Kakerlakenfraß

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Kakerlakenfraß
von Marc Gore
Bleich schien der volle Mond am Himmel und tauchte den alten Friedhof in ein
gespenstisches Licht. Das Zirpen vieler hundert Grillen war zu hören, in der Ferne
schrie ein Käuzchen. Die Grabsteine ergänzten perfekt die schaurig- schöne Szene.
Keuchend schritt der alte Friedhofswärter über den Platz, die Schaufel trug er in der
rechten Hand. Zielstrebig steuerte er das neue Grab an, in welchem an diesem
Morgen die junge Frau beigesetzt worden war. An dem spartanisch geschmückten
Grab angekommen, ließ er die Schaufel sinken, fischte die Schnapsflasche aus
seiner Jackentasche und nahm einen tiefen Schluck. Nach einem kurzen Rülpsen
ließ er das Getränk wieder verschwinden und ergriff die Schaufel. Er stieß das
Werkzeug in die weiche Erde und begann zu graben. Immer tiefer wurde das Loch,
der Mann ächzte und stöhnte vor Anstrengung, aber er gönnte sich keine
Ruhepause. Nach schier endlos langer Zeit stieß er auf etwas Hartes. Endlich! Er
befand sich auf dem Sargdeckel. Gierig schaufelte der Wärter die letzten störenden
Sandreste von der Kiste, dann hatte er sein Ziel erreicht. Die Vorhängeschlösser am
Deckel waren mit Leichtigkeit zu knacken! Ein paar Schläge mit der Schaufel
genügten, und sie waren gebrochen. Jetzt konnte der Alte endlich den Deckel heben
und ihn nach oben stemmen, daß er polternd neben dem Grabstein landete.
Breitbeinig, auf die Ränder des Eichensarges gestützt, blickte er minutenlang auf die
Mädchenleiche hernieder. Wie friedlich sie dalag! Um ihren schlanken Körper war ein
schneeweißes Leichenhemd geschlungen. Die Hände lagen gefaltet über dem
Unterleib, zwischen den Fingern lag eine Rose. Ihr kreidebleiches Gesicht blickte
wohlig entspannt aus der langen schwarzen Haartracht hervor. Ein zufriedenes
Lächeln umspielte ihre Lippen. Nein, man sah ihr überhaupt nicht an, unter welchen
Umständen sie den Tod gefunden hatte. Schon seit Jahren hatte sie sich mit
Okkultismus beschäftigt, sich so weit vorgewagt in die Welt der schwarzen Magie
und der Dämonen, bis sie sich förmlich verirrte und nicht mehr den Weg zurück in die
"normale" Welt fand. Immer wieder hatte sie Seancen durchgeführt, hatte sie Kontakt
zu den finsteren Mächten aufgenommen- und ihre Mühe wurde auch belohnt! Es gab
einen Dämon, der sie an seiner Seite haben wollte. In einer kalten Februar- Nacht
war sie seinem Ruf gefolgt. Mit ausgebreiteten Armen sprang sie vom Dach des
fünfzehnstöckigen Hochhauses. Während sie heruntersauste, schrie sie euphorisch:
"Ich komme!!". Beim Aufprall war ihr junger Körper regelrecht zerfetzt worden. Die
Pathologen hatten keine Mühen gescheut, ihren Leib wieder zusammenzunähen.
Nun lag sie ganz friedlich zu den Füßen des Friedhofswärters, die Leichenkleidung
bedeckte die unzähligen Narben an ihrem Körper. Der alte Mann nahm die Schaufel
und setzte die Klinge an den Hals der toten Frau. Nun tat er das, was er schon mit
vielen Frauenleichen zuvor gemacht hatte: Mit dem rechten Fuß rammte er die
Schaufel durch ihre Kehle und trennte mit einem knirschenden Geräusch den Kopf
vom Rumpf. An den Haaren hielt er den Schädel hoch und stieß ein höhnisches
Gelächter aus. Dann warf er Schaufel und Kopf wie den Sargdeckel zuvor aus dem
geöffneten Grab neben den Grabstein. Sofort kletterte er ebenfalls aus dem Loch. Er
nahm den Sargdeckel und warf ihn wenig achtsam zurück ins Grab. Er schnappte die
Schaufel und füllte das Grab wieder mit Erde auf. Er war froh, als das Grab wieder
zugeschaufelt war. Nun nahm er den mitgebrachten Plastiksack, ließ den Kopf der
Leiche darin verschwinden und schnürte ihn zu, so fest es ging. Mit Schaufel und
Sack verließ er die Grabstätte und ging zurück zum kleinen Haus am Rand des
Friedhofs, in dem er wohnte. Als er sich in seiner Wohnstube befand, öffnete er den
Sack und holte den Frauenkopf heraus. Er ließ sich auf seinen Schaukelstuhl fallen
und bettete den Schädel auf seinem Schoß.
