Sorjana Bild Elena Wiebe „Träum süß, mein Täubchen“, Maria küsste Leonie sanft auf die Augen, rieb ihre Nase an die kleine Stupsnase ihrer Enkelin (ihr tägliches Ritual vorm Schlafengehen), fuhr mit der Hand über die rotblonden Löckchen der Kleinen und deckte sie zärtlich zu. „Omi, erzählst du mir eine Geschichte?“ Zwei große, grüngraue Augen schauten sie bettelnd an. Maria schmunzelte. Die Kleine wusste ihre Wunderwaffe gut einzusetzen. „Welche denn? Ich habe dir doch schon längst alle Geschichten erzählt…“ „Erzähl mir mehr von dem Märchenland, in dem du geboren und aufgewachsen bist, Omi. Wie hieß das Land noch mal? Der Name klingt irgendwie so kalt…Sima?“ „Sibirien“, schmunzelte Maria, „aber das ist doch kein Märchenland...obwohl wer weiß das schon… „ „Na gut, hör zu und versuche einzuschlafen.“ „Vor vielen, vielen Jahren lebte in einem weit entfernten Land Sibirien in dem kleinen verwunschenen Dörfchen Rosenwald ein Mädchen.“ „Wieso hieß das Dorf so? Stand es mitten in einem Wald aus Rosen? Ach Omi, bestimmt sah das wunderschön aus!“ „Nein, mein Mäuschen, leider nicht. Leg dich wieder hin, sonst erzähle ich nicht weiter. Aber fast wäre es so passiert. Die ersten Siedler des Dorfes hatten ihre Lehmhütten am Rande eines kleinen lichten Birkenwäldchens gebaut, das von wilden Rosenbüschen umsäumt war, und ihr Dorf Rosenwald genannt. Doch als der Frühling kam und die meterhohen Schneedünen tauten, überflutete das Tauwasser ihre Hütten und den Siedlern blieb nichts anderes übrig, als einige Kilometer weiter, wo das Land nicht so überflutet war, neue Lehmhäuser zu bauen. Aber das Dörfchen behielt seinen ursprünglichen Namen Rosenwald.“ „Sorjana, so hieß das Mädchen, war kein besonders schönes Mädchen. Sie hatte rotes lockiges Haar, das sich schlecht bezwingen ließ, große, grüne Katzenaugen, und ihre Wangen waren wie ein Wachtelei mit Sommersprossen übersäht. Dazu kam noch, dass sie sehr dünn, langbeinig und ungelenk war.“ „Sorjana, Sorjana“, sang Leonie, „das klingt gut! Den Namen habe ich noch nie gehört.“ „Das wollte ich ja dir gerade erklären, aber du unterbrichst mich ja die ganze Zeit. Sorjana bedeutet so viel wie Morgenrot. Weil die Kleine schon als Baby rote Haare hatte und ihre Mama über alles russische Märchen liebte, bekam sie diesen Namen.“ „So werde ich meine Puppe, die du mir heute geschenkt hast, nennen. Die hat auch rote Haare.“ „Gut. Hör weiter.“ „Sorjana war so ganz anders als die anderen Mädchen des Dorfes. Sie spielte wohl mit den anderen Kindern, war hin und wieder auch sehr lustig, doch meistens wirkte sie in sich gekehrt und ihre Augen schauten so verträumt, als ob sie in einer anderen Welt verweilen würden. Am liebsten saß Sorjana mit einem Buch in der Hand, versunken in die wunderbare Welt ihrer Phantasie, im nahe gelegenen Wäldchen auf einer Birke, dessen Stamm parallel zur Erde wuchs und ihr als Bank diente. Oder sie streifte singend durch die Steppe, sammelte Wiesenblumen, bastelte sich aus den Früchten der Hagenbutte Ketten, die nicht nur schön aussahen, sondern auch noch sehr lecker waren. Die Einwohner des Dorfes lauschten gerne ihrem Gesang, aber sie fanden das Mädchen seltsam und schüttelten nur mit dem Kopf, so als wollten sie sagen: „Was wird aus diesem Mädchen nur werden? Das arme Ding! Die bekommt ja nie einen Mann!