SOZIALE PRAXIS IM JUDENTUM Von der Mizvah zur modernen Sozialarbeit: Die Entwicklungsgeschichte der Sozialen Arbeit innerhalb der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien Die Sozialabteilung der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) – heute als Sozialberatung in ESRA etabliert – kann auf eine lange und auch religiös motivierte Tradition zurückblicken. Unter Mizvah ist ein jüdisches Gebot bzw. eine religiös verdienstvolle Handlung zu verstehen, die in der Halacha, dem Religionsgesetz, verankert ist. Über diese religiösen Aspekte hinaus haben der erschwerte Zugang zu staatlichen Hilfsangeboten für Jüdinnen und Juden und die daraus entstandene Isolation das jüdische Wohlfahrtswesen nachhaltig geprägt. So wurde bereits im 19. Jahrhundert die Wohlfahrtsarbeit in vielen jüdischen Gemeinden organisatorisch verankert und institutionalisiert. Es entstanden Heime für Blinde und Taubstumme, Krankenhäuser, Waisenhäuser, Altenheime etc., die Vorbildcharakter für später gegründete staatliche Einrichtungen hatten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bemühte sich die Israelitische Kultusgemeinde Wien um die Zentralisierung der unterschiedlichen Initiativen und es entstand 1908 die „Zentralstelle für jüdische soziale Fürsorge“, die 1930 zur „Fürsorge-Zentrale der Israelitischen Kultusgemeinde“ reformiert wurde. Die Finanzierung erfolgte überwiegend aus Privatspenden und Mitgliedsbeiträgen, der Umfang der Versorgung umfasste z.B. Ausspeisungen, Bekleidungsaktionen, finanzielle Unterstützungen, Finanzierung von Kinderheimen, Altenheimen, Krankenhäusern, Unterstützung bei Berufsumschulungen, Arbeitsvermittlung und Gefährdetenfürsorge zugunsten Straffälliger und Strafentlassener. Während einer Zuwanderungswelle aus Osteuropa zu Beginn des 20. Jahrhunderts und insbesondere seit der Flucht deutscher Jüdinnen und Juden aus Deutschland nach 1933 wurde das Leistungsangebot auch auf die Beratung und Unterstützung dieser Flüchtlinge und MigrantInnen ausgedehnt. Mit den schrecklichen Folgen der Shoah war die Sozialabteilung nach 1945 konfrontiert: die Aufgaben beschränkten sich nunmehr vorrangig auf Gewährleistung einer Grundsicherung für die wenigen Holocaust-Überlebenden, die zurückgekehrt waren oder im Versteck überlebt hatten, sowie auf die Suche nach Vermissten. Gegen Ende der 1950er Jahre konzentrierten sich die MitarbeiterInnen der Sozialabteilung wieder vermehrt auf „Fürsorgeaufgaben“ wie vor 1938. Dies geschah jedoch mit deutlich geringeren Mitteln, bedingt durch die reduzierte Größe der IKG Wien von ca. 200.000 Mitgliedern vor 1938 auf wenige Tausend nach der Shoah. Die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion besonders seit den 1970er Jahren stellte die IKG-Sozialabteilung schließlich vor neue Herausforderungen. Die Zahl der registrierten Gemeindemitglieder stieg von ca. 3.000 auf 6.500 Mitglieder, wodurch die lokale jüdische Gemeinde in ihrer Integrationskraft deutlich überfordert war. Es fehlte den MigrantInnen an Deutschkenntnissen, an Berufsausbildung, an Berufsberechtigungen, an Sozial- und Krankenversicherungen, an Wohnraum, an Startkapital, an Arbeitsplätzen; Kinder brauchten Hort- und Kindergartenplätze, alte Menschen benötigten Pflege- und Altenheimplätze. Darüber hinaus machte sich die von Überalterung geprägte Altersstruktur der Gemeinde bemerkbar. Die schon seit 1945 und zuvor in Österreich lebenden Jüdinnen und Juden erreichten das Pensionsalter, ohne aber ausreichend Versicherungsjahre erworben zu haben. 1 Das psychosoziale Zentrum ESRA Nach mehrjähriger Planung und Vorbereitung wurde 1994 das Psychosoziale Zentrum ESRA gegründet. Damit schuf die Israelitische Kultusgemeinde eine Einrichtung, die einen modernen und fachlich kompetenten Lösungsansatz für die Vielfalt an sozialen, psychischen, rechtlichen und integrationsspezifischen Fragestellungen darstellte. ESRA bietet nicht nur den jüdischen, sondern allen überlebenden Opfern des NS-Terrors sowie deren Nachkommen umfassende Hilfe an. ESRA dient als psychosoziales Zentrum für die gesamte jüdische Bevölkerung Wiens. Für die jüdischen MigrantInnen, die meist aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion nach Wien gekommen sind, gibt es ein breit gefächertes Angebot an Integrationshilfen. Seit einigen Jahren werden auch Menschen, die durch das Erleben von Katastrophen (Kaprun, Beslan, 11. September, Tsunami etc.) soweit es möglich ist, in ESRA betreut. Als Betreuungsstruktur ist ESRA zweigeteilt und bietet einerseits medizinische Leistungen, andererseits Beratungen durch diplomierte SozialarbeiterInnen an. Angeschlossen sind ein Kommunikationszentrum mit einem Caféhaus und einem koscheren Mittagstisch. Alle Angebote sind kostenlos bzw. gegen Vorlage der e-card erhältlich. Viele Beratungen und Behandlungen finden in der Muttersprache statt. Menschen, die bei ESRA Hilfe suchen, können sowohl medizinische Leistungen der Ambulanz als auch Sozialberatung je nach ihren individuellen Bedürfnissen in Anspruch nehmen. Dadurch wird eine unbürokratische Betreuung und Behandlung gewährleistet, die vor allem für die Überlebenden der NS-Verfolgung besonders wichtig ist. Auf der Suche nach Hilfe mussten viele von ihnen bis in die 1990er Jahre lange Um- und Leidenswege auf sich nehmen. Die Angebote der Sozialberatung umfassen u.a. Integrationsarbeit, Entschädigungsansprüche, Unterstützung im Alter, Finanzielle Angelegenheiten, Familiäre Probleme, Rechtliche Informationen und Antragstellung. Das Team von ESRA besteht aus Ärzten und Ärztinnen, TherapeutInnen, PsychologInnen, Pflegepersonal und diplomierten SozialarbeiterInnen. Es betreut ca. 2.700 KlientInnen und PatientInnen pro Jahr. ESRA ist auch an den jüdischen Schulen und Bildungseinrichtungen, im jüdischen Altersheim Maimonides-Zentrum und in eingeschränktem Maß auch außerhalb Wiens tätig. KlientInnen und PatientInnen finden in ESRA einen geschützten, die kulturellen und religiösen Rahmenbedingungen berücksichtigenden Ort. Hier können sie sich sicher vor Unverständnis, Demütigungen und Anfeindungen fühlen. Hier können sie auch darauf vertrauen, professionelle und mit ihren speziellen Problemen vertraute MitarbeiterInnen zu finden. ESRA steht hiermit einerseits in der alten Tradition der jüdischen Hilfe und Barmherzigkeit und gleichzeitig auf dem neuesten Stand der professionellen sozialen Arbeit. ESRA, 1020 Wien, Tempelgasse 5 | Tel: 214 90 14 | Fax: 214 90 14 – 30 | Email: [email protected] | Homepage: www.esra.at. 2