"Du bist in meiner Gewalt", lachte er zufrieden, "du wirst mir nicht entwischen,
genausowenig wie all die Anderen..."
Er wußte, was er sagte, während er seinen Blick über die lange Zimmerwand
schweifen ließ. An der Wand hingen noch 23 weitere Köpfe. Sie alle stammten von
Frauen und Mädchen verschiedenen Alters, der jüngste gehörte einmal zu einem
8jährigen Kind. Der Friedhofswärter hatte all diese Leichen wenige Stunden nach
ihrer Beisetzung heimgesucht und sie geköpft, um sie zu Schrumpfköpfen zu
verarbeiten. In diesem Zustand konnten ihm die Frauen nicht mehr entwischen, ihm,
den buckligen alten Friedhofswärter, der schon seit frühester Kindheit nur schlechte
Erfahrungen mit Mädchen gemacht hatte. "Glöckner von Notre Dame" und
"Buckliges Schwein" waren nur einige der Spottwörter, die ihm bereits in der Schule
vornehmlich von den weiblichen Schülern zugerufen wurden. In seiner Jugendzeit
ging es dem Mißgestalteten auch nicht besser. Frauen hatten immer nur Verachtung
und Ablehnung für ihn übrig. Das alles hatte ihn zum verbitterten Misogynen werden
lassen. Im Alter von 27 Jahren hatte er dann auch zwei Frauen überfallen und
vergewaltigt. Nach der Entlassung aus jahrelanger Haft hatte er den Job als
Friedhofswärter bekommen. Aber sein Drang, Frauen zu erniedrigen, war geblieben.
Jetzt war er 64 Jahre alt, seine Rückgradsverkrümmung hatte sich noch stärker
ausgeprägt. Seine Lippen waren ebenfalls immer wulstiger geworden und seine
Hasenscharte war nicht zu übersehen. Diese Körperbehinderung erlaubte es ihm
nicht mehr, Frauen oder Mädchen zu belästigen, wie er es immer wieder heimlich
gemacht hatte, oder sie gar zu überfallen. Also kam er auf die Idee, sich an toten
Frauen zu vergreifen! Seit einigen Jahren sammelte er nun diese Schrumpfköpfe, die
hier in seinem Wohnraum hingen. Er pflegte mit den Schrumpfköpfen zu reden , sie
zu verhöhnen. Gemütlich saß er im Schaukelstuhl und grinste den neuen Schädel
auf seinem Schoß hämisch an.
""Morgen kommt Nummer 24 an meine Wand," murmelte er voller Vorfreude, der
Speichel rann ihm über die gummiartigen Lippen, "Du wirst eine neue Zierde in
meiner Kollektion, wie alle Deine verdorbenen Geschlechtsgenossinen hier."
Anfangs hatte er vor, dem frischen Kopf noch in dieser Nacht das Gehirn
abzusaugen, aber er war zu müde. Seine Augenlider klappten einfach zu. Er blieb im
Stuhl sitzen und fiel in tiefen Schlaf. Den Kopf der Frau ließ er auf seinem Schoß
liegen.
Der Mann hatte höchstens zwei Stunden geschlafen, als er durch ein schabendes
Geräusch zusammenzuckte. Ein eisiger Schreck durchfuhr ihn: Der Kopf lag nicht
mehr auf seinem Schoß! Er schnellte blitzartig in die Höhe und bemerkte, daß alle
Schrumpfköpfe von der Wand verschwunden waren! Er schritt suchend durchs
Zimmer. Plötzlich hörte er hinter sich ein Geräusch. Hastig drehte er sich um- und
erschrak erneut! Die 23 Schrumpfköpfe schwebten vor ihm, an der Spitze der von der
"Neuen". Im Gegensatz zu den Schrumpfköpfen, die ihn mit versteinerten Gesichtern
anblickten, wiesen ihre Züge Emotionen auf. Emotionen aus purem Haß! Jetzt wurde
dem buckligen Mann bewußt, was für einen Fehler er gemacht hatte: Er hätte sich
nicht an einer Frauenleiche vergreifen sollen, deren Geist ein untotes Leben im Reich
eines Dämons genoß! Dank ihrer magischen Fähigkeiten war sie zurück auf die Erde
gelangt und hatte sich ihres fleischlichen Überrestes, ihres Kopfes, bemächtigt.