“ Einige munkelten sogar, dass das Mädchen nicht von dieser Welt sei, dass sie bei einem Meteoritensturm mit einer Sternschnuppe auf die Erde geschleudert worden sei. Die Wächterin des Obstgartens hatte mit eigenen Augen gesehen, wie in der Nacht ein Stern mit einem langen Schweif auf die Wiese hinter Sorjanas Elternhaus gefallen war. Sie sah, wie Sorjanas Eltern zu der Stelle liefen und eine Weile später mit einem Bündel in dem Arm ins Haus zurück eilten. Der Planet der Träume sei Sorjanas Heimat, fügte sie noch hinzu, denn anders könne es nicht sein, so verträumt, wie dieses arme Ding sei. Wie dem auch sei, Sorjanas Eltern liebten das Mädchen über alles, sie war ihr einziger Augenschein, ihr ganzes Glück. Sie waren nicht mehr jung und hatten durch schwere Schicksalsschläge ihre früheren Kinder verloren. Doch auch sie konnten Sorjana nicht verstehen und rätselten oft, was ihrem Mädchen wohl fehlte, warum es so verträumt war? Sorjana liebte es, mit dem Vater im Garten zu arbeiten. Sie hatten immer als erste im Dorf frisches Gemüse, denn der Alte züchtete die Pflanzen im kleinen Treibhaus vor. Doch ihre große Liebe galt den Blumen. Am Zaun fanden die hohen Stockrosen und die Hagebutten ihren Platz, die bunte Mischung aus rotem Wildmohn, weißen Margeriten und blauen Kornblumen schmückten das Beet vor der Terrasse. Die Stiefmütterchen, Strohblumen und Kapuzinerkresse pflanzte Sorjana vor der Sommerküche in große alte Autoreifen, die sie bunt bemalte. Sie wunderte sich jedes Mal, wie liebevoll und zärtlich ihr Vater, ein großer, starker Mann, sich um jede einzelne Pflanze kümmerte. Bei der Gartenarbeit führten sie Gespräche, die sie so nie geführt hätten. „Papa, verspüren du und Mama nie Lust, die große, weite Welt zu sehen, zu verreisen? Es gibt so viele interessante Plätze auf dieser Welt! Neulich habe ich im Fernsehen eine Sendung über Georgien gesehen. Das Land mit seinen Gebirgen und Tälern mit der Vielfalt an Blumen und den ergreifend schönen Liedern, das würde ich gern einmal sehen. Kennst du das Lied über das Mädchen „Suliko“? Sie ist verschwunden und ihr Geliebter sucht überall nach ihr. Er fragt eine Rose, ob nicht sie seine Suliko sei, die so weit entfernt von ihm blüht, dann fragte er die Nachtigall, ob nicht sie seine Geliebte sei. Aus dem traurigen Lied der Nachtigall hörte er heraus, dass seine Suliko vor Liebe und Sehnsucht gestorben sei. Ach, Papa, das Lied war so traurig und doch von so unerklärlicher Schönheit, und die Rosen, die da blühen, sind einfach unbeschreiblich schön! Könnten wir doch solche Rosen bei uns im Garten pflanzen!“ Sorjana sang ein paar Strophen des Liedes. Zu ihrem Erstaunen sang Papa mit. „Ach, kennst du das Lied auch?“ „Ja, mein Kind, das ist ein altes georgisches Lied, das haben wir schon in unserer Jugendzeit gesungen. Wir haben ja Rosen im Garten. Schau mal die schönen Stockrosen und die wilden Rosen, deren Früchte man sogar essen kann, ihr Tee ist schmackhaft und gesund. Die Königin der Blumen, die würde bei uns niemals wachsen, es ist ja hier viel zu kalt. Einen sibirischen Winter würde sie nicht überstehen, denn sie ist von der Sonne verwöhnt und kapriziös wie eine exotische Schönheit! Als ich so jung war wie du, träumte ich auch von fernen Ländern, von der großen, weiten Welt und was kann ich dir heute sagen? Die große Welt hat mir nur Kummer und Sorgen gebracht. Zu Hause ist es am schönsten. Draußen lauern auf so ein junges schönes Mädchen, wie du es bist, viele Gefahren! Das Lied vom Heideröslein kennst du doch auch? Röslein, Röslein, Röslein rot…sang er. Komm, singe mit.