .................... 42
3.6.1 Chancenungleichheiten und Bildungsexpansion .................... 44
3.6.2 Der Einfluss der sozialen Herkunft ............................. 48
3.6.3 Kulturelles, ökonomisches und soziales Kapital ................. 50
3.6.4 Habituskonzept und Lebensstil .................................. 56
3.6.5 Reproduzierende Funktion der Bildungsinstitutionen ............. 61
3.7 Biographische Orientierungen und Handlungsstrategien .. 67
3.7.1 Handlungsentwurf und biographische Erfahrungen ................. 70
3.7.2 Biographische Sozialisation und Identität ...................... 74
3.7.3 Übergänge als Lebensereignisse ................................. 78
3.8 Biographische Entscheidungen .......................... 81
1
3 Theoretische Überlegungen
Im folgenden werden diejenigen Theorien vorgestellt, welche
sich zur Verankerung der Interviewanalyse innerhalb des aktuellen soziologischen Diskurses eignen. Es mag erstaunen, bei
einer an qualitativen Methoden orientierten Arbeit die etablierten Theorien an so prominenter Stelle diskutiert zu sehen,
geht es doch nicht um die empirische Überprüfung deduktiv gewonnener Hypothesen, sondern vorerst um das induktiv oder gar
abduktiv heraus gearbeitete Verständnis der Phänomene von Innen
heraus. Der Textaufbau gibt denn auch nicht den For-
schungsablauf wieder; die tatsächliche Arbeit mit den Theorien
erfolgt je nach der verwendeten Methode erst im Laufe der ersten Auswertungsschritte. Die frühzeitige Offenlegung der Theorie dient der Leserlichkeit und ermöglicht zudem ein besseres
Verständnis der verwendeten Konzepte und Schlussfolgerungen.
Der theoretische Fokus der Lebenslauf- und Biographieforschung
liegt meist auf den Individuen und deren unmittelbaren sozialen Umgebung, der Einfluss makrosoziologischer Aspekte wird
häufig vernachlässigt (Levy, 1996). Strukturelle Gegebenheiten
und kulturelle Vorstellungen beeinflussen jedoch massgeblich
den Lebenslauf des einzelnen Individuums. Die Untersuchung,
welche Wirkung diese gesellschaftlichen Kontextbedingungen
ausüben, stellt einen makrosoziologischen Zugang zur Analyse
des Lebenslaufs dar.
Die alleinige Berücksichtigung dieser Sichtweise reicht ebensowenig aus, um zu verstehen, wie Individuen ihr Leben erfahren und ihre Lebenspläne umsetzen. Der Blick auf den Lebenslauf als Ganzes bietet „die Chance, individuelle Betroffenheit, die Wirkungsweise von Institutionen und gesellschaftlichen Wandel simultan in einem gesamtgesellschaftlichen Rahmen
zu untersuchen“ (Mayer 1987, S. 53). Der Lebenslauf kann insofern als eine Brücke zwischen Mikro- und Makrosoziologie gesehen werden und „die aufmerksame Betrachtung von Lebensläufen
1
einige der Verbindungen deutlich machen“ (Berger 2000, S. 26).
3.1 Mikro- und Makrolevelanalyse des Lebenslaufs
Die kulturellen und strukturellen Vorgaben der Gesellschaft
organisieren und konstruieren den Lebenslauf (Buchmann 1989b,
Levy 1996), sie bieten dem Individuum Optionen und auferlegen
Pflichten in der ökonomischen, politischen und sozialen Sphäre
(Buchmann 1989a). Um zu verstehen, wie diese gehandhabt werden
ist es wesentlich, auch das Konzept des Individuums als biographischer Akteur in die Analyse des modernen Lebenslaufs
miteinzubeziehen (Heinz 1996, 2000). Nötig sind Konzeptionen
und theoretische Überlegungen, welche die dynamischen Wechselwirkungen zwischen mikrosozialen und makrosozialen Strukturen
berücksichtigen (Allmendinger 1989, Geulen 2000, Heinz 1996,
Levy 1996). „Der Lebensverlauf eines Individuums ist Teil und
Produkt eines gesellschaftlichen, historisch angelegten
Mehrebenenprozesses“ (Mayer 1998, S. 439). Die Beziehung zwischen der makrosozialen Ebene von Struktur und Kultur und der
mikrosozialen Handlungsebene stellt eines der fundamentalsten
Probleme der soziologischen Theorie dar (Buchmann 1989b).
Individuelle Handlungen sind keine isolierten Ereignisse ohne
Bezug zum gesellschaftlichen Kontext, in dem sie eingebettet
sind. Sie stehen nicht ausschliesslich mit situativen Erfahrungen in Beziehung. Andererseits sind Handlungen auch nicht
ausschliesslich durch strukturelle und kulturelle Gegebenheiten bestimmt und dem Einfluss des Handelnden entzogen (Buchmann 1989b). Die Ergebnisse im Lebenslauf erweisen sich als
ein dynamisches Wechselspiel zwischen strukturellen und kulturellen Einflüssen und individuellen Orientierungen und Handlungsstrategien. Das Individuum bewegt sich in einer komplexen, sowohl horizontal wie auch vertikal differenzierten Gesellschaft, innerhalb derer es Mitglied verschiedener Subsysteme oder Teilbereichen ist, plaziert auf spezifischen Positionen entsprechend den Strukturen der jeweiligen gesellschaft-
2
lichen Bereiche. Neben dem strukturellen Aspekt der individuellen Statusbiographie sind die Teilhabe an gesellschaftlichen
Teilsystemen gleichzeitig Gegenstand von individuellen Wertungen, Erwartungen und Interpretationen (Levy 1996).
3.1.1 Soziale Konstruktion und individuelle Organisation des
Lebenslaufs
Strukturelle Gegebenheiten regulieren den Lauf des Lebens mittels institutionalisierter Regeln. Im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess übernahm der Staat in zunehmenden Masse
die Verantwortung für die Organisation des Lebenslaufs, er
transformierte das individuelle Leben in eine rationalisierte
und standardisierte Form und konstruierte in dieser Weise einen öffentlichen Lebenslauf (Buchmann 1989b), der sich vom
privaten Lebenslauf abhebt. „Die gesellschaftliche Prägung des
Lebensverlaufs erfolgt primär durch die Abbildung gesellschaftlicher Differenzierung innerhalb und zwischen Institutionen auf den Lebensverlauf“ (Mayer 1987, S. 60). Besonders die
Ausgestaltung des Bildungssystems leistete einen wesentlichen
Beitrag zur Rationalisierung und Individualisierung des Lebenslaufs (Lenhardt 1992).
Daneben bestehen kulturelle Vorstellungen über den Ablauf des
Lebens. Die kollektiven Sinnangebote machen die einzelnen Regeln plausibel und legitimieren sie. Pfau-Effinger weist darauf hin, dass „die Entscheidungsfindung von Individuen ein
komplexer Prozeß ist, in dem kulturelle Normen und Werte eine
wichtige Rolle spielen“ (Pfau-Effinger 1997, S. 516). Kultur
umfasst Ideen, Bedeutungen und Werte, die gesellschaftlich als
gültige Weltdeutungen betrachtet werden und für das soziale
Handeln den Rahmen kollektiver Daseinsverständnisse liefern
(Pfau Effinger 1997). Kulturelle Leitbilder bestimmen den angemessenen Ablauf einzelner Lebensphasen. So existieren beispielsweise kollektive Vorstellungen darüber, zu welchen Tätigkeiten ein Kind je nach Alter befähigt sein sollte. Über
solche Vorstellungen besteht häufig ein hoher Konsens inner3
halb einer Gesellschaft, die jeweilige Ausgestaltung der kulturellen Leitbilder kann allerdings über die Zeit und international in wesentlichen Aspekten unterschiedlich sein. Die „Naturbedingungen setzen einen Rahmen, innerhalb dessen zwischen
Gesellschaften eine hohe Variabilität möglich und empirisch
vorfindbar ist“ (Kohli 1980).
Auf der mikrosoziologischen Ebene können Lebensläufe als Statusbiographie, als Sequenzen von Positionen und Rollen aufgefasst werden (Levy 1996). Institutionalisierte Konfigurationen
von Status1 und Rollen repräsentieren normative Verknüpfungen
zwischen sozialen Positionen an bestimmten Punkten im Lebenslauf. Sequenzen solcher Konfigurationen widerspiegeln das Voranschreiten im sozialen Raum (Levy 1996) und der sozialen
Zeit. Strukturelle Rahmenbedingungen und kulturelle Leitbilder
setzen den Rahmen, in dem Individuen ihre biographischen Perspektiven und Handlungsstrategien entwickeln (Buchmann 1989a).
Diese beinhalten die Erwartungen, Aspirationen und Handlungsorientierungen bezüglich verschiedener Bereiche des Lebens,
bilden in ihrer Summe also den eigentlichen Lebensplan der Individuen (Buchmann 1989b). In dieser Weise verstanden ist der
Lebenslauf kein sozial isoliertes oder rein kulturelles Phänomen, der Lebenslauf ist sowohl durch die Struktur determiniert, wie auch Struktur generierend. Diese Sichtweise integriert sowohl objektivistische wie auch subjektivistische Perspektiven2, deren häufige Gegensätzlichkeit Levy (1996) kriti1
Unter Status wird „ein sozial definierter Platz in einem Positionsgefüge
gemeint (...) mit dem bestimmte Handlungschancen und Einschränkungen verbunden sind“ (Bornschier 1991, S. 39).
2
Die objektivistische Sichtweise wird häufig als Lebensverlaufsforschung
etikettiert, welcher Untersuchungen zugeordnet werden, die quantitative
Forschungsmethoden verwenden. Die biographische Analyse ist mit der Verwendung von qualitativen Methoden verbunden. Die in dieser Arbeit vertretene
Sichtweise folgt Levys (1996) Anliegen, eine solche Trennung nicht nachzuvollziehen. Ein umfassendes Verständnis des Lebenslaufs wird erst ermöglicht, wenn beide Perspektiven angemessen in der Analyse berücksichtigt
4
siert.
3.1.2 Wechselwirkungen zwischen der sozialen Mikro- und Makroebene
Wie in Abbildung 3.1 veranschaulicht bestehen zwischen den
strukturellen und kulturellen Aspekten des Lebenslaufs vielfältige Wechselbeziehungen. Änderungen in den kulturellen Vorstellung bezüglich einer Lebensphase können zu Anpassungen in
der strukturellen Ausgestaltung eines Gesellschaftsbereiches
führen. Änderungen in den strukturellen Gegebenheiten führen
mit der Zeit zu einer Änderung kultureller Leitbilder bezüglich des Lebenslaufs, diese können Änderungen in der Umsetzung
des individuellen Lebenslaufs bewirken (Levy 1996). Beispielsweise können kulturelle Vorstellungen über die Aufgaben und
Leistungen der wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen deren Ausgestaltung mitbestimmen. Allerdings verläuft der Wandel in den
strukturellen und kulturellen Komponenten selten zeitgleich.
Es kann zu einem kulturellen Umdenken innerhalb der Gesellschaft kommen bevor dieses sich in einer Modifikation der
strukturellen Vorgaben der Gesellschaft ausdrückt. So kann die
Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt als sinnvoll und
notwendig eingeschätzt werden, und doch bleibt während geraumer ein Mangel an gesellschaftlichen Einrichtungen fortbestehen, die eine weibliche Erwerbsbeteiligung unterstützen. Solche zeitlichen Verschiebungen können zu Spannungen in der sozialen Organisation des individuellen Lebenslaufs führen.
Makroprozesse schaffen die Bedingungen für Interaktionen, „die
interpersonale Ereignisse beeinflussen“ (Berger 2000, S. 27).
Im Aggregat können individuelle Handlungen zu Änderungen in
der sozialen Organisation und den kulturellen Vorstellungen
bezüglich des Lebenslaufs einer Gesellschaft führen. Hand-
werden (Buchmann 1989b). Als Konsequenz werden Techniken der Qualitativen
Sozialforschung wie auch quantitative Forschungsmethoden in die Untersuchung des interessierenden Gegenstandsbereichs integriert.
5
Abb. 3.1: Wechselwirkung zwischen der soziologischen Makround Mikroebene
Strukturelle
Kulturelle
Rahmenbedingungen
Leitbilder
Strukturelle und
Aggregation in-
kulturelle Chan-
dividueller Ori-
cen
entierungen und
und Restriktio-
Handlungen
nen
Biographische Orientierungen und individuelle
Handlungsstrategien
Quelle: Buchmann 1989b
lungsmuster können sich unabhängig von strukturellen oder kulturellen Vorgaben ändern und diese mit der Zeit wandeln (Buchmann 1989b, Levy 1996). Beispielsweise kann eine fortgesetzte
verstärkte Erwerbsbeteiligung von Frauen eine allmähliche Änderung in den Auffassungen bezüglich der Geschlechterrollen
bewirken.
Der Lebenslauf in der modernen Gesellschaft weist eine bemerkenswerte Dynamik zwischen Prozessen der Institutionalisierung
und solchen der Individualisierung oder Destandardisierung
auf. Dies widerspiegelt sich in einer Anzahl recht unterschiedlicher soziologischen Theorien. In den folgenden Abschnitten erfolgt eine Zusammenstellung der wichtigsten dieser
Theorien, die einesteils die Analyse des Lebenslaufs aus der
makrosoziologischen andernteils aus der mikrosoziologischen
Perspektive betreiben.
Als erstes wird die Institutionalisierung des Lebenslaufs diskutiert, die sich im Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung beobachten liess (Buchmann 1989b, Kohli 1985, Mayer
1998). Nach einer ausgedehnten Phase der Auskristallisierung
eines institutionalisierten Lebenslaufregimes lassen sich in
den letzten Jahren Anzeichen für eine zunehmende Pluralisierung und Destandardisierung des Lebenslaufs ausmachen (Kohli
1985). Diese Beobachtungen sind Verbunden mit der Diskussion
einer Individualisierung von Lebenslagen innerhalb der Gesell-
6
schaft, welche die Konzepte der Schichtung und Klassen, die
während langer Zeit die Ungleichheitsforschung dominierten,
als ungeeignet einschätzt (Beck 1983, 1986), da sich „die Sozialstruktur nicht mehr länger auf der Grundlage konventioneller Schichtmodelle beschreiben lasse“ (Stamm und Lamprecht
1996, S. 510).
Bourdieu (1982) hält dem entgegen, dass die soziale Schichtung
noch immer einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der individuellen Handlungsmuster leistet. Die Funktion des Bildungssystems ist zentral im Verständnis der Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheit (Bourdieu und Passeron 1971,
Bourdieu 1982, Graf und Lamprecht 1991, Krais 1996, Meyer et
al. 1999, Treibel 1997), der Einfluss der sozialen Herkunft
noch immer ein wichtiger Erklärfaktor für die Ausbildungsresultate im Lebenslauf von Individuen. Neben dem Beruf gibt es
kaum eine andere gesellschaftliche Institution, die den Lebenslauf in ähnlichem Ausmass bestimmt wie das Bildungssystem
(Lenhardt 1992). „Das Bildungswesen hat die geheime Funktion,
die Gesellschaftsordnung zugleich zu perpetuieren und zu legitimieren, es perpetuiert sie um so wirksamer gerade dadurch,
daß seine konservative Funktion unter einem ideologischen
Selbstverständnis verborgen ist“ (Bourdieu und Passeron 1971,
S. 16). Nachkommen aus oberen Schichten bringen, wie sich noch
zeigen wird, mehr Startkapital beim Eintritt in das Schulsystem mit, in Form von sozialem, ökonomischem und kulturellem
Kapital (Bourdieu 1983). Sie verfügen damit über entscheidende
Vorteile gegenüber den Kindern aus den unteren Schichten, die
sich im Verlauf ihrer Bildungskarriere kumulieren (Leemann
2002). Der Habitus, „in dem sich die symbolische Ordnung und
kulturellen Konstruktion gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse einnisten“ (Leemann 2002, S. 29), trägt dazu bei,
dass sich die Individuen als Teil ihrer sozialen Gruppe in die
für sie bestimmten gesellschaftlichen Felder einordnen und
dadurch die gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnisse re-
7
produzieren.
3.2 Die Institutionalisierung des Lebenslaufs in der
modernen Gesellschaft
In seiner Arbeit von 1981 über die „Prozessstrukturen des Lebensablaufs“ präsentiert Fritz Schütze Ergebnisse aus der Analyse narrativer Interviews. Zu den Phänomenen von Lebensläufen
zählen unter anderem die institutionalisierten Ablaufmuster.
Diese zeigen sich stark im Lebens- und Familienzyklus aber
auch in Bildungs- und Berufskarrieren: „Sämtliche Phasen und
Einschnitte des Lebenszyklus sind durch grundlegende gesellschaftliche Institutionen (...) auf Dauer gestellt, organisiert und kontrolliert“ (Schütze 1981, S. 68). Akteure, signifikante InteraktionspartnerInnen und Aussenstehende haben
stabile Vorstellungen über Stufen und Übergänge im Lebenszyklus: „Ich erwarte; ich erwarte, dass die Interaktionspartner
erwarten; ich erwarte, die Interaktionspartner werden erwarten
ich werde erwarten“ (ebd.). Die damit verbundenen moralischen
Ansprüche - beispielsweise sollte die Heirat nicht vor dem Ende der Ausbildung erfolgen - werden von gesellschaftlichen Institutionen wie der Schule, der Kirche oder der Familie weitergegeben.
Schütze geht grob gesagt davon aus, dass es in verschiedenen
Lebensbereichen Idealbilder über den Vollzug des Lebenszyklus
gibt. Martin Kohlis Ausführungen über den Lebenslauf als Institution „im Sinne eines Regelsystems, das einen zentralen
Bereich oder eine zentrale Dimension des Lebens ordnet“ (Kohli
1985, S. 1) gehen weiter. Die von Schütze aufgezeigten Zeitprogramme der einzelnen Lebensbereiche wie Familie oder Arbeitsmarkt werden in einer Gesamtstruktur - dem institutionalisierten Lebenslauf - gebündelt. Diese Struktur dient Kohli
als Kontext für die Diskussion des Individualisierungsschubes
der Moderne.
Er kann zeigen, dass mit der Standardisierung der Lebenszeit
8
mehr als die von Schütze eingeführte, pur chronologische Regelung des Lebensablaufs erreicht wird: Durch die Institutionalisierung auf der Zeitachse wird auch für das Leben der Individualität eine feste, gesellschaftlich anerkannte und überindividuell bestimmte Form geschaffen: „Beide Momente, Standardisierung und Offenheit, Verhaltenseinschränkung und Expansion
sind institutionalisiert, und dies erzeugt die besondere Dynamik des modernen Lebenslaufregimes, die nicht auf Dauer, sondern nur in einer immer prekären Balance stillgestellt werden
kann“ (Kohli 1988, S. 39).
Durch den Lebenslauf werden die lebensweltlichen Horizonte und
Wissensbestände strukturiert, innerhalb derer sich Individuen
orientieren und ihre Handlungen planen (Kohli 1985). Die Möglichkeit eines geplanten Lebenslaufs, auf den retrospektiv zurückgeblickt werden kann, ist jedoch kein natürliches Phänomen
(Geissler und Krüger 1992): Im Verlauf des gesellschaftlichen
Modernisierungsprozesses hat die Bedeutung des Lebenslaufs als
soziale Institution stark zugenommen, es fand ein Wandel von
einem unkalkulierbaren Muster zufälliger Lebensereignisse zu
einem vorhersehbaren Lebenslauf statt (Kohli 1985). Dieser
weist eine ausgeprägte zeitliche Strukturierung auf (Geissler
und Krüger 1992). Durch diesen Aspekt wurde der Lebenslauf
selbst zu einer Institution (Kohli 1985).
Frühere Gesellschaften zeigten einen hohen Integrationsgrad,
der in der Regel religiöser Natur war (Berger et al. 1975).
Der Übergang zur Moderne ging mit einer starken Mobilisierung
und Pluralisierung des Lebens einher. In der modernen Gesellschaft sind makrosoziale Strukturen in weit komplizierterem
Masse mit mikrosozialen Prozessen verbunden als früher (Heinz
1996). Der Individualisierungsprozess bewirkte, dass die Vergesellschaftung in zunehmendem Masse auf der Ebene des Individuums ansetzen musste als auf derjenigen von stabilen lokalen
Gemeinschaften (Buchmann 1989a). Ein wesentlicher Teil dieser
neuen Vergesellschaftungsform ist die Institutionalisierung
9
des Lebenslaufs als Ablaufprogramm und als langfristige Orientierung für die Lebensführung. Insofern stellt die Institutionalisierung des Lebenslaufs ein unerlässliches Korrelat zur
Freisetzung der Individuen dar, sie ist das funktionale Äquivalent zur früheren äusseren sozialen Kontrolle (Kohli 1985).
Die Institutionalisierung des Lebenslaufs bewirkt somit eine
Entlastung: sie verleiht der Lebensführung ein festes Gerüst
und setzt Kriterien dafür, was erreichbar ist und was nicht.
Zusätzlich entstand durch die politische Regelung einer zunehmenden Zahl von wichtigen Lebensbereiche ein Druck nach der
Rationalisierung von staatlichen Leistungssystemen. Die Ausrichtung am chronologischen Alter der Individuen eignet sich
in besonderer Weise für diese Art von Rationalisierung (Kohli
1985). Der Blick auf den Lebenslauf bedingt in der Folge die
Berücksichtigung der zeitlichen Dimension. Das Lebensalter
muss als eigenständige gesellschaftliche Strukturdimension
aufgefasst werden. Dadurch kann der Lebenslauf als soziale Institution aufgefasst werden, die zentrale Bereiche des Lebens
ordnet (Kohli 1985).
3.2.1 Stabilisierung der Lebenszeit
Das menschliche Leben in der vormodernen Gesellschaft ist
durch Zufälligkeit der Lebensereignisse geprägt. Der Tod eines
Menschen kann jederzeit eintreten. Langfristige, insbesondere
auf den Einzelnen bezogene Planung, macht keinen Sinn: „Was in
der vormodernen Lebensform an ‚Langsicht‘ gegeben war, bezog
sich nicht auf das Einzelleben, sondern auf die Familie und
ihre materielle Grundlage“ (Kohli 1985, S. 11). Dauerhaften
Halt erfahren die Menschen somit durch Zugehörigkeit zur lokalen Lebenswelt.
Dieses Erleben von Beständigkeit aufgrund von Kontinuität
durch das Eingebundensein in ständische und lokale Bindungen
ging mit dem Prozess der Modernisierung aus der Agrargesellschaft und der damit verbundenen Abkehr von der Tradition verloren. Menschen haben dadurch die Grundlage für fokussiertes
10
Handeln verloren: „Wo diese Kontinuitätsidealisierung nicht
durch die fraglose Zugehörigkeit zu einem stabilen Milieu verbürgt ist, sind andere Institutionen gefordert“ (Kohli 1986,
S. 190).
Als neue Institution und somit als neues Orientierungsschema
kann die Lebensdauer dienen. Die mittlere Lebensdauer hat nämlich zugenommen und der Tod ist zumindest für wohlhabende Industrienationen fast vollständig aus dem frühen und mittleren
Erwachsenenalter verschwunden. Somit ist es zu einer relativ
einheitlichen Lebenserwartung für weitgehende Teile der Bevölkerung gekommen. Der Lebenslauf wird zum verlässlichen Zeithorizont. Kohli spricht von Kontinuität „im Sinn einer verlässlichen, auch materiell gesicherten Lebensspanne“ (Kohli 1988,
S. 37).
Die Stabilisierung der Lebenszeit bedeutet zweierlei. Auf der
einen Seite erscheint individuelle Planung, die einzig und allein auf das eigene Leben bezogen ist, erstmals Sinn zu machen. Ausgehend von der realistischen Annahme, dass noch gut
50 Jahre zur freien Verfügung stehen, können junge Erwachsene
ihr persönliches Leben als eigenes Projekt entwerfen und organisieren. Ansprüche auf individuelle Entfaltung können erhoben
werden. Individuen konstituieren ihr eigenständiges Ablaufund Entwicklungsprogramm.
