Henselyns bok

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Hierarchie und Ständeordnung im 15. Jahrhundert. Eine Vorstudie anhand des Henselyns bok
Einleitung: Die kulturelle Semantik des Spätmittelalters
„In The three Orders, Duby tried to write a history of a fantasy, of a figment of the imagination.
The question is not so much whether figments and fantasies do indeed have histories, but whether
they are, by definition, susceptible to historical analysis through time and space.”1
Der Rezensent der programmatischen Studie von Georges Duby konnte im Jahr 1982 eine
mittelalterliche Gesellschaftsordnung, das trifunktionale Schema, als eine reine Phantasie abtun.
So weit würden die meisten Historiker heute nicht mehr gehen, jedoch bleibt eine gewisse Skepsis
gegenüber der Geschichte des Imaginären, die sich vor allem an zwei Punkten festmacht: Das
Verhältnis von theoretisch-ideologischen Ordnungsvorstellungen zur sozialen Realität und der
methodische Zugang hierzu. Für den ersten Komplex hat die sozialwissenschaftliche Forschung
eine Reihe von Modellen angeboten, die in der Geschichtswissenschaft wenig rezipiert worden
sind. Das zweite Problem, ein methodisch sauberer Zugang zu den Quellen, ist noch weiter von
einer Lösung entfernt, vor allem für die Mediävistik. Arbeiten zur kulturellen Semantik
ignorieren weitestgehend die Ansätze der Diskursanalyse, die in den Literatur- und
Sozialwissenschaften entwickelt werden, und diese ignorieren umgekehrt die in der
Geschichtswissenschaft geführten Debatten über die historische Kontextualisierung einzelner
Denkfiguren, Erzählstoffe und Ordnungsschemata.2 Auch wird in den mittlerweile zahlreichen
Arbeiten der historischen Diskursanalyse selten der Frage nachgegangen, welche Bedeutung die
analysierten
Diskurse
für
die
Gesellschaft
haben3
–
während
die
Kultur-
und
Mentalitätsgeschichte, die sich methodisch anders denselben Fragen nähert, an diesem Problem
meist in Form einer einfachen Dichotomie, etwa „Ideal und Wirklichkeit“ vorbeigeht.4 In der
John J. Contreni, Review of Georges Duby, The Three Orders, in: The History Teacher 15, 1982, H. 3, 433-435, ebd.
434.
2 Beispielhaft dazu der Tagungsband Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Text und Kontext. Fallstudien und theoretische
Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik ; [Kolloquium zum Thema "Text und Kontext Fallstudien und Theoretische Begründungen einer Kulturwissenschaftlich Angeleiteten Mediävistik" vom 12. bis 14. Juli
2003 im Historischen Kolleg München]. (Schriften des Historischen Kollegs; Kolloquien, 64.) München 2007; dazu die
Rezension von Bea Lundt, die den Band weitestgehend als eine „Selbstverteidigung der sich angegriffen fühlenden
Germanistik“ sieht.
3 Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse (Historische Einführungen, 4) Frankfurt/Main 2008; Philip Sarasin,
Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt/Main 2003; Siegfried Jäger, Einen Königsweg gibt es nicht.
Bemerkungen zur Durchführung von Diskursanalysen, in: Bublitz, Hannelore (Hrsg.), Das Wuchern der Diskurse.
Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults. Frankfurt am Main 1999, 136–147.
4 Beispielhaft sind hier die zahlreichen Arbeiten über einzelne mittelalterliche Berufsgruppen zu nennen, die sich trotz
des eindeutigen Fokus auf die Darstellung etwa des Bauern nicht vereinzelten Reflektionen über die oft vom „Bild“
abweichende „soziale Wirklichkeit“ enthalten: Paul H. Freedman, Images of the medieval peasant. (Figurae.) Stanford,
1
1
Folge gibt es zwar eine Vielzahl von Arbeiten über kulturgeschichtliche Fragestellungen und
Phänomene, jedoch kein verbindliches methodisches Vorgehen und zudem nur einen sehr
eingeschränkten Quellenbestand, der immer wieder herangezogen wird – denn die (deutsche)
Geschichtswissenschaft hält sich noch immer am liebsten an ihre angestammten Wasserlöcher, die
aus theologischen Traktaten, Predigtliteratur und normativen Texten des gelehrten Diskurses
bestehen. Immerhin scheint in der sich herausbildenden historischen Kulturwissenschaft eine
gewisse Einigkeit darüber zu bestehen, dass der Zusammenhang zwischen Ordnungsschemata und
sozialer Realität nicht in Form einer einfachen Dichotomie gedacht werden kann, sondern mit der
Internalisierung und Objektivierung sozialen Wissens über die eigene Gesellschaft und den
eigenen Platz darin zusammenhängt.5
Eine der grundlegenden und oft erforschten Ordnungsvorstellungen des (mitteleuropäischen
Hoch-)Mittelalters ist die Ständeordnung. In ganz unterschiedlichen Ausprägungen - sei es in
Form des trifunktionalen Schemas, der augustinischen Klerus – Mönch – Laien-Unterscheidung
oder der moralischen Hierarchie von Jungfrauen – Witwen – Verheirateten oder in Form von
Metaphern6 – formulierten Theologen eine Vorstellung der Gesellschaft in Form einer klar
abgegrenzten Hierarchie. Die Harmonie in der Ungleichheit und die daraus resultierende Statik
der Gesellschaft wurden geradezu als das Charakteristikum des Mittelalters gesehen. Für das
Spätmittelalter ist die Frage nach der Transformation, Weiterbenutzung oder Veränderung der
bestehenden Ordnungen noch nicht erforscht – nur, dass sie sich wohl in Auflösung befand,
scheint gesichert.
„Seit etwa dem 13. Jahrhundert ist jener feste Kode verschwunden, mit dem bis dahin das
Ineinander von moralischen Vorstellungen und sozialer Ordnung immer wieder repetiert
Calif. 1999; Hélène Feydy, Zum Bild des Bauern von Brant bis Dürer: Satirische Perspektiven des Ordo mundi, in:
Simpliciana 22, 2000, 91–128.
5 Diese Einigkeit besteht unter Mediävisten einer sozialwissenschaftlichen Schule seit den 70er Jahren. Ältere Ansätze
betonen jedoch immer wieder die Abbildfunktion, die Ständeschemata für die Gesellschaft haben. Gleichzeitig ist er
symptomatisch für den Versuch, mittelalterliche und moderne Elemente in einer bestimmten theoretischen Konzeption
genau voneinander zu trennen: Wilhelm Maurer, Luthers Lehre von den drei Hierarchien und ihr mittelalterlicher
Hintergrund. (Sitzungsberichte // Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Heft 4.)
München 1970. In der schwedischen Forschungslandschaft scheint die Problematik noch weniger diskutiert zu werden,
in einem für die Historisk tidskrift protokollierten Gespräch zwischen Janken Myrdal und Thomas Lindkvist über den
Feudalismus-Begriff äußerte letzterer eher im Vorbeigehen, dass das trifunktionale Schema nach der Studie von Duby
nicht die Gesellschaftsstruktur an sich meine, sondern eben ein Schema – die Problematik weckte aber offenbar keinen
weiteren Diskussionsbedarf. Arne Jarrick, Rundabordssamtal om feodalismen, in: Historisk tidskrift, 1998, 71–85, ebd.
79.
6 Tilman Struve, Pedes rei publicae. Die dienenden Stände im Verständnis des Mittelalters. In: Historische Zeitschrift,
236, 1983, 1–48; Volker Honemann, Das Schachspiel in der deutschen Literatur des Mittelalters. Zur Funktion des
Schamotivs in der Schachmetaphorik, in: Althoff, Gerd/Witthöft, Christiane (Hrsg.), Zeichen - Rituale - Werte.
Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Münster 2004, 263–283.
2
und bestätigt wurde [...] Wie lange dauert es, bis eine neue semantische Standardisierung
erkennbar ist?“7
Die zahlreichen vorhandenen Arbeiten über das mittelalterliche Ständemodell liefern sämtlich
nur kurze Ausblicke auf die Zeit nach 1350, in denen allgemein das parallele Bestehen
miteinander konkurrierender Ordnungsmodelle und normativer Systeme8 und eine daraus
resultierende „Unordnung“ der Gesellschaft konstatiert wird.9 Auch Wilhelm von Ockhams
nominalistische Theologie wird als Herausforderung für die spätmittelalterliche Gesellschaft
gesehen, die sich unter anderem in einer Desintegration traditioneller Ordnungsschemata
ausgewirkt habe – jedoch ist die Diffusion dieser theoretischen Auseinandersetzung ins
Alltagswissen über soziale Gruppen noch kaum untersucht10 – geschweige denn regional
differenziert.11
Charakteristisch für das Spätmittelalter ist auch, dass diskursive Veränderungen sich nicht mehr
ausschließlich in den privilegierten Äußerungen von Theologen manifestieren, sondern sich die
Diffusion dieses normativen Spezialwissens in andere gesellschaftliche Schichten auch in den
Quellen niederschlägt. Insofern scheint es lohnend, die Veränderungen der Sozialordnung im
Spätmittelater nicht anhand von Sermones, Traktaten und Predigten zu untersuchen, sondern
Texte heranzuziehen, die bereits einen Ausdruck der Diffusion des gelehrten Diskurses, seiner
Kombination mit Alltagswissen und schließlich die pragmatische Umsetzung des so entstandenen
common sense
über die Sozialordnung enthalten12: literarische Texte, die in unterhaltend-
Bernhard Jussen, 'Jungfrauen' - 'Witwen' - 'Verheiratete'. Das Ende der Konsensformel moralischer Ordnung, in:
ders./Koslofsky, Craig (Hrsg.), Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400 - 1600. (Veröffentlichungen
des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 145) Göttingen 1999, 97–127, ebd. 127.
8 Otto Gerhard Oexle, Perceiving Social Reality in the Early and high Middle Ages. A Contribution to a History of Social
Knowledge, in: Jussen, Bernhard/Selwyn, Pamela (Hrsg.), Ordering medieval society. Perspectives on intellectual and
practical modes of shaping social relations. Philadelphia 2001, 92–143; Bernhard Jussen, Der Name der Witwe.
Erkundungen zur Semantik der mittelalterlichen Bußkultur. Göttingen 2000.
9 Beispielhaft Giles Constable, Three studies in medieval religious and social thought. Cambridge 1998, der nur
behauptet, im Spätmittelalter ließen sich „zahllose Belege für eine drei- und viergliedrige Ordnung in Sermones und
Predigten des 13. und 14. Jahrhunderts“ finden. Ebd., 339.