“ Bei dem Satz “und der wilde Knabe brach Röslein auf der Heide“, schaute er Sorjana durchdringlich an. „Ach Papa, du übertreibst mal wieder: erstens bin ich kein schönes Mädchen, und zweitens sind die Männer nicht so schlecht und verdorben, wie du immer behauptest. Ich habe schon viele Bücher über anständige und gescheite Männer gelesen.“ „Ach Rotkelchen (der Alte nannte sie oft so wegen ihren roten Haaren uns schöner Stimme), das ist doch nur in den Büchern so. In der wahren Welt ist das ganz anders. Zum Glück oder zu deinem Nachteil begreifst du noch nicht, wie schön du bist. Ich war auch mal jung und weiß, wie verdorben wir Männer sind.“ „Mädchen, glaubt den Männern nicht, wenn sie mit euch scherzen, keiner hält, was er verspricht, spielen nur mit Mädchenherzen“, sang er ihr zum x-ten Mal vor. Sorjana schwieg, sie wusste, es machte keinen Sinn, ihm zu wiedersprechen. Ihr Vater hatte doch nur den Wunsch, sein kleines Mädchen vor allem Unglück, das ihr wiederfahren könnte, zu beschützen. Jedoch die Sehnsucht nach fernen Ländern und der Gedanke, die Königin der Blumen in ihr Dorf zu bringen, um ihren kleinen Garten zu verschönern, gab ihr keine Ruhe. „Wie schaffe ich es nur, in kürzester Zeit nach Georgien zu kommen und eine Rose nach Hause zu bringen?“ seufzte Sorjana. Sie hatte sich - wie so oft - mit einem Buch auf den Dachboden verkrochen, aber das Buch hatte sie an diesem Nachmittag noch gar nicht geöffnet, als sie auf einmal eine piepsige Stimme kichern hörte: „Hi, hi, hi, du bist aber ein komisches Mädchen, kommst vom Planet der Träume und weißt nicht, wie du heimlich auf Reisen gehen kannst, hi, hi.“ Sorjana schaute sich verwundert um und sah eine kleine Maus, die zu ihren Füßen saß und sie unerschrocken anschaute. „Du kannst sprechen?“ „Was für eine dumme Frage! Klar kann ich sprechen. Meinst du etwa, Tiere und Pflanzen könnten nicht reden? Können wir! Doch nicht jeder kann uns verstehen. Nur wer vom Planet der Träume kommt, kann es, wenn wir es so wollen. Hör gut zu, ich verrate dir, wie du deine Träume verwirklichen kannst. Sammle gleich nach Sonnenaufgang den Morgentau von den Pflanzen ein, diesen trinkst du dann vorm Schlafengehen, und du wirst durch Zeit und Räume fliegen können, wohin du willst. Du musst dir nur vorstellen, wohin die Reise gehen soll und welches Ziel du hast. Das, was du dir vorstellst, wirst du dann auch erleben. Du musst aber ganz fest daran glauben!“ „Wieso hilfst du mir?“ „Na hör mal, stellst du immer so dumme Fragen, oder habe ich nur so einen Tag erwischt, an dem du nicht ganz hell im Kopf bist? Das ist doch selbstverständlich! Wir Lebewesen sind doch hier auf Erden, um dieses wunderschöne Fleckchen Land, auf dem wir leben, noch schöner zu machen, denn je mehr Schönheit uns umgibt, desto glücklicher sind wir! Harmonie, Schönheit und das Bestreben, jemanden eine Freude bereiten zu können– das sind die Bestandteile des Glücks! Glücklich zu sein und jemand anderen glücklich zu machen – das soll unser Bestreben sein! Das ist das Vermächtnis der Ahnen, so steht es im Buch der Bücher geschrieben!