Durch ihre Hilfe waren auch die Geister der anderen Frauen und Mädchen aus dem
Jenseits zurückgekehrt und in die jeweiligen Schrumpfköpfe gefahren. Der Mann
erstarrte vor Angst, keinen Ton brachte er über die Lippen. Der einst entspannte und
nun grimmig verzerrte Gesichtsausdruck der Dämonenjüngerin sprach Bände: Sie
und die anderen Geister waren gekommen, um sich für ihre Schändung zu rächen!
Die kleinen Schrumpfköpfe an ihrer Seite setzten sich in Bewegung. Zielsicher
schwebten sie auf den Buckligen zu.
"Das- das kann nicht wahr sein..." stammelte dieser und drückte sich mit dem
Rücken gegen die Wand.
Als die kleinen Köpfe ihn erreicht hatten, passierte es auch schon: einer der
geschrumpften Frauenköpfe schnellte vor, schlug seinen unwahrscheinlich harten
Kiefer in die linke Schulter des Mannes und nagte in Sekundenbruchteilen das
Fleisch von den Knochen. Schreiend ging der Frauenschänder in die Knie. zwei
weitere Schrumpfköpfe rückten nach und bohrten ihre Zähne in seine beiden Waden,
sie bissen seine pulsierenden Adern und Muskelsehnen aus seinen Beinen. Als der
alte Mann merkte, daß er seine Beine nicht mehr bewegen konnte, schrie er aus
Leibeskräften. Weitere Schrumpfköpfe schwebten heran und fraßen blutige Wunden
in seinen Körper. Das Einzige, was der Alte spürte, waren diese infernalischen
Schmerzen. Das Blut schoß aus seinem Körper, und schließlich wurde ihm schwarz
vor Augen. Eine gnädige Bewußtlosigkeit erlöste ihn von seinen Schmerzen.
Der alte Friedhofswärter erwachte. Sein Schädel dröhnte. Er spürte stechende
Schmerzen an seinen Gliedmaßen und an seinem Bauch. Er lag auf dem Rücken.
Dolchartige Haken waren in seinen Armen und Bauch gebohrt. Die Harken waren an
langen Stahlketten befestigt, die irgendwo im Nichts endeten. Der Mann wußte, daß
er sich im Keller seines Hauses befand. Die Ketten, zwischen denen er sich befand,
erlaubten ihm keine Regung. Sie waren so straff gespannt, daß sich die Haken, die
sich an ihren Enden befanden, bei jeder Arm- oder Beinbewegung seinerseits tiefer
in sein Fleisch bohren würden. So lag er bewegungsunfähig zwischen den soliden
Stahlketten. Nachdem er sich über die Ausweglosigkeit seiner Lage bewußt
geworden war, spürte er auf einmal kriechende Bewegungen und beißende
Schmerzen an seinem Bauch. Bisher hatte er es noch nicht gewagt, an sich herunter
zu blicken. Jetzt neigte er sein Kinn zur Brust und brüllte voller Panik auf. Daß er
splitternackt war, hätte ihn nicht weiter erschreckt, aber sein Körper war bedeckt von
unnatürlich großen Kakerlaken, die gefräßig über seinen Bauch, seine Arme und
Beine krabbelten!! Die Kauwerkzeuge der Käfer wühlten sich durch die Wunden des
Mannes und rissen das Fleisch in Fetzen heraus. Schmerzgepeinigt neigte der Alte
seinen Kopf- und wieder packte ihn das Grauen! Alle Leichen, die er in all den
Jahren geköpft hatte, befanden sich im Raum! Die teilweise verwesten, mit Graberde
beschmutzten Leiber waren ebenfalls aus den Gräbern gekrochen und standen wild
durcheinandergewürfelt um den von Kakerlaken Befallenen herum. Auf den Rümpfen
der Frauenleichen thronten die dazugehörigen Schrumpfköpfe. Das sah ebenso
unheimlich wie grotesk aus: die fauligen Körper, auf denen die jetzt viel zu kleinen
Köpfe saßen! In greifbarer Nähe stand ein Corpus, den er vor 8 Monaten geschändet
hatte. Die Kleidung der toten Frau war zerfetzt und größtenteils ausgefasert. Nur
wenige faulige Fleischreste bedeckten ihre bleichen Knochen. Maden krochen über
die freiliegenden Rippenknochen. Die einst wohlig festen Brüste der Frau waren
spurlos verwest. Nur der starre Schrumpfkopf auf ihrem Hals sah noch formvollendet