10 Allgemein über die Bedeutung des Nominalismus und speziell Ockhams siehe Steven E. Ozment, The age of reform
1250 - 1550. An intellectual and religious history of late medieval and reformation Europe. New Haven, Conn. 1980, der
auch die ideengeschichtlich sehr negative Bewertung des Spätmittelalters als Zeit des Abstiegs von den Höhen der
Scholastik in der Forschung beschreibt. Über das Forschungsdesiderat einer Geschichte des sozialen Wissens im
Spätmittelalter siehe Oexle, Perceiving, S. 124.
11 Olaf Schwencke behauptet etwa, dass das spätmittelalterliche Lübeck „vom Nominalismus gänzlich unberührt“
gewesen sei. Olaf Schwencke, Ein Kreis mitttelalterlicher Erbauungsschriftsteller in Lübeck, in: Jahrbuch des Vereins
für niederdeutsche Sprachforschung 88, 1965, 20–58.
12 Zum Begriff des common sense siehe Clifford Geertz/Brigitte Luchesi/Rolf Bindemann, Dichte Beschreibung. Beiträge
zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main 2003, 261-289; eine Diskussion der Nützlichkeit der
Begrifflichkeiten von Geertz für die Mediävistik bei Gabrielle M. Spiegel, Geschichte, Historizität und die soziale Logik
7
3
didaktischer Absicht auf ein breiteres Publikum ausgerichtet und in der Volkssprache verfasst
waren. Besonders geeignet sind hierfür Texte, in denen Personen miteinander agieren - Dialoge
also, in denen sich die pragmatische Umsetzung des common sense und gleichzeitig seine
affirmative Verstärkung zeigen. Literarische Figuren sind meist mehr oder weniger explizit mit
nominalen, sprachlichen oder sozialen Eigenheiten gekennzeichnet, die ihre Repräsentativität für
eine bestimmte soziale Gruppe festlegen, wie Bauer, König oder Jungfrau. Die sprachlichen
Handlungen und die Anordnung dieser Personen innerhalb eines Textes können im Rahmen des
Konzepts der Performativität, wie es Judith Butler für Geschlechterrollen beschrieben hat (doing
gender), auf die mittelalterliche Sozialordnung angewandt werden (doing ordo).13
Der vorliegende Beitrag will versuchen, vorhandene Forschungsansätze aus Geschichts-,
Literatur- und Sozialwissenschaft zu verknüpfen. Die Untersuchung literarischer Quellen für eine
kulturhistorische Fragestellung soll dabei keinen Versuch darstellen, der historischen Realität
näher zu kommen, sondern eine andere Ebene des Imaginären auszuleuchten, um den rein
normativen Setzungen der Sozialordnung Aspekte aus ihrer pragmatischen Anwendung
hinzuzufügen. Die Auswertung literarischer Dialoge für eine Inventarisierung des sozialen
Wissens über die Sozialordnung des Spätmittelalters verschiebt zudem den Fokus von den engen
Ordnungsschemata
auf
vielschichtige
Hierarchien,
in
denen
sowohl
deutlich
mehr
gesellschaftliche Gruppen aufgehoben sind als in den meist dreiteiligen Schemata und erlaubt
zudem Aussagen über diejenigen, die außerhalb der Ständeordnung stehen – Nichtchristen,
Frauen, Sünder.
Im Folgenden soll dieses Konzept der Untersuchung sozialen Wissens über Hierarchien
beispielhaft anhand des mittelniederdeutschen Lübecker Fastnachtsspiels Henselyns bok14 getestet
werden. Der Text verspricht Erkenntnisse über erstens eine bisher recht vernachlässigte Region,
und zweitens einer von der Geschichtswissenschaft insgesamt kaum genutzten Quellengruppe: ein
von mittelalterlichen Texten, in: Conrad, Christoph/Kessel, Martina (Hrsg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne.
Beiträge zur aktuellen Diskussion. Stuttgart 1994, 161–202, bes. 170-173.
13 Während für die gender identities der entscheidende Punkt des Konzepts der Performativität der nichtessentialistische Charakter der Körper ist, ist für die Anwendung auf mittelalterliche Ständeordnungen der Aspekt
entscheidend, dass die Identität immer wieder erneut hergestellt und affirmiert wird, und zwar einer innewohnenden
Ordnung gehorchend, die jedoch nur vermittelt durch die Betrachtung der Gesamtheit der performativen Praktiken
untersucht werden kann. „Die Akte, Gesten und Begehren erzeugen den Effekt eines inneren Kerns oder einer inneren
Substanz; doch erzeugen sie ihn auf der Oberfläche des Körpers, und zwar durch das Spiel der bezeichnenden
Abwesenheiten, die zwar auf das organisierende Prinzip hinweisen, aber es niemals enthüllen. Diese [...] Inszenierungen
erweisen sich insofern als performativ, als das Wesen oder die Identität, die sie angeblich zum Ausdruck bringen,
vielmehr durch [...] andere diskursive Mittel hergestellt und aufrechterhaltene Fabrikationen/Erfindungen sind.“ Judith
Butler, Das Unbehagen der Geschlechter. (Gender Studies.) Frankfurt am Main 1991, S. 200.
14 Henselyn [Lübeck: Mohnkopfdrucker, nicht vor 1497, nach 1500, GW 12267.
4
Inkunabeldruck des Unterhaltungsgenres aus dem norddeutschen Raum. Es geht dabei weniger
um die normative Setzung und Beschreibung einer sozialen Ordnung, sondern um das kollektiv
vorhandene Wissen über gesellschaftliche Gruppen und ihre innewohnenden Hierarchien, das
sich hier in Form einer Behandlung, Verformung oder Verflachung der theologischen Debatte
über die Ständeordnung darstellt.15 In nahezu allen Texten, die in Mittelniederdeutsch verfasst
und vor 1520 als gedruckte Bücher distribuiert wurden, sind drei diskursive Stränge miteinander
verflochten: die Ständethematik oder allgemeiner die Frage nach der richtigen Sozialordnung,
damit verbunden die Geschlechterordnung, und drittens das Streben nach jenseitigem Heil durch
diesseitiges richtiges Verhalten. Damit wird in jedem einzelnen Text das Verhältnis zwischen
säkularen und religiösen, sozialen und moralischen Ordnungsvorstellung diskutiert und
dargestellt, und anzunehmen ist, dass sich hierbei jeweils traditionelle und progressive Elemente
vermischen, die gemeinsam eine für die höheren Schichten des städtischen Bürgertums spezifische
kulturelle Semantik bilden. Das Henselyns bok, in dem drei Brüder und ein Narr eine ganze Reihe
von
Ständevertretern
Ordnungsvorstellungen,
besuchen,
und
bildet
seine
eine
performative
Untersuchung
soll
die
Umsetzung
von
Forschungen
sozialen
über
die
spätmittelalterlichen Ideologien um pragmatische, dynamische Aspekte erweitern.
Nachdem in der Einleitung der Forschungshorizont der kulturellen Semantik umrissen wurde, soll
nun zunächst eine Verortung des Henselyns bok erstens innerhalb der spätmittelalterlichen
dialogischen Literatur und zweitens innerhalb des mittelniederdeutschen Inkunabeldrucks
geleistet werden, bevor am Text selbst die hierarchischen Ordnungen und die behandelten
Interdiskurse aufgezeigt werden. Die so gewonnenen Ergebnisse werden am Ende im Rahmen der
Frage nach „vorreformatorischen“ oder „spätmittelalterlichen“ Sinnformationen diskutiert, wie sie
vor allem aus der Frühneuzeitforschung anhand von Quellen über den oberdeutschen Raum
entwickelt wurden.
Dialog und Hierarchie
Als fruchtbare Grundlage für die geschichtswissenschaftliche Beschreibung von sozialem Wissen über
gesellschaftliche Gruppen hat sich die Systemtheorie von Berger und Luckmann erwiesen. Damit arbeiten etwa Otto
Gerhard Oexle, Perceiving Social Reality in the Early and high Middle Ages. A Contribution to a History of Social
Knowledge, in: Jussen, Bernhard/Selwyn, Pamela (Hrsg.), Ordering medieval society. Perspectives on intellectual and
practical modes of shaping social relations. Philadelphia 2001, 92–143; Hans-Christoph Rublack, Reformation und
Moderne. Soziologische, theologische und historische Ansichten, in: Guggisberg, Hans R. (Hrsg.), Die Reformation in
Deutschland und Europa. Interpretationen und Debatten ; Beiträge zur gemeinsamen Konferenz der Society for
Reformation Research und des Vereins für Reformationsgeschichte, 25. - 30. September 1990, im Deutschen
Historischen Institut, Washington, D.C. = The reformation in Germany and Europe. Gütersloh 1993, 17–38.
15
5
Konversation ist immer hierarchisch organisiert, erstens bezüglich der Dialogpartner/innen,
zweitens bezüglich ihrer Strategien.16 Wer spricht mit wem, wer bestimmt Thema und Fortgang
der Debatte, wer adressiert wen? Streitgespräche, Lehrgespräche, Dialogreihen, Spiele, in allen ist
eine Hierarchie der Dialogpartner impliziert.17 Dialogischer Aufbau ist eine dem Mittelalter als
Distinktion verschiedener literarischer Texte vertraute Unterscheidung, und gerade das
Lehrgespräch strebte zwar im platonischen Sinn einen herrschaftsfreien Dialog an, war sich der
Unmöglichkeit der Umsetzung aber voll bewusst.18 Hannes Kästner, der eine textlinguistische
Analyse von Lehrgesprächen in höfischen Romanen des Hochmittelalters vorgenommen hat,
nimmt das kulturübergreifend vorzufindende „pädagogische Dreieck“ als Grundlage seiner
Abgrenzung der Gespräche: ein Educandus, ein Praeceptor und ein zu vermittelnder Lehrinhalt.
Mit diesem Schema können die meisten mittelniederdeutschen Dialoge gefasst werden, wenn
hieraus auch keine ganz klare Gattungsbestimmung abzuleiten ist – die jedoch für die hier
interessierende Fragestellung auch sekundär ist.19 Stattdessen geht es um die Analyse der
Beziehungen der Dialogpartner zueinander, die durch Statusmerkmale (der Meister, der König,
die Nonne), sprachliche Merkmale (Dialekte, lateinische Einschübe) und Sprecherstrategien
(Gesprächssteuerung, normierte Anreden) ausgedrückt werden.