“ Sorjana wollte die Maus gerade fragen, was das für ein Buch der Bücher sei und welche Ahnen uns dieses Vermächtnis hinterlassen haben, doch die Maus piepste nur ein paar Mal vergnügt und verschwand in ihrem Loch. Sorjana tat, was die Maus ihr geraten hatte: Sobald sie am nächsten Abend den Morgentau trank, spürte sie, wie ihre Lider schwer wurden…und im nächsten Moment schwebte sie auch schon auf einer weißen Wolke über Wiesen und Wälder, über Berge und Täler. Sie sah, wie schön und grün der Planet Erde war, aber auch, wie viele Plätze der Erde von Menschenhand, sei es durch Bergbau oder Krieg, zerstört und verunstaltet waren. Würde die Menschheit es je schaffen, diese Narben der Erde und die Narben in den Seelen der Menschen zu heilen? Sorjana flog schon eine ganze Weile über hohe Bergketten, die bis in die Wolken hinein wuchsen und von reißenden Flüssen, kristallblauen Seen und grünen Tälern durchzogen waren. Hinter einem Gebirge eröffnete sich Sorjana ein atemberaubender Blick. Im Tal, das zwischen zwei Bergketten lag, lagen malerisch ein paar Berghütten zerstreut und das ganze Tal war mit Rosen bepflanzt. Sie blühten in all ihrer Pracht und Vielfalt. Es sah von oben so aus, als ob das Tal mit einem farbenfrohen Teppich bedeckt wäre. Das Wölkchen näherte sich einem Regenbogen, Sorjana stieg einfach um und rutschte den Regenbogen hinab. Huch! Ihr stockte der Atem. Das war ein tolles Gefühl, von so einer hohen Rutsche hinunter zu gleiten, das hätte sie immer wieder und wieder machen können! Sorjana landete direkt vor der Tür einer Hütte, sie klopfte an und ein unbeschreiblich schönes Mädchen öffnete. Es war gertenschlank, ihre langen schwarzen Zöpfen reichten ihr bis über die Taille, die dunklen Augen waren von pechschwarzen Brauen umrahmt und funkelten wie zwei kleine Lichter. Das Mädchen schaute Sorjana fragend an. „B…bist du Suliko?“, stammelte Sorjana. Das Mädchen lachte: „Ja, aber nicht die Suliko aus dem bekannten Lied. Das war meine Uroma. Und übrigens ist sie gar nicht am gebrochenen Herzen gestorben und mein Uropa auch nicht. Uroma floh vor einem reichen alten Fürsten. Ein Zauberer, der Geist dieser Berge half ihr. Er verzauberte sie in eine Rose. So fand der alte Fürst sie nie. Aber mein Uropa fand sie, er sah die einsame Rose im Bergtal stehen und wusste sogleich, dass sie seine Geliebte war. Als eine Träne aus seinen Augen auf die Rose fiel, brach der Zauber und die Rose verwandelte sich in seine Suliko. Die Verliebten ließen sich in diesem Tal nieder und pflanzten Rosen an. Das Symbol der Liebe. Aber was führt dich zu uns?“ „Kann ich bei euch einen Rosenstrauch kaufen?“ fragte Sorjana. „Wir verkaufen keine Rosen, wir verschenken sie an Menschen, die ein reines und liebendes Herz haben.“ „Ich bin nicht verliebt“, meinte Sorjana traurig. „Ich habe meine große Liebe noch nicht getroffen…“ „Du hast aber ein reines Herz und liebst deine Eltern, dein Dorf, die Natur. Du bist doch bereit, deine Liebe weiter zu schenken, nicht wahr?“ Sorjana nickte. „Das sehe ich und die große Liebe, die kommt, glaube mir. So wie du durch ein Lied den Weg zu uns gefunden hast, so wirst du durch ein Lied und deinen Gesang den Mann deiner Träume finden. Welche Rose würdest du denn gerne haben?