Auf der anderen Seite werden die traditionellen kollektiven
Ordnungen und die stabile Lebenslage der vormodernen Lebensformen durch den Ablauf der Lebenszeit als zentrales Strukturprinzip abgelöst. Wesentliche Lebensereignisse werden in einem
geordneten und chronologisch festgelegten Ablauf bewältigt dies zeigt sich beispielsweise bei den Sozialversicherungen,
die an fixe Altersgrenzen geknüpft sind oder anhand der zeitlichen Ballung von Ereignissen, die dem Übertritt ins Erwachsenenalter zugerechnet werden. Die Struktur der Lebenszeit
wird folglich vorgegeben und erwartbar.
Als Folge der weitgehend am chronologischen Alter ausgerichte11
ten Verzeitlichung des Lebenslaufs entwickelte sich ein standardisierter „Normallebenslauf“ (Fischer und Kohli 1987, S.
41). Dieser ist um das Erwerbsleben herum organisiert. Neben
dem „Geschlecht, zertifikatisiertem Bildungsstand, in einigen
Fällen ethnische Herkunft und Religion, hat das kalendarische
Alter eine gesellschaftliche Ordnungs-, Organisations- und Selektionsfunktion und damit erreicht das kalendarische Alter
die Bedeutung einer Strukturvariablen“ (Hoerning 1987, S.
241). Die Freisetzung der Individuen aus Bindungen an Stand
und lokalen Vergesellschaftungsformen wie der Familie, das
Verständnis des Individuums als eigenständige und wesentliche
soziale Einheit ist mit dieser Chronologisierung des Lebenslaufs verknüpft. Die evidenteste zeitliche Gliederung ist die
Dreiteilung in ein Vorbereitungsphase, eine Aktivitäts- und
eine Ruhephase (Fischer und Kohli 1987, Kohli 1985). Dabei umfasst die Vorbereitungsphase die Kindheit und Jugend eines Individuums. Die Aktivitätsphase entspricht dem Erwachsenenleben
und die Ruhephase lässt sich dem Alter zuordnen. In der Entwicklung der modernen Gesellschaft vergrösserte sich die Anzahl der Lebensphasen und diese grenzten sich in Beziehung zum
chronologischen Alter immer stärker voneinander ab.
Institutionelle Standards bezüglich des Zeitpunkts und der
Dauer von Übergängen legen die sozialen Rahmenbedingungen für
die Konstruktion der individuellen Biographie fest (Heinz
1996). Der Lebenslauf als Institution bedeutet die Bestimmung
des sequentiellen Ablaufs der einzelnen Lebensstadien durch
ein Set von formalen Regeln. Formelle Altersregeln, die am
chronologischen Alter orientiert sind, strukturieren das Leben
als eine Sequenz von Lebensphasen und bestimmen die Übergänge
dazwischen. Der Zugang zu den institutionalisierten Bereichen
der Gesellschaft in Form von Rollen und Positionen ist offiziell geregelt, dies erfolgt insbesondere durch Bildungszertifikate und berufliche Titel (Lenhardt 1992). Altersnormen bestimmen das Aufeinanderfolgen, die Sequenz der einzelnen Le-
12
bensstadien (Levy 1996) und schreiben dem Individuum Rechte
und Pflichten zu (Buchmann 1989b). Sie sagen beispielsweise
etwas darüber aus, welches das angemessene Alter für eine Heirat oder das erste Kind ist.
„Professionelle Altersnormen (...) begründen sich aus kulturell - normativen Zeitvorstellungen für den Lebensvollzug, aus
statistisch ermittelten Durchschnittsvorstellungen, die häufig
als ‚Normalverläufe‘ deklariert werden oder aus spezifischen
Erfahrungen derer, die evaluieren“ (Hoerning 1989, S. 161).
Altersnormen können in unterschiedlichem Masse formell ausgestaltet sein: Es gibt gesellschaftliche Bereiche, die durch
den Staat in Form von Gesetzen exakt geregelt werden, andere
Altersnormen widerspiegeln in stärkerem Masse kulturelle Vorstellungen, die einen Einfluss auf individuelle Handlungen
ausüben, ohne gesetzlich strikt geregelt zu sein. Alterskategorien definieren Qualitäten, Kompetenzen, Bedürfnisse und Motive sowie Rechte und Pflichten, die den Mitgliedern einer bestimmten Altersgruppe zugeordnet werden können. Sie legitimieren altersspezifische Verhaltensnormen, welche die Erwartungen
der Mitglieder bestimmter Altersgruppen gegenüber dem eigenen
Alter wie auch die Erwartungen gegenüber anderen ihrer Altersgruppen organisieren (Buchmann 1989b).
Die Chronologisierung des Lebenslaufs wird durch die altersgeschichteten Systeme öffentlicher Rechte und Pflichten vorangetrieben. Die Einführung von Zugangskriterien, die an das chronologische Alter gebunden sind, hängt damit zusammen (Kohli
1985). Diese Einteilung des Lebens widerspiegelt einen besonders gut sichtbaren Aspekt des standardisierten Lebenslaufs:
Alle Institutionen der modernen Gesellschaft sind zumindest
teilweise bezüglich Altersnormen organisiert. Für das Bildungssystem gilt dies in ausgeprägter Weise (Buchmann 1989b).
Basierend auf normalen ausbildungsbezogenen und beruflichen
Fahrplänen, wie sie eine Normalbiographie enthalten sollte,
legen Institutionen die Dauer von Lebensphasen und Statuspas13
sagen im Lebenslauf fest (Geissler und Krüger 1992). Übergänge
wurden im Rahmen dieser Institutionalisierungsprozesse kürzer,
es kam zu einer verstärkten Segmentierung und Standardisierung
des Lebens entlang des Alterskontinuums (Kohli 1985). Statuspassagen verknüpften Institutionen und biographische Akteure indem sie biographische Abläufe festlegen sowie Eintrittswie auch Austrittspunkte von Übergängen zwischen sozialen Statuskonfigurationen (Heinz 1996). Für das Individuum ist es wesentlich, ob es einen Übergang zu einer der jeweiligen Altersnorm entsprechenden Zeit vollzieht, oder ob dies zu einem ungewöhnlichen Zeitpunkt geschieht und somit das „Timing“ (Kohli
1980) einer Statuspassage nicht stimmt.
3.2.2 Staatliche Regulierung des Lebenslaufs
Die zunehmende Beteiligung des Staates an der Definition und
Durchsetzung altersnormierter Regeln im Rahmen des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses führte zu einer immer
ausgeprägteren Strukturierung des Lebenslaufs. Die Logik
staatlicher Interventionen beruht auf kulturellen Vorstellungen der Normalität (Geissler und Krüger 1992). Sie folgt im
wesentlichen universalistischen und rationalen Prinzipien des
formalen Rechts. In der Folge erhielt der Lebenslauf eine
stärker formalisierte, standardisierte und bürokratisierte
Struktur (Buchmann 1989a): die politische Regelung des Lebenslaufs wandelt immer mehr Aspekte des Lebens in institutionell
festgelegte Lebensereignisse und institutionell definierte Lebensphasen. Das institutionalisierte Lebenslaufregime (Geissler und Krüger 1992) beinhaltet festgelegte Sequenzen von Statuskonfigurationen und Rollenkonfigurationen. Alter ist ein
wichtiges Kriterium für den Zugang zu bestimmten Rollen (Kohli
1980). Diese Sequenzen von Rollen und Positionen liessen Laufbahnen entstehen (Buchmann 1989b), sogenannte ‚trajectoires‘
(Bourdieu 1985, Hoerning 1989), entlang derer sich Individuen
während ihres Lebenslaufs durch den sozialen Raum und die soziale Zeit bewegen. „Die Altersgebundenheit von Positionen und
14
Rollen verfestigt sich in ‚sozialen Fahrplänen‘, die zeitliche
Erwartungen bezüglich eines breiten Spektrums an nichtinstitutionalisierten Lebensereignissen und -übergängen strukturieren. Demgegenüber legen die institutionalisierten Mechanismen der Statusallokation und -verknüpfung die Austauschbeziehungen unter aufeinanderfolgenden Positionen und Rollen innerhalb und zwischen institutionellen Bereichen (z.B. Bildung,
Beruf, Pensionierung) fest“ (Buchmann 1989a, S. 91). Es entstand eine Trennung zwischen dem privaten Lebenslauf, der die
nicht-institutionalisierten Elemente des Lebens umfasst, und
dem öffentlich geregelten Lebenslauf (Buchmann 1989a).
Im Lauf der historischen Entwicklung haben sich die zentralen
Leistungssysteme wie das Bildungssystem und das System der Altersleistungen stark ausgedehnt und zu einer Homogenisierung
der individuellen Lebensläufe geführt (Kohli 1985). Durch die
Einführung der allgemeinen Schulpflicht ist es zu einer einheitlichen Lebensphase gekommen. Die Schule wurde in den vergangenen zwei Jahrhunderten zu einer der wichtigsten Sozialisationsinstanzen, viele Aufgaben, die früher überwiegend von
der Familie wahrgenommen wurden, sind heute der Schule überlassen (Lamprecht 1991). Regeln bestimmen die Austauschverhältnisse zwischen aufeinanderfolgenden Positionen und Rollen
und zwischen institutionellen Bereichen wie beim Übergang vom
Bildungssystem in das System der beruflichen Ausbildung (Buchmann 1989b). Bildungszertifikate repräsentieren die soziale
Anerkennung kultureller und beruflicher Kompetenzen. Ihre
Funktion besteht darin, die Individuen in unterschiedliche institutionalisierte Laufbahnen zu weisen, sie bilden damit ein
Klassifizierungssystem (Buchmann 1989a). Das Bildungssystem
erfüllt zentrale Funktionen bei diesem Statuszuweisungsprozess
(Lamprecht 1991), es leistet eine Allokations- und Selektionsfunktion innerhalb der gesellschaftlichen Strukturen. „Soziale
Unterschied erscheinen innerhalb des Bildungssystems nur als
individuelle, meist von Begabungen und Leistungswille gepräg15
te. Nur so werden sie von den Teilnehmern in der Regel wahrgenommen und erfahren“ (Graf und Lamprecht 1991, S. 81). Der Umfang, in dem askriptive Merkmale wie das Geschlecht, die Nationalität oder die soziale Herkunft neben den individuellen
Leistungen die ungleiche Statusverteilung mitbestimmen, ist
ein Mass für die meritokratische Ausrichtung einer Gesellschaft (Leemann 2002). Gemäss Bourdieu (1982) produzieren und
verstärken die offiziellen Unterschiede verursacht durch akademische Klassifikationen real vorliegende Unterschieden, indem sie im klassifizierten Individuum einen kollektiv anerkannten und geförderten Glauben in das Bestehen von Unterschieden bewirken und so ein Verhalten erzeugen, welches das
wirkliche Sein mit dem öffentlichen Sein in Übereinstimmung
bringen.
Das Bildungssystem und das Rentensystem sind die Träger der
Ausdifferenzierung wichtiger Lebensphasen, auf ihrer Grundlage
basiert das Modell des dreigeteilten Lebenslaufs (Kohli 1985).
Es strukturiert verschiedene Lebensstadien, unterscheidet diese voneinander und regelt deren Verknüpfung. Formale Bildung
leistet zudem einen wesentlichen Beitrag zur Vererbung der gesellschaftlichen Position von einer Generation zur nächsten,
der Bildungsstatus der Eltern ist von Bedeutung für den Lebenslauf ihrer Kinder (Lenhardt 1992). Durch formale Bildungszertifikate erlangt der Arbeitsmarkt Bedeutung für Kinder, jeder weiss, schlechte Schulleistungen bewirken einen negativen
Einfluss auf spätere Chancen im Lebenslauf (Lenhardt 1992):
„Durch die Verknüpfung der Vergabe von gesellschaftlich knappen und hoch bewerteten Gütern an die Berufsarbeit, entscheidet Schulerfolg nicht nur über den Zugang zu sozialen Positionen, sondern bis zu einem bestimmten Maß über zukünftige Lebenschancen“ (Lamprecht 1991, S. 131).
Neben dem Bildungssystem führte die Ausgestaltung des Wohlfahrtsstaates zu einer Institutionalisierung beruflicher Kontinuität im Zentrum der modernen Normalbiographie (Geissler
16
und Krüger 1992). Die Standardisierung des Lebenslaufs wird
weiter gefördert durch „die industrielle Arbeitsgesellschaft,
durch die koordinierten Strategien von Gewerkschaften, Staat
und Unternehmern und die daraus resultierende Arbeitsplatzsicherheit und die steigenden Realeinkommen“ (Mayer 1998, S.
442).
3.2.3 Prekäre Balance
Die Institutionalisierung des Lebenslaufs stellt einen sozialen Mechanismus zur Organisation und Regelung der individuellen Lebenszeit dar. Dadurch werden die Anforderungen der Gesellschaft mit den Bedürfnissen des Individuums als biographischem Akteur vereinbart. Die Standardisierung und Individualisierung des Lebenslaufs begleiten in dieser Weise die zunehmende Institutionalisierung und Rationalisierung der Gesellschaft (Buchmann 1989b). Das Leben in der modernen Gesellschaft ist weniger bestimmt durch Traditionen und Bräuche. Es
ist zugänglicher für individuelle Handlungsorientierungen,
denn die Folge des veränderten Zusammenwirkens zwischen Familie, Bildung und Arbeit ist eine zunehmende Offenheit von Bildungswegen und Karriereverläufen. Dies bringt „erhöhte Handlungs- und Entscheidungszwänge, erhöhte Anpassungs- und Gestaltungsleistungen“ (Mayer 1987, S. 52) mit sich, denn einhergehend mit der Pluralisierung des Lebenslaufs muss dieser
in stimmiger Weise an hochgradig standardisierte und bürokratisierte Lebenslaufmuster angepasst werden. Individuen können
und müssen lebenslaufbezogene Entscheide treffen, sie müssen
der eigenen Bastelbiographie eine geeignete Form verleihen.
Gleichzeitig müssen sie aber auch den Erfordernissen des standardisierten Lebenslaufs entsprechen, sie müssen eine lückenlose Normalbiographie (Levy 1996) aufweisen, gerade wenn sie
sich ohne Nachteile auf dem Arbeitsmarkt bewegen wollen. Insofern weist der institutionalisierte Lebenslauf zwei Seiten
auf. Er bietet einerseits Sicherheit bezüglich wichtiger Lebensereignisse, macht das Leben planbar und verleiht der indi17
viduellen Position im sozialen Raum Kontinuität und Stabilität.
Die Kenntnis des Einzelnen von üblichen Lebensläufen liefert
die Horizonte für seine eigene Planung. „Der Lebensplan ist
der grundlegende Kontext, in dem das Wissen um die Gesellschaft im Bewusstsein des Individuums organisiert ist“ (Berger
et al. 1975, S. 67). Der Umstand, dass institutionelle Ansprüche antizipiert werden können, verursacht die Notwendigkeit,
individuelle Biographien entsprechend anzupassen (Geissler und
Krüger 1992).
Der Lebenslauf beinhaltet jedoch auch die Möglichkeit von sozialen Spannungen in Form von negativen Sanktionen, Diskriminierungen und Rollenstress, falls Individuen gezwungen sind,
Lebenswege zu verfolgen, die nicht den akzeptierten kulturellen Vorstellungen der Gesellschaft entsprechen (Levy 1996).
Ein unvollständiger Lebenslauf, der die Teilnahme bestimmter
gesellschaftlicher Bereiche vermissen lässt, kann Gegenstand
von Spannungen sowohl struktureller wie auch kultureller Art
sein, mit denen das Individuum fertig werden muss, möglicherweise in dem es biographische ‚Normalität‘ neu für sich definiert (Levy 1996). Individuen haben einerseits mehr Wahlmöglichkeiten ihren Lebenslauf zu organisieren, gleichzeitig tragen sie aber auch eine verstärkte Verantwortung für die Ergebnisse ihrer Entscheidungen (Heinz 1996). Die Generierung biographischer Kontinuität ist sowohl zu einer sozialen Notwendigkeit wie auch einem subjektiven Bedarf geworden (Geissler
und Krüger 1992).
Im historischen Prozess der Modernisierung laufen zwei gegenläufige Entwicklungen ab: Handeln, das individuell geplant,
durchgeführt und bewertet werden kann wird in einem allgemeinen, auf einer zeitlichen Struktur aufbauenden, institutionellen Muster gebunden. Individualisierung der Moderne bedeutet
so gesehen mehr als nur Freisetzung der Individuen, Erweiterung der Möglichkeiten und Verschiedenheit im Vergleich mit
18
anderen: „Der historische Prozess der Individualisierung bedeutet in dieser Perspektive, dass die Person sich nicht mehr
über die Zugehörigkeit zu einer sozialen Position bzw. die
Mitgliedschaft in einem sozialen Aggregat konstituiert, sondern über ein eigenständiges Lebensprogramm“ (Kohli 1988, S.
35). Kohli spricht von einem neuen Modus, der die Vergesellschaftung, die in der Vormoderne auf der Familie, der Lokalgesellschaft oder dem Stand beruht, auf die Ebene des Individuums transferiert. Individuen werden innerhalb zu Trägern, zur
neuen Struktur, des sozialen Lebens erhoben. Neben dem Lebenslauf wird auch Individualität zum Programm; als zentrale Aspekte des modernen Lebens sind sie institutionalisiert.
Für das Subjekt bedeutet diese doppelte Institutionalisierung,
dass es als Handlungszentrum Handlungsfreiheit besitzt, da ihm
eine eigenständige Lebensorientierung sozial ermöglicht wird.
Da diese Lebensorientierung aber auch verlangt wird, steht es
gleichzeitig unter Entscheidungszwang. Menschen der Moderne
haben sich zwischen dem Anspruch und dem Zwang zur individuellen Entfaltung und dem Massstab des Lebens als Normalprogramm
zu verwirklichen - ohne Wertung kann davon ausgegangen werden,
dass dies eine problematische Aufgabe ist, der höchstens in
Form eines vorübergehenden Gleichgewichts begegnet werden
kann.
Der enge Bezug zwischen Lebenslauf und Altersnormen birgt die
Möglichkeit zeitlicher Unstimmigkeiten im Rahmen von Übergängen in sich. Das Verlassen einer Rolle muss nicht zwangsläufig
mit der Übernahme neuer Rollen zusammen fallen (Buchmann
1989b). Der Übergang vom schulischen Bildungssystem in das
System der beruflichen Ausbildung ist ein massgeblicher Zeitpunkt, um die Verknüpfung zwischen dem Einfluss der sozialen
Struktur auf den Lebenslauf und der individuellen Organisation
der eigenen Biographie aufzuzeigen. Hier ist die Notwendigkeit
ersichtlich, den Lebenslauf sowohl von der makrosoziologischen
Perspektive her zu betrachten, wie auch die Sichtweise der bi19
ographischen Akteure in die Analyse miteinzubeziehen.
Das Verständnis einzelner Lebensphasen und Übergänge im Lebenslauf setzt voraus, dass diese als ganzes betrachtet (Buchmann 1989b) und mit Bedingungen und Verläufen ausserhalb des
jeweiligen Lebensbereichs in Beziehung gesetzt werden (Mayer
1987). Statuspassagen sind Wendepunkte im Leben, in denen Institutionen einerseits Handlungsoptionen anbieten, aber vom
Individuum auch verlangen, eigene Lebenspläne zu entwickeln
und eine Bilanz des bisherigen Lebens anzufertigen (Geissler
und Krüger 1992). Handeln ist nie nur Vollzug sozial tradierter Wissensbestände, sondern hat immer auch den Charakter des
offenen Entwurfs (Fischer und Kohli 1987). Heute ist die Sozialisation3 nicht mehr abgeschlossen, sobald sich ein gefestigtes Ich gebildet hat, sondern bildet einen lebenslangen Prozess. Der Blick auf den als Ganzes Lebenslauf ermöglicht es,
statt einzelne Lebensphasen isoliert zu thematisieren, die unterschiedlichen Lebensphasen miteinander zu vergleichen (Kohli
1980).
3.3 Destandardisierung institutionalisierter Ablaufmuster
Die Biographisierung der Lebensführung meint die Aufweichung
sozial institutionalisierter Biographieverläufe und eine damit
einhergehende Vergrösserung der persönlichen Handlungsspielräume (Kohli 1985). Gemeint ist die Notwendigkeit der „Selbstthematisierung im Hinblick auf die eigene Lebensplanung“ (Fi3
Gemäss dem ursprünglichen Konzept von Sozialisation wurde darunter die
Herstellung und Sicherung sozialer Integration in Form von verinnerlichter
sozialer Kontrolle verstanden. Die Vorstellung des Individuums als passives
Objekt der Sozialisation ist jedoch nicht zutreffend, bereits Kinder entwickeln sich in einer aktiven Auseinandersetzung mit ihrer sozialen und materiellen Umwelt. Bei Erwachsenen trifft dies noch ausgeprägter zu (Kohli
1980). Eine Alternative bildet ein Konzept der Sozialisation, das Entwicklung als Wachstum versteht, d.h. als „das Erreichen eines Zieles oder die
Entfaltung von Subjektivität“ (ebd., S. 314).
20
scher und Kohli 1987, S. 40-41) als Folge der Zunahme von verfügbaren Orientierungs- und Handlungsalternativen. „In den
letzten zwanzig Jahren läßt sich ein Wandel von hochstandardisierten und stabilen Lebensverläufen zu flexibleren, diskontinuierlicheren und in stärkerem Maße individualisierten Lebenslaufmustern beobachten. Dieser Trend kann als partielle Destandardisierung des Lebenslaufs begriffen werden, bedingt
durch den hohen Grad an gesellschaftlicher Rationalisierung
und Individualisierung und die daraus resultierende Dynamik“
(Buchmann 1989a, S. 91).
Kohli zeigt auf, dass die von ihm beschriebene Institutionalisierung des Lebenslaufs als „Normalbiographie“ lediglich bis
in die 60er Jahre wirkte: „Seither mehren sich jedoch die Hinweise darauf, dass der Prozess sich - vor allem was die sequentielle Ordnung des Lebenslaufs betrifft - umgekehrt hat,
dass wir es also mit einer Tendenz zur DeInstitutionalisierung zu tun haben.“ (Kohli 1988, S. 43). Dies
zeigt sich beispielsweise daran, dass verschiedenste Familienkonstellationen für Menschen auf allen Altersstufen möglich
sind oder Teilzeitarbeit und Langzeiturlaub für Flexibilisierung im Arbeitssektor sorgen. Diese gesellschaftliche Tendenz,
zurück zu vermehrt unstabileren, weniger voraussehbaren Mustern des Lebenslaufs kann zwei strukturelle Gründe haben. Einerseits Zwang, als „Folge davon, dass die Kontinuitätsgarantien des Arbeitsmarkts und des wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssystems teilweise ausser Kraft gesetzt sind“ (Kohli 1986,
S. 202). Andererseits Wahl, die entweder als neue Form von Situationsgebundenheit, in der Individuen zu Marionetten von
Systemen werden, oder als Weiterführung des Individualisierungsprozesses verstanden werden muss.