Viele spätmittelalterliche Dialoge setzen auf Personifikation und Typisierung, um ihr didaktisches
und/oder unterhaltendes Anliegen umzusetzen: Der Leib und die Seele führen einen ungleichen
Streit im Angesicht des Jüngsten Gerichts, ein Schüler strebt nach umfassender Aufklärung über
die Geheimnisse des Geschehens in der Messe, der Tod besucht eine ganze Reihe von
Anne Betten, Analyse literarischer Dialoge, in: Fritz, Gerd/Hundsnurscher, Franz (Hrsg.), Handbuch der
Dialoganalyse. Tübingen 1994, 519–544.
17 Diesen Befund sah nach einer empirischen Untersuchung der mittellateinischen philosophischen Dialoge auch Klaus
Jacobi, Einleitung, in: Jacobi, Klaus (Hrsg.), Gespräche lesen. Philosophische Dialoge im Mittelalter. (ScriptOralia, 115)
Tübingen 1999, 9–22. Auch in den Gesprächen, die als Dialog zwischen scheinbar gleichen Partnern angelegt sind (zwei
Freunde etwa), bildet sich nach und nach die Rolle des einen als Lehrender, des anderen als Lernender heraus. Ebd., 16.
18 Peter von Moos, Gespräch, Dialogform und Dialog nach älterer Theorie, in: Frank, Barbara/Haye, Thomas/Tophinke,
Doris (Hrsg.), Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit. [Beiträge eines interdisziplinären Symposiums über
"Textgattungen und ihre Entwicklung im Mittelalter" vom 4. bis 6. September in Freiburg/Br.]. (ScriptOralia, 99)
Tübingen 1997, 235–259; Günther Buck, Das Lehrgespräch, in: Stierle, Karlheinz/Warning, Rainer (Hrsg.), Das
Gespräch. München 1996, 191–211.
19 Hannes Kästner, Mittelalterliche Lehrgespräche. Textlinguistische Analysen, Studien zur poetischen Funktion und
pädagogischen Intention. Berlin 1978. Kästner gibt ebenfalls zu, dass für das Lehrgespräch keine ganz klare Abgrenzung
zu Streitgesprächen, Tugend- und Lasterkämpfen, Religionsgesprächen und Ratgebergesprächen möglich ist. Er
differenziert die Lehrgespräche weiter in die Redetypen dictio, dissensio und interrogatio, legt Gesprächsmerkmale fest
wie die Initiative zum Gespräch, die Steuerung des Verlaufs und den Grad der Öffentlichkeit und listet daraus
kombiniert mögliche Typen von Lehrgesprächen auf.
16
6
Ständevertretern.20 Grundlegend ist aber immer die hierarchische Anordnung, die oft bereits in
der Situation begründet liegt, in der sich die Dialogpartner/innen treffen: das Gericht, die Beichte,
das Sterbebett, der Königshof. Die hierarchische Unterordnung der Dialogpartner liegt entweder
in der Situation begründet – der Notwendigkeit, sich dem höchsten Richter zu stellen, der Bitte
um ein Sakrament, einen Segen oder ein Erbe, dem Wissen um die eigene Sündhaftigkeit – oder
sie wird durch die Bezeichnung der beteiligten Personen verdeutlicht, die eine offenbar allgemein
akzeptierte soziale Distinktion beschreibt: der Bauer, der in den Dialog mit dem König tritt, ist
offenbar von vornherein ein unerhörtes Ereignis.21 In denjenigen Dialogen, in denen die
Konfrontation mit der Hierarchie gewissermaßen selbst gewählt ist, bildet die so in Szene gesetzte
Fallhöhe oft ein humoristisches Element, wie in dem Dialog des Königs Salomon mit dem Bauern
Marckolf, der von der Gegenüberstellung von gelehrtem Wissen und adligem Status mit konkreter
Lebenswirklichkeit und lebenspraktischem Geschick lebt.22
Sonderfälle der dialogischen Situationen bilden die Texte, die dem umfassenden laiendidaktischen
Schrifttum zugehören. Sie geben dialogische Situationen vor, ohne die Dialogpartner klar zu
benennen: etwa das Testament eines wahren Christen mynschen, das einen Sprechakt
dahingehend vorgibt, dass Fragen und erwartete Antworten aufgeführt werden, die dem
Todkranken vorgelesen werden sollen. Hierbei geht die Einbindung des Lesers/der Leserin in den
Textverlauf so weit, dass von einem Dialog gesprochen werden kann, obgleich keine konkrete
Bezeichnung der beteiligten Personen geleistet wird.23 In jedem Fall wohnt entweder der
geschilderten Situation oder den Bezeichnungen der (idealtypischen) Personen ein Wissen um die
sozialen Hierarchien inne, die dann im Dialog ausagiert werden – je nach Genre und
Erzähltechnik entweder affirmativ oder satirisch-humoristisch gebrochen.
Eine grobe Typisierung der vorhandenen mittelniederdeutschen Dialoge könnte folgender maßen aussehen: LehrerSchüler-Dialoge (einschließlich beratender Gespräche im Familienkreis), Ständereihen, König-Untertan-Dialoge,
Gespräche zwischen Personifikationen abstrakter Prinzipien (Leben und Tod, Leib und Seele), sowie Texte, die situativ
einen Dialog mit dem Leser vorgeben, wie Beichtanweisungen oder Sterbebüchlein
21 Auf die systematische Untersuchung der Benutzung von Dialekten und sprachlichen Eigenheiten zur
Charakterisierung des sozialen Status der Dialogpartner weist bereits hin Kästner, Mittelalterliche Lehrgespräche, 28.
22 Nancy Mason Bradburg, Rival Wisdom in the Latin „Dialogue of Salomon and Marcolf“, in: Speculum 83, 2008, Heft
2, 331-365.
23 Vgl. den Befund über die Funktionsweise frühneuzeitlicher Holzschnitte von Wallfahrtsorten, in denen Bild und Text
das intendierte Agieren des Betrachters in Form von Andachtsgesten und Gebeten festlegen. Text, Bild und Betrachter
treten dabei in einen Dialog und vollziehen die Passion Christi nach. Sabine Griese, Bild, Text, Betrachter.
Kommunikationsmöglichkeiten von Einblatt-Druckgraphik im 15. Jahrhundert, in: Henkel, Nikolaus/Putzo, Christine
(Hrsg.), Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter ; Hamburger
Colloquium 1999. Tübingen 2003, 315-336.
20
7
Viele andere dialogische Texte weisen die hierarchischen Muster eines Meister-Schüler-Dialogs
auf: bereits die Bezeichnung der Personen legt einen Statusunterschied nahe, und
dementsprechend agieren die Personen miteinander. Der Unterschied kann im Alter begründet
sein (etwa in der Erzählung vom Beginchen von Paris, in dem die Mutter der Begine beratende
Funktion einnimmt24), in einem klaren Wissensvorsprung (wie in Arnt Buschmanns Mirakel, in
dem der Bauernsohn Arnt vom Geist seines verstorbenen Urgroßvaters über die Seelen im
Fegefeuer und die Benefikationen von Seelenmessen aufgeklärt wird), oder sie kann in der
schieren Zugehörigkeit zur christlichen Gesellschaft liegen – wie im Buch I des
Seelenwurtzgarten, in dem christliche und jüdische theologische Argumente gegeneinander
abgewogen werden, mit dem nicht überraschenden Ergebnis, dass die christliche Religion recht
habe in Fragen der Christologie.25
Geht man davon aus, dass Dialogformen eine Antwort einer Gesellschaft auf eine spezifische
Problemstellung sind26, so sind die spätmittelalterlichen Dialoge, in denen eine Reihe von
Ständevertretern auftreten, ein Versuch, die gesellschaftliche Ordnung dialogisch nicht nur
darzustellen, sondern zu affirmieren. Die dialogische Grundstruktur kann dazu dienen, eine
Vielzahl unterschiedlicher Themen und damit auch tiefer liegender Ordnungsmodelle zu
behandeln –
anders als etwa in einem Traktat übernimmt der Autor hier keine direkte
Verantwortung für das Gesagte, besonders, wenn Geister, überirdische Wesen und Engel
sprechen.27 Zudem können auch in dialogische Texte monologisch angelegte Abhandlungen
eingebettet sein – ein Beispiel ist der Lübecker Druck Lycht der selen, in dem eine Beichtsituation
vorgegeben wird, innerhalb derer dann ständespezifische Ausformungen der Beichtgespräche
Die Erzählung ist in unterschiedlichen Varianten überliefert, eine mittelniederdeutsche handschriftliche davon findet
sich im Cod. Conv. 5 der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek, die aus dem Hamburger Katharinenkloster
stammt. Ein Druck (GW 3 Sp.593a) aus Köln von Anfang des 16. Jahrhunderts befindet sich in der Staatsbibliothek
Berlin unter der Signatur Inc 709, 121-137. In demselben Band auch der Druck von Arnt Buschmanns mirakel, Köln
1506, ebd. S. 235-283. Ediert in Wilhelm Seelmann, Buschmans Mirakel. Ein religiöses Volksbuch des fünfzehnten
Jahrhunderts; neuer Abdruck mit einer Einleitung. aus Niederdeutsches Jahrbuch 6, 1880, in: Niederdeutsches Jahrbuch,
Sonderdruck, 1881, 32–67.
25 Über den Traktat mit dem Titel „Bewährung, dass die Juden irren“ eines unbekannten Verfassers Georg Steer in
Verfasserlexikon Bd. 1, Sp. 840-841. Nur eine Ausgabe der mittelniederdeutschen Fassung ist erhalten: Stabi Berlin, Inc
1443. Die Überlieferungswege schlüsselt auf Georg Steer, Zur Entstehung und Herkunft der Donaueschinger
Handschrift 120 ('Donaueschinger Liederhandschrift'), in: Kesting, Peter (Hrsg.), Untersuchungen zur Literatur und
Sprache des Mittelalters. Kurt Ruh zum 60. Geburtstag. (Würzburger Prosastudien, 2) 1975, 193–210, ebd. 193-199.
Über die Überlieferung des Traktats als Buch 1 des Seelenwurtzgartens siehe Werner Williams-Krapp, Exempla im
heilsgeschichtlichen Kontext. Zum Seelenwurtzgarten, in: Haug, Walter/Wachinger, Burghart (Hrsg.), Exempel und
Exempelsammlungen. Tübingen 1991, 208–222.
26 Gerd Fritz, Geschichte von Dialogformen, in: Fritz, Gerd/Hundsnurscher, Franz (Hrsg.), Handbuch der Dialoganalyse.
Tübingen 1994, 545–562.
27 Stefan Dee, 'und wie du bist / so redestu'. Zu Form und Funktion der Gesprächsszenen im 'Simplicissimus Teutsch', in:
Simpliciana 17, 1995, 9–38, ebd. 26.