“ „So eine, die den kalten sibirischen Winter überstehen kann.“ „Dann komm mit, wir haben eine wunderschöne purpurrote Rose gezüchtet, die nicht nur einen sehr intensiven und sommerlichen Duft hat, sondern auch bis zu 30° Kälte verträgt. Ihre Wurzeln gehen sehr tief in die Erde hinein und wenn man sie zum Überwintern dazu noch abdeckt und sie unter der warmen, dicken Schneedecke haust, dann kann sie den Winter gut überstehen. Am besten ist aber, du veredelst sie mit der wilden Rose deiner Heimat, dann wird sie noch widerstandsfähiger, die Blüten verlieren vielleicht ein wenig an ihrer Fülle, aber das wird ihrer Schönheit nichts anhaben.“ Und sie führte Sorjana zu einem üppigen Rosenbusch, der einen betörenden Duft verströmte, schnitt einige Triebe der Pflanze ab und gab sie Sorjana. „Die Triebe haben viele Augen, damit kannst du mehrere Pflanzen veredeln. Wie ihr das Auge in die Wildrose verpflanzt, weißt du bestimmt.“ Sorjana nickte und bedankte sich, stieg über den Regenbogen auf die Wolke und wurde schnell und sicher nach Hause gebracht. Sorjanas Eltern waren ziemlich überrascht, als ihre Tochter ihnen morgens die Rosentriebe zeigte und erklärte, woher sie kamen. „Ach du meine Träumerin“, lächelte der Alte verlegen. Doch er konnte sich beim besten Willen nicht erklären, woher seine Tochter die Triebe hatte. Er beschloss, dieses Thema nicht mehr anzusprechen, denn sein Mädchen war ja heil zu Hause, das war das Wichtigste. Gleich nach dem Frühstück gingen Vater und Tochter in den Garten und veredelten die Triebe der Wildrosen. Wie waren die Dorfbewohner überrascht und verwundert, als sie eines Tages die prächtigen, purpurn leuchtenden Rosenblüten in Sorjanas Garten sahen. Alle wollten in ihrem Garten auch solche Rosen haben. Sorjana verteilte im Herbst viele Triebe und im nächsten Sommer blühten die Rosen in jedem Garten, vor jedem Haus des Dörfchens. Aus den duftenden Rosenblättern stellten die Frauen ätherische Öle und Seife her, so dass Rosenwald bald seinem Namen gerecht und weit und breit bekannt wurde. Jeder wollte das Rosenwunder mitten in der sibirischen Steppe sehen und die betörend duftenden Öle kaufen. Die Dorfbewohner, die sich früher über Sorjanas Seltsamkeit lustig gemacht hatten, schwiegen verschämt, und die Augen von Sorjanas Eltern leuchteten vor Freude und Stolz auf ihre einzigartige Tochter. „Und was wurde aus Sorjana, Omi? Eine Gärtnerin?“ „Nein, mein Täubchen. Sie gärtnerte zwar sehr gerne, doch das war nicht ihre Bestimmung. Ihre Bestimmung war es, mit einer ihrer weiteren Gaben, dem Singen die Welt zu verschönern und den Menschen Freude zu schenken. Mit der Zeit wuchs Sorjana zu einer echten Schönheit heran. Sie war so schön wie eine Blumenknospe, die kurz vor dem Aufblühen ist. Aber was noch viel wichtiger war, sie verlernte das Träumen nie. Sie hatte in ihren Träumen schon viele schöne Orte auf der Erde besucht, hatte vieles gesehen und gelernt. Eines Nachts ging sie im Traum am Meer spazieren, da hörte sie plötzlich eine wunderschöne Melodie, folgte den Klängen und sah einen Mann, der am Klavier saß und spielte. Diese Melodie schenke er ihr, sagte der Komponist zu Sorjana. Die Eltern merkten schnell, dass ihr Mädchen sich verändert hatte. Sie strahlte übers ganze Gesicht, sang immerzu ein und dasselbe Lied…“ „Welches Lied? Das, welches der junge Mann ihr geschenkt hatte? Singst du es mir vor, Omi?