aus. Direkt neben ihr stand der Körper des achtjährigen Mädchens, das jüngste
Opfer des Friedhofswärters, deren Schädel sich seit nunmehr vier Monaten in
seinem Besitz befand. Auch dieser Kinderleib wies schon deutliche Spuren der
Verfaulung auf. Auch bei ihr war das Fleisch weitgehend abgetragen, die Maden
hatten ganze Arbeit geleistet. Nur der Schrumpfkopf auf ihren Schultern wollte so gar
nicht zu dem verfallenen Zustand des restlichen Körpers passen. Von den Leichen
der Frauen, an denen der alte Mann seine ersten Fleddereien vorgenommen hatte,
waren nur noch blanke Skelette verblieben, die mit den tadellos enthaltenden
Schrumpfköpfen ein beinahe lächerliches Bild abgaben. Die Leichen im
Verwesungsstadium verströmten einen so üblen Gestank, daß dem Friedhofswärter
der Magensaft auf die Zähne trat. Auf einmal lichtete sich die Reihe der
Frauenrümpfe und die Anführerin trat an den nackten, von Ungeziefer geschundenen
Mann heran. Sie war die einzige- weil frischeste- Frauengestalt im Zimmer. Der
Schädel paßte noch einwandfrei auf ihren Torso. Sie neigte ihren durch magische
Kräfte mit dem Körper verbundenen Kopf nach unten und blickte süffisant lächelnd
auf den wehrlosen, splitternackten Mann, der bereits dem Wahnsinn nahe war.
"Du- du Hure..." keuchte der Alte schwach, dann bemerkte er, wie sich eine der
Kakerlaken seinem Gesicht näherte.
Starr vor Entsetzen und mit weit aufgerissenen Augen glotzte er auf das übergroße
Kerbtier, welches auf seinen Mund, der weit aufgesperrt war, zukrabbelte. Er wollte
seinen Mund schließen, aber es war zu spät! Die Schabe kroch ihm in den Rachen
und fiel über sein Zahnfleisch her. Vor Panik und Ekel schrie der Mann und schüttelte
den Kopf, versuchte, das Insekt auszuspeien, doch es half nichts. Er spürte die
schleimigen Kakerlakenbeine auf seiner Zunge, sein Mageninhalt gelangte in seine
Speiseröhre und er drohte zu ersticken. Aus lauter Verzweiflung biß der Alte nun
seine Zähne zusammen und zermalmte den Chitinpanzer des Käfers zwischen
seinen Kiefern. Die Lebensflüssigkeit der Schabe trat aus und floß ihm in die Kehle.
Vergeblich rang der Gemarterte nach Sauerstoff, aber ihm wurde die Luft knapp.
Schwarze Blitze tanzten vor seinen Augen, die Lebenskraft entwich aus seinem
Körper. Als die untoten Frauen bemerkten, daß ihr ehemaliger Peiniger seinen
letzten Atemzug getan hatte, rückten sie wieder enger zusammen. Ihre Anführerin
klatschte in die Hände und aktivierte dadurch die Ketten. Diese wurden jetzt straffer,
zogen sich auseinander. Die Gliedmaßen des Mannes wurden gespannt. Jetzt faltete
die Dämonenjüngerin noch einmal ihre Hände, und dann passierte es: Der Körper
des Toten konnte den Harken der Ketten nicht mehr standhalten. Er platzte auf und
gleich einer Fontäne sprudelten Blut und Innereien heraus. Mit lautem Krachen
trennten sich die Extremitäten vom Torso und die austretenden Körperflüssigkeiten
und Eingeweide bildeten in Kombination mit den ebenfalls umherwirbelnden
Knochensplittern schaurige Muster an Wänden, Decke und Fußboden. Nachdem die
Ketten den Leib auseinandergerissen hatten, verschwanden sie wieder im Nichtsebenso die Kakerlaken. Auch bei den wandelnden Frauenrümpfen tat sich was:
Haltlos sackten sie in sich zusammen. Die Köpfe fielen von den Hälsen und kullerten
über den Boden. Die geschändeten Toten hatten ihre Rache bekommen, die Geister
der Frauen wichen aus den leblosen Hüllen und verschwanden wieder im Jenseits.
Der zerstückelte Leichnam des alten Friedhofswärters verblieb als stummer Zeuge
des dramatischen Geschehens.
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