24
8
ausgeführt werden – wie also der Priester einen König, einen Bürgermeister, eine Jungfrau, einen
Reichen, einen Armen etc. befragen würde.28 Diese Ständedialoge sind eine literarische Form, an
der die pragmatische Umsetzung der Ständeordnung besonders gut gezeigt werden kann, und ihre
Rezeptions- und Produktionsbedingungen zeigen, dass sie an einem entscheidenden Punkt in der
literarischen und diskursiven Landsaft des späten 15. Jahrhunderts angesiedelt sind.
Ein diskursives Großereignis
Mitte des 15. Jahrhunderts trat in Mitteleuropa ein großes diskursives Ereignis ein: der
Buchdruck.29 Die Bedeutung dieses Ereignisses für die sozialen und ökonomischen Umwälzungen
zu Beginn der Neuzeit wurde ausreichend gewürdigt: Die Reformation, die Bauernkriege sind in
der uns historisch übermittelten Form nicht denkbar ohne die gleichzeitig stattfindende
Revolution des Wissens und der Wissensvermittlung durch den Buchdruck.30 Bücher wurden
billiger und damit einen nach und nach wachsenden Leser/innenkreis zugänglich, Einblattdrucke
konnten relativ billig und schnell genutzt werden, um aktuelle Ereignisse oder obrigkeitliche
Bekanntmachungen zu verbreiten. Die Kombination von Bild- und Textelementen beschränkte
die möglichen Rezipienten nicht rein auf die gebildeten Schichten, wenn auch davon auszugehen
ist, dass die meisten, die sich im 15. Jahrhundert Bücher leisten konnten und wollten, auch
alphabetisiert waren.31 Zudem differenzierte sich der Buchmarkt rasch aus, so dass für die literati
im traditionellen Sinne lateinische Werke, für die weniger lese- und lateingeübte Bevölkerung
volkssprachliche Bearbeitungen entstanden, die zudem reich bebildert wurden.
28
Lycht der selen, Lübeck: Bartholomeus Gothan, 1484, GW M18207.
Die Setzung der Erfindung des Buchdrucks als „diskursives Ereignis“ ist ein Versuch, das methodische und begriffliche
Instrumentarium der historischen Diskursanalyse auf ein geschlossenes, aber sehr disparates Quellenkorpus anzulegen,
das zeitlich, regional und von den Entstehungs- und Distributionsbedingungen her abgeschlossen ist, jedoch eine
Vielzahl unterschiedlicher Diskurse, Themen und Textsorten umfasst. Vgl. die Reflektionen zur Diskursanalyse auf
disparate Korpora bei Siegfried Jäger, Einen Königsweg gibt es nicht. Bemerkungen zur Durchführung von
Diskursanalysen, in: Bublitz, Hannelore (Hrsg.), Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults.
Frankfurt am Main 1999, 136–147; sowie Jürgen Link, Diskursive Ereignisse, Diskurse, Interdiskurse. Sieben Thesen zur
Operativität der Diskursanalyse, am Beispiel des Normalismus, in: ebd., 148–161. Eine kritische Bewertung der Setzung
eines Untersuchungskorpus durch „gleiche Produktionsbedingungen“, wie sie Michel Pêcheux et al. Für die
Automatische Diskursanalyse vorgeschlagen haben, leistet John Brookshire Thompson, Studies in the theory of
ideology. Oxford 1990, 247-254.
30 Mit immer gleicher Emphase auf das Phänomen benutzt Bendix den Begriff „intellektuelle Mobilisierung“, Kuhn
spricht von „Literaturexplosion“ und Rüdiger Schnell von „Bildungsexplosion“. Vgl. auch Robert W. Scribner, For the
sake of simple folk. Popular propaganda for the German Reformation. Oxford 1994; und Elizabeth L. Eisenstein, Die
Druckerpresse. Kulturrevolutionen im frühen modernen Europa. (Ästhetik und Naturwissenschaften.) Wien 1997.
31 Untersuchungen von Besitzvermerken und Archivalien aus dem 15. und 16. Jahrhundert ergaben die gehobenen
Schichten als fast ausschließliche Buchbesitzer: Ärzte, Juristen, gehobener Adel, Theologen, Kaufleute. Thilo Brandis,
Handschriften- und Buchproduktion im 15. und frühen 16. Jahrhundert, in: Grenzmann, Ludger; Stackmann, Karl
(Hrsg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, Stuttgart 1984, S. 167-193.
29
9
Die ersten Jahrzehnte nach dem revolutionären Ereignis lassen jedoch noch wenig revolutionären
Geist vermuten: Die Inkunabeln und frühen Drucke, die bis etwa zum Jahr 1520 entstanden, sind
vielmehr vorsichtige Aktualisierungen von Texten aus dem 13. und frühen 14. Jahrhundert.
Dieser Konservatismus ist leicht aus der ökonomischen Situation der ersten Buchdrucker zu
erklären, die ein hohes finanzielles Risiko bei der Produktion der einzelnen Werke dadurch
abzumildern suchten, dass sie bekannte und beliebte Werke auflegten, von denen sich gute
Abnehmerzahlen erwarten ließen, anstatt mit Neuschaffungen zu glänzen, deren Erfolg ungewiss
war. Dieser Befund mag aber auch eine erste Aussage über den common sense des 15.
Jahrhunderts zulassen: Das Altbekannte ist dem Neuen vorzuziehen, und Laienbildung war eher
ein dialektischer Prozess mit Vor- und Rückschritten als eine lineare Erfolgsgeschichte –
entsprechend hat gerade die mediävistische Forschung die Bedeutung des Buchdrucks als
revolutionäres Ereignis auch immer wieder eingeschränkt.32 Jedoch bedeutete die Distribution in
Form des gedruckten Buchs in vielen Fällen eine Neubearbeitung oder –übersetzung vorhandener
Texte und Erzählstoffe. Wie etwa für die Erzählungen Griseldis aus Bocaccios Decamerone und
den lateinischen Dialog von Salomon und Markolf nachgewiesen werden konnte, beruhten die
ersten Drucke nicht auf zeitgenössischen Bearbeitungen, sondern nutzten viel ältere lateinische
Vorlagen für eine eigene, aktuelle Version des Stoffes.33
Inkunabeln sind aufgrund ihres Charakters als Medium mit traditionellen Texten in
zeitgenössischer Bearbeitung und modernen Verbreitungsformen ein lohnenswert scheinender
Ort, um die Verwirrung der Sozialordnung, die Krise des Spätmittelalters zu untersuchen. Die in
den frühen Drucken transportierten Texte behandeln, meist in Form von verflachenden und
thematisch ineinander verschränkten Interdiskursen, sowohl die Frage nach dem jenseitigen Heil
als auch nach der diesseitigen Sozialordnung, die zuvor in elaboriert-theologischen
Spezialdiskursen geformt worden waren. Innerhalb des diskursiven Feldes „Inkunabeldruck“
Klaus Schreiner, Grenzen literarischer Kommunikation. Bemerkungen zur religiösen und sozialen Dialektik der
Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformation, in: Grenzmann, Ludger/Stackmann, Karl (Hrsg.), Literatur und
Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981. Stuttgart 1984, 1–20; Falk
Eisermann, Mixing Pop and Politics. Origins, Transmission, and Readers of Illustrated broadsides in fifteenth-century
Germany, in: Jensen, Kristian (Hrsg.), Incunabula and their readers. Printing, selling and using books in the fifteenth
century [Conference Entitled 'Incunabula and their Readers' which took place at the University of London's Senate
House]. London 2003, 159–177.
33 Sabine Griese, Salomon und Markolf. Ein literarischer Komplex im Mittelalter und in der frühen Neuzeit ; Studien zu
Überlieferung und Interpretation. Univ., Diss.--Regensburg, 1995. (Hermaea, N.F., 81.) Tübingen 1999.
32
10
bilden die einzelnen Texte somit Aussagen, in denen sich das jeweilige Ordnungsmuster
manifestiert.34
Der niederdeutsche Sprachraum
Vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit hat das Spätmittelalter und die Inkunabelzeit speziell im
norddeutschen Raum hervorgerufen. Zwar waren Köln, Lübeck und Magdeburg wichtige Zentren
der Buchdruckerei und ebenso wichtige Handelsorte für den gesamten nordeuropäischen Raum.35
Aber für die Untersuchung der medialen Produkte dieser Zeit und dieses Raumes ist die Struktur
des akademischen Betriebes ungünstig: Inkunabeln sind traditionell ein Forschungsfeld der
Literaturwissenschaft, und diese wiederum hat ein recht vernichtendes Urteil über das
Mittelniederdeutsche gefällt: Es sei als reine Verkehrssprache für die Hanse, nicht als
Literatursprache benutzt worden, und die Ausbildung einer die Untersuchung lohnende
literarischen Landschaft sei hier nicht entstanden, da die „Kaufmänner keine Zeit gehabt hätten,
sich mit Literatur zu befassen.“36 Tatsächlich steht im niederdeutschen Sprachraum ein relativ
hoher Alphabetisierungsgrad zumindest der städtischen Bevölkerung einer relativ geringen
literarischen Produktion gegenüber. Zusätzlich erschwerend war die Sprachgrenze zum
oberdeutschen Raum, die die Rezeption der dort entstandenen Werke nur noch teilweise in der
sprachlichen Zwischenzone etwa von Frankfurt bis Magdeburg und Leipzig, nördlich davon aber
gar nicht mehr möglich machte.37 Volkssprachliche Texte, die im Norden verbreitet werden
sollten, mussten demnach neu verfasst oder übersetzt werden, entweder aus dem Lateinischen
oder aus dem Oberdeutschen. Die Untersuchung einzelner prominenter mittelniederdeutscher
Bearbeitungen älterer Erzählstoffe ergab dabei explizit eigene Akzente, die die Bearbeiter setzten,
eine systematische Untersuchung des Spezifischen an den Bearbeitungen fehlt bisher jedoch.38
Zu den Operationalisierungen der Foucaultschen Diskursanalyse für geschlossene Quellenkorpora, in denen die
Analyse der Interdiskursivität und die Benennung der einzelnen Diskursstränge wichtiger ist als die Sammlung von
Aussagen zu ein und demselben Diskurs mit anschließender Analyse der Funktionsweisen desselben, siehe Link 1999 –
Diskursive Ereignisse.
35 Zur unterschiedlichen Bedeutung der norddeutschen Hansestädte als Orte der Buchproduktion und Orte des
Fernhandels für die Versorgung des skandinavischen Buchmarkts siehe Holger Nickel, Zu Buchhandel und
Buchproduktion im nordeuropäischen Raum während der Inkunabelzeit, in: Häkli, Esko (Hrsg.), Bibliophilie und
Buchgeschichte in Finnland. Aus Anlass des 500. Jubiläums des Missale Aboense. Berlin 1988, 25–31.