Aus dieser letztgenannten Perspektive führt die partielle Auflösung der zeitlichen Lebensstruktur dazu, dass nicht mehr bestimmte Verlaufsmuster zur „Normalbiographie“ gehören. Von den
Individuen wird vermehrt eine eigenständige biographische Ori-
21
entierung verlangt. Der Zwang zu einer subjektiven Lebensführung nimmt zu. Institutionen, die eine Entlastung für die Inhalte und Konsequenzen der Entscheidungen liefern könnten,
nehmen demgegenüber ab. Die Subjekte werden somit noch stärker
auf sich selbst verwiesen.
Die Prozesse der Destandardisierung des Lebenslaufs (Kohli
1985, Mayer 1998) führten unter anderem dazu, dass der Übergang in die Phase des Erwachsenseins, die sich bis vor wenigen
Jahren als kurzer Abschnitt mit mehreren kurzen Änderungen in
der Status- und Rollenkonfiguration gestaltete, zu einer ausgedehnten, diversifizierten und hoch individualisierten Zwischenperiode entwickelte (Buchmann 1989a, 1989b). Die Übernahme einer neuen Rolle erzeugt einen gesellschaftlichen Sozialisationsbedarf, da das Individuum an die neuen Verhältnisse angepasst werden muss. Sozialisation beschränkt sich in der Folge nicht nur auf die Jugendzeit, sie findet entlang des gesamten Lebenslaufs immer wieder von neuem statt. Je mehr die Kontrolle von Statuspassagen Individuen überlassen wird, desto
verstärkt haben sie die Möglichkeit, selber über die Wahlalternativen zu entscheiden, das Tempo des Ablaufs eines Rollenwechsels zu bestimmen oder einen einmal gewählten Lebenspfad
ganz zu verlassen und den Lebenslauf in einer anderen Richtung
zu verfolgen. Insofern folgt der Lebenslauf keiner linearen
Entwicklung mehr (Heinz 1996).
Charakteristisch für den Ablauf biographischer Übergänge sind
heute individuelle Entscheidungen zwischen alternativen Lebenspfaden. Die Vorstellung von biographischen Übergängen als
klar definierte Statuspassagen ist in fortgeschrittenen Industriegesellschaften nicht mehr angemessen (Buchmann 1989a).
„Berufsbiographien zeichnen sich in vermehrtem Maß durch Diskontinuitäten aus, welche die bislang mehr oder weniger gültige lebenslange Stabilität der Status- und Qualifikationszuschreibungen über die Abschlüsse der schulischen und beruflichen Bildung bedrohen“ (Buchmann 1991, S. 218). Durch zuneh22
mende Diversifikation von Übergangsschritten entsteht das
Problem, die individuelle Zeit mit den institutionalisierten
Anforderungen bezüglich des Lebenslaufs in Übereinstimmung zu
bringen. Statusübergänge sind klarer getrennt von der unmittelbaren sozialen Umgebung des Individuums (Levy 1996). Anstelle der Befolgung traditioneller Rituale ist es heute nötig, dass die Individuen im Rahmen von biographischen Übergängen aktiv bei der Aushandlung ihrer Biographie mit sozialen
Netzwerken und institutionalisierte Gatekeepern4 beteiligt sind
(Heinz 1996).
Dieser Wandel in der sozialen Handhabung von Statuspassagen
erzeugt verstärkt biographische Synchronisationsprobleme. „Mit
dieser sozial strukturierten Diskontinuität korrespondiert die
Verlängerung von Übergängen, die zu ausgedehnten und riskanten
Statuspassagen werden“ (Heinz 2000, S. 179). Der Ablauf der
Übergänge wird immer inkohärenter und stärker beeinflusst
durch äussere, administrative Aspekte, die von Individuen eher
als problematisch empfunden werden, denn als eine willkommene
Vielfalt von Wahlmöglichkeiten (Levy 1996).
Die damit verbun-
dene zunehmende Konfliktivität dieser Übergangsphasen bietet
verstärkt Raum zu Friktionen innerhalb des individuellen Lebensraums. Entsprechend ist der Übergang vom Bildungssystem in
den Arbeitsmarkt unsteter geworden. „Der Beginn mehrerer Ausbildungen ist häufig mit einem Abbruch einer vorangegangenen
verbunden. Man kann von einer Vervielfältigung der Übergänge
vom Ausbildungssystem in das Erwerbssystem sprechen“ (Lauterbach und Sacher 2001, S. 265).
„In den Zeitbegriffen, die hier zugrundegelegt werden, kann
man sagen, daß es sich um eine verzeitlichte Individualität
4
Die wachsende Bedeutung von Gatekeepern und sozialem Kapital (Bourdieu
1983) im Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung beschreibt Beck
(1983, S. 61. Hervorh. im Original): Das Beziehungsnetz wird „zur Schaltstelle für die Vermittlung von Kontakten, (...) der ‚gute Name‘ zum Schlüssel, der die ‚Türen zu den Türen‘ öffnet.“
23
mit entwicklungsgeschichtlicher Dynamik handelt, die gerade
durch diese Dynamik gegen das chronologische Korsett drückt,
in das sie durch das institutionelle Programm des modernen Lebenslaufs eingebunden ist“ (Kohli 1985, S. 21. Hervorh. im
Original).
Die frühere Standardisierung des Lebenslaufs wird im wesentlichen in drei Punkten beeinträchtigt. Einmal wurde die strikte
Dreiteilung des Lebenslaufs in klar voneinander getrennte Lebensphasen der Ausbildung, der Erwerbstätigkeit und des Ruhestandes aufgelöst (Kohli 1985). Besonders die Passagen zwischen Ausbildung und Beruf sind „differenzierter, ausgedehnter
und prekärer“ (Mayer 1998, S. 444) geworden. Es kam zu atypischen Beschäftigungsverhältnissen als Folge einer Flexibilisierung, Deregulierung und Individualisierung der Arbeitsverhältnisse (Lauterbach und Sacher 2001), und zu einer flexibleren Lebensplanung durch die Erhöhung individueller Wahlmöglichkeiten (Kohli 1985). Weiter verlor die frühere Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern „als Norm und Realität an Gewicht und Verbreitung“ (Mayer 1998, S. 445). Im Rahmen des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses kam es zu einer Modernisierung des Geschlechterverhältnisses (Pfau-Effinger
1996). Und die Strukturiertheit des Lebenslaufs anhand von Altersnormen wurde weniger einheitlich (Kohli 1985, Mayer 1998).
Diese Phänome der Destandardisierung des Lebenslaufs werden
erklärt „durch gestiegene Einkommen, die größere Handlungsoptionen eröffnen; durch Wertewandel und veränderte alternative
Lebensentwürfe; durch die Zwänge eines hypostasierten Individualisierungsprozesses; durch die unbeabsichtigten Folgen der
Bildungsexpansion; durch rascheren und radikalen technologisch-beruflichen Strukturwandel; durch die Folgen der Frauenemanzipation sowie durch demographische Diskontinuitäten in
der absoluten Anzahl von Geburten“ (Mayer 1998, S. 445. Hervorh. im Original). Kohli (1985) vermutet, dass der neue Individualisierungsschub die Destandardisierung des Lebenslaufs
24
verstärkt. „Damit spitzt sich die Spannung zwischen Lebenslauf
als institutionellem Programm und als subjektiver Konstruktion
zu. Man kann sagen, daß es gerade die Dynamik des Institutionalisierungsprozess selber ist, die zu einer Unterminierung
der strikten Chronologie des Lebenslaufs führt“ (Kohli 1985,
S. 24). Allerdings konstatiert Mayer (1998) einige Unsicherheiten bezüglich der empirischen Gültigkeit der obigen Zusammenhänge: Es scheint „weder eine Unterstützung für die These
einer zunehmenden Standardisierung des Lebensverlaufs bis in
die 70er Jahre zu geben, noch hinreichende Evidenz für eine
globale De-Institutionalisierung in den Jahrzehnten danach“
(Mayer 1998, S. 447).
3.4 Individuen als Handlungszentrum der Risikogesellschaft
Den Vorgang, den Kohli mit der Institutionalisierung der Individualität und des Lebenslaufs und der schleichenden DeStandardisierung umschreibt, kann mit Ulrich Becks (1996) Konzept der Risikogesellschaft, der reflexiven oder zweiten Moderne verglichen werden. Für die vorliegende Arbeit ist von
der umfangreichen Theorie die Beschreibung des eigendynamisch
verlaufenden Prozesses von Interesse, der die Menschen einem
gesellschaftlichen Individualisierungsschub bei relativ gleich
bleibenden Abständen in der Einkommenshierarchie aussetzt.
3.4.1 Individualisierungsschub im Modernisierungsprozess
In seinem populären Hauptwerk „Risikogesellschaft. Auf dem Weg
in eine andere Moderne“ (1986) schreibt Beck, dass „wir Augenzeugen eines Gesellschaftswandels innerhalb der Moderne sind,
in dessen Verlauf die Menschen aus den Sozialformen der industriellen Gesellschaft - Klasse, Schicht, Familie, Geschlechtslagen von Männern und Frauen
- freigesetzt werden“
(Beck 1986, S. 115). Möglich wird der Wandel durch den „‚Fahrstuhl-Effekt‘: die Klassengesellschaft wird insgesamt eine
Etage höher gefahren“ (ebd., S. 122. Hervorh. im Original).
25
Zwar bleiben die Abstände in der Einkommenshierarchie und die
asymmetrische Verteilung des Reichtums unverändert doch partizipieren erstmals alle Soziallagen von den verbesserten Lebensbedingungen. Verteilungskonflikte ebben ab und damit verlieren soziale Klassen und Schichten ihre Funktion. Im Zuge
der Mobilität, der Verbesserungen des Lebensstandards und der
Bildungschancen gehen die herkömmlichen Orientierungspunkte
für das Handeln der Menschen verloren.
Individualisierung wird „als ein historisch spezifischer, widersprüchlicher Prozeß der Vergesellschaftung gefaßt: Individualisierung vollzieht sich unter den Bedingungen des wohlfahrtsstaatlich organisierten Arbeitsmarktes, ist in diesem
Sinne also Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse und führt
ihrerseits hinein in einen bestimmten konfliktreichen Modus
der Vergesellschaftung, nämlich in eine kollektiv individualisierte Existenzweise, die sich allerdings der Kollektivität
und Standardisierung ihrer Existenzweise nicht ohne weiteres
bewußt werden kann“ (Beck 1983, S. 42. Hervorh. im Original).
Beck bezieht die Individualisierung also nicht auf die Herauslösung aus ständischen oder religiösen Bindungen der vormodernen Gesellschaften, sondern auf die Erodierung der sozialen
Strukturen wie Klasse, Familie und Geschlechterrollen. Im Wegfallen dieser Bezugsrahmen wird ein neuer Modus der Vergesellschaftung gesehen: „Der oder die einzelne selbst wird zur lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen (...) die Individuen werden innerhalb und ausserhalb der Familie zum Akteur ihrer marktvermittelten Existenzsicherung und ihrer Biographieplanung und -organisation“ (Beck 1986, S. 209. Hervorh.
im Original). Um Überleben zu können, müssen sich die Einzelnen somit zum Zentrum ihres eigenen Lebens machen - dies allerdings immer in Bezug auf die Anforderungen und Bedürfnisse
des Arbeitsmarktes, der ein Überleben erst möglich macht: „Der
Schlüssel der Lebenssicherung liegt im Arbeitsmarkt. Arbeitsmarkttauglichkeit erzwingt Bildung. Wem das eine oder andere
26
vorenthalten wird, der steht gesellschaftlich vor dem materiellen Nichts“ (ebd., S. 214). Neben der Arbeitsmarkt- und der
damit zusammenhängenden Bildungsabhängigkeit werden Individuen
zudem konsumabhängig, abhängig von sozialrechtlichen Regelungen und Versorgungen, von Verkehrsplanungen, Konsumangeboten,
Möglichkeiten und Moden in der medizinischen, psychologischen
und pädagogischen Beratung und Betreuung.
Entscheidungszwang
In dieser Institutionenabhängigkeit der Moderne zeigt sich ein
Widerspruch: Der Verfall der traditionalen Bindungen und Sozialformen ermöglicht eine neue Bewusstseinsform, die den Lebenslauf als frei gestaltbar und zur individuellen Verfügung
stehend auffasst. Gegenläufig tauchen mit den Zwängen des Arbeitsmarktes und der Konsumexistenz sekundäre Instanzen und
Institutionen als neue Kontrollmechanismen auf.
Sicherheit in Form von Orientierungsvorgaben oder in bezug auf
soziale Bindungen können die Institutionen der zweiten Moderne
jedoch nicht mehr bieten. Sie orientieren sich nämlich noch an
den „Normalbiographien“, basierend auf dem NormalArbeitsverhältnis und den vollständigen Familien. In der von
Massenarbeitslosigkeit und verschiedensten Familienvarianten
geprägten Wirklichkeit ist allerdings die selbstreflexive,
„selbst hergestellte und herzustellende Biographie“ der Normalfall. Das heisst: Menschen aller Lebenslagen sind weniger
in überindividuell festgehaltenen Arrangements gefangen, haben
Wahlmöglichkeiten, können sich entscheiden und somit Chancen
nutzen - einzig und allein die Wahl sich nicht zu entscheiden
entfällt. Der Zwang zur Autonomie herrscht auch in den Bereichen, die aufgrund von mangelndem Bewusstsein oder fehlenden
Alternativen eine Entscheidung eigentlich nicht zulassen.
Als Entscheidungsträger, die - ob gewollt oder nicht - für oder gegen etwas stimmen, haben Individuen für die Folgen ihres
Tuns die Verantwortung zu tragen: „Für den einzelnen sind die
27
ihn determinierenden institutionellen Lagen nicht mehr nur Ereignisse und Verhältnisse, die über ihn hereinbrechen, sondern
mindestens auch Konsequenzen der von ihm selbst getroffenen
Entscheidungen, die er als solche sehen und verarbeiten muss“
(ebd., S. 218). Dieser Aspekt wird verstärkt durch die Beschaffenheit der Ereignisse, die als einschneidend erlebt werden: Früher wurde ein Leben von kaum beeinflussbaren Zwischenfällen wie Naturkatastrophen oder Todesfällen in neue Bahnen
gelenkt, heute sind es „eher Ereignisse, die als ‚persönliches
Versagen‘ gelten, vom Nicht-Bestehen eines Examens bis zu Arbeitslosigkeit oder Scheidung“ (ebd.). Diese Eigenverantwortlichkeit der Subjekte erfordert eine konsequente Selbstbezogenheit im Hinblick auf die gesamte Lebensführung, die Beck
als „Zwänge zur Selbstverarbeitung, Selbstplanung und
Selbstherstellung von Biographie“ (ebd.) bezeichnet.
Die Bereiche nehmen ab, „in denen gemeinsam verfaßtes Handeln
das eigene Leben affiziert, und es nehmen die Zwänge zu, den
eigenen Lebensverlauf selbst zu gestalten, und zwar auch und
gerade dort, wo er das Produkt der Verhältnisse ist“ (Beck
1983, S. 58). Die Biographie der Menschen wird aus vorgegebenen Fixierungen gelöst und als Aufgabe in das individuelle
Handeln gelegt (Beck 1983). Die „Anteile der entscheidungsoffenen, selbst herzustellenden Biographie nehmen zu. Individualisierung von Lebensläufen heißt also hier, daß Biographien
‚selbstreflexiv‘ werden: sozial vorgegebene Biographie wird in
selbst hergestellte und herzustellende transformiert und zwar
so, daß der einzelne selbst zum ‚Gestalter seines eigenen Lebens‘ wird, und damit auch zum ‚Auslöffler der Suppe, die er
sich selbst eingebrockt hat‘“ (Beck 1983, S. 58. Hervorh. im
Original).
Der Einzelne musste im Individualisierungsprozess zunehmend
lernen, „sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro in
bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen“ (Beck 1983, S.
28
59. Hervorh. im Original). Die biographischen Ereignisse gestalten sich nicht mehr als schicksalhafte Vorkommnisse, verursacht durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen er
lebt. Mindestens teilweise sind sie nun Konsequenzen der eigenen Entscheidungen, die Individuen als solche erkennen und
verarbeiten müssen und selbst zu verantworten haben (Beck
1983). Der Anstieg von Wahlmöglichkeiten zwingt die Individuen, „sich auf die eine oder andere Weise zu den gleichzeitig
wirksamen Vorgaben in Bezug zu setzen, sich mithin selbst zu
definieren“ (Meyer et al. 1999, S. 44). Es kommt zu einer
wachsenden „Sensibilität für gesellschaftliche Zusammenhänge
und Alternativen des Lebensplanung“ (Hradil 1983, S. 108).
Mit der Ausbreitung formaler Bildung in den industriellen Gesellschaften sind „Individualisierungsprozesse in einem mehrfachen Sinne verbunden. Mit der Verlängerung schulischer Bildung wird die Herauslösung aus dem Herkunftsmilieu zum selbstverständlichen Massenschicksal. Zugleich werden traditionale
Orientierungen, Denkweisen und Lebensstile durch universalistische Lehr- und Lernbedingungen, Wissensinhalte und Sprachformen umgeschmolzen oder kollektiv verdrängt. Bildung ermöglicht - unterschiedlich je Länge und Inhalt - ein Minimum an
Selbstfindung- und Reflexionsprozessen. Das Durchlaufen des
Bildungssystems ist darüber hinaus auch mit Selektionsprozessen verbunden und erweckt bzw. erfordert insofern individuelle
Aufstiegsorientierungen, die selbst dort noch wirksam bleiben,
wo ‚Aufstieg durch Bildung illusionär und Bildung in ein notwendiges Mittel gegen den Abstieg verwandelt und abgewertet
wird“ (Beck 1983, S. 45. Hervorh. im Original).
3.4.2 Entscheidungen in der Multioptionsgesellschaft
Auch Peter Gross sieht das Subjekt der Moderne als Bezugspunkt
des eigenen Tun und Unterlassens. In seinem Hauptwerk „Die
Multioptionsgesellschaft“ (1994) schreibt er: „Angesichts der
multiplen Optionen einerseits und der verblassten Selbstverständlichkeiten andererseits, also weder mehr wissend, was er
29
eigentlich will, noch glaubend, was er soll, tut sich in der
Tat eine Leere auf, die den Menschen von heute immer wieder
auf sich selbst zurückwirft, zurückverweist“ (Gross 1984, S.
109, zitiert aus Abels 2000, S. 98). Das heisst: Gross sieht
die Orientierung am eigenen Ich als eine Konsequenz des Orientierungsverlustes, resultierend aus dem Schwinden des ungeprüft Erwarteten. Er erkennt darin aber auch die Auswirkungen
einer Gesellschaft, deren oberstes Kredo der Wille zur Steigerung, zum Vorwärts und zum Mehr ist. Da dieser zweite Punkt
als Ergänzung zu dem bisher Dargestellten verstanden wird,
soll er kurz erläutert werden.
Die sich ständig vorwärtsdrängende Gesellschaft basiert nach
Gross auf dem reflektierenden Bewusstsein, das sich im Kontext
der Aufklärung bildete. Mut sich des eigenen Verstandes zu bedienen - wie es Kant formuliert - und logisch klares und richtiges Denken führen zur Entzauberung der Welt in dem Sinne,
dass alles so oder aber auch anders sein kann als es scheint.
Dadurch gibt es nichts Festes mehr, alles wird möglich; tradierte Arten von Bindungen, alle Verbindlichkeiten werden aufgelöst und durch Optionen, also Wahlmöglichkeiten, ersetzt.
Die heutige Welt verspricht nun - vermittelt beispielsweise
durch Fernsehen und Werbung - dass jede dieser Optionen, zu
jeder Zeit und für jedes Individuum offensteht und realisierbar ist. Die Überforderung, die in dieser Vorgabe liegt, zeigt
sich als „Realisierungsdruck“, ausgelöst durch die Angst, den
Anschluss ans Leben, das Nützen der Möglichkeiten, zu verpassen. Um in der Gesellschaft mithalten zu können, müssen sich
Individuen für eine Option entscheiden. Nach der Entscheidung
fallen die nicht gewählten Möglichkeiten nicht weg, sondern
bleiben als Möglichkeitshorizont erhalten und werden durch neu
hinzukommende Anschlussmöglichkeiten ergänzt. Somit wird eine
weitere Entscheidung notwendig, die am Horizont wiederum neue
Optionen erscheinen lässt. Gross spricht in diesem Zusammenhang von einer Optionssteigerung, die sich immer stärker der
30
Kontrolle der Individuen entzieht. Die Optionen werden nämlich
nicht geschaffen - sie schaffen sich selbst: Eine getroffene
Entscheidung gebiert sozusagen neue Optionen, so dass der Gedanke daran was morgen oder übermorgen für Möglichkeiten offen
stehen überwältigend wirkt.
Das Lebens-Puzzle
Die Menschen der Multioptionsgesellschaft stehen unter dem
Druck, ihr individuelles „Lebens-Puzzle“ zusammenzusetzen, so
dass durch das Verfolgen verschiedenster Möglichkeiten ein
Mehr, Besser oder noch Mehr daraus resultiert. Vermeintlich
frei und individualisiert, haben sie dem standardisierten Vorwärts-Zwang zu gehorchen - und die Konsequenzen daraus zu tragen. Abschliessbar ist das Puzzle nicht, da das Ansetzen eines
Stücks mittels Wahl einer Option ja bereits wieder neue Anschlusspunkte offenlegt. Auf die Frage, ob sie ihr Puzzle
bestmöglich arrangieren, rechtzeitig am richtigen Ort sind oder wieder einmal zu spät kommen, gibt es keine schlüssige und
sicherlich keine kollektive Antwort.
Orientierungshilfen könnten Regelungen bieten, die, vermittelt
von Institutionen und Organisationen, den aktuellen Stand vernünftigen Handelns suggerieren. Da sie jedoch selbst Ergebnis
von Wahlen sind, präsentieren sie sich bereits im nächsten Moment wieder in anderer Konstellation; ebenfalls ständigem Wandel unterworfen, bieten sie keine Hilfe. Gross sagt denn auch,
dass „das wirklich Angstmachende in der modernen Gesellschaft
(...) das Irreguläre und Unberechenbare“ sei (ebd., S. 100,
zit. aus Abels 2000, S. 97).
3.5 Soziale Ungleichheit und soziale Lage
Unter sozialer Ungleichheit werden „vorteilhafte und nachteilige Lebensbedingungen von Menschen, die ihnen aufgrund ihrer
Positionen in gesellschaftlichen Beziehungsgefügen zukommen“
(Hradil 1995, S. 147) verstanden. Wird die Struktur sozialer
31
Ungleichheit in industriellen Gesellschaften betrachtet, untersucht man in der Regel die Verteilungen von Einkommen und
Vermögen, beschäftigt sich mit Bildungsstrukturen, Machtverhältnissen und Prestigedifferenzierungen (Hradil 1983). Es
lässt sich jedoch kaum übersehen, dass der schichtungssoziologische Zugang nicht alle Erscheinungen sozialer Ungleichheit
zu umfassen vermag. Der Begriff der sozialen Ungleichheit
schliesst eine Reihe von Phänomenen mit ein, die von den traditionellen Ansätzen für gewöhnlich übergangen werden (Hradil
1983).