“ „Das ist ja kein Kinderlied.“ „Na und. Bitte, Omi.“ „Gut, aber nur eine Strophe.“ „Wie eine Meeresbrise, so leicht, so frisch und wild, voll Lebenslust und Wehmut ist diese Melodie. Sie weint, sie lacht und jubelt, lockt und verzaubert mich, ich sing mit ihr im Einklang, schwelge in Nostalgie.“ Sorjana spürte, jetzt sei die Zeit gekommen, das Elternhaus zu verlassen und in die weite Welt zu ziehen. Denn seit dieser einen Nacht schwirrten immer wieder die wunderbarsten Melodien durch ihren Kopf. Sie wollte lernen, sie in Noten niederzuschreiben und sie zu singen. Sie wurde in den nächsten Tagen immer unruhiger und nachdenklicher – so dass die Eltern schon ahnten, dass ihr Mädchen bald seine eigenen Wege gehen würde. Obwohl sie sehr traurig darüber waren und sie wussten, dass die Sehnsucht nach Sorjana ihnen das Herz brechen würde, beschlossen die Alten sie gehen zu lassen, denn sie wünschten sich nichts sehnlicher als das ihr Sonnenschein, ihr Rotkelchen glücklich würde. So passierte es dann auch. Sorjana nahm Abschied von den Eltern, ihrem Dorf und zog in die weite Welt hinaus, um ihren Traum vom Singen zu verwirklichen und ihr Glück zu finden. „Und traf Sorjana in der Ferne ihren Traumprinzen, Omi?“ Maria schmunzelte: „Wieso muss das immer ein Prinz sein? Ja. Nach einer Zeit traf sie ihre große Liebe, aber das ist eine andere Geschichte, die erzähle ich dir das nächste Mal.“ Die Kleine zog einen Schmollmund, dann schaute sie Maria plötzlich spitzbübisch an: „Omi, bist du Sorjana? Du singst ja auch so gerne.“ „Nein, mein Täubchen. Sorjana hat eine viel schönere Stimme als ich. Sie singt wie eine Nachtigall. Doch sie war und ist meine beste Freundin, das Singen und Träumen habe ich von ihr gelernt. Und in einem sind Sorjana und ich uns sehr ähnlich. Wir sind so widerstandsfähig und lebensfroh wie die sibirische Rose, wir lassen uns nicht so schnell unterkriegen und sind hart im Nehmen. Wohin das Leben uns auch verschlägt, wir schlagen unsere starken Wurzeln tief in die Erde und versuchen die Welt um uns schöner und glücklicher zu machen.“ „ Ist das der Rosenbusch, den du aus Sibirien mitgebracht hast, Omi?“ „Ja, ich habe die Rose auf den Namen Sorjana getauft.“ „Und welche Rose passt zu mir, Omi? Bekomme ich auch eine Rose?“ „Ja, mein Täubchen. Morgen veredeln wir eine gelbe Rose aus dem hiesigen Anbau mit den Augen der sibirischen Rose „Sorjana“. Die Rose, die daraus entsteht, wird bestimmt einzigartig und so schön wie du. Mach die Augen zu und stelle sie dir vor: eine Rose mit zarten, fast durchsichtigen purpurroten Blüten, die von edlem Gold durchzogen sind. Wie eine kleine Sonne.“ „Und wie nennen wie die Rose?“ „Sonnenschein Leonie“. „Gefällt dir der Name?“ „ Ja, Omi, und Leonie klatschte begeistert in die Hände. „Jetzt ist es aber an der Zeit einzuschlafen, sonst wird Mama mit uns schimpfen.“ „Schlaf ein, mein Täubchen, schlaf sanft…“, sang Maria leise. „Träum süß, mein Sonnenschein, träum süß…und möge keine einzige dunkle Wolke deinen Lebensweg trüben.“ © Katharina Fast-Friesen, März 2015