36 Wernicke, Literarische Rezeptionsbedingungen, 145.
37 Rolf Sprandel, Was wußte man im späten Mittelalter in Süddeutschland über Norddeutschland und umgekehrt?
Studien zur Geschichtsschreibung 1347-1517, in: Paravicini, Werner/Jordan, Karl (Hrsg.), Nord und Süd in der
deutschen Geschichte des Mittelalters. Akten des Kolloquiums veranstaltet zu Ehren von Karl Jordan, 1907 - 1984, Kiel,
15. - 16. Mai 1987. Sigmaringen 1990, 219–230, ebd. 224.
38 Goossens, Jan (1998): Der Verfasser des Reynke de Vos. Ein Dichterprofil. In: Berteloot, Amand (Hg.): Reynke de Vos
- Lübeck 1498. Zur Geschichte und Rezeption eines deutsch-niederländischen Bestsellers ; [Ausstellung mit dem Titel:
34
11
Der Buchdruck kam im mittelniederdeutschen Sprachraum erst an, als sich bereits eine wichtige
Veränderung im Vergleich zu den ersten Jahren ergeben hatte: 1473 wurden die ersten Werke in
Lübeck gedruckt, um 1480 war bereits das Verlagswesen ein eigener Wirtschaftszweig geworden,
die Typen und Produktionsverfahren waren weitgehend vereinheitlicht, und die kleineren,
billigeren Bücher setzten sich gegenüber den teuren Prachtfolianten durch, was auf eine gewisse
Verbreiterung des Rezipientenkreises schließen lässt.39 Während Untersuchungen der gesamten
Inkunabelproduktion im deutschen Sprachraum eine gleichmäßige inhaltliche Verteilung der
Behandlung von poetischen, religiösen und amtlichen Themen ausmachen konnte, wurde speziell
für die mittelniederdeutschen Inkunabeln ein starkes Übergewicht religiös-didaktischer Texte
festgestellt.40
Der mittelniederdeutsche und niederländische Raum ist damit ein überschaubarer und relativ
homogener Sprachraum, der zudem eine spätere Entwicklung teilt: Die Reformation wurde hier
besonders schnell und flächendeckend übernommen. Dies wiederum lässt mit Sicherheit Schlüsse
auf das spätere akademische Desinteresse am Spätmittelalter in dieser Region zu – Hypothesen
über den Zusammenhang zwischen der literarischen und diskursiven Landschaft und der
Einführung der Reformation wurden jedoch bisher nicht mit empirischen Untersuchungen
untermauert, wie die spezifische Ausformung der spätmittelalterlichen Gesellschaftsordnung für
den Norden überhaupt bisher kaum untersucht worden ist41 – wie insgesamt die Untersuchungen
zur kulturellen Semantik aufgrund ihrer Quellenlage kaum regionale Differenzierungen zulassen
und nur die gesamte Christenheit als Geltungsbereich der Ordnungsschemata ausmachen
können.42
Die Unheilige Weltbibel. Der Lübecker Reynke de Vos (1498 - 1998)] vom 28. Oktober bis zum 24. November 1998].
Münster, Hamburg, London: Lit (Niederlande-Studien, Kleinere Schriften, H. 5), S. 45–79.
39 Brandis, Buchbesitz, S. 181.
40 Brandis, Buchbesitz, S. 180, gibt lediglich 5-7% deutschsprachiger Werke an der gesamten Inkunabelproduktion an
und sieht die inhaltliche Verteilung gleichmäßig gedrittelt. Wernicke, Literarische Rezeptionsbedingungen, fasst die
Untersuchungen über die mittelniederdeutschen Inkunabeln zusammen – die damit einen verschwindend geringen
Anteil an der gesamten spätmittelalterlichen Druckproduktion ausmachen – und konstatiert besagtes Übergewicht der
religiösen Texte. Ebenso Freytag, Hartmut (1998): Zum Beispiel Lübeck. eine Skizze über Literatur in der Hansestadt
während der Jahre 1200 bis 1600. In: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft, Jg. 10, S. 125–137.
41 Für die Untersuchung der norddeutschen Hansestädte überwiegt ein „strukturkonservativer“ Ansatz, der etwa Lübeck
als Beispiel für politische Kontinuität vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit sieht. Einen Ansatz in Richtung einer
kommunikationsgeschichtlichen Einordnung des Spätmittelalters leistet Philip R. Hoffmann, Soziale Differenzierung
und politische Integration. Strukturwandel der politischen Ordnung in Lübeck (15.-17. Jahrhundert), in: Schmidt,
Patrick (Hrsg.), Stadtgemeinde und Ständegesellschaft. Formen der Integration und Distinktion in der frühneuzeitlichen
Stadt. Berlin 2007, 166–197.
42 Entsprechend arbeiten sich noch immer alle Arbeiten zur Ständeordnung an der Studie Dubys ab und nehmen die
dort festgestellten Äußerungen zum trifunktionalen Schema als allgemeingültig an, obwohl zumindest deren
12
Für diese Frage könnte es nun eine Vielzahl von Ansätzen geben: eine geistesgeschichtliche
Untersuchung der Entwicklung von Gnadenlehre und Rechtfertigungslehre43, sozialgeschichtliche
Untersuchungen
über
das
Aufkommen
von
antiklerikalen
Bewegungen
und
Auseinandersetzungen mit dem regionalen Klerus44, personengeschichtliche Darstellungen, die
reformatorisches Gedankengut und ökonomische Vorteile etwa bei einzelnen Lübecker
Patriziergeschlechtern sehen. Alle diese Ansätze leiden darunter, dass eine historische Epoche aus
ihrem Ende heraus untersucht und erklärt wird: Das 15. Jahrhundert scheint ohne die
Reformation als Bezugspunkt nicht sinnvoll zu sein.45 Dieser Blickwinkel sowohl der älteren
institutionengeschichtlich
orientierten
als
auch
etwa
der
jüngeren
marxistischen
Geschichtsforschung stellen für die letzten Jahrzehnte des Spätmittelalters lediglich ein
allgemeines „Gären“ fest, dass sich dann, unterstützt von den Vorträgen reformatorischer
Prediger, stellenweise „entlud“.46 Ohne Erklärungsansätze dazu wird konstatiert, dass einerseits
das städtische Patriziat regen Anteil an der „zählbaren Frömmigkeit“47 der Zeit nahm und
zahlreiche Stiftungen unterhielt48, andererseits antiklerikale Ausschreitungen immer wieder
vorkamen. Hier ist der Befund für den Norden nicht anders als für den Süden: in Hamburg etwa
gab es Ende des 15. Jahrhunderts die sogenannte „Eppendorfer Wunderwurzel“ als populäres
Wallfahrtssziel, 1483 wurde eine bischöfliche Visitation eines Frauenklosters von Patriziern
verhindert, eine Prognostik aus dem Jahr 1492 sah für 1496 Übles für den gesamten Klerikerstand
voraus, und dennoch hatten die meisten der patrizischen Familien Anteil an Stiftungen in der
Franziskanerkirche.49 Anders als mit einem lapidaren „die Zeit war eben reif für die Reformation“
Ersterwähnung deutlich an eine spezifische historische Situation und Region, Nordfrankreich im 11. Jahrhundert,
gebunden ist.
43 Ozment, Age of reform 1250 - 1550.
44 Etwa bei Postel, Rainer (1986): Die Reformation in Hamburg, 1517-1528. Gütersloh: Mohn (Quellen und Forschungen
zur Reformationsgeschichte, Bd. 52); James M. Stayer, Anticlericalism: A Model for a Coherent Interpretation of the
Reformation, in: Guggisberg, Hans R. (Hrsg.), Die Reformation in Deutschland und Europa. Interpretationen und
Debatten ; Beiträge zur gemeinsamen Konferenz der Society for Reformation Research und des Vereins für
Reformationsgeschichte, 25. - 30. September 1990, im Deutschen Historischen Institut, Washington, D.C. = The
reformation in Germany and Europe. Gütersloh 1993, 39–147.
45 Vgl. Boockmann, Das 15. Jahrhundert, in: Kirche, Staat,Gesellschaft.
46 Norbert Schnitzler, "Kirchenbruch" und "lose Rotten". Gewalt, Recht und Reformation ; (Stralsund 1525), in: Jussen,
Bernhard/Koslofsky, Craig (Hrsg.), Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400 - 1600. Göttingen 1999,
285–315.
47 Arnold Angenedt/Thomas Braucks/Rolf Busch/Thomas Lentes/Hubertus Lutterbach , Gezählte Frömmigkeit, in:
Frühmittelalterliche Studien 29, 1995, 1–71.
48 Angela Grabert-Koch, Die Minderbrüder in Hamburg, in: Hamburgische Kirchengeschichte in Aufsätzen. Von der
Christianisierung bis zur Vorreformation. (Hamburgische Kirchengeschichte in Aufsätzen; Arbeiten zur
Kirchengeschichte Hamburgs, Teil 1) Hamburg 2003, 261–285.
49 Die noch immer vollständigste Sammlung von Quellenbruchstücken zur spätmittelalterlichen hamburgischen
Kirchengeschichte bildet Heinrich Reincke, Hamburg am Vorabend der Reformation. Hamburg 1966 (Arbeiten zur
13
lassen sich diese Widersprüche bis dato nicht erklären, und vor allem legen sie eine klare
Distinktion zwischen progressiven weil reformatorischen und antiklerikalen, und traditionellen,
weil der spätmittelalterlichen Frömmigkeit verpflichteten, Praktiken nahe. Dies ist aber bereits
eine Vorannahme, die mehr über die moderne Mittelalterkonstruktion aussagt als über das
Mittelalter selbst und zudem dem Bemühen geschuldet, die Reformation entlang der großen
Forschungsparadigmen zu interpretieren – entweder als Kontinuität oder Bruch mit
mittelalterlichen
Traditionen
und
Strukturen.50
Die
Untersuchung
der
hierarchischen
Formationen in mittelniederdeutscher Unterhaltungsliteratur kann den Fokus weg von den
großen Paradigmen und hin zu einer kommunikationshistorischen Betrachtung lenken, in der die
Reformation eine weniger große Rolle spielt als die Frage, wie sich die gesellschaftlichen Gruppen
im späten 15. Jahrhundert selbst konstituierten und wie ihre Beziehungen zueinander durch
Rituale, Redeformeln und Umgangsformen konstituiert waren.51
Die semantischen Blöcke in der Inkunabeldichtung
Charakteristisch für die meisten spätmittelalterlichen Texte, seien sie rein laiendidaktischer,
unterhaltsamer oder aktuell-informativer Form, ist eine Verschränkung mehrerer diskursiver
Ebenen, die in drei großen semantischen Blöcken anzutreffen sind:
Fragen nach der Ständeordnung und insgesamt der gesellschaftlichen Ordnung werden innerhalb
dieser Felder abgehandelt, etwa in 1) als die Notwendigkeit zu Gehorsam, Demut und allgemein
christlichem Leben, ungeachtet der gesellschaftlichen Stellung, in 2) als die Frage nach dem
richtigen Sterben und der hierarchischen Ordnung im Jenseits, und in 3) in standesspezifischen
Tugend- und Lasterkatalogen. Die gesamte soziale Ordnung setzt sich damit aus einem diesseitigen
und einem jenseitigen Teil zusammen und ist religiös, nach laientheologischen Kategorien
geformt. Die Auflösung des „Ineinanders von moralischen Vorstellungen und sozialer Ordnung“,
die Bernhard Jussen für das Spätmittelalter postuliert, ist hier nicht zu erkennen – wohl aber die
Kirchengeschichte Hamburgs, 8). Über die patrizische Anbindung der Franziskaner in Hamburg auch Grabert-Koch,
Minderbrüder in Hamburg, 261–285.