3.5.1 Das mehrdimensionale Statusmodell
Frühe Modelle der Schichtungssoziologie setzten soziale Ungleichheit häufig in Beziehung zum Prestige eines Individuums.
Eine Alternative hierzu stellt das mehrdimensionale Statusmodell dar, dass weitere Dimensionen sozialer Ungleichheit umfasst (Hradil 1983). Soziale Ungleichheit wird dabei anhand
mehrerer unabhängiger Dimensionen untersucht: Es sind dies
ökonomische Faktoren, gemessen am Einkommen und Vermögen einer
Person, das Wissen, gemessen in Form des höchsten erreichten
Bildungsabschlusses, sowie Macht und Prestige (Dietz 1997,
Hradil 1983, 1996). Diese Dimensionen stellen begehrte Güter
(Hradil 1996) dar, die den Individuen als relativ stabile
Merkmale eigen sind. „Der Besitz dieser Güter bedeutet für den
einzelnen eine prinzipiell jederzeit wirksame Bedingung seiner
Lebenschancen und eine vielfältig einsetzbare Ressource seiner
Handlungsfähigkeit“ (Hradil 1983 S. 104. Hervorh. im Original). Die Ausprägungen dieser Ressourcen ergeben innerhalb der
betrachteten Dimensionen vielfach abgestufte Statuslagen (Hradil 1983). „Wenn hieraus - eindimensionale oder mehrdimensionale - ‚Schichten‘ zusammengefaßt werden, so stellen diese
Kollektive nominal abgegrenzte Personenkategorien mit gemeinsamer äußerer Lage dar“ (Hradil 1983, S. 104-105). Ein vorliegendes Gefüge sozialer Ungleichheit lässt sich durch die Ausgestaltung der Strukturebenen charakterisieren, die durch die32
se Ungleichheitsdimensionen festgelegt werden (Hradil 1996).
Mit dem statusbezogenen Modell sozialer Ungleichheit besteht
die Möglichkeit, „ein übersichtliches Abbild des Gefüges sozialer Ungleichheit zu schaffen, die Gesamtheit der Bevölkerungsmitglieder hierin einzuordnen und alle Individuen mit anderen vergleichen zu können“ (Hradil 1983, S. 106).
Am Schichtbegriff wird kritisiert, er sei zu breit angelegt
und unspezifisch, dadurch mangle es ihm an theoretischer Erklärungskraft; gleichzeitig wird dem Schichtbegriff vorgeworfen, er sei zu eng, da er nur die traditionellen, vertikal angeordneten Dimensionen sozialer Ungleichheit berücksichtige
und zentrale Ungleichheitsdimensionen wie Geschlecht, Religion, Alter und Ethnie unbeachtet lasse (Lamprecht und Graf
1991). Ein Verschwinden der klassischen Konzepte von Stand und
Klasse aus dem wissenschaftlichen Feld der Aufmerksamkeit
stellt Beck wie im vorausgehenden Kapitel erläutert in Aussicht: „Bei möglicherweise konstant bleibenden oder sich sogar
verschärfenden Ungleichheiten in Einkommen, Bildung und Macht
werden die klassischen Themen und Konflikte sozialer Ungleichheit zunehmend verdrängt durch die Themen und immanenten Widersprüche eines gesellschaftlichen Individualisierungsprozesses, der die Menschen immer nachdrücklicher mit sich selbst
und den Fragen der Entfaltung ihrer Individualität, ihres persönlichen Wohin und Wozu konfrontiert, sie aber zugleich einbindet in die Enge und Zwänge standardisierter und gegeneinander isolierter Lebenslagen“ (1983, S. 68).
3.5.2 Ungleichheit der sozialen Lage
Die Forderung nach einer Veränderung der Ungleichheitsforschung wird damit begründet, dass die Wandlungen in der sozialen Struktur der Gesellschaft, die seit Ende der sechziger
Jahre zu beobachten sind, durch die Vorstellung von übereinander liegenden Schichten nicht mehr in geeigneter Weise erfasst
werden können (Buchmann 1991, Dietz 1997, Geißler 1996,
Lamprecht und Graf 1991). Die neuen Ungleichheitskonstellatio33
nen könnten besser mit dem Begriff des Milieus5 erfasst werden,
da einzelne Milieus einander nicht in einer vertikalen Relation zugeordnet werden müssen, sondern ein komplexes Neben- und
Übereinander ermöglichen (Buchmann 1991). In den letzten Jahrzehnten rückten weitere Erscheinungen sozialer Ungleichheit
ins Blickfeld, die nicht unter den Dimensionen des Statusmodells zu finden sind: „Dies trifft z.B. für die Ungleichheit
der Arbeitsbedingungen zu, aber auch für regionale und sektorale Dispariäten der Infrastrukturversorgung, für Ungleichheiten auf dem Gebiet der Freizeitbedingungen und der sozialen
Sicherheit (Sicherheit des Arbeitsplatzes, der Gesundheitsund Altersversorgung), sowie für ungleiche Kontaktmöglichkeiten und die Betroffenheit von Vorurteilen“ (Hradil 1983, S.
106-107). Es wird dahingehend argumentiert, dass soziale Ungleichheiten grundsätzlich an Bedeutung verloren hätten, oder
dass sich die Ungleichheitsstrukturen soweit kompliziert hätten, dass konventionelle Schichtvorstellungen der vorfindlichen gesellschaftlichen Organisation nicht mehr gerecht werden
können (Stamm und Lamprecht 1996, S. 510).
Die zusätzlichen Aspekte der Lebenslage sind nicht neu, doch
sie scheinen im Rahmen des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses an Bedeutung gewonnen zu haben. Diese neuen Aspekte
stellen eine Differenzierung der Struktur sozialer Ungleichheit dar, weil sie mit den bisher betrachteten Dimensionen immer weniger stark korrelieren, mit ihnen rücken neue Qualitäten der Ungleichheit nach vorn. Die Ausprägungen dieser Kriterien treten vermehrt in bestimmten Kombinationen auf, die sich
spezifischen Problemlagen für einzelne Gruppen zuordnen lassen
(Hradil 1983). Die Betrachtung divergierender milieuspezifi-
5
Unter einem Milieu versteht Hradil (1995, S. 161) „die bei einer bestimm-
ten Personengruppe typischerweise zusammentreffenden Grundwerte, Grundeinstellungen und Verhaltensmuster (...) Das Leben in solchen Milieus prägt
Menschen und läßt sie ihre jeweilige Um- und Mitwelt (...) in bestimmter
Weise wahrnehmen und nutzen.“
34
scher Lebensumstände und Orientierungen verdeutlicht, dass
sich vergleichbare strukturelle Bedingungen beispielsweise bezüglich Einkommen, sozialer Sicherheit oder Arbeitsbedingungen
nicht für alle Betroffenen gleich auszuwirken brauchen. Der
Einfluss struktureller Bedingungen sozialer Ungleichheit auf
den Lebenslauf des Einzelnen wird durch die Funktionalität und
die Interpretation dieser Bedingungen im Rahmen spezifischer
Milieus mitbestimmt (Hradil 1983). „Soziale Milieus bilden
sich unter den Bedingungen des gewachsenen Möglichkeitsraums
nun nicht mehr durch ‚Beziehungsvorgabe‘, deren dominierende
Bedeutungsebene in geschichtlichen oder Klassengesellschaften
die ‚Distinktion‘ war. Vielmehr entstehen sie in der Erlebnisgesellschaft durch ‚Beziehungswahl‘, in der die gegenseitige
soziale Wahrnehmung, ‚subjektive Milieumodelle‘, leicht entschlüsselbare Symbole und auch im flüchtigen Kontakt gut verständliche Zeichen eine immer größere Rolle spielen“ (Berger
1994, S. 257. Hervorh. im Original).
Als wichtige Ursachen für diese Änderungen werden insbesondere
die Bildungsexpansion genannt, durch welche die Bildungschancen breiter Bevölkerungskreise gestiegen seien (Krais 1996),
sowie der Ausbau des Wohlfahrtsstaates, der zu einer kollektiven Erhöhung des materiellen Lebensstandards geführt hat
(Buchmann 1991, Lamprecht und Graf 1991). Individualisierungsprozesse „greifen erst dann und genau in dem Maße, in dem die
Bedingungen der Klassenformierung durch materielle Verelendung, wie sie Marx vorhergesagt hat, überwunden werden“ (Beck
1983, S. 48. Hervorh. im Original). Bei vergleichbaren Ungleichheitsrelationen hat sich das Niveau in den letzten Jahrzehnten verschoben. Diese Niveauveschiebung kann für die Lebensumstände der Menschen viel bedeutsamer sein, als die auf
dem neuen Niveau fortbestehenden Abstände. Besonders stark ist
die Auswirkung solcher Verschiebungen wo die Lage am schlechtesten war, in den am meisten benachteiligten Regionen sozialer Ungleichheit (Beck 1983).
35
Es ist ein rascher, anhaltender Wandel „in den materiellen und
soziokulturellen Lebensbedingungen und -perspektiven der Menschen unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle der Ungleichheitsforschung“ zu beobachten“ (Beck 1983, S. 40. Hervorh. im Original). Diese Entwicklung steht in Zusammenhang mit dem beobachteten „Individualisierungsschub, in dessen Verlauf auf dem
Hintergrund eines relativ hohen materiellen Lebensstandards
und weit vorangetriebener sozialer Sicherheiten durch die Erweiterung von Bildungschancen, durch Mobilitätsprozesse, Ausdehnung von Konkurrenzbeziehungen, Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen, Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit und vielen
anderen mehr die Menschen in einem historischen Kontinuitätsbruch aus traditionellen Bindungen und Versorgungsbezügen herausgelöst und auf sich selbst und ihr individuelles ‚(Arbeitsmarkt-)Schicksal‘ mit allen Risiken, Chancen und Widersprüchen
verwiesen wurden und werden“ (Beck 1983, S. 41. Hervorh. im
Original).
Als Konsequenz wurde die Nützlichkeit der traditionellen Begriffe von Schichten und Klassen in Frage gestellt: Durch die
gestiegenen Konsumchancen und die vertiefte soziale Sicherheit
sind die Grenzen zwischen Oben und Unten zwar nicht aufgehoben
worden, doch sie wurden überlagert und aufgeweicht. Das führte
dazu, dass sich keine klar abgegrenzten Schichten oder Klassen
mehr festmachen lassen (Lamprecht und Graf 1991). Es wird immer schwieriger, benachteiligte Bevölkerungsgruppen in einem
vertikalen System sozialer Ungleichheit zu klassifizieren, da
die Muster von Privilegien und Benachteiligungen über alle Lebensbereiche hinweg uneinheitlich sind (Buchmann 1991). Die
Ungleichheit hat zwar nicht einer umfassenden Gleichheit Platz
gemacht, doch durch das Anheben des Wohlstandes verlor die
Auseinandersetzung um knappe Güter ihre dominierende gesellschaftliche Rolle (Lamprecht und Graf 1991).
Wo alle in gleichem Masse ihre Stellung verbessern, verlieren
die Unterschiede innerhalb des „Fahrstuhls“ (Beck 1986) ihre
36
Bedeutung, auch wenn sie nicht verschwinden. Horizontal ausgeprägte Differenzierungen gewannen vermehrt Bedeutung für die
Ausprägung der Lebenschancen und Lebensbedingungen der Individuen (Lamprecht und Graf 1991). Hradil (1983) schlägt deshalb
mit dem Konzept der sozialen Lage ein neues Modell zur Untersuchung sozialer Ungleichheit vor, das drei Ebenen umfasst.
Erstens die Ebene der strukturellen Lebensbedingungen, sodann
die Ebene milieuspezifischer Lebenswelten und schliesslich die
Ebene individueller Lebenslagen. Es erscheint angebracht, „in
einer ‚zeitgemäßen‘ Konzeption des Gefüges sozialer Ungleichheit zwischen der Struktur- und der Individualebene eine
‚mittlere Ebene‘ vorzusehen, wo milieuspezifische Prozesse anzusiedeln sind, die möglicherweise als ‚Filter‘ oder ‚Verstärker für strukturelle Ausgangslagen wirken, und so die individuelle Relevanz von Strukturbedingungen erst prägen“ (Hradil
1983, S. 114. Hervorh. im Original).
In modernen Industriegesellschaften besteht ein komplexes Zusammenwirken von klassenspezifischen, milieuspezifischen und
atomisierten Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit (Berger
1994). Anzeichen für eine Nivellierung oder gar ein Auflösen
sozialer Unterschiede können allerdings Lamprecht und Graf
(1991) in den ihnen vorliegenden Daten für die siebziger und
achtziger Jahre empirisch nicht beobachten. Hradil sieht die
Konzepte der sozialen Lage „eher als Ergänzung denn als Ersatz
schichtungssoziologischer Modelle“ (Hradil 1983, S. 117), wobei die Ermittlung der sozialen Lage eines Individuums als beträchtlicher Informationsgewinn angesehen wird.
3.5.3 Die (anhaltende) Bedeutung traditioneller Dimensionen
sozialer Ungleichheit
Die Thesen bezüglich der Differenzierung, Pluralisierung oder
Individualisierung herkömmlicher Ungleichheitsstrukturen in
industriellen Gesellschaften sind umstritten. Mayer und Blossfeld stellen fest, dass „die These der Individualisierung
nicht den Status einer Theorie besitzt, die empirisch über37
prüfbar wäre“ (1990, S. 297). Die Thesen zu Individualisierung
und den Konzepten der sozialen Lage können „wegen ihrer mangelnden empirischen Evidenz und ihres theoretischen Status allenfalls als der Beginn, nicht aber als das Ergebnis der Debatte akzeptiert werden (...) Bei der Lektüre von Beck fühlt
man sich wie Alice im Wunderland, als sie ‚Jabberwocky‘ las:
‚Somehow it seems to fill my head with ideas - only I don’t
exactly know what they are.‘“ (Mayer und Blossfeld 1990, 312313).
Vielfältig wird die Kritik geäussert, dass die traditionellen
Dimensionen sozialer Ungleichheit noch immer eine ungebrochene
Bedeutung besässen oder sogar an Einfluss zugelegt hätten. In
verschiedenen Untersuchungen hat sich gemäss Krais (1996) gezeigt, dass zwischen den untersten und obersten Klassen beziehungsweise Schichten die Abstände angewachsen sind. Um Becks
(1996) Metapher vom Fahrstuhl zu verwenden, der die Mitglieder
aller Gesellschaftsschichten aufwärts und manchmal auch abwärts transportiert, liegen nun zwischen den Kindern aus privilegierten und jenen aus benachteiligten Schichten mehr
Stockwerke als früher (Krais 1996). Die „Kinder aus den benachteiligten Schichten haben den Fahrstuhl nach oben in der
Regel nicht erwischt. Nach oben gelangten insbes. Kinder aus
der Mitte mit der Folge, daß sich die Gefahr sozialer Ausgrenzung für die Zurückgebliebenen, die in eine Minderheitenposition geraten sind, verschärft (...) Die Fahrstuhlmetapher verschleiert, daß die Armutskluft, der Abstand im Lebensstandard
zwischen den Sozialhilfeempfängern und dem Bevölkerungsdurchschnitt, kontinuierlich größer geworden ist“ (Geißler 1996, S.
327).
Lamprecht und Graf (1991) bemerken, „daß gewisse theoretische
Positionen entsprechend dem konjunkturellen Verlauf der Gesellschaft einen eigenen Konjunkturzyklus durchlaufen. In Phase wirtschaftlicher Rezession scheint ein Hang dazusein, eher
die Kultur ins Zentrum der Überlegungen zu stellen, in Phasen
38
des Aufschwunges eher die Struktur“ (S. 193). Insofern müssen
sich die als Alternative zur Schichtungssoziologie gedachten
Ansätze möglicherweise den Vorwurf gefallen lassen, die Verallgemeinerung ihrer Theorien auf der „Grundlage zu kurzer
Zeitspannen“ (Giddens 1983, S. 15) betrieben zu haben. Beck
(1983) erkennt selbst die Labilität des Individualisierungsschubs, sobald Gruppen, die dies nicht erwartet hätten, von
Arbeitslosigkeit betroffen werden und aufgrund der stattgefundenen Individualisierung trotz sozialstaatlicher Sicherungen
radikale Einbrüche in ihrer Lebensführung hinnehmen oder befürchten müssen. Sobald existenzielle Grundlagen bedroht werden, gewinnen die alten Dimensionen sozialer Ungleichheit
schlagartig wieder grosse Bedeutung für die Handlungs- und
Entscheidungsmuster im Lebenslauf.
Trotz der zunehmenden Heterogenität von sozialen Lagen bleiben
grundlegende Ungleichheitsrelationen erhalten, so ist geht die
Entwicklung fortgeschrittener Industriegesellschaften in die
Richtung einer Verfestigung sozialer Ungleichheiten (Buchmann
1991, S. 215). In den letzten Jahrzehnten lassen sich einige
Aufstiegsbewegungen und auch kollektive Abstiege beobachten,
doch insgesamt „weist die Struktur sozialer Ungleichheit in
den entwickelten Ländern alle Attribute einer historischpolitisch genau betrachtet eigentlich überraschenden Stabilität auf“ (Beck 1983, S. 35. Hervorh. im Original). Buchmann
findet für die Schweiz 1991 in ihrer empirischen Analyse des
Wandels sozialer Schichtung, „daß sich soziale Lebenslagen
nach wie vor auf der vertikalen Dimension sozialer Ungleichheit relativ eindeutig abbilden lassen“ (Buchmann 1991, S.
223-225).
Geißler (1996) stellt fest, dass sich in den letzten Jahren
ohne Zweifel die Struktur der modernen Gesellschaft differenziert, pluralisiert und individualisiert hat. Er wirft vor
diesem Hintergrund die Frage auf, ob diese zunehmende Vielfalt
gleichbedeutend mit einem Verschwinden vertikaler Strukturen
39
sei. Der „main stream“ suggeriert diese Vorstellung (Geißler
1996, S. 312-322): „Er hat sich von der Entdeckung der neuen
Vielfalt offensichtlich so faszinieren lassen, daß er die
fortbestehenden vertikalen Strukturen und deren Bedeutung
nicht mehr angemessen wahrnehmen und einschätzen kann und daß
er daher auch die ursprüngliche Fragestellung der Sozialstrukturanalyse als Ungleichheitsforschung - nämlich soziale Ungleichheiten in sozialkritischer Absicht aufzuspüren, um sie
zu mildern - z.T. aus den Augen verloren habe“. Geißler (1996)
fügt kritisch an, dass die traditionelle Sozialstrukturanalyse
sich zumindest teilweise zu exklusiv auf objektive Ressourcen
wie das Einkommen fokussierte und dabei die Akteure selbst aus
dem Blickfeld geraten seien. Aber er bemängelt an der Abkehr
von den traditonellen Dimensionen sozialer Ungleichheit, dass
sich dadurch die Ungleichheitsforschung zur Vielfaltforschung
wandelt, Lebenschancenforschung sich zu Lebensstilforschung
einengt und schliesslich die „Kritik an sozialen Ungerechtigkeiten (...) der Freude über die bunte Vielfalt“ (Geißler
1996, S. 322. Hervorh. im Original) von Soziallagen, Milieus
und Lebensstilen weicht.
Die neuen Ansätze zeigen auf, dass zwar das Alltagshandeln
tatsächlich komplizierter ist als von den konventionellen Ansätzen zur sozialen Ungleichheit angenommen wird. Und doch
verweisen diese zumindest implizit häufig auf die alten Erklärungsmuster (Stamm und Lamprecht 1996). Buchmann (1991) vertritt die Auffassung, „daß traditionelle Dimensionen sozialer
Ungleichheit wie Bildung, berufliche Position und Einkommen
auch heute noch die Kernstruktur von sozialen Lagen ausmachen
und die Mobilitätschancen von Gesellschaftsmitgliedern weitgehend prägen. Soziale Lebenslagen sind jedoch in vermehrtem Maße durch feingliedrige bildungsmäßige Abstufungen, hohe berufliche Spezialisierungen und differenzierte einkommensmäßige
Unterschiede charakterisiert, so daß sich die Komplexität der
Schichtungsstruktur insgesamt stark erhöht hat. Die zunehmend
40
komplexere Struktur sozialer Ungleichheit spiegelt sich in den
schwächeren Verknüpfungen zwischen formaler Qualifikation, beruflicher Position und Einkommen. Insgesamt nimmt daher die
Kristallisation der gesamtgesellschaftlichen Schichtungsstruktur ab: Individuelle Statuskonfigurationen sind häufiger durch
Statusinkonsistenzen gekennzeichnet“ (Buchmann 1991, S. 217).
41
3.6 Reproduktion sozialer Ungleichheit
Wissenschaftliche Studien zeigen, dass sich „das schweizerische Bildungssystem gegenüber den sozialen Herkunftsmerkmalen
der Schülerinnen und Schüler nicht neutral verhält“ (Lamprecht
und Stamm 1997, S. 40). Anders herum formuliert: Die Möglichkeit einen universitären Abschluss zu erlangen wird auch in
der heutigen Zeit noch von Gesellschaftsstrukturen wie dem
Herkunftsmilieu beeinflusst. Zentral ist insbesondere das Bildungsniveau der Eltern, das Merkmale wie Nationalität, Wohnort
und auch Geschlecht zurücktreten lässt: „Grundsätzlich gilt:
Die Chance, an den höheren Bildungsgängen zu partizipieren,
ist um so grösser, je höher die Bildung der Eltern ist“ (ebd.
S. 41).
Für VertreterInnen der „Wandlungstheorien“ werden diese Herkunftseffekte durch die Bildungsentwicklung und den Ausbau des
Bildungsangebotes immer stärker verblassen. Empirische Daten
weisen jedoch in eine andere Richtung: „Trotz des Ausbau des
Bildungssystems konnte relativ gesehen keine Erhöhung der Bildungschancen für Kinder aus unteren sozialen Lagen festgestellt werden“ (ebd. S. 42). Dies spricht für die „Reproduktionstheorien“, die davon ausgehen, dass die asymmetrische Verteilung von Ressourcen und Gütern innerhalb einer Gesellschaft, der Logik des herrschenden Systems entspricht.
Besondere Beachtung fanden Bourdieus (1982, 1985) Überlegungen
bezüglich der ausserordentlich geschickt cachierten Zusammenhänge zwischen dem Bildungssystem und der Vererbung von sozialen Privilegien. „Bildung ist in modernen, industrialisierten
Gesellschaften zu einem wichtigen Kriterium der sozialen Differenzierung geworden“ (Krais 1983, S. 199). Ungleichheiten
werden von einer Generation auf eine andere übertragen, die
Schichtungsstruktur reproduziert sich intergenerationell. Dies
bedeutet, „daß Ressourcen der Herkunftsfamilie während des eigenen Lebens erst in sichere Statuspositionen und Klassenlagen
42
umgesetzt werden müssen (Mayer und Blossfeld 1990, 297). Beck
(1983) stellt fest, dass heue eine Verschiebung von der klassischen Frage nach den Gründen sozialer Ungleichheit zur Frage
nach der Erklärung der Reproduktion sozialer Ungleichheit angebracht sei.