50 Zusammenfassungen der Forschungslinien etwa bei Hans-Christoph Rublack, Reformation und Moderne.
Soziologische, theologische und historische Ansichten, in: Guggisberg, Hans R. (Hrsg.), Die Reformation in Deutschland
und Europa. Interpretationen und Debatten. Beiträge zur gemeinsamen Konferenz der Society for Reformation Research
und des Vereins für Reformationsgeschichte, 25. - 30. September 1990, im Deutschen Historischen Institut,
Washington, D.C. = The reformation in Germany and Europe. Gütersloh 1993, 17–38.; speziell für die norddeutschen
Städte Hoffmann, Soziale Differenzierung, 166-168.
51 Vgl. die programmatische Einleitung von Bernhard Jussen/Craig Koslofsky, "Kulturelle Reformation" und der Blick auf
die Sinnformationen, in: ders./Koslofsky, Craig (Hrsg.), Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400 1600. Göttingen 1999, 13–27.
14
Veränderung der jeweiligen Ordnungen .Die moralische Ordnung erscheint weiterhin als die
übergeordnete, primär geltende, der sich die soziale Ordnung anzupassen hat. Wie zu zeigen sein
wird, ist es vor allem diese soziale Ordnung, die durcheinander gerät, unter anderem aufgrund
einer zunehmenden Betonung von egalitär-christlicher anstelle von standesspezifischer Moral.
Laiendidaktische Texte, wie Dekalogauslegungen, Beichtanweisungen und Betrachtungen über
Glaubenswahrheiten bilden damit eine thematische und formale Folie für alle anderen Textsorten,
sie geben den Rahmen für „das gute Leben“ vor. 52 Die Laiendidaxe ist eine mächtige diskursive
Formation, die die Organisation von Aussagen in anderen Textsorten und semantischen und
diskursiven Feldern bestimmt – eine Art Master-Diskurs, die einen zentralen lutherischen
Gedanken, nämlich den der eigenen Verantwortung für das Heil durch Bildung, vorwegnimmt.
Vnde is nutte allen sympelen godes deneren, wente nicht wol kann ein mynsche dat lef hebben
dat he nicht en kennet, heißt es im Laienspiegel53, und diesem Grundsatz scheint sich auch ein
Bereich der Unterhaltungsliteratur verschrieben zu haben: die Lübecker Fastnachtsspiele, die etwa
seit 1480 mehr und mehr didaktischen Charakter hatten, wobei religiöse Unterweisung mit
moralischen Vorgaben gekoppelt waren.54
Der Text: ein Fastnachtsspiel?
Das Henselyns bok ist nur in einem einzigen Druck erhalten, der im Jahr 1498 aus der Lübecker
Mohnkopfdruckerei
kam.55
Die
Inkunabel
liegt
in
der
Hamburger
Staats-
und
Universitätsbibliothek unter der Signatur Scrin 175 g.56 Wie die für die Jahre 1430 bis 1515
erhaltenen Spiellisten belegen, wurde 1484 ein Spiel mit dem Titel Van der rechtferdicheyt von
Georg Steer, Zum Begriff "Laie" in deutscher Dichtung und Prosa des Mittelalters. In: Grenzmann, Ludger;
Stackmann, Karl (Hg.): Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion
Wolfenbüttel 1981. Stuttgart 1984 (Germanistische Symposien, Berichtsbände, 5), 764–768.
53 Speygel der Leyen. Neuausgabe eines Lübecker Mohnkopfdruckes aus dem Jahre 1496, hrsg. v. Pekka Katara, Helsinki
1952, 3.
54 Das schließt aus den Titeln der Spiele der Lübecker Zirkelgesellschaft C. Walther, Über die Lübecker Fastnachtsspiele,
in: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 6, 1880, 6-31. Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts habe die
dramatische Umsetzung von Sagenstoffen überwogen, während danach moralische Stücke und Sentenzen zunahmen.
Die Titel der Stücke ediert nach der Überlieferung im Administrationsbuch der Zirkelgesellschaft aus den Jahren 14301515 Wehrmann, Fastnachtsspiele der Patrizier in Lübeck, in: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung
6, 1880, 1-5.
55 Die zahllosen Theorien zu dieser Offizin fasst zusammen Timothy Sodmann, Die Druckerei mit den drei Mohnköpfen.
In: Damme, Robert (Hg.): Franco-Saxonica : münstersche Studien zur niederländischen und niederdeutschen Philologie
; Jan Goossens zum 60. Geburtstag. Neumünster 1990, S. 343–360.
56 Entdeckt und teilweise ediert wurde der Text von Carl M. Wiechmann, Henselyns Bok, in: Serapeum 23 (1862), Heft
12, S. 177-185. Leider edierte Wiechmann nur Einleitungs- und Schlussmonolog vollständig und traf ansonsten eine
Auswahl aus den Dialogen, die er durch eine eigene Paraphrasierung der dazwischen liegenden Textteile ergänzte.
52
15
der Lübecker Zirkelgesellschaft zu Fastnacht aufgeführt.57 Gleichzeitig ist es aber vorschnell, wie
die ältere germanistische Forschung das Henselyns bok als wörtliche Vorlage für das gleichnamige
Fastnachtsspiel zu behandeln.58 Tatsächlich gibt es im Text selbst keinerlei Hinweis darauf, dass er
auf eine theatralische Vorführung angelegt sei, und gibt auch keine Hinweise auf einen etwaigen
Verfasser. Es ist nicht gesagt, dass der Text, der in der Spielliste der Gesellschaft genannt ist, exakt
derselbe ist wie der des Druckes, es scheint sogar eher unwahrscheinlich. Zudem ist davon
auszugehen, dass der Druck auch über Lübeck hinaus distribuiert wurde, und bei nicht-lokalen
LeserInnen war die Anbindung an die Fastnachtsspiele nicht ohne weiteres vorauszusetzen, da der
Auftritt eines Narren allein lediglich auf einen satirisch-humoristischen Zusammenhang verweist,
nicht auf die Fastnacht.59 Da die katholische Kirche ein mehr als ambivalentes Verhältnis zur
Fastnacht und den damit verbundenen Spielen hatte und auch die Narrenliteratur nicht als
explizit klerikales Feld angesehen werden kann, ist also die Anbindung des Henselyns bok an eine
bestimmte gesellschaftliche Gruppe nicht ohne die Textanalyse zu leisten - trotz des religiösdidaktischen Themas und der immer wieder konstatierten Anbindung der Mohnkopf-Offizin an
klerikale Gruppen, genauer gesagt entweder „franziskanische Kreise“ oder die „Brüder vom
gemeinsamen Leben“.60
Die Inkunabel besteht aus 12 Quartblättern, vorne und hinten bedruckt und von 1-24 paginiert.
Vereinzelt finden sich handschriftliche Vermerke unten auf den Blättern, die deutlich machen,
mit welcher Zeile es auf der nächsten Seite weitergehen soll – eine Sortierungshilfe also. Fünf
Holzschnitte, drei am Anfang und zwei am Ende des Textes, zeigen Henselyn und andere Narren
57
C. Wehrmann, Fastnachtspiele der Patrizier in Lübeck, in: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung
6, 1880, 1–5.
C. Walther, Über die Lübeker Fastnachtsspiele, in: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 6, 1880,
6–31, der anhand der erhaltenen Titel recht kreativ auf die Erzählstoffe und Textvorlagen schließt; Ingeborg Glier,
Personifikationen im deutschen Fastnachtsspiel des Spätmittelalters, in: Deutsche Vierteljahresschrift für
Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 39, 1965.
59 Michael Kuper, Zur Semiotik der Inversion. Verkehrte Welt und Lachkultur im 16. Jahrhundert. Berlin 1993; Jean
Schillinger (Hg.) Der Narr in der deutschen Literatur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Kolloquium in Nancy
(13. - 14. März 2008) ; [die Beiträge dieses Bandes gehen aus dem im März 2008 vom "Centre d'Etudes Germaniques
Interculturelles de Lorraine" veranstalteten Kolloquium hervor]. Bern 2009.
60 Hubertus Menke, Die literarische Stadtkultur Lübecks um 1500. In: Berteloot, Amand (Hg.): Reynke de Vos - Lübeck
1498. Zur Geschichte und Rezeption eines deutsch-niederländischen Bestsellers ; [Ausstellung mit dem Titel: Die
Unheilige Weltbibel. Der Lübecker Reynke de Vos (1498 - 1998)] vom 28. Oktober bis zum 24. November 1998].
Münster, Hamburg, London 1998 (Niederlande-Studien; Kleinere Schriften, H. 5), S. 81–101, der ebenso wie die meisten
der zahlreichen Arbeiten über die Mohnkopfoffizin und den Lübecker Buchdruck im allgemeinen vor allem die
postulierte Verbindung zum Brüderkonvent vom gemeinsamen Leben betont und damit auch pauschal eine klerikale
Verfasserschaft für eigentlich alle Lübecker Drucke feststellt. Olaf Schwencke, Ein Kreis mitttelalterlicher
Erbauungsschriftsteller in Lübeck, in: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 88, 1965, 20–58,
wendet sich vor allem gegen die These, der Laie Hans von Ghetelen sei Bearbeiter vieler der Mohnkopf-Drucke, und
konstatiert statt dessen eine Gruppe von Franziskanern als Verfasser.
58
16
sowie den Vater und seine Söhne, die Hautpfiguren. Drei der Holzschnitte wurde aus dem zeitnah
in derselben Offizin erschienenen Narrenschyp des Sebastian Brant entnommen, ein weiterer aus
dem Dodes Dantz.61
Die Erzählung wird von dem Dichter des Buches eingeleitet und abgeschlossen, der auf die
Spieltradition und die Rolle des Narren im Spiel und in der Welt verweist. Er kündigt an, in
lustigen Worten ein ernstes Thema behandeln zu wollen: die Rechtfertigkeit in der Welt. Seine
Rede ist in strengen Knittelversen, also paarreimenden Zeilen mit je acht oder neun Silben,
verfasst. Versmaß und Reimform wechseln, sobald die eigentlichen Figuren des Stückes auftreten,
zu vierzeiligen Kreuzreimen mit variierender Silbenzahl.
Ein Vater, dem Sterben nahe, schickt seine drei Söhne aus, um ihr Testament einzuholen, die
Rechtfertigkeit. Sie sollen in Rom suchen. Der jüngste der drei bittet Henselyn, der ein Freund der
Familie zu sein scheint und den Vater ebenfalls mit „Vater“ anredet, mitzukommen, dieser stimmt
zu.
Die drei Söhne treffen in Rom den Papst und fragen ihn nach der Rechtfertigkeit, dieser aber
schickt sie freundlich weiter zum Kaiser, dieser zu den Kurfürsten und so weiter die Ständereihe
hindurch. Landsknechte, Bauern, Kleriker, Säufer, Frauen und Mönche verneinen jeweils, im
Besitz der Rechtfertigkeit zu sein. Die Söhne kehren nach Hause zurück, woraufhin der Vater
ihnen klar macht, dass die Suche nach der Rechtfertigkeit sein eigentliches Anliegen war, und
Henselyn beschreibt in einem großen Schlussmonolog das Gesuchte ex negativo anhand eines
Lasterkatalogs und damit den von der Rechtfertigkeit ausgeschlossenen.
Eine moralisch-didaktische Ausrichtung des Textes ist unverkennbar und scheint, nach den
bisherigen Forschungen zu den Lübecker Fastnachtsspielen, in diesem Rezeptionszusammenhang
durchaus zeittypisch zu sein. Für die spätmittelalterlichen deutschen Fastnachtsspiele sind im
Wesentlichen nur Nürnberg und Lübeck als Herkunftsorte belegt, und die Spiele der beiden
Städte unterscheiden sich grundlegend: Während die Nürnberger Spiele in den Handwerksgilden
angesiedelt sind und derb-komische Thematiken bevorzugen, stammen die erhaltenen Lübecker
Spiele aus der patrizischen Zirkelgesellschaft, in der besonders moralisch-didaktische Zwecke in
Eine nicht nur formale, sondern auch inhaltliche Nähe zum Totentanz bescheinigt dem Henselyns bok Birgit Schulte,
Das Henselyns boek als Erbauungsschrift. Versuch einer Interpretation. In: Damme, Robert (Hg.): Franco-Saxonica :
münstersche Studien zur niederländischen und niederdeutschen Philologie ; Jan Goossens zum 60. Geburtstag.
Neumünster1990, S. 319–342.
61
17
Stücken mit historischem oder biblischem Inhalt verfolgt wurden.62 Henselyn passt insofern von
der Intention her gut, vom Setting her aber schlecht in die Lübecker Fastnachtstradition.
Eckehard Catholy hat, ausgehend von ober- und niederdeutschem Material und exeemplarisch
anhand eines Spiels aus dem Erzählstoff von Salomon und Marckolf, Kennzeichen der deutschen
Fastnachtsspiele herausgearbeitet. Er charakterisiert das Henselyns bok selbst nicht als
Fastnachtsspiel, wenngleich einige seiner Merkmale auf den Text zutreffen63: eine gedrängte
Form, die Personen haben keine Geschichte, sondern erhalten diese nur durch die Bezeichnungen
und ihr Agieren im Spiel, es fehlt an drastischen und obszönen Handlungen, die Frauenschelte ist
ein wesentlicher Bestandteil, und am Ende wird eine Anbindung der Handlung an die Lebenswelt
der Zuschauer/Leser geleistet.64
Bezogen auf die dialogische Grundstruktur und die darin agierenden Personen ist das Henselyns
bok jedoch noch weitergehend zu charakterisieren, nämlich als Ständetext.65 Ähnlich wie in den
Totentanztexten ist die Grundstruktur des Textes von der Idee geprägt, dass ein feststehender
Gesprächspartner – im Totentanz der Tod, hier die drei Brüder und Henselyn – in einer
absteigend hierarchischen Ordnung Vertreter von Ständen und Gruppen besucht. Wenn es auch
im Spätmittelalter an systematischen Ausformungen der Sozialordnung fehlt, so ist hier doch eine
pragmatische Umsetzung gegeben: Die literarischen Texte bieten eine Beschreibung der
Gesellschaft, das übergeordnete didaktische Ziel der Dichtung zeigt, dass diese Beschreibung
tendenziell nach Vollständigkeit strebt, um sich als universell und wirksam darzustellen. Die
Darstellung der Ständevertreter, ihre Positionierung im Drama und ihr Verhalten sind darauf
angelegt, eine schematische Wahrnehmung gesellschaftlicher Gruppen exemplarisch und satirisch
überhöht umzusetzen. Durch Rückgriffe auf bestehende Stereotypen und Interdiskurse werden
diese schematischen Vorstellungen abgerufen und reproduziert. Das Henselyns bok soll deshalb
Die komparativen Untersuchungen bauen auf Adelbert von Keller, Fastnachtsspiele aus dem fünfzehnten
Jahrhundert. (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart, Bd. 46.) Stuttgart 1858, ND Darmstadt 1966. Vgl. auch
bei Walther, Lübeker Fastnachtsspiele, 6-8.
63 Eckehard Catholy, Das Fastnachtspiel des Spätmittelalters. Tübingen 1961, passim.
64 „Uth dessem gedichte mach men nehmen (dem dat belevet) etlike sproke und figuren, de up laken tomalen, efte
andere kamere myt tho zyren [...] allen wor se komen und na der rechtferdicheyt fragen und scholen den gecke
Henselyn by syvke hebben in geckes und doren klederen. Welkor geckes kledere nu doch vele dregen.“ [Aus diesem
Gedicht soll man nehmen (wem es beliebt) etliche Sprüche und Figuren, die man auf Laken malen kann, um damit seine
Kammer zu zieren [...] Alle, die kommen, um nach der Rechtfertigkeit zu fragen, sollen den Narr Henselyn bei sich
haben, in den Kleidern eines Gecken und Toren. Wo doch die Kleider des Narren heute viele tragen.] Henselyn, p. 2223.
65 Eine ähnliche Lesart schlägt für das älteste erhaltene dänische Fastnachtsspiel vor Leif Søndergaard, Fastelavnsspillet i
Danmarks senmiddelalder. Om 'Den utro hustru' og fastelavnsspillets tradition. (Odense University studies from the
Medieval Centre, 2.) Odense 1989, 9.
62
18
hier als Ständedialog gelesen werden – wobei damit nicht eine neue Gattungseinteilung
vorgesehen ist, sondern nur ein anderer Blickwinkel auf eine moralisch-didaktische Dichtung aus
dem Bereich der Narrenliteratur.
Hierarchische Ordnungen 1: Die Familie
Die Dialoge werden durch hierarchische Ordnungen strukturiert, deren außerliterarische Existenz
unbestritten ist. Zunächst wird die familiäre Hierarchie eingeführt: Der Vater befiehlt seinen drei
Söhnen, und diese beteuern nacheinander ihren Gehorsam und ihren Willen, dass sie den Auftrag
verstanden haben und in der Lage sind, ihn zu erfüllen. Dass die Brüder noch unse Henselyn, de
geck mitnehmen wollen und dieser sich auch der familiären Hierarchie unterwirft, entspricht der
Familie, die in den meisten der laiendidaktischen Schriften der Zeit vorgesehen scheint, dort wird
meist du, deine Kinder und dein Gesinde angesprochen, also ein Hausherr, der für sich und seine
Untergebenen, ob blutsverwandt oder nicht, verantwortlich ist.66
Durch ihre konstante Präsenz in der gesamten Handlung bekommen die drei Brüder besonderes
Gewicht. Dabei fällt auf, dass die Geschwister hier eher als Metapher denn als wirkliche Brüder
auftreten, denn sie lassen keinerlei charakterliche Unterschiede oder Rollen erkennen. Meist
ergeben ihre in immer gleicher Reihenfolge vorgetragenen Beiträge gemeinsam eine Aussage,
etwa „wir wissen hier nicht weiter“ oder „lasst uns folgendermaßen weitermachen“. Keiner der
Brüder lässt jedoch ein größeres Maß an Wissen oder Weltgewandtheit erkennen als die andren.
Damit bilden die drei eine Einheit, die dem geschwisterlichen Zusammenleben in der
spätmittelalterlichen Stadt kaum entsprochen haben dürfte, schon gar nicht in einer so delikaten
Angelegenheit wie dem Erbe, das sie ja gemeinsam antreten sollen.67
Die Brüder, die wie eine Person auftreten, verweisen auf einen neuralgischen Punkt in der
mittelalterlichen Ideologie, an der sich christliches Gleichheitsideal und gottgewollte Harmonie in
Vgl. etwa die Anreden in den Dekalogauslegungen in Der Leyen Doctrinal, Lübeck; Eine gottliche gute lere allen
mynschen, Lübeck 1492. Eine zusammenfassende Beschreibung und teilweise Edition spätmittelalterlicher
66
Dekalogauslegungen bei Johannes Geffcken, Der Bildercatechismus des fünfzehnten Jahrhunderts und die
catechetischen Hauptstücke in dieser Zeit bis auf Luther. Bd. 1: Die Zehn Gebote. Leipzig 1855.
67 Gabriela Signori, Geschwister. Metapher und Wirklichkeit in der spätmittelalterlichen Lebenswelt, in: Historical
social research 30, 2005, 15–30, konstatiert für das spätmittelalterliche Basel, dass erwachsene Geschwister nur in
Notfällen – etwa Krankheit – gemeinsam oder bei ihren Eltern lebten und dass aus der Gerichtspraxis gerade die
Erbfolge leiblicher, adoptierter und unehelicher Kinder immer wieder Gegenstand für Auseinandersetzungen war.
19
der Ungleichheit treffen.68 Geschwister sind einerseits gleich, mit Bruder oder Schwester werden
nahe
Freunde
und
Gemeindemitglieder.