Die Struktur des Bildungssystems drängt die Auszubildenden dazu, ihre Karriere als ein Produkt der eigenen Interessen und
Fähigkeiten aufzufassen. Dies veranlasst das Individuum zu einem Selbstbild, das um die Konzepte der eigenen Interessen und
Fähigkeiten zentriert ist. In dieser Weise wird die Einsicht
erschwert, dass das Schicksal eines Individuums durch die Zugehörigkeit zu einer Statusgruppe wesentlich mitbestimmt wird
(Lenhardt 1992). Eine Aufgabe des Bildungssystems besteht darin, den Individuen basierend auf ihren Leistungen gesellschaftliche Positionen zuzuweisen. Somit ist ein gewisses Mass
an Ungleichheit für die Erhaltung des Gesellschaftssystems
funktional und nicht beliebig reduzierbar. Dies stellt eine
funktionalistische Rechtfertigung bestehender Ungleichheiten
dar (Lamprecht 1991, S. 129): „Da die Menschen von Natur aus
ungleich sind, erreichen sie im Wettlauf der Leistungsgesellschaft verschiedene Stellungen, die je nach ihrer Wichtigkeit
für die Gesellschaft unterschiedlich belohnt werden. Ein Zurückbinden der Leistungsbereiten und ein Zurückstufen der sie
motivierenden Belohnungen hätte ein spürbares Nachlassen der
Produktivität in allen Lebensbereichen und dadurch einschneidende Nachteile für sämtliche Gesellschaftsmitglieder zur Folge.“
Eine rein funktionalistische Sichtweise greift allerdings zu
kurz: Die unterschiedlichen Funktionen des Bildungssystems
lassen sich nicht losgelöst von ihrem historischen und gesellschaftlichen Kontext bestimmen, aufgrund der Widersprüchlichkeit der Gesellschaft selbst sind sie untereinander widersprüchlich (Graf und Lamprecht 1991). Indem das Bildungssystem
dazu beiträgt, askriptive Kategorien in einer modernen Form zu
43
reproduzieren, liegt es im Widerspruch zu den Prinzipien der
Chancengleichheit und der Erlangung von Status basierend auf
persönlicher Leistung (Lenhardt 1992), denen es sich vordergründig verschrieben hat. „Beauftragt, Werte zu schaffen, die
sich unmittelbar auf die der Gesellschaft beziehen, für die es
produziert, hat ein reales Bildungssystem unweigerlich vielfältige und inkommensurable Funktionen“ (Bourdieu und Passeron
1971, S. 81).
3.6.1 Chancenungleichheiten und Bildungsexpansion
Die Individualisierung der letzten Jahrzehnte hatte nicht zur
Folge, dass die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht ihre
Bedeutung für die Strukturierung des Lebenslaufs gänzlich verlor. Im Gegenteil: Die soziale Stellung beeinflusst noch immer
in ausgeprägter Weise die strukturellen Chancen im Bildungssystem und im Beruf. Im Verlauf des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses ist die soziale Ungleichheit nicht zurückgegangen, sie hat lediglich andere Formen angenommen (Buchmann
1989a).
„Im Gesellschaftsmodell der Nachkriegszeit wird der Gleichheitsanspruch auf zwei Arten einzulösen versucht: Durch den
Ausbau des umverteilenden Wohlfahrtsstaates und durch die Institutionalisierung des Prinzips der Chancengleichheit“
(Lamprecht 1991). Das Prinzip der Chancengleichheit basiert
auf der Vorstellung einer basalen formalen Gleichheit der Gesellschaftsmitglieder (Graf und Lamprecht 1991). Chancengleichheit ist von fundamentaler Bedeutung für die Verschleierung der Reproduktion sozialer Ungleichheiten durch das Bildungssystem, denn jede Reproduktionsstrategie ist „unausweichlich auch eine Legitimationsstrategie, die darauf abzielt, sowohl die exklusive Aneignung wie auch ihre Reproduktion sakrosankt zu machen“ (Bourdieu 1983, S. 198). Die Ideologie der
Chancengleichheit dient der Gesellschaftsordnung, da sie die
sozial konservative Funktion des Bildungssystem verschleiert:
Dieses ist das geeignetste Instrument zur Vererbung kulturel44
len Kapitals und zur Legitimierung dieses Reproduktionsprozesses (Bourdieu und Passeron 1971).
Bildungssysteme sind an den Regeln der Verteilung sozial wichtiger Güter ausgerichtet. Sie begründen und legitimieren das
System ungleicher Verteilung indem sie soziale Unterschiede
auf ein Modell individueller Fähigkeiten und der Konkurrenz
zurückführen (Graf und Lamprecht 1991). Leistungsgerechtigkeit
und Chancengleichheit sind zentrale Aspekte, um Selektionsprozesse innerhalb des Bildungssystems zu rechtfertigen. Chancengleichheit6 bezieht sich auf die Vorstellung, dass zum Zeitpunkt des Schuleintritts alle über die gleichen Voraussetzungen verfügen, um sich dem Wettlauf um die besten Positionen
auszusetzen (Bornschier 1998, Lamprecht 1991). Ausgehend von
dieser Situation sollten nicht askriptive Merkmale wie die soziale Herkunft oder das Geschlecht entscheidend für den Erfolg
im Bildungssystem und die spätere Zuweisung auf gesellschaftliche Statuspositionen sein, sondern ausschliesslich individuelle Fähigkeiten und Leistungen sollten den persönlichen Erfolg bestimmen (Bornschier 1998). In diesen Vorstellungen bezüglich Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit liegt die
Ursache, dass die ausgeprägten Differenzierungen und Hierarchien im Bildungssystem weitgehend hingenommen werden. Über
die Verbindung von schulischer Struktur und Gesellschaftsstruktur rechtfertigt Chancengleichheit nicht nur Abstufungen
im Bildungssystem, es bewirkt auch eine weitgehende Legitimation des gesellschaftlichen Macht- und Ungleichheitsgefüges
(Lamprecht und Stamm 1996). „Chancengleichheit als formales
Wettbewerbsprinzip findet ihre Umsetzung im Prinzip der
Gleichbehandlung. Niemand darf wegen seiner sozialen Herkunft,
6
„Chancengleichheit im statistischen Sinn ist dann gegeben, wenn tatsäch-
lich verschiedene Bevölkerungsgruppen proportional zu ihrer Größe in den
einzelnen Schulstufen vorkommen, wenn also beispielsweise zwischen sozialer
Herkunft und Schulerfolg eine Zufallsbeziehung bestünde“ (Lamprecht 1991,
S. 134).
45
seines Geschlechts, seines Wohnortes, seiner Sprache oder seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit im Bildungssystem
benachteiligt werden. Allein schulische Leistungen - objektivierbar gemacht in einem transparenten Prüfungs- und Berechtigungswesen (z.B. Zugang zur Universität) - haben über schulischen Auf- oder Abstieg zu entscheiden“ (Lamprecht und Stamm
1996, S. 16-17). Es hat sich jedoch gezeigt, dass die Ergebnisse im Bildungsbereich nicht unabhängig von askriptiven
Merkmalen wie Geschlecht und soziale Herkunft sind (Lamprecht
und Graf 1991, Lamprecht und Stamm 1996). Ein unterschiedliches Erziehungsverhalten und Bildungsklima in der Familie bewirken, dass vor allem Kinder aus tieferen Herkunftsschichten
in höheren Bildungsgängen nicht ihrem Anteil der jeweiligen
Altersgruppen entsprechend vertreten sind (Lamprecht und Stamm
1996).
Die Bildungsentwicklung der letzten fünfzig Jahre war durch
ein kontinuierliches Wachstum des Bildungssystems geprägt. Der
Zugang zu den mittleren und höheren Bildungsgängen öffnete
sich dabei auch für Kinder aus den unteren sozialen Lagen. Von
der Öffnung des Bildungsbereichs konnten in besonderem Ausmass
Frauen profitieren. Deren massive Benachteiligung bei den
mittleren Bildungsteilen wurde weitgehend beseitigt, allerdings sind Frauen auf den obersten Bildungsstufen noch immer
nicht angemessen repräsentiert (Lamprecht und Stamm 1996). Die
Bildungsexpansion führte zu einer massenhaften Vermehrung von
Bildungszertifikaten. Nach den Marktgesetzen bewirkte dies eine Abwertung der Bildungstitel, eine eigentliche Bildungsinflation (Bornschier 1991), denn „für die Umsetzung von formaler Bildung in Privilegien ist nicht der eigentliche Bildungsinhalt entscheidend, sondern der relative Vorsprung eines Bildungsabschlusses zu anderen Abschlussmöglichkeiten“ (Lamprecht
1991, S. 148). Je mehr Leute die höchsten formalen Bildungsabschlüsse erlangen, desto geringer ist der damit verbundene Ertrag an Prestige (Allmendinger 1989). Anstelle der angestreb46
ten Reduktion herkunftsspezifischer Benachteiligungen wurde
die Selektion auf eine höhere Stufe verschoben (Bornschier
1998, Lamprecht und Stamm 1996), was zu einer Inflation des
Wertes der im Lebenslauf erzielten Bildungsresultate führte.
In der Folge verwandelte sich Bildung von einem Mittel des sozialen Aufstiegs zunehmend zu einem notwendigen Mittel gegen
den Abstieg (Bornschier 1998). Dadurch wuchs die Bildungsabhängigkeit, „immer weitere Gruppen geraten in den Sog von Bildungsaspirationen“ (Beck 1983, S. 50). Der erreichte Bildungsabschluss leistet keine Gewähr mehr für eine angemessene berufliche Position, sondern er bildet die notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Individuum überhaupt noch ohne massive
Benachteiligungen in den Arbeitsmarkt eintreten kann
(Lamprecht und Stamm 1996). Um die soziale Position zu bewahren, müssen immer grössere Bildungsansprüche erfüllt werden.
Die „Spirale von mehr und mehr Bildung, um die Position der
Kinder zu verbessern, und mehr und mehr Bildung, um die Position der Kinder zu bewahren, ist zweifellos ein Kern der Bildungsexpansion in unserem Jahrhundert“ (Bornschier 1998, S.
245). „Drei Jahrzehnte Bildungsreformen und Bildungsexpansion
- u.a. mit dem Ziel höherer Bildungsgerechtigkeit und besserer
Chancengleichheit - haben an der schichtspezifischen Chancenungleichheit nur wenig verändert, im Bereich der höheren Bildungsabschlüsse haben schichtspezifische Ungleichheiten sogar
zugenommen“ (Geißler 1996, S. 325).
Ob soziale Ungleichheiten als gerecht empfunden werden, hängt
wesentlich davon ab, ob man darin entsprechend den erbrachten
Leistungen auf- und absteigen kann. Geschichtete Gesellschaften erheben den Anspruch, offene Gesellschaften zu sein. Soziale Mobilität7 sollte auf Grund meritokratischer Aspekte erfol7
Zum Begriff der Mobilität schreibt Hradil (1996, S. 157-158): „Bewegun-
gen von einer Position zur anderen (...) werden in der Soziologie als ‚soziale Mobilität‘ bezeichnet. Bewegungen zwischen ungleich gut ausgestatteten Positionen, also Statusveränderungen, heißen ‚vertikale Mobilität‘
47
gen. Die Untersuchung der vertikalen Mobilität liefert somit
Aufschluss über die Legitimität eines Ungleichheitsgefüges
(Hradil 1996). Ein „starker Herkunftseffekt beim Bildungserwerb gilt aber als wenig legitim. Mit der Expansion der Bildungschancen wurde in den letzten Jahrzehnten diese unerwünschte Konsequenz zu mildern versucht“ (Bornschier 1991, S.
39). Da das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit (Graf und
Lamprecht 1991, Hradil 1996) innerhalb des Bildungssystems
„vor allem auf Blindheit gegenüber der sozialen Ungleichheit
der Bildungschancen beruht, hat die einfache Beschreibung der
Relation zwischen Studienerfolg und sozialer Herkunft bereits
kritische Sprengkraft“ (Bourdieu und Passeron 1971, S. 86).
3.6.2 Der Einfluss der sozialen Herkunft
Die gesellschaftliche Modernisierung und die damit verbundene
Expansion des Bildungswesens brachte bestehende gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen nicht automatisch zum Verschwinden (Hradil 1996, Lamprecht 1991, Lamprecht und Stamm 1996,
Lenhardt 1992, Mayer und Blossfeld 1990, Meyer et al. 1999),
denn die Bildungschancen haben sich für benachteiligte Kinder
nicht verbessert. So konnten diese zwar vermehrt höhere Bildungsstufen erreichen, doch da ihre Aufstiegschancen nicht
überproportional verglichen mit Kindern aus der Mittel- und
Oberschicht anstiegen, blieben die früheren sozialen Ungleichheiten weitgehend bestehen (Hradil 1996, Lamprecht und Stamm
1996). Für Kinder von Akademikern und höheren Kaderleuten sind
die Chancen, eine Mittelschule zu besuchen und ein Studium zu
beginnen, 1990 rund achtmal höher als für Kinder von unqualifizierten Arbeitern und Angestellten (Lamprecht und Stamm
1996). Trotz Bildungsexpansion und den wohlfahrtsstaatlichen
Entwicklungen wurden die Relationen zwischen gesellschaftli-
(...) Was die Bestimmungsgründe vertikaler Mobilität betrifft, so trennt
man zwischen strukturell ‚erzwungenen‘ Auf- und Abstiegen und individuell
‚geleisteten‘.“
48
chen Ungleichheitslagen nicht zum Verschwinden gebracht: „Nach
wie vor ist die Wahrscheinlichkeit, daß Kinder von Industriearbeitern Ärzte und Architekten werden, sehr gering“ (Beck
1983, S. 52). „Es findet sowohl eine Eliminierung beim Hochschulzugang wie während des Studienverlaufs statt. Untere
Schichten sind an der Hochschule klar unterrepräsentiert“
(Leemann 2002, S. 27). Das Schulsystem nimmt „objektiv eine um
so totalere Eliminierung vor“ (Bourdieu und Passeron 1971, S.
20), je benachteiligter die soziale Klasse ist.
„Die Reproduktionsfunktion macht Bildung in einem verzweigten,
auf Prüfung und Berechtigung aufbauenden System zu einem knappen Gut. Erst durch sie gewinnt die hierarchische Gliederung
des Bildungssystems ihren Sinn“ (Lamprecht 1991). Die Rechtfertigung der schulischen Auslese gelingt nur, wenn diese auf
der Basis von formalen Gleichheitsprinzipien erfolgt. Formale
Gleichheit drückt sich aus in der Forderung nach Gleichbehandlung der Individuen, also dem Wunsch nach Chancengleichheit
zum Zeitpunkt des Beginns der schulischen Laufbahn.
Lamprecht und Stamm (1996) finden wie in Abbildung 3.2 angegeben für die Schweiz 1990 bei 20-23jährigen Personen eine durch
askriptiven Merkmale erklärte Varianz der Bildungsunterschiede
von 16,8%. Dabei ergibt die Bildung des Vaters den wesentlichsten Einfluss neben der Bildung der Mutter. Der sozioprofessionelle Status der Eltern ist von geringerer Bedeutung,
was darauf schliessen lässt, dass die Bildung der Eltern von
grösserer Wichtigkeit für den Schulerfolg der Kinder ist, als
die berufliche Tätigkeit und Stellung der Eltern. Der Einfluss
von Wohnort, Geschlecht und Nationalität ist demgegenüber gering (Lamprecht und Stamm 1996). Die Bedeutung der sozialen
Herkunft für den Bildungserwerb ist empirisch klar ersichtlich. Für Deutschland finden Mayer und Blossfeld „starke Einflüsse der Bildung von Vater und Mutter auf die Bildungschancen der Kinder“ (1990, S. 305). Leu et al. (1997) stellen eine
anhaltende Wirkung der sozialen Herkunft auf den Bildungsab-
49
Abb. 3.2: Determinanten des Schulerfolges (1990)
Bildung Vater
0,22
Bildung Mutter
0,15
Sozioprofessioneller
Wohnort (Stadt /
Status
Land)
Geschlecht
R2 = 0,168
0,10
-0,06
Schulerfolg
-0,03
-0,01
Nationalität
Hinweis: Der Einfluss der unabhängigen Variablen auf den Schulerfolg wurde mittels
dem statistischen Verfahren der Multiplen Regression gemessen. Angegeben sind die
standardisierten Regressionskoeffizienten sowie der Determinationskoeffizient (R2).
Quelle: Lamprecht und Stamm 1996
schluss für die Schweiz fest: „Je höher die Befragten ihr Elternhaus in der Oben-Unten-Skala einordnen, desto höher ist
ihr Bildungsabschluss“ (Leu et al. 1997, S. 430).
Die Aufgabe des Bildungssystems beschränkt sich nicht auf die
Weitergabe von Kenntnissen und Fähigkeiten. Über die Zuteilungsfunktion erfolgen im Bildungssystem zentrale Weichenstellungen für die spätere Berufskarriere und zukünftige Lebenschancen (Lamprecht und Stamm 1996). Bourdieu (1982) sieht hinter den Chancenungleichheiten immer die gegenseitigen Machtkämpfe der verschiedenen sozialen Klassen, die Angehörigen der
privilegierten Schichten sind darum bemüht, die soziale Position ihrer Gruppe zu bewahren oder zu verbessern, um keine
Macht zu verlieren. „Schulreformen, die eine stärkere Verankerung des Wertes der Chancengleichheit erstreben, zielen einmal
auf eine Lockerung der schulischen Chancen von der Herkunft
und dann auf eine größere Durchlässigkeit der Schulstufen“
(Bornschier 1998, S. 232). Ein Instrument um die Nachteile von
Kindern aus den unteren sozialen Schichten zu mindern stellt
die Förderung kompensatorischer Erziehung (Lamprecht 1991)
dar. Allerdings ist das Bestreben, bestehende Chancenungleichheiten zu mindern in den letzten Jahren aus dem Blickwinkel
der Politik geraten (Lamprecht und Stamm 1996).
3.6.3 Kulturelles, ökonomisches und soziales Kapital
50
Unter Kapital versteht Bourdieu (1983) „akkumulierte Arbeit,
entweder in Form von Materie oder in verinnerlichter, ‚inkorporierter‘ Form“ (S. 183).
Unbeachtet aller Unterschiede fin-
den sich Parallelen zur Humankapitaltheorie: Sowohl beim Konzept des Humankapitals als auch beim Konzept des kulturellen
Kapitals gilt Bildung „als eine symbolische Form der Aneignung
des gesellschaftlichen Reichtums; Bildung wird auf diese Weise
gleichrangig behandelt mit der Verfügung über materielle Produktionsmittel, über ökonomisches Kapital“ (Krais 1983, S.
200). Unterschiedlicher Besitz von kulturellem, sozialem und
ökonomischem Kapital ist verantwortlich für die Reproduktionsprozesse der gesellschaftlichen Klassen (Bourdieu 1983, Krais
1983). Das Kapital besitzt eine Überlebenstendenz, „es kann
ebenso Profite produzieren wie sich selbst reproduzieren oder
auch wachsen“ (ebd.). Die Kapitalformen werden in der Familie
weitergegeben und können ineinander transformiert werden. Dabei wird das System der familiären Übertragung und Transformation des Kapitals weitgehend verschleiert. Der Mechanismus der
Verschleierung bewirkt, dass soziale Privilegien in eigene
Leistung umgedeutet werden und unterschiedliche Ergebnisse im
Bildungssystem als natürliche Differenzen in den Begabungen
angesehen werden (Leemann 2002). Die „ständige diffuse Übertragung von Kulturkapital in der Familie entzieht sich dem Bewußtsein ebenso wie aller Kontrolle. Um seine volle Wirksamkeit, zumindest auf dem Arbeitsmarkt, ausspielen zu können,
bedarf das kulturelle Kapital deshalb in zunehmendem Maße der
Bestätigung durch das Unterrichtssystem, also die Umwandlung
in schulische Titel“ (Bourdieu 1983, S. 198).
Unterschiedliches kulturelles Kapital in der Familie bewirkt
Unterschiede zu Beginn des Prozesses der Übertragung und Akkumulation von Kapital. Später führt es zu ungleichen Fähigkeiten, die kulturellen Anforderungen des Aneignungsprozesses zu
erfüllen, denn die Akkumulation von kulturellem Kapital erfordert Zeit (Bourdieu 1983). Die Erträge der Bildungsinvestitio-
51
nen beschränken sich nicht auf finanzielle Erträge, die bei
der Humankapitaltheorie im Zentrum stehen: Diese ist so angelegt, dass sie sich auf die Erklärung von Unterschieden im
Einkommen beschränkt (Krais 1983). Der Nutzen der Bildungsinvestitionen entspricht weiterreichenden Aspekten: Es handelt
sich um symbolische Erträge „wie die Befriedigung, die die
kulturelle Konsumtion zu verschaffen vermag, die gesellschaftliche Wertschätzung, die mit bestimmten Bildungszertifikaten
verbunden ist, die Möglichkeit und die daran geknüpfte Fähigkeit, erfolgversprechende, weit in die Zukunft reichende Strategien der sozialen Selbstbehauptung bzw. des sozialen Aufstiegs zu entwickeln, die Definitionsmacht in den Beziehungen
zwischen Individuen und Klassen“ (Krais 1983, S. 213).
Kulturelles Kapital
„Bildung ist einerseits eine Ressource, die die Möglichkeit,
Erwerbseinkommen zu erzielen, wesentlich mitbestimmt, andererseits stellt sie auch einen Lebensbereich dar, der auf die gesamte Lebenslage massgeblich einwirkt“ (Leu et al. 1997, S.
430). Bildungsentscheide bestimmen das Möglichkeiten der gesellschaftlichen und kulturellen Teilnahme. Von besonderer Bedeutung für die Resultate im Bildungssystem ist die Ausrüstung
mit kulturellem Kapital. Bourdieu (1983) führt den Schulerfolg
von Kindern aus verschiedenen sozialen Klassen auf die unterschiedliche Ausstattung mit kulturellem Kapital zurück. Diese
Sichtweise „impliziert einen Bruch mit den Prämissen, die sowohl der landläufigen Betrachtungsweise, derzufolge schulischer Erfolg oder Mißerfolg auf die Wirkung natürlicher ‚Fähigkeiten‘ zurückgeführt wird, als auch den Theorien vom ‚Humankapital‘ zugrundeliegen“ (Bourdieu 1983, S. 185). Der Humankapitaltheorie hält Bourdieu (1983) vor, dass die Theorie
eine der wirksamsten Investitionen in die Bildung unberücksichtigt lässt, nämlich die Übertragung von kulturellem Kapital innerhalb der Familie. Die ungleiche Verteilung von Kapi-
52
tal beeinflusst die Fähigkeiten zur Aneignung von Profiten und
zur Realisierung von Spielregeln, die für die Reproduktion des
Kapitals möglichst vorteilhaft sind (Bourdieu 1983).
Das Kulturkapital setzt sich aus drei verschiedenen Formen zusammen: Es gibt institutionalisiertes, inkorporiertes und objektiviertes kulturelles Kapital (Leemann 2002). Das inkorporierte kulturelle Kapital „umfasst die in familiären und schulischen Sozialisations- und Bildungsprozessen verinnerlichten
Wissensbeständen, Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmale“
(Leemann 2002, 28). „Die Akkumulation von Kultur in inkorporiertem Zustand - also in der Form, die man auf französisch
‚culture‘, auf deutsch ‚Bildung‘, auf englisch ‚cultivation‘
nennt - setzt einen Verinnerlichungsprozeß voraus, der in dem
Maße wie er Unterrichts- und Lernzeit erfordert, Zeit kostet
(Bourdieu 1983, S. 186. Hervorh. im Original). Diese Zeit muss
persönlich investiert werden. Insofern lässt sich der Besitzt
von kulturellem Kapital am treffendsten daran messen, welche
Dauer der Bildungserwerb einer Person beanspruchte, wobei man
sich nicht auf die schlichte Dauer des Schulbesuchs beschränken darf, sondern auch die Primärerziehung in der Familie berücksichtigt werden muss (Bourdieu 1983).
Inkorporiertes Ka-
pital ist ein fester Bestandteil einer Person, es ist ein Besitztum, das „zum Habitus geworden ist; aus ‚Haben‘ ist
‚Sein‘ geworden“ (Bourdieu 1983, S. 187). Die Aneignung des
Kulturkapitals kann sich in unterschiedlichem Masse bewusst
vollziehen, verkörperlichtes kulturelles Kapital bleibt jedoch
stets geprägt von den Umständen der ursprünglichen Aneignung
(Bourdieu 1983).
Das objektivierte Kulturkapital besitzt die Form von Büchern,
Kunstsammlungen und Musikinstrumenten (Leemann 2002). Es ist
über diese Objekte materiell übertragbar, hingegen ist das
Merkmal, das die eigentliche Aneignung ermöglicht nicht übertragbar. Zur Aneignung ist der Besitz von kulturellen Fähigkeiten vonnöten. „Kulturelle Güter können somit entweder zum
53
Gegenstand materieller Aneignung werden, dies setzt ökonomisches Kapital voraus. Oder sie können symbolisch angeeignet
werden, was inkorporiertes Kulturkapital voraussetzt“ (Bourdieu 1983, S. 189).
Das institutionalisierte Kulturkapital widerspiegelt die in
Form von Zertifikaten, Zeugnissen und Diplomen anerkannten Investitionen in die Bildung (Leemann 2002). „Inkorporiertes
Kulturkapital ist den gleichen biologischen Gesetzen unterworfen wie sein jeweiligen Inhaber. Die Objektivierung von inkorporiertem Kulturkapital in Form von Titeln ist ein Verfahren,
mit dem dieser Mangel ausgeglichen wird“ (Bourdieu 1983, S.
189. Hervorh. im Original). Durch einen akademischen Titel
wird dem Besitz von Kulturkapital institutionelle Anerkennung
verliehen (Bourdieu 1983). Zur Erlangung von Bildungstiteln
muss Zeit aufgewendet werden. An dem Umfang der für ein Bildungszertifikat notwendigen Lebenszeit lässt sich somit das
vererbte Kulturkapital messen (Leemann 2002).
Soziales Kapital
Das soziale Kapital entspricht den Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften sozialen Netzes oder der Zugehörigkeit
zu einer sozialen Gruppe verbunden sind (Bourdieu 1983, Leemann 2002). Kinder von Eltern mit akademischer Bildung sind
insofern privilegiert, als ihre Eltern häufig bereits über ein
breites Netz von sozialen Beziehungen zu weiteren Akademikern
verfügen. Dies erleichtert die Reproduktion von akademischen
Laufbahnen (Leemann 2002). Der Umfang des Sozialkapitals hängt
von der Ausdehnung des Netzes sozialer Beziehungen ab und dem
Kapital, dass die jeweiligen Bezugspersonen besitzen (Bourdieu
1983). „Die Profite, die sich aus der Zugehörigkeit zu einer
Gruppe ergeben, sind zugleich die Grundlage für die Solidarität, die diese Profite ermöglicht“ (Bourdieu 1983, S. 192).
Für die Produktion und Reproduktion dauerhafter nützlicher
Verbindungen ist es notwendig, die eingegangenen sozialen Be-
54
ziehungen zu festigen. Dabei werden Zufallsbeziehungen in auserwählte Beziehungen umgewandelt, die mit dauerhaften Verpflichtungen verbunden sind. Die Reproduktion von Sozialkapital erfordert eine ununterbrochene Beziehungsarbeit in Form
von Austauschakten, damit die gegenseitige Anerkennung immer
wieder von Neuem bestätigt wird (Bourdieu 1983).
Ökonomisches Kapital
Das ökonomische Kapital liegt allen anderen Kapitalformen zugrunde (Bourdieu 1983). Ausreichender Besitz von ökonomischem
Material ermöglicht einen späteren Eintritt in die Berufswelt
und bietet dadurch zeitlichen Raum, um einen höheren Bildungsabschluss zu realisieren (Leemann 2002). Kinder aus nichtakademischen Familien müssen damit rechnen, dass die Aufnahme eines Hochschulstudiums mit einem „Doppelleben“ (Leemann 2002)
verbunden ist, sie sind zu einer Berufstätigkeit neben der
Ausbildung gezwungen, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. In Antizipation der zusätzlichen Hindernisse entscheiden
sie sich eher für solche Berufswege, die ein geringeres Risiko
aufweisen (Leemann 2002). Wer nur über wenig Kapital verfügt
ist weniger risikofreudig bei einer Investition in die Bildung
als jene, die damit rechnen müssen, bei einem allfälligen
Fehlschlag den erlittenen Verlust nicht durch andere Ressourcen kompensieren zu können (Krais 1983). Ökonomisches Kapital
verhilft zur Erwerbsmöglichkeit anderer Kapitalsorten, doch
die Übertragung erfordert einen beträchtlichen Aufwand an
Transformationsarbeit (Bourdieu 1983). Das ökonomische Kapital
liegt einerseits allen anderen Kapitalformen zugrunde, die
transformierten Formen des ökonomischen Kapitals können allerdings nie vollständig auf dieses zurückgeführt werden, „weil
sie ihre spezifischen Wirkungen überhaupt nur in dem Maße hervorbringen können, wie sie verbergen (und zwar zu allererst
vor ihrem eigenen Inhaber), daß das ökonomische Kapital ihnen
zugrundeliegt und insofern, wenn auch nur in letzter Instanz,
55
ihre Wirkungen bestimmt“ (Bourdieu 1983, S. 196).
3.6.4 Habituskonzept und Lebensstil
Modernisierungstheorien gehen davon aus, dass die soziale Herkunft des Akteurs, verstanden als auf der vertikalen Ungleichheitsstruktur abgebildete Position eines Individuums, im Prozess der Individualisierung in den Hintergrund tritt. Nach
Bourdieu8 gibt es jedoch einen sozialen Raum, definiert als
„ein Raum von Unterschieden, in denen die Klassen gewissermassen virtuell existieren, unterschwellig, nicht als gegebene,
sondern als herzustellende“ (Bourdieu 1985, S. 26). Die Stellung, die ein Individuum in diesem sozialen Raum einnimmt,
prägt seine kulturellen Gewohnheiten und Verhaltensweisen und
vice versa. Sie gibt damit die Perspektive vor, aus der das
gesamte Leben - das eigene und das von anderen - gesehen, geplant und evaluiert wird. Deshalb müssen Kontext und Situation
eines Akteurs, kurz seine Lokalisierung im sozialen Raum, immer miteinbezogen werden, um seine Handlungen beschreiben und
erklären zu können.
An welcher Stelle des Raumes ein Subjekt steht, konstituiert
sich aufgrund seines ererbten oder erworbenen Anteils an den
zentralen Ressourcen einer Gesellschaft. Diese sind stark vereinfacht das ökonomische (Geld, Einkommen, Vermögen), das soziale (die Fähigkeit, soziale Beziehungen für eigene Zwecke zu
mobilisieren) und das kulturelle (Bildung, Ausbildung, Sprache) Kapital.
Das folgende klischeehafte Beispiel zeigt auf, dass nicht nur
8
Bourdieus Untersuchungen richten sich an französischen Verhältnissen aus,
so beispielsweise an dem hohen Stellenwert der Kultur oder den ausgeprägteren Klassenunterschieden im Bildungswesen. Bourdieu meint jedoch, dass das
„Modell der Wechselbeziehungen zweier Räume - dem der ökonomisch-sozialen
Bedingungen und dem der Lebensstile“ für alle geschichteten Gesellschaften
Geltung besitzt, „selbst wenn das System der Unterscheidungsmerkmale, durch
die sich soziale Unterschiede äussern oder verraten, ein je nach Epoche und
Gesellschaft anderes ist“ (Bourdieu 1982, S. 12).
56
die Gesamtmenge des Kapitals entscheidend ist, sondern auch
die Zusammensetzung der Kapitalsorten: Ein Mädchen aus ländlicher Gegend mit abgeschlossener Berufsausbildung sieht die
Welt von ihrer Position aus anders, als eine gleichaltrige
Lehrerstochter aus der Stadt, die das Gymnasium besucht. Die
erste liest die Biographien ihrer Idole und wird eine erfolgreiche Schauspielerin. Die zweite liest die „Geschichte des
Fräuleins von Sternheim“, schliesst erfolgreich ein Hochschulstudium ab und arbeitet als Assistentin an der Universität.
Eine durch Unterhaltungsfilme reich gewordene Schauspielerin
mit durchschnittlicher Schulbildung verfügt über ein ähnliches
Kapitalvolumen wie eine wissenschaftliche Assistentin mit geringem Einkommen. Da die erste Frau in erster Linie über viel
erworbenes ökonomisches Kapital verfügt, nimmt sie jedoch eine
andere Position ein als die Assistentin, deren Kapital sich
aus vielfältigen Beziehungen im akademischen Milieu und aus
einer umfassenden Bildung als ererbtes Startkapital zusammensetzt.
Den Positionen im sozialen Raum entspricht ein System klassenspezifischer Dispositionen, das als Habitus bezeichnet wird.
Es umfasst Schemata der Wahrnehmung, des Denkens und des Handelns.
Der Habitus kann als erworbenes System von Dispositionen, Fähigkeiten, Kenntnissen, Gewohnheiten und Weltanschauungen angesehen werden (Bourdieu 1985, 1987, Buchmann 1989b). Der Habitus widerspiegelt nicht die individuellen Besonderheiten einer Person. Er ist vielmehr „die Verinnerlichung und die Konzentration der Erfahrungen, die ein Individuum als Mitglied
einer sozialen Gruppierung und den mit ihr verbundenen Lebenschancen macht. Die sozialen Strukturen und die mit ihnen verknüpften Möglichkeiten und Beschränkungen werden über das ererbte ökonomische, kulturelle und soziale Kapital (...) vermittelt und verinnerlichen sich im Verlaufe der familiären Sozialisation im Körper, in der Psyche und in den Kognitionen
57
der Individuen“ (Leemann 2002, S. 29).
Das bedeutet nichts anderes, als dass die jeweilige Position
im sozialen Feld (die soziale Struktur) das alltägliche Handeln, die Praxisform, den Lebensstil eines Individuums prägt.
Der Lebensstil trägt seinerseits aber wiederum zur Reproduktion der Stellung im sozialen Raum bei. Der Habitus ist somit
nicht nur ein Produkt der sozialen Struktur; er ist auch Produzent von Vorlieben, Besitztümern und Meinungsäusserungen,
die laufend seine eigenen Entstehungsbedingungen - die durch
die Raumlage konstituierten Dispositionen - reproduzieren. Mit
der Annahme, dass der jeweilige Lebensstil nicht der persönliche Charakter des Individuums sondern der Ausdruck der verinnerlichten gesellschaftlichen Struktur ist, verknüpft Bourdieu
das kollektive Geschehen mit der individuellen Geschichte.
Um auf das einfache Beispiel zurückzukommen: Die Schauspielerin hat andere Denk- und Verhaltensmuster als die Assistentin
ererbt und erworben. Diese zeigen sich beispielsweise in ihrer
politischen Einstellung, ihrer Freizeitgestaltung und ihrem
Konsumverhalten, kurz ihrem gesamten Lebensstil. Der Lebensstil ist es jedoch gerade, der zur Disposition ihres jeweiligen Kapitalvolumens und dadurch zur Festigung ihrer Position
beiträgt. So wird eventuell das ökonomische Kapital der Schauspielerin wachsen, da sie durch ihren konsum- und öffentlichkeitsorientierten Lebensstil als ideale Werbeträgerin gilt.
Es ist nun aber evident, dass nicht aus allen Lehrerstöchtern
Professorinnen werden – auch wenn sie über ein ähnliches
Startkapital verfügen. Bourdieu schreibt denn auch: „Sind die
Angehörigen einer Klasse mit einem bestimmten ökonomischen und
kulturellen Anfangskapital mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zu einer sozialen und schulischen Laufbahn verurteilt, die zu einer gegebenen Position führt, so bedeutet dies
gleichzeitig, dass eine Fraktion der Klasse (...) eine von der
statistisch häufigsten Laufbahn der Gesamtklasse abweichende,
entweder höhere oder niedere (...) Laufbahn einschlagen“
58
(Bourdieu 1982, S. 190). Er schliesst daraus, dass es einen
Laufbahn-Effekt gibt. Dieser besagt, dass der durch die Familie oder die ursprünglichen Lebensbedingungen ausgeübte Einfluss auf die Handlungspraxis eines Menschen durch die Wirkung
ergänzt wird, den die biographische Erfahrung auf die Einstellungen und Meinungen ausübt. Insbesondere die Erfahrung mit
sozialem Auf- oder Abstieg prägt die Vorstellung von der eigenen Position in der Sozialwelt.
Der Habitus als strukturiertes und strukturierendes Prinzip
der Handlung und Entscheidung von Individuen repräsentiert
Bourdieus (1982, 1985, 1987) Hauptkonzept, um Struktur und
Handlung miteinander zu verknüpfen. Der Habitus vermittelt
zwischen Sozialstruktur und dem Handeln von Individuen, er
vermag zu erklären, weshalb soziale Gruppen die gleichen Gewohnheiten, Interessen und Praktiken aufweisen (Leemann 2002).
„Die ‚Subjekte‘ sind in Wirklichkeit handelnde und erkennende
Akteure, die über Praxissinn verfügen (...), über ein erworbenes Präferenzensystem, ein System von Wahrnehmungs- und Gliederungsprinzipien (das, was man gewöhnlich den Geschmack
nennt), von dauerhaften kognitiven Strukturen (die im wesentlichen das Produkt der Inkorporierung der objektiven Strukturen sind) und von Handlungsschemata, von denen sich die Wahrnehmung der Situation und die darauf abgestimmte Reaktion leiten läßt. Der Habitus ist jener Praxissinn, der einem sagt,
was in einer bestimmten Situation zu tun ist“ (Bourdieu 1985,
S. 41-42. Hervorh. im Original). Die Strukturen des Habitus
werden „wiederum zur Grundlage der Wahrnehmung und Beurteilung
aller späteren Erfahrung“ (Bourdieu 1987, S. 101).
Das Individuum wird mit vorgegebenen sozialen Rahmenbedingungen konfrontiert. Gleichzeitig ist es mit Kompetenzen ausgerüstet, die es zum Handeln befähigen. Der Habitus ist kein zufällig entstandenes System. Er stellt die Internalisierung und
Verkörperlichung der individuellen Position im sozialen Gefüge
dar, er verweist auf „internalisierte, subjektive Wahrneh59
mungsmuster und Handlungsdispositionen“ (Stamm und Lamprecht
1996, S. 516. Hervorh. im Original), die relativ stabil und
langfristig sind. Er widerspiegelt die biographische Geschichte der sozialen Positionen eines Individuums, also seinen Pfad
im Lebenslauf. Damit repräsentiert er die objektiven Bedingungen der individuellen Position in der sozialen Struktur. Er
verkörpert die biographischen Erfahrungen in der sozialen Welt
des Individuums. In der Folge besteht eine Affinität zwischen
den Wahrnehmungsschemata, dem Geschmack und den Handlungsorientierungen jener Individuen, die eine vergleichbare Geschichte sozialer Positionen oder Verläufe (‚trajectoires‘) aufweisen (Bourdieu 1982, 1985, Buchmann 1989b). Obwohl der Habitus
eine individuelle Eigenschaft darstellt, ist er nicht ein persönliches sondern ein sozial strukturiertes Phänomen. Insofern
stellt der Habitus ein Klassenphänomen dar, denn die materiellen Gegebenheiten der individuellen Existenz hängen weitgehend
von der Position in der Klassenstruktur ab. Die Unterschiede
im Klassenhabitus erlauben es dem Individuum jene Handelnden
zu erkennen und sich mit diesen zu identifizieren, die vergleichbare Praktiken an den Tag legen (Buchmann 1989b).
Der Habitus beinhaltet Erwartungen an die Zukunft basierend
auf den Erfahrungen der Vergangenheit. Subkulturelle Milieus
vermitteln, indem sie die biographischen Aspirationen ihrer
Mitglieder formen, zugleich strukturelle Chancen. Diese objektiv gegebenen Chancen führen zu subjektiven Erwartungen hinsichtlich der eigenen Zukunft (Buchmann 1989a), diese bezeichnet Bourdieu (1985?) als probabilistische Logik des Handelns.
Durch die Verinnerlichung der Trajektoren der sozialen Position weiss der Handelnde um die objektiven Möglichkeiten, die
ihm zur Verfügung stehen und erkennt die Möglichkeiten, die
seine aktuelle Position für die Zukunft bereitstellt (Buchmann
1989b). Die objektiven Chancen seiner Position werden transformiert in subjektive Erwartungen bezüglich der Zukunft. Individuen aspirieren solche zukünftige Entwicklungen, die hohe
60
objektive Chancen haben, sich zu erfüllen. Es besteht ein Gefühl für die eigene Situation, ein Gefühl für das, was angemessen ist und das, was jenseits aller persönlichen Möglichkeiten liegt. „Der soziale Raum ist so konstruiert, daß die
Verteilung der Akteure oder Gruppen in ihm der Position entspricht, die sich aus ihrer statistischen Verteilung nach zwei
Unterscheidungsprinzipien ergibt, (...) nämlich das ökonomische Kapital und das kulturelle Kapital. Daraus folgt, daß die
Akteure um so mehr Gemeinsamkeiten aufweisen, je näher sie einander diesen beiden Dimensionen nach sind, und um so weniger
Gemeinsamkeiten, je ferner sie sich in dieser Hinsicht stehen“
(Bourdieu 1985, S. 18. Hervorh. im Original).
Die Schulbildung orientiert sich „so stark an der Elitekultur,
daß ein Kind aus kleinbürgerlichem und mehr noch aus bäuerlichem oder Arbeitermilieu mühsam erwerben muß, was Kinder der
gebildeten Klasse mitbekommen: Stil, Geschmack, Esprit, kurz,
die Leichtigkeit und Lebensart, die dieser Klasse, da es ihre
eigene Kultur ist, natürlich sind“ (Bourdieu und Passeron
1971, S. 42). Deshalb reicht es nicht aus, das nötige ökonomische Kapital zur Verfügung zu stellen, um gleiche Chancen für
den Aufstieg in der Bildungshierarchie zu schaffen. Denn es
sollte nicht übersehen werden, dass die anhand von Prüfungskriterien gemessenen Fähigkeiten weniger mit natürlichen Begabungen zusammenhängen als mit der variierenden Affinität zwischen den kulturellen Gewohnheiten einer bestimmten Klasse und
den Anforderungen und Erfolgskriterien des Bildungssystems
(Bourdieu und Passeron 1971).
3.6.5 Reproduzierende Funktion der Bildungsinstitutionen
Die Vertreter der Reproduktionstheorie betonen die Selektionsfunktion des Bildungssystems. Unterschiede der sozialen Herkunft werden verstärkt und verschleiert, indem soziale Vorteile eigenen Leistungen zugeschrieben werden (Bourdieu und Passeron 1971, Bourdieu 1982, 1985). Die massgebliche Funktion
des Bildungssystems besteht nicht darin, tatsächliche Bil61
dungschancen entsprechend unterschiedlicher Leistungen zu verteilen, die zentrale Funktion liegt in der Rechtfertigung und
Reproduktion bestehender Ungleichheit (Lamprecht und Stamm
1996). Ungleichheiten lassen sich nicht beliebig reduzieren,
da ihre Ursachen ausserhalb des Schulsystems liegen. Die Vorstellung von Chancengleichheit innerhalb des Bildungssystems
basiert nicht auf dem Wunsch einer Verminderung der gesellschaftlichen Unterschiede, sondern sie dient dazu, diese zu
verschleiern, indem ungleiche soziale Privilegien in persönliche Verdienste umgedeutet werden (Lamprecht 1991).
Wer sich in ein soziales Feld begibt, für das er nicht vorgesehen ist, dessen Habitus umfasst nicht die Einstellungen,
Kenntnisse und Verhaltensweisen, die notwendig sind, um sich
in der jeweiligen Umgebung ohne Schwierigkeiten zu bewegen. Es
entsteht das Gefühl, fehl am Platz zu sein. „So können Selbstselektion, das unmerkliche ‚freiwillige‘ sich Zurückziehen,
und soziale Selektion, das subtile ‚Platzanweisen‘, in der sozialen Praxis gemeinsam ihre Wirkung entfalten“ (Leemann 2002,
S. 30). Für Kinder der unteren sozialen Schichten bedeutet die
Wahl einer höheren Bildung immer auch „Akkulturation“ (Bourdieu und Passeron 1971, Leemann 2002) an eine unvertraute,
akademische Welt, während Kinder mit akademischer Herkunft
sich in der Mittelschule und an Hochschulen mit gewohnter
Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit bewegen können. „Insbesondere in der mündlichen Kommunikation setzen Wissenschaftler Sprache als Distanzierungsinstrument ein. Professoren zielen in den Seminaren und Vorlesungen beispielsweise weniger
auf Verständlichkeit, indem sie kontinuierlich erklärende Ausführungen abgeben würden, sondern bedienen sich einer ‚charismatischen, auf Missverständnissen beruhenden‘ Sprache“ (Leemann 2002, S. 32). Arbeiterkinder leiden im Studium häufiger
als andere Studierende unter einem Gefühl der Entfremdung, was
Identitätskonflikte nach sich zieht. Sie empfinden die Universität als Massenbetrieb und fühlen sich einsam. Sie fühlen
62
sich fremd, weil sie die Werte und Normen der Hochschulwelt
nicht verinnerlicht haben und diese erst erlernen müssen.
Dadurch verfügen sie in geringerem Masse über Handlungsstrategien, die für eine erfolgreiche Hochschullaufbahn vonnöten
sind (Leemann 2002). „Die Chancen für den Hochschulbesuch sind
das Ergebnis einer Auslese, die die gesamte Schulzeit hindurch
mit einer je nach der sozialen Herkunft der Schüler unterschiedlichen Strenge gehandhabt wird; bei den unterprivilegierten Klassen führt dies ganz einfach zu Eliminierung“
(Bourdieu und Passeron 1971, S. 20. Hervorh. im Original).
Die Bildungsaspirationen sind entsprechend dem sozialen Milieu
unterschiedlich stark ausgebildet (Bourdieu und Passeron 1971,
Leemann 2002). „Für Arbeiterkinder sind bildungsfördernde Mütter und/oder Väter, weil sie beispielsweise selbst auf Bildung
verzichten mussten oder weil in der Familie Statusinkonsistenzen bezüglich der elterlichen Bildung herrschen, aus diesen
Gründen eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung von
Bildungsmotivation (...) Vielfach erfolgt ein Anstoss zur weiterführenden Bildung auch von einer Person ausserhalb der Familie, z.B. der Lehrperson“ (Leemann 2002, S. 33).
Kinder aus Akademikerfamilien verfügen über das notwendige Kapital und den Habitus, um sich in der universitären Welt zurechtzufinden und entwickeln hohe Bildungsaspirationen, für
sie ist die Wahl eines Hochschulstudiums etwas selbstverständliches (Bourdieu und Passeron 1971, Leemann 2002).
Der Habitus eines Menschen, insbesondere sein ererbtes kulturelles Kapital, beeinflusst die Bildungskarriere und berufliche Laufbahn eines Menschen. Als Praxissinn sagt er dem sich
entscheidenden Akteur, was zu tun ist - „im Sport nennt man
das ein Gespür für das Spiel, nämlich die Kunst, den zukünftigen Verlauf des Spiels, der sich im gegenwärtigen Stand des
Spiels bereits abzeichnet, zu antizipieren“ (Bourdieu 1985, S.
42). Auch in Bezug auf seine Ausbildung oder Berufswahl ist es
wichtig, die Kunst des Antizipierens zu beherrschen; der schu-
63
lische Erfolg und damit der aktuelle und potentielle Profit
aus dem kulturellen Kapital hängt davon ab. Um ein realistisches und damit gewinnbringendes Zukunftsbild entwerfen zu
können, werden möglichst viele Informationen über die denkbaren Bildungsentscheide benötigt. Wer die relevanten Informationen von seiner Familie, seinen Eltern oder Geschwistern und
deren Beziehungen erhält, ist im Vorteil. Das benötigte Gespür
hängt also im wesentlichen von der sozialen Herkunft ab. Somit
kann der Soziologe zeigen, wie der Schulerfolg - in einer modernen Gesellschaft eine der Schlüsselqualifikationen - an die
soziale Herkunft gebunden ist.
Zudem trägt das Bildungssystem als Institution dazu bei, seine
eigene Struktur über die Disposition des kulturellen Kapitals
zu reproduzieren. Individuelle Fähigkeiten sind gegenüber ererbten Privilegien im Nachteil, da zwischen der Bildungsfähigkeit und dem kulturellen Erbe ein verborgener Zusammenhang besteht. Ohne Bourdieus umfassenden empirischen Belege wiedergeben zu können, sei gesagt, dass „die Unterschiede der Befähigung von den durch das ererbte Kapital bedingten sozialen Unterschieden nicht zu trennen sind“ (Bourdieu 1985, S. 36). Anders gesagt haben Individuen mit grossem kulturellem Startkapital grössere Chancen, den Aufnahme- und Realisierungsbedingungen der Bildungssysteme zu entsprechen. Die Institutionen
trennen also die Besitzer von ererbtem Kapital von den Nichtbesitzern und ermöglichen lediglich den einen die Akkumulation
ihrer kulturellen Ressourcen. Die sozialen Unterschiede werden
somit aufrechterhalten.
„Je mehr die offizielle Übertragung von ökonomischem Kapital
verhindert oder gebremst wird, desto stärker bestimmt deshalb
die geheime Zirkulation von Kapital in Gestalt der verschiedenen Formen des Kulturkapitals die Reproduktion der gesellschaftlichen Struktur. Das Unterrichtssystem - ein Reproduktionsinstrument mit besonderen Fähigkeiten zur Verschleierung
der eigenen Funktion - gewinnt dabei an Bedeutung, und der
64
Markt für soziale Titel, die zum Eintritt in begehrte Positionen“ (Bourdieu 1983, S. 198) berechtigen, vereinheitlicht
sich. Die Verlagerung des sozialen Wettbewerbs auf den scheinbar allen gleichermassen zugänglichen Markt symbolischer Güter
lässt nur scheinbar eine Öffnung der Gesellschaft vermuten,
stattdessen erfolgt eine Verschärfung der Konkurrenzsituation
zwischen den Individuen (Krais 1983). Die Einnahme unterschiedlicher Personen ist eng mit dem privilegierten Zugang zu
Ressourcen verknüpft. Diese Verbindung verursacht viele der
Machtkämpfe in der Gesellschaft. Das Bildungssystem übt hier
eine vermittelnde und eine legitimierende Funktion, weshalb es
häufig in Diskussionen um soziale Gerechtigkeit eingebunden
wird. Der Zugang zu Prestige und Status und der damit verbundenen Privilegien wird immer exklusiver durch das Bildungssystem geregelt und die gesellschaftlichen Konflikte dadurch zum
Teil entschärft (Graf und Lamprecht 1991). „So führt auch die
gestiegene Bedeutung des Bildungskapitals für den Zugang zu
den attraktiven Positionen nicht etwa zur Enteignung - und sei
sie allmählich oder nur partiell - der besitzenden Klasse und
damit zu einem Aufbrechen der Herrschaftsstrukturen. Trotz gewisser Verschiebungen innerhalb der herrschenden Klasse gestatten ihr die neuen, stärker über kulturelles Kapital vermittelten Modi der Aneignung des gesellschaftlichen Mehrprodukts, ihren Besitz und ihre Macht zu behaupten - in einer
diskreteren, verdeckteren Form“ (Krais 1983, S. 214-215). Unermüdliches Lernen auf allen Schulstufen bleibt für die Angehörigen unterprivilegierten Klassen der einzige mögliche Zugang zu einer Steigerung des kulturellen Kapitals. Das Erziehungswesen könnte eine Demokratisierung der Bildung bewirken,
wenn es die ursprünglichen Unterschiede im Bildungsniveau
nicht ignorieren - und deren Aufrechterhaltung dadurch sogar
noch fördern - würde (Bourdieu und Passeron 1971).
Die Forderung nach immer mehr Bildungskapital setzt schliesslich auch die aus privilegierten Klassen stammenden Heranwach-
65
senden unter einen zunehmenden Druck. Zur Wahrung der ihrer
Herkunft angemessenen Privilegien müssen sie immer mehr Anstrengungen unternehmen. Die Folgen beschreibt Bourdieu drastisch (1985, S. 44): „Entnervte Eltern, kaputte Jugendliche,
von den Produkten eines für unzureichend erklärten Bildungssystems enttäuschte Arbeitgeber sind (...) ohnmächtige Opfer
eines Mechanismus, der nichts anderes ist als die kumulierte
Wirkung ihrer eigenen, aus der Logik der Konkurrenz aller gegen alle geborenen und von ihr mitgerissenen Strategien.“
66
3.7 Biographische Orientierungen und Handlungsstrategien
„Die (überwiegend) qualitative Biographieforschung geht davon
aus, daß durch die historische Plazierung des Lebenslaufs, die
Generationsprägung und dass Durchlaufen von Statuspassagen der
Mensch nicht nur einen gesellschaftlichen Ort zugewiesen bekommt, sondern Erfahrungen macht, die sich in einer biographischen Wissensstruktur aufschichten. Die Aufschichtung ist aber
keine Addition von Erfahrungen, sondern im Prozeß der Erfahrungsbildung werden oder können frühere Erfahrungen - aus unterschiedlichen Gründen - neu interpretiert oder obsolet werden (...) Erfahrungen steuern den Verlauf der Lebensgeschichte, aber sie sind gleichzeitig auch Handlungsressourcen, um
neue Handlungssituationen zu strukturieren und zu bewältigen“
(Hoerning 2000, S. 6).
„Die besten Mikrosoziologien geben Einsicht in die erlebten
Erfahrungen derjenigen, die in den großen Strukturen stecken,
indem sie zeigen, wie diese mit dem ‚in den großen Strukturen
stecken‘ zurecht kommen (...) indem Mikrosoziologen betrachten, wie Makro-Zwänge interpretiert werden (und wie mit ihnen
umgegangen wird), geben sie uns die seltene Gelegenheit, etwas
darüber zu lernen, wie sozial verortete Personen mit den ‚Bedingungen‘ kämpfen, in die sie durch Geschichte und Sozialstruktur gestellt wurden (Berger 2000, S. 27).
Die Notwendigkeit der Analyse des Lebenslaufs in seiner Gänze
wurde bereits hervorgehoben: denn „verstehende Ansätze stehen
bei der Handlungsanalyse in der Gefahr, nichtintentionale und
vorgegebene Bedingungen des Handelns zu vernachlässigen“ (Fischer und Kohli 1987, S. 35). Die Ausblendung des Handlungsbegriffs durch die Systemtheoretiker führt andererseits dazu,
dass „die Bedeutung der primären Erfahrung in der Sozialwelt
ebenso ausgeschaltet wird wie die Frage nach der Möglichkeit
von Erfahrung und davon abhängigen Handlungen“ (Fischer und
67
Kohli 1987, S. 35). Die Lebenslaufanalyse gestaltet sich immer
als Mehrebenenanalyse. In dieser Weise „kann die soziologische
Biographieanalyse sowohl dem Anliegen ‚subjektiver‘ wie ‚objektiver‘ Analyse gerecht werden, sofern sie Erfahrung und Intention im Handlungsbegriff als auch das der Handlung vorintentional zugrundeliegende Schema enthüllen kann“ (Fischer
und Kohli 1987, S. 35).
Lebenserfahrungen stellen die Verbindung her zwischen Vergangenheit und Zukunft des Lebenslaufs (Hoerning 1989). Sie steuern zukünftige Handlungen und können „individuell für die Ausgestaltung zukünftiger biographischer Projekte verwendet werden (...) Biographische „Verlaufsmuster oder lebensgeschichtliche Sequenzen sind immer von der eigenen Vorgeschichte abhängig“ (Hoerning 1989, S. 148). Gesellschaftliche Handlungsangebote werden so genutzt, dass sie sich im Einklang mit der
eigenen Vorgeschichte befinden (Hoerning 1989).
Das chronologische Alter, Bildungszertifikate und Titel dienen
als „Landmarken“ für subjektive biographische Orientierungen
und Strategien (Buchmann 1989). Individuen tendieren dazu, die
ihnen durch ihren Status zugeordneten Attribute auch wirklich
zu entwickeln (Bourdieu 1982, S. 52): „Die durch die schulischen Klassifikationen und rangspezifischen Gliederungen erzeugten offiziellen Unterschiede schaffen (oder verstärken)
tendenziell reale Unterschiede in dem Sinne, daß sie bei den
derart klassifizierten Individuen den - kollektiv anerkannten
und gestützten - Glauben an diese Unterschiede und damit die
Verhaltensmuster erzeugen, die offizielles und reales Sein zur
Deckung bringen sollen.“ Insofern strukturieren Klassifikationen sowohl die eigenen Erwartungen und Aspirationen wie auch
das, was andere von den Individuen erwarten. Die Berufslaufbahnen schaffen den Rahmen für die individuelle Berufsbiographie. Sie definieren, was angemessen und was jenseits der persönlichen Reichweite im beruflichen Leben ist (Buchmann 1989).
Individuen richten den eigenen Lebensplan und ihre Handlungen
68
an den Sequenzen solcher Berufslaufbahnen aus und reorientieren sich jedesmal neu, wenn ein solcher Schritt vollzogen ist.
Je mehr solche Berufskarrieren geregelt sind, desto eher können solche beruflichen Schritte im Lebenslauf vorausgesehen
und vorausgeplant werden (Buchmann 1989). In dieser Weise gelangen die Individuen zu klar definierten Handlungsalternativen, zwischen denen sie auswählen können wobei sie bei der
Wahl von vergangenen Erfahrungen und ihren gegenwärtigen Interessen und Bedürfnissen geleitet werden. Sozial konstruierte
berufliche Laufbahnmuster formen in dieser Weise die beruflichen Erwartungen und Aspirationen der Individuen und produzieren dadurch biographische Identitäten (Buchmann
1989). Die
Verzeitlichung des beruflichen Lebens in hoch institutionalisierten Laufbahnen produziert präzis definierte Fahrpläne, die
als Entwürfe für die Abfolge von Ereignissen im individuellen
Lebenslauf dienen (Buchmann 1989).
„Laufbahnen im sozialen Raum oder ‚trajectoires‘, die Individuen verfolgen können, sind nicht ausschließlich das Produkt
aktueller sozialer und/oder ökonomischer Lebenslagen sondern
gleichzeitig das Ergebnis der Reproduktion von Klassenverhältnissen“ (Hoerning 1989, S. 157). Bourdieu (1982) sieht den
Menschen daran interessiert, aus den ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen einen maximalen Ertrag zu erwirtschaften. Um
das vorhandene Kapital zu vermehren „müssen Chancen wahrgenommen werden, die den vorhandenen Neigungen und Fähigkeiten entgegenkommen, und gleichzeitig muß dabei in Rechnung gestellt
werden, daß die Aktivitäten vergangener Generationen den Platz
in der Gesellschaftsstruktur festlegen, das heißt, die Ressourcen an kulturellem, sozialem und ökonomischem Ausgangskapital festgelegt sind. So gesehen ist es nicht unwichtig, in
welche Familie man hineingeboren wird, das heißt welchen
Standort man per Erbe in der Gesellschaft hat“ Hoerning 1989,
S. 157). Die soziale Welt bietet nicht ein Universum von Möglichkeiten, die allen in gleicher Weise offen stehen. „Lebens-
69
wege bewegen sich über ein Feld, das schon strukturiert ist“
(Hoerning 1989, S. 158).
Das Leben stellt ein Ganzes dar, „eine kohärente und gerichtete Gesamtheit, die als einheitlicher Ausdruck einer subjektiven und objektiven ‚Intention‘, eines ‚Entwurfs‘ aufgefaßt
werden kann und muß“ (Bourdieu 1985, S. 75).
3.7.1 Handlungsentwurf und biographische Erfahrungen
Straub (2000) spricht von „Erfahrungen (...) als von symbolisierten und demzufolge transformierten Erlebnissen und Ereignissen, die nunmehr eine Gestalt sui generis besitzen“ (S.
144. Hervorh. im Original). Die Bezeichnung Erlebnis reserviert er für „das noch nicht (reflexiv) begriffene Leben in
seiner Leiblichkeit“ (ebd.).
Der Lebensplan ist eine Quelle der Identität. Die „moderne
Identität ist besonders reflexiv. Wenn man in einer integrierten und intakten Welt lebt, kann man mit einem Minimum an Reflexionen auskommen“ (Berger et al. 1975, S. 71. Hervorh. im
Original). Lebenspläne oder biographische Projekte sind das
Ergebnisse von zwei verknüpften Aspekten: Individuen entwerfen
ihre Lebenspläne vor dem Hintergrund sozial definierter Berufskarrieren. Die Schritte und Sequenzen solcher Karrieren
setzen den Rahmen für die Konstruktion der eigenen Zukunft,
sowohl in beruflicher wie auch privater Hinsicht. Sodann sind
biographische Projekte stets durch vergangene Erfahrungen
strukturiert, die mitentscheidend bei der Bestimmung der zukünftigen Entwicklung sind (Buchmann 1989). Biographische Erfahrungen werden als Wissen und Kenntnisse verstanden, das aus
der Beziehung des Individuums zu der gesellschaftlichen Umwelt
in der gesellschaftlichen Praxis angeeignet wird (Hoerning
1989). Dieses Wissen wird nicht induktiv gewonnen sondern
„exemplarisch, daß heißt, aus unendlich vielen Beispielen wird
ein intersubjektiv überprüfbares Wissen erzeugt“ (Hoerning
1989, S. 153. Hervorh. im Original).
70
Biographische Erfahrungen bestimmen den Ablauf des Lebens mit:
„Es ist eine soziale Tatsache, daß Lebenserfahrungen eine Biographie prägen. Erfahrungen, die für die Biographie bedeutend
sind und zu biographischen Wissensbeständen werden, strukturieren den (weiteren Verlauf der Lebensgeschichte“ (Hoerning
1989, S. 148. Hervorh. im Original). Lebenserfahrungen prägen
die Biographie im selben Masse wie „soziale Herkunft, Schulbildung, Geschlecht, Hautfarbe und nationale Herkunft. Lebenserfahrungen werden im Laufe einer Lebensgeschichte erworben, sie lagern sich als biographisches Wissen ab“ (Hoerning
2000, S. 4). Erfahrungen haben und Erfahrungen machen ist
nicht dasselbe. Erfahrungen machen verweist auf Erlebnisse,
die einem zustossen (Alheit und Hoerning 1989). „Dennoch ‚haben wir natürlich nur Erfahrungen, weil wir unablässig Erfahrungen ‚machen‘ (...) Unser je aktueller Erfahrungs- und Wissensvorrat ist nicht ein- für allemal gegeben. Er ist - um einen Terminus der verstehenden Soziologie zu verwenden - ‚biographisch artikuliert‘“ (Alheit und Hoerning 1989, S. 8). Das
Aneignen von biographischen Erfahrungen ist ein kumulativer
Vorgang, der seine Zeit braucht. Er stellt nicht nur ein
schlichtes Anhäufen isolierter erinnerter Ereignisse dar, sondern besitzt eine synthetische Eigenschaft. „Der Wissenserwerb
- wenn schon ‚Sedimentierung von Erfahrungen‘ - ist kein mechanischer Vorgang. Er findet in je konkreten, biographisch
artikulierten Situationen statt. Sowohl die Situationen, in
welchen Erfahrungen ‚gemacht‘ werden, als auch die Erfahrungen
selbst haben eine Vorgeschichte“ (Alheit und Hoerning 1989, S.
9. Hervorh. im Original). Für das Handeln in späteren Positionen einer Sequenz des Lebenslaufs sind immer auch die Ergebnisse aus früheren Positionen von Bedeutung (Kohli 1980). „Die
Verweisebenen des Handelns sind durch einen prozeßhaften Charakter gekenntzeichnet, den wir ‚Sequenzialität‘ nennen wollen. Handlungsanalyse ist daher, soweit sie diesem Prozeßcharakter gerecht werden wird, immer Sequenzanalyse“ (Fischer und
71
Kohli 1987, S. 43).
Erfahrungen sind unterschiedlich konfliktiv: „Erlebnisse, die
die Situationen, in welchen sie gemacht werden, ‚problematisch‘ erscheinen lassen, verlangen eine Neugestaltung des
Wissensvorrats - sei es, daß ihm neue Wissenselemente hinzugefügt, sei es, daß vorhandene Wissenselemente verändert werden“
(Alheit und Hoerning 1989, S. 9-10).
Erfahrungen sind nicht nur biographisch, sie werden mitbestimmt durch den sozialen Kontext, in dem sich ein Individuum
bewegt. Das bedeutet, dass nicht alle dieselben Erfahrungsmöglichkeiten besitzen (Alheit und Hoerning 1989). „Bourdieus
Idee von den Laufbahnen im sozialen Raum (‚trajectoires‘) konkretisiert überzeugend die Beobachtung, daß Lebenswege sich in
einem sozialen Feld bewegen, das bereits strukturiert ist. Biographien sind auch Ergebnis der Reproduktion von Klassenverhältnissen. Das wird gerade an sozialen Aufstiegsprozessen besonders deutlich“ (Alheit und Hoerning 1989, S. 13. Hervorh.
im Original).
„Lebensgeschichtliche Erfahrung läßt sich also nur verstehen,
wenn wir beides berücksichtigen: die biographische Perspektive
von Angehörigen einer Lebenswelt - gleichsam die ‚natürliche
Einstellung‘, in der neue Erfahrungen zu biographisch vertrauten Erfahrungen werden, und die Faktoren, die ‚hinter dem Rücken‘ der Teilnehmer von Lebenswelten wirksam sind und bestimmte Erfahrungshorizonte überhaupt erst konstituieren“ (Alheit und Hoerning 1989, S. 15. Hervorh. im Original).
Die Erfahrungen der Vergangenheit „hinterlassen in der Biographie Prägungen und Muster, die das zukünftige biographische
Projekt ‚vorstrukturieren‘. Gleichzeitig sind biographische
Erfahrungen als biographisches Wissen Handlungsressourcen, die
zur ‚Konstruktion‘ des zukünftigen biographischen Projekte
verwendet werden“ (Hoerning 1989, S. 153). Biographische Erfahrungen sind an einen lebensgeschichtlichen Kontext gebunden
(Hoerning 1989), was die Eingangs formulierte Forderung nach
72
einer Analyse des Lebenslaufs in seiner Gänze ein weiteres Mal
bekräftigt. Im Erfahrungbegriff ist ein doppelter Zeithorizont
der Vergangenheit und der Zukunft enthalten (Fischer und Kohli
1987, S. 31): „‚Erfahrung‘ steht also für den gleichzeitig
‚Altes‘ aufnehmenden und variierenden wie ‚Neues‘ schaffenden
Umgang mit Wirklichkeit (...) ‚Erfahrung‘ eröffnet den Erwartungshorizont einer gelingenden künftigen Orientierung auf der
Basis gültiger Folgerungen aus vergangenen Handlungs- oder
Wahrnehmnungssituationen.“
Die Sichtweise, dass Handlung mit einem Entwurf verbunden ist,
erzeugt diesen doppelten Zeitbezug und „verweist damit über
die Gegenwart des Handlungsvollzuges hinaus“ (Fischer und
Kohli 1987, S. 36). Lebenserfahrungen bilden eine „Brücke zwischen biographischer Vergangenheit, biographischer Gegenwart
und biographischer Zukunft“ (Hoerning 2000, S. 4). Dadurch
wird biographisches Wissen zu „Kapital, welches für die aktuellen und zukünftigen Konstruktionen der Biographie verwertet
wird“ (Hoerning 2000, S. 4).
Der Handlungsentwurf nimmt die vollendete Handlung voraus und
stützt sich auf Handlungstypen, die in der Erfahrung gebildet
wurden (Fischer und Kohli 1987, Schütz 1971). „Die im künftigen Erwartungshorizont sich auslegende Dimension der Intention
bestimmt Schütz final (‚Um-zu-Motiv‘), die durch die Vergangenheit bestimmte Dimension der Intention kausal (‚WeilMotiv‘). Die Wahl der Mittel, sozusagen der inhaltliche Entwurf des Handelns, erfolgt aufgrund der gemachten Erfahrung,
während der Zweck das für die Handlung notwendige ‚voluntative
fiat‘ auslöst“ (Fischer und Kohli, 1987, S. 36).
Biographische Erfahrungen werden im Lebenslauf fortwährend
weiter bearbeitet: Reaktionen auf identische Lebensereignisse
unterscheiden sich nicht nur interindividuell, sondern die eigenen Einschätzungen dazu verändern sich im Lauf des Lebens
(Hoerning 1987). Biographische Erfahrungen und das daraus gewonnene biographische Wissen stellt nicht nur die Ablagerung
73
des Erfahrenen dar, es repräsentiert die fortlaufende Überarbeitung des Erfahrenen (Hoerning 1989, 2000). Zielsetzungen
und Erwartungen sind im wesentlichen zu erklären aus Bedingungen, Entscheidungen, Ressourcen und Erfahrungen der bisherigen
Lebensgeschichte (Mayer 1987). Handlungspotentiale werden in
stärkerem Masse durch die eigene Lebensgeschichte geprägt als
durch die schlichte Mitgliedschaft in einer Altersgruppe (Mayer 1987). Erfahrungen werden immer interpretiert „im Lichte
vorher erworbener Erfahrungstypen (Fischer und Kohli 1987, S.