Alliierte
angesprochen, Brüder
Gleichzeitig
sind
Geschwister
und
durch
Schwestern
die
sind
Geburtsfolge
auch
an
die
ganz
unterschiedlichen Stellen in der hierarchischen Ordnung angesiedelt und stehen so faktisch in
Konkurrenz zueinander. Dass dieser realistische Aspekt des brüderlichen Verhältnisses im
Henselyn so gar keine Rolle spielt, weist darauf hin, dass die Familie hier nur den Rahmen
vorgibt, dass e aber im Grunde um die standesspezifische Ethik und Solidarität geht – denn die
Brüder sind nicht nur leibliche Brüder, sondern auch Angehörige derselben Gesellschaftsschicht
und füllen als solche ihre Rolle im Text aus.
Die Familie wird in soziologischen Theorien als der Schlüsselort für soziale Stratifikation
angesehen, wobei der Zugang zu standesspezifischen Privilegien für Männer und Frauen stark
unterschiedlich ist.69 Die Familie des Henselyns bok ist nicht nur eine patriarchale, sondern eine
rein männliche, und deutet damit das Ausmaß der Exklusion der Frauen auf der moralischideologischen Ebene aus der spätmittelalterlichen Gesellschaft an. Während in der rechtlichen
und ideologischen Setzung sowohl des kanonischen als auch des germanischen Rechts die Stellung
der Ehegatten zueinander eine von wechselseitigen Rechten und Pflichten ist, spielen die Frauen
in der Logik der Ständeordnung keine Rolle. Entsprechend ist in der Familienaufstellung des
Henselyn auch keine Mutter vonnöten, denn ebenso wie die ganz gleichen Brüder verweist die
Ordnung der patriarchalen Familie hier nur auf eine andere Ordnung, die im Rahmen der Suche
nach Gerechtigkeit weit wichtiger erscheint.
Die drei Brüder und ihr Vater, die die Rahmenhandlung zu den Hauptpersonen des Textes macht,
nehmen innerhalb der spätmittelalterlichen Gesellschaftsordnung eine differenzierte Stellung ein:
Sie verfügen über einen gewissen Reichtum, so dass ihnen das Reisen möglich ist; weiterhin über
eine Ausbildung, die sie weltgewandt macht, und schließlich wird ihnen die Macht zugewiesen,
sich selbständig und ohne priesterliche oder professionelle Vermittlung mit einer theologischen
oder juristischen Frage auseinanderzusetzen. Damit haben sie Zugang zu ökonomischer und
ideologischer Macht und repräsentieren die Ansprüche des gehoben städtischen Patriziats auf die
Ute von Bloh, Unheilvolle Erzählungen. Zwillinge in Geschichten des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Müller, Jan-Dirk
(Hrsg.), Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten
Mediävistik ; [Kolloquium zum Thema "Text und Kontext - Fallstudien und Theoretische Begründungen einer
Kulturwissenschaftlich Angeleiteten Mediävistik" vom 12. bis 14. Juli 2003 im Historischen Kolleg München]. (Schriften
des Historischen Kollegs; Kolloquien, 64) München 2007, 3–20, ebd. 19.
69 Stephen Rigby, Approaches to Pre-Industrial Social Structure, in: Denton, Jeffrey (Hrsg.), Orders and hierarchies in
late medieval and Renaissance Europe. (Problems in focus) Basingstoke 1999, 6–25, ebd. 17.
68
20
traditionell adligen Privilegien. Die antiklerikale Tendenz, die in der Heilssuche ohne
sakramentale Vermittlung angelegt ist, wird in der übergeordneten Ordnungsvorstellung, der
Ständereihe, noch verstärkt.
Hierarchische Ordnungen 2: Die Ständeordnung
Das 4. Gebot, das die Verehrung der Eltern festlegt, wurde in Dekalogauslegungen im 15.
Jahrhundert immer öfter kombiniert mit dem Gebot, auch den Prälaten und der weltlichen
Obrigkeit zu gehorchen, eine Reihung, die später in der lutherschen Ständelehre kulminiert.70 Die
im Henselyns bok vorgegebene erste hierarchische Ordnung, die Familie, ist damit eng mit der
zweiten hierarchischen Ordnung, die die Dialoge strukturiert, verbunden: einer zeitgenössischen
Ständereihe. Der Vater hatte Rom als Reiseort befohlen, und dort suchen die Brüder zuerst den
Papst auf. Dieser antwortet auf ihre höfliche Anfrage, ob bei ihm die Rechtfertigkeit zu finden sei,
ebenso höflich und mit dem Hinweis, dass er sie an den Kaiser geschickt habe. Diese Konstellation
zieht sich weiter: Die Brüder und der hier stumme Henselyn werden von jedem
Ständerepräsentanten weitergeschickt zum nächsten mit dem Hinweis, dass die Rechtfertigkeit
gewissermaßen ihren Weg durch die Befehlskette genommen habe, wobei nach der Abgabe von
Papst an Kaiser zunächst nur die weltlichen Befehlsempfänger vorkommen. Der Weg der
Rechtfertigkeit spiegelt damit eine mittelalterliche Vorstellung von der Verbindung von Macht
und Ordnung wider: Sie kommt von Gott und wird über seinen Stellvertreter auf Erden
weitergegeben an die Repräsentanten der Macht, die stufenweise immer ein bisschen weniger
davon abbekommen, aber dennoch alle an der göttlichen Ordnung teilhaben und deshalb mächtig
sind.
Die einzelnen Dialoge lassen die Söhne jeweils als eine Person auftreten und geben sie als
gebildete, weltgewandte Männer zu erkennen – jeder Standesvertreter wird mit einer spezifischen
Anrede und seinem Titel begrüßt und mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt. Die sorgfältig
abgestuften Anreden, von Hylge vadder un werdichste up erden für den Papst über hochgeborne
forsten und guden stalbroders bis hin zu yw erbaren fruwen, erinnern an die zeitgenössischen
Ratgeber für standesgemäße Anreden.71 Die jungen Männer präsentieren sich damit als gewandte
70
71
Maurer, Luthers Lehre, 13-18.
Etwa das Büchlein der Titel aller Stände, Magdeburg 1490, GW 0570120N, in dem für alle erdenklichen Adressaten
und Adressatinnen passende Briefanfänge und -abschlüsse aufgeführt sind. Der Text ist auch in mehreren
oberdeutschen Varianten und Inkunabeldrucken überliefert.
21
Meister der sozialen Interaktion in einer immer komplizierter werdenden Welt. Ihre
vorherrschende Gesprächsstrategie, die Höflichkeit, erscheint hier als eine Möglichkeit, ihre
Überlegenheit zu manifestieren, zusätzlich zu ihrer Position als diejenigen, die immer das
Gespräch initiieren und das Thema vorgeben. Selbst vom Vater ausgeschickt, scheint sich seine
Dominanz und Macht auf die in seinem Auftrag handelnden Söhne zu übertragen.
Die Standesvertreter wiederum sind jeweils auch nicht eine Person, sondern eine unbekannte
Anzahl von Fürsten, Soldaten und Bauern, die kollektiv mit einer Stimme antworten. Ihre
Markierung als soziale Gruppe funktioniert zunächst durch die Überschriften der einzelnen
Kapitel, die mit den Anreden durch die drei Brüder korrespondieren: „De ghesellen to den forsten:
Hochgeboren forsten und alle gy heren [...]“ Die Antwort darauf ist folgerichtig überschrieben mit
„De forsten“. Die Zuweisung zu einer sozialen Gruppe geschieht also auf mehreren Ebenen:
Zunächst wird eine Statusbezeichnung eingeführt, die die drei Brüder dann ausagieren, indem sie
die Dialogpartner/innen entsprechend anreden. Dann wird die Statusbezeichnung auf der
paradialogischen Ebene wieder aufgenommen, und in einigen Fällen affirmieren die
Angesprochenen diese in ihren Dialogbeiträgen. Der Kaiser etwa antwortet: unsen rederen ok
korforsten des hilgen rykes / is de rechtferdicheyt in bevele ghedaen; die Bauern bezeichnen sich
selbst als de lude. Insgesamt jedoch ist die Statusmarkierung in den Antworten der Ständevertreter
am schwächsten, sie scheint für die Leser/innen bereits ausreichend durch die Anreden geleistet
worden zu sein. Die drei Brüder dagegen werden immer nur als ghesellen angesprochen, ein
Ausdruck, der statusunspezifisch für Brüder, Genossen, Kameraden, Saufkumpane etc. benutzt
wurde. Sie werden damit von den Dialogpartnern keiner bestimmten gesellschaftlichen Gruppe
zugeordnet, und dies scheint für die Textlogik auch nicht notwendig zu sein – die drei und
Henselyn sind ohnehin diejenigen, die den Handlungsverlauf steuern.
Die
Statusmarkierungen
der
Dialogpartner
geschehen
völlig
bruchlos,
keine/r
der
Angesprochenen sagt, er sei etwa kein Ritter oder Säufer. Es geht also im Henselyns bok nicht
grundlegend um eine Verwirrung der sozialen Hierarchie, um falsche Erkennungsmerkmale
derselben o.ä.72 Es kommt also kein soziales „cross-dressing“ vor.
Während die höchsten Repräsentanten, Papst, Kaiser und Kurfürsten, die Söhne direkt
ansprechen und sie freundlich auf die Befehlskette hinweisen, ändert sich der Ton bei den
Es wäre interessant zu untersuchen, ob es überhaupt literarische Beispiele für eine falsche Statuszuordnung im
Spätmittelalter gibt, wie sie etwa für die Geschlechterrollen mehrfach belegt sind. Frauen, die sich als Männer
verkleiden und die entsprechenden sozialen Rollenmuster einwandfrei erfüllen, sind aus Heiligenlegenden ebenso
belegt wie etwa aus Boccaccios Decamerone.
72
22
Landvögden. Diese werten das Vorhaben der Söhne ab, weisen sie zurecht und zeigen sich
insgesamt hochnäsig und überlegen.73 Ihre gleichzeitige Bezugnahme auf alte Zeiten, in denen die
Rechtfertigkeit vielleicht einmal bei ihnen gewesen sei, zeigt einen ähnlichen Bezugspunkt wie
die zeitgenössische Tugendadel-Literatur, in der die alleinige Befähigung des Adels zur Herrschaft
qua Geburt dadurch untermauert werden sollte, dass dem gesamten Stand ein ebenfalls höheres
Moralempfinden zugesprochen wurde.74 Die Tugendadel-Literatur drückt damit, ebenso wie das
Henselyns bok, Trauer über eine angeblich einmal vorhandene, nun aber verlorene
Gesellschaftsordnung aus – denn das Verhalten des hohen wie