32). Biographische Übergänge beispielsweise verursacht durch
soziale Mobilität, dem Übergang zwischen Gesellschaftsschichten, zwingen zur Aufrechterhalten der sozialen Identität zu
lebensgeschichtlicher Umdeutung (Hoerning 1987). „Es wird
nicht nur die eigene Biographie unter dem Einfluß lebensverändernder Ereignisse umgedeutet, sondern auch diejenigen interpersonalen Beziehungen, die mit dem biographischen Projekt
verstrickt sind“ (Hoerning 1987, S. 233).
Biographische Erfahrungen bündeln sich
zu Wissensbeständen,
die aus Rollenkonfigurationen, also den sozialen Positionen
und Teilnahmegebieten der Individuen, gespeist werden (Heinz
2000, S. 176).
3.7.2 Biographische Sozialisation und Identität
„Sozialisationsforschung hat es immer mit dem Lebenslauf zu
tun und Biographieforschung ist notwendig immer auch Sozialisationsforschung“ (Geulen 2000, S. 187). Bausteine für die
Selbstsozialisation im Lebenslauf sind „die reflektierten Erfahrungen mit signifikanten Anderen und institutionellen gatekeepern“ Heinz 2000, S. 176. Hervorh. im Original). „Sich
dabei aus der Perspektive signifikanter Anderer zu sehen,
heißt die eigenen Handlungen vor dem Hintergrund sozialer Inszenierungen durchzuspielen beziehungsweise in ihrer potentiellen Wirkung für das Selbstkonzept in sozialen Beziehungsnetzen zu überdenken. Sich aus der Perspektive von Institutionen
und deren gatekeepern zu sehen (...) bedeutet demgegenüber,
74
die bisherige Biographie in bezug zu den Mitgliedschafts- und
Selektionskriterien von Organisationen zu setzen“ (Heinz 2000,
S. 177. Hervorh. im Original
„Eine Biographie oder Lebensgeschichte kann (...) als (situations- und kontextabhängiges Produkt einer retrospektiven und
reflexiven Selbstkonstitution von Subjekten betrachtet werden,
die im Laufe ihrer Sozialisation gelernt haben, ihr eigenes
Selbst als gewordenes und temporal strukturiertes aufzufassen.
Begriffe wie Lebensgeschichte und Biographie stehen nicht bloß
für den empirischen Prozeß der Genese subjektiver Strukturen
und qualitativer Bestimmungsmerkmale menschlicher Subjektivität in einem soziokulturellen und historischen Kontext. Diese
Begriffe stehen auch und unabdingbar für die Thematisierung
dieses ‚Prozesses‘, für dessen symbolische, insbesondere
sprachliche Repräsentation und Reflexion. Lebensgeschichten
sind Reflexions- und Kommunikationsprodukte, die Subjekte
selbst und anderen Personen zuschreiben“ (Straub 2000, S.
118).
„Sozialisation im Lebenslauf heißt (...) nicht nur, daß das
Individuum in die Gesellschaft von entsprechenden Sozialisationsagenten (Eltern, Lehrer, Ausbilder, Vorgesetzte, Richter,
Ärzte und anderen) einsozialisiert wird, sondern Sozialisation
im Lebenslauf heißt dann, daß die eigene Lebensgeschichte bei
allen Sozialisationsprozessen quasi als ‚Sozialisationsagent‘
mit in Erscheinung tritt“ (Hoerning 1989, S. 161). Die Berücksichtigung biographischer Erfahrungen „als biographisches Wissen im Sozialisationsprozess heißt demnach, Prozesse der biographischen Anschlussfähigkeit zu untersuchen“ (Hoerning 1989,
S. 162).
„Die am Lebensalter orientierte Übernahme von gesellschaftlichen Rollen, deren Beginn und Ende als Lebensereignisse markiert werden, sichern nicht nur dem gesellschaftlichen System
seinen Fortbestand, sondern garantieren dem Individuum, wenn
es an diesem Prozeß teilnimmt, eine Vergleichbarkeit der eige-
75
nen mit anderen Biographien durch Rollenabfolgen (...) machen
es dem Individuum möglich, sich auf die Einnahme zukünftiger
Rollen in einem antizipatorischen Sozialisationsprozess vorzubereiten. Ob antizipatorische Sozialisationsprozesse möglich
sind, wird davon abhängig sein, inwieweit die Übernahme von
gesellschaftlichen Rollen institutionalisiert ist“ (Hoerning
1987, S. 241).
Die subjektive Konstruktion von biographischen Projekten vor
dem Hintergrund struktureller Chancen und biographischer Erfahrungen kann als individuelle Wahl zwischen strukturell gegebenen Handlungsalternativen interpretiert werden (Buchmann
1989). Die theoretische Konzeption der biographischen Orientierungen und Strategien ermöglicht die Integration von strukturellen und subjektiven Aspekten in die Analyse des Lebenslaufs, und in dieser Weise die Verknüpfung von Struktur und
Handlung (Buchmann 1989), also der makro- und der mikrosoziologischen Ebene der Lebenslaufanalyse.
„Für die Betrachtung des Verzahnungsprozesses gesellschaftlicher und biographischer Verläufe sind neben den strukturellen
Ressourcen und den sich historisch aktualisierenden Sozialdaten der Person (zum Beispiel historische und lebensgeschichtliche Bewertungen von Bildungszertifikaten) (...) zwei Dimensionen von Bedeutung. Diese Dimensionen bilden den Hintergrund
für die Konzeptualisierung des Begriffs der Lebenserfahrung
als biographische Ressource. (...) Biographische Ereignisverkettungen bilden den strukturellen Hintergrund der miteinander
verbundenen Lebenslaufdimensionen ab, die durch das Ereignis
berührt werden. Bei der Rekonstruktion der Biographie zeigt
sich, welche Dimensionen von dem Ereignis in Mitleidenschaft
gezogen werden (Verkettungen) und gleichzeitig zeigt sich,
welche neuen Verkettungen aufgrund des Einbruchs des Ereignisses sich herausbilden. Biographische Commitments beziehen sich
auf lebensgeschichtlich frühere Handlungen, die weitere Handlungsmöglichkeiten einengen, beziehungsweise vorschreiben“
76
(Hoerning 1987, S. 254. Hervorh. im Original)
„Erfahrungen als biographische Ressource objektivieren die Lebensgeschichte als Geschichte, und sie zeigen den individuellen Habitus als Produkt der sozialen Strukturen. Sozialisation
in diesem Sinne bedeutet nicht, etwas Defizitäres zu beseitigen, sondern Sozialisation ist ein (Interaktions-) Prozeß, in
dem Individuen mit unterschiedlichen interpretativen Kompetenzen ihre jeweiligen Identitäten und biographischen Perspektiven aushandeln, was gleichzeitig bedeutet, daß Sozialisationsprozesse zu keinem Zeitpunkt abgeschlossen sind“ (Hoerning
2000, S. 6-7).
„Biographische Sozialisationsforschung fragt nach der Bedeutung von Lebenserfahrungen für biographische Transformationsprozesse, denn die Entwicklung und Entfaltung der Biographie
vollzieht sich nicht nur dadurch, daß der Lebenslauf durch
zentrale Instanzen der Sozialisation prozessiert wird (Familie, Schule, peers, Beruf, Betrieb, Massenmedien und andere),
und daß sich Kognition, Sprache, Emotionen, kulturelle Identität, Moral und anderes entwickeln (...) sondern Entwicklungsabfolgen im Lebenslauf enthalten individuelle Entscheidungen,
in denen Erfahrungen gedeutet, eingeordnet oder verworfen werden, um aus der subjektiven Perspektive die Anschlußfähigkeit
der Biographie zu sichern“ (Hoerning 2000, S. 8).
„Durch die Anforderung, zwischen verschiedenen Institutionen
und Netzwerken durch eigene Handlungen tragfähige Verbindungen
und Koordinationsmuster herzustellen, erwerben die Individuen
in unterschiedlich ausgeprägtem Maße die Kompetenz zur Reflexion und Innovation ihres Lebenslaufs im Spannungsfeld von Biographie, Lebensentwürfen und sozialen Handlungskontexten.
Dies bedeutet, den Lebenslauf als Institution zu betrachten,
die Individuen in Sozialisations- und Selektionsprozesse, insbesondere in Statuspassagen und Übergängen zwischen Lebensbereichen einbindet“ (Heinz 2000, S. 166).
Heinz (2000) spricht von Selbstsozialisation, da in Verbindung
77
mit der zunehmenden Individualisierung (Beck 1986) in einer
Gesellschaft mit riskanten Lebenslaufoptionen die Notwendigkeit der Selbstreflexion stark zugenommen hat. Dadurch „wird
aus der Frage: Wie wirken soziale Herkunft, Geschlecht, Bildung und Familienstatus einerseits und die gesellschaftlichen
Gelegenheitsstrukturen und Institutionen andererseits auf die
Verlaufsform des Lebenslaufs ein, die Frage danach, wie sich
die Individuen mit ihren Erfahrungen, Ansprüchen und Ressourcen auf die ungleich verteilten Optionen und Handlungsspielräume im Lebenslauf beziehen. Wenn beispielsweise im Übergangssystem zwischen Schule und Arbeitsmarkt in Abhängigkeit
vom Bildungsabschluß eine begrenzte Anzahl von Wegen ‚zur
Wahl‘ stehen, dann müssen die Individuen in mehr oder weniger
planvoller Weise ihre beruflichen Aspirationen auf dieses institutionalisierte Wegenetz abstimmen“ (Heinz 2000, S. 166).
Das Selbstbild ist das Ergebnis von kontingenten gesellschaftlichen Bedingungen (Begegnungen mit andere, Sprache usf.), wie
dies Mead (....) und der symbolische Interaktionismus gezeigt
haben (Geulen 2000).
3.7.3 Übergänge als Lebensereignisse
Straub (2000) bezeichnet Zeiten von Ruhe und Beständigkeit im
Lebenslauf als „biographische Auszeiten“ (S. 150. Hervorh. im
Original). „Jede Biographie operiert mit ‚Zeiten des Wandels‘
und mit ‚Auszeiten‘. Jede Lebensgeschichte kennt bewegende und
bewegte Zeiten so gut wie beruhigte und beruhigende Zeiten,
Zeiten des Stillstands. Auszeiten sind Zeiten ohne Spannung,
Phasen, die von biographischer Kontingenz verschont bleiben
(...) Jede Biographie ist im Grunde genommen an lebensgeschichtliche Transformationen gebunden. Biographisches Denken
ist im Kern ein Denken und gedankliches Bearbeiten lebensgeschichtlicher Kontingenz und Veränderung“ (Straub 2000, S.
151).
Von „Zeit zu Zeit werden Individuen mit Anforderungen konfrontiert, die den Lebensplan irritieren und bei denen gerade
78
nicht auf bereits Abgelagertes oder antizipatorisch Erworbenes
zurückgegriffen werden kann, um sich mit der neuen Situation
umstandslos zu arrangieren“ (Hoerning 2000, S. 6). Die Bewältigung solcher Lebensereignisse bedeutet, „die Fakten des Lebens neu zu ordnen und zu verorten, die Biographie neu zu verankern“ (Hoerning 2000, S. 6). Strukturelle Übergänge von einem Lebensalter in ein anderes stellen einen wichtigen Gegenstand der Biographie- und Lebenslaufforschung dar (Hoerning
1987). Die „Schnittstellen der Übergänge - die wiederum als
Transformationsprozesse zu verstehen sind - werden Lebensereignisse genannt“ (Hoerning 1987, S. 243). Besonders im Rahmen
von Übergängen im Lebenslauf richten Individuen ihre Aufmerksamkeit auf diese Aspekte und beschäftigen sich mit ihren Lebensplänen (Buchmann 1989). Die bisherige Lebensgeschichte
wirkt nicht nur auf die jeweiligen Zugangschance, sondern sie
beeinflusst auch spätere Übergänge (Mayer 1987). Dabei werden
die „biographischen Wissensbestände wiederbelebt und ‚überarbeitet‘ als Unterstützung und/oder Behinderung in aktuellen
Handlungssituationen beziehungsweise in die Planungen von Lebensperspektiven einbezogen“ (Hoerning 1989, S. 148). Übergänge sind Schlüsselereignisse für eine Reflexion biographischer
Erfahrungen (Hoerning 1989) und zukünftige Erwartungen, damit
Individuen ihre biographischen Projekte und Lebenspläne ausarbeiten und entwickeln können, die als Leitschienen für ihre
Handlungen dienen (Buchmann 1989). Dabei werden „die lebensgeschichtlichen Erfahrungen und die sich verändernden historisch-gesellschaftlichen Bedingungen so zusammengeführt, daß
bisher verdeckte Möglichkeiten eines biographisch ‚neuen‘ Weges sich eröffnen können“ (Hoerning 1987, S. 238). Das biographische Projekt wird in einer Verlaufskurve gestört. Diese Irritation sowie die damit einhergehenden Konsequenzen können
andere biographische Verlaufskurven beeinflussen (Hoerning
1987, Schütze 1981). Die Problematik einer Statustransition
wird nicht durch den Übergang an sich bestimmt, sondern durch
79
dessen Bedeutung für das betroffene Individuum (Hoerning
1987).
Durch die Einwirkungen von Lebensereignissen muss das biographische Projekt umstrukturiert werden, das Individuum muss
sich „mit dem Lebensereignis arrangieren. Die Wirkung eines
Lebensereignisses wird dadurch deutlich, daß bisherige Erfahrungsregeln ihre Anwendungskraft verlieren, einbüßen oder
überflüssig werden, daß aber gleichzeitig die bereits gemachten biographischen Erfahrungen und auch Erfahrungen im Umgang
mit ähnlichen oder anderen Lebensereignissen als Ablagerungen
in der biographischen Erinnerung vorhanden sind beziehungsweise sein können, die revitalisiert und aktualisiert als Handlungsmittel auftreten“ (Hoerning 1987, S. 240).
Heinz
entwickelte das Konzept des Übergangshandelns (2000, S.
179): „Damit sind Entscheidungen und Aktivitäten gemeint, die
junge Leute entwickeln, um ihre Interessen und Berufsziele im
Rahmen gesellschaftlicher Anforderungen, Bildungswege und Gelegenheitsstrukturen zu realisieren.“ Er unterscheidet vier
Formen des Übergangshandelns: Strategische Übergangshandeln,
Schritt-für-Schritt-Übergangshandeln, risikobereites Übergangshandeln und ‚Mal-seh’n, was-kommt‘-Übergangshandeln
(Heinz 2000). Die Statuspassage von der Schule in den Beruf
wird durch das Handeln von Jugendlichen und von institutionellen gatekeepern gestaltet: „Dieser Prozess ist ein Prototypus
von Selbstsozialisation, in dem sich Biographiegestaltung und
Fremdselektion, Chancenwahrnehmung und Risikoverminderung ergänzen“ (Heinz 2000, S. 181).
Durch Prozesse der Selbstsozialisation bündeln „biographische
Akteure ihr Erfahrungswissen zu Handlungsmodi (...), um die
mit den Übergängen im Lebenslauf verbundenen Anforderungen ihren Interessen entsprechend zu meistern“ (Heinz 2000, S. 183).
Es scheint, „daß berufliche Mobilität und biographische Umorientierungen weniger durch direkte Arbeitsmarktprobleme als
vielmehr durch die Erfahrung bedingt sind, die junge Fachar80
beiter und Angestellte in ihrem Berufsfeld und im Betrieb gemacht haben“ (Heinz 2000, S. 182)  GT Analyse / Quant. Teil
3.8 Biographische Entscheidungen
Die objektiv vorgegebenen biographischen Handlungshorizonte
haben sich im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess vervielfacht. „Damit hat sich auch der Entscheidungs- und insbesondere der Begründungszwang für die Vernünftigkeit von getroffenen Entscheidungen erhöht. Die biographischen Konzepte,
die der einzelne im Laufe seines Lebens realisieren kann, haben sich derartig vervielfältigt, daß selbst in grundlegenden
Bereichen permanent eine Wahl getroffen werden muß. Elementare
Fragen der sozialen Lebenspraxis sind immer weniger institutionell zwingend geregelt und werden somit immer weniger selbstverständlich im Lebensvollzug ‚gelöst‘, sondern sind durch
entscheidungsfähige und entscheidungsnotwendige Handlungsalternativen gekennzeichnet (Fischer und Kohli 1987, S. 40. Hervorh. im Original).
Rationale Entscheidungen
Gemäss der Rational Choice Theorie wählen Individuen Entscheidungen, die ihre Präferenzen und Investitionen optimieren
(Heinz 2000). Es gibt um eine Maximierung des persönlich erwarteten Ertrags. Handlende sind entsprechend dem Modell des
ökonomischen Menschen verstanden, der auf jedem Markt einen
maximalen Ertrag herauszuschlagen versucht, unwesentlich, ob
es sich um den Bildungs-, den Arbeits- oder den Heiratsmarkt
handelt. Für das Verständnis von biographischen Entscheidungen
entlang des Lebenslaufs ist die Rational Choice Theorie nur
von begrenztem Nutzen, Individuen sind bei solchen Entscheiden
gezwungen in Situationen zu handeln und Entscheide zu treffen,
in denen sie nur in begrenztem Masse über alle möglichen Wahlalternativen und Lebenslaufergebnisse informiert sind (Heinz
1996). Würden sich Individuen in solchen Situationen aus-
81
schliesslich um eine Maximierung des voraussichtlichen Nutzens
kümmern, während sie nicht vernünftige Akteure sondern rationale Narren (Heinz 1996). Bei der Wahl zwischen Handlungsalternativen findet ein innerer Dialog statt, im Rahmen dessen
über die eigene Situation und die wahrscheinlichen Konsequenzen einer Optimierung der eigenen Präferenzen stattfindet. Sobald eine solche Selbstreflexion stattfindet, müssen zum Verständnis der biographischen Handlungsentscheide neben der Berücksichtigung der zu erwartenden Ergebnisse auch situative
Gegebenheiten, biographische Erfahrungen und individuelle Lebenslauferwartungen berücksichtigt werden (Heinz 1996).
„Gesellschaftliche Bedingungsgefüge strukturieren individuelle
Handlungsspielräume, die die autonomen Wahlentscheidungen einschränken. Und Sozialisationsprozesse definieren die subjektive Relevanz von Handlungsoptionen. Aus der Lebenslaufperspektive liegt es nahe, individuelle Präferenzen als variabel und
nicht als fixiert zu betrachten, nämlich als Ergebnis von sozialen Austauschprozessen und Sozialisationserfahrungen. Daher
können Präferenzen nicht als Ursache, sondern allenfalls als
Begleiterscheinungen von biographischen Entscheidungen gelten“
(Heinz 2000, S. 168). Entscheidungen im Lebenslauf werden
meist unter der Bedingung von Ungewissheit über die Konsequenzen der gewählten Alternativen getroffen. Wenn nicht alle Optionen verglichen werden können, gibt es keine optimale Entscheidung (Heinz 2000). Damit das Problem entscheidbar wird,
muss es umformuliert werden. „Dies geschieht durch Rückgriffe
auf frühere Interessen, Anregungen, Umstände - also auf dem
Weg einer biographischen Konstruktion“ (Heinz 2000, S. 169).
Da die Rational Choice Theorie „annimmt, daß Menschen allenfalls etwas nach vorne und nicht zurückschauen, wenn sie ihre
Erwartungen bilden und Entscheidungen treffen, kann sie die
Frage nicht beantworten, welche Gründe dazu führen, daß Menschen in der Regel suboptimale, aber dennoch vernünftige Entscheidungen treffen können. Die Antwort liegt darin, daß sie
82
durch biographische Bilanzen und kreatives Handlungslernen
(...) vernünftig mit kurz- und langfristigen Erwartungskonflikten und Ungewißheiten umgehen, anstatt der Illusion einer
rational kalkulierbaren, hieb- und stichfesten Entscheidung
für die subjektiv nützlichste Alternative zu erliegen. Im Horizont von Lebensentscheidungen oder Übergangsoptionen sind
die biographische Stimmigkeit und die soziale Einbettung des
‚gewählten‘ Wegs vernünftiger als die nüchterne Ertragskalkulation“ (Heinz 2000, S. 169).
Aus der Sicht der Lebenslauf- und Biographieforschung ist die
Rational Choice Theorie nur auf den Sonderfall zweckrationalen
Handelns anwendbar, sie vernachlässigt die „Dynamik der Präferenzen und Handlungsfolgen im Zeitablauf (...) Lebensentscheidungen werden nicht ad hoc, sondern in einem biographischen
Horizont getroffen“ (Heinz 2000, S. 170).
Die sozialen Akteure sind jedoch keine Subjekte, die sich von
Gründen leiten lassen und in vollem Bewusstsein aller vorliegenden Möglichkeiten handeln, denn es existiert keine „vollkommene Existenz der Ordnung der Dinge und der Ursachen“
(Bourdieu 1985, S. 41). Wäre die Wahl vollkommen rational und
logisch, so wäre sie keine Wahl mehr im eigentlichen Sinne
(Bourdieu 1985). ( Hier noch Bourdieu (1987) zur RCT S. 94/95
einbringen)
Entscheidungen im Lebenslauf
„Übergänge im Lebenslauf fordern und ermöglichen biographische
Entscheidungen, die von Akteuren unter Berücksichtigung von
sozialen Normen und institutionellen Möglichkeiten beschleunigt, verlangsamt oder on time getroffen werden. Das timing
und die Verbindlichkeit der Entscheidung hängen wiederum von
der subjektiven Beurteilung der Handlungsoptionen vor dem Hintergrund der biographischen Ressourcen (...) und der erwünschten oder befürchteten längerfristigen Folgen ab“ (Heinz 2000,
S. 170). Spontane Entschlüsse können „vernünftig sein, wenn
83
die Vor- und Nachteile einer Auswahl zwischen Optionen langfristig nicht abzusehen sind. Im Kontext der Biographie ist
jedoch auch ein spontaner Entschluß eingebunden in die vom Individuum entwickelten Sinnstrukturen; dabei ist nicht das Nutzenkalküle Richtschnur, sondern die Selbstsozialisation als
Kriterium für biographisch vernünftiges Handeln“ (Heinz 2000,
S. 171). In einer Entscheidungssituation findet beim Akteur
„ein intra-personaler Dialog statt, bei dem es etwa um die Erhaltung des guten Rufs oder die persönliche Gleichung geht
(Heinz 2000, S. 171). So kann „Selbstverpflichtung zu Entscheidungs- und Handlungskonsistenz über die Zeit führen
(Heinz 2000, S. 171).
„Um sowohl den individuellen als auch den sozialen Bedeutungsgehalt von Selbstsozialisation im Lebenslauf transparent zu
machen, ist der Begriff des biographischen Akteurs von Nutzen.
Dieses Konzept verbindet die Lebensgeschichte und Lebensperspektive eines Individuums mit den wahrgenommen Optionen und
Handlungskontexten. Das Individuum als biographischer Akteur
setzt sich mit den Handlungsoptionen im Lebenslauf nicht allein auf der Grundlage subjektiver Nützlichkeitserwägungen und
sozialer Normen auseinander, sondern bezieht diese vielmehr
auf seine biographischen Wissensbestände und Selbstverpflichtungen. Damit wird die biographische Gestaltungspraxis und kompetenz (agency) als Kern von Lebenslaufentscheidungen, des
timing und Verlaufs von Übergangsprozessen angesprochen. Optionen im Lebensverlauf werden nicht nach kurzfristigen KostenNutzen-Kalkulationen, sondern nach biographischen Relevanzkriterien geordnet“ (Heinz 2000, S. 177. Hervorh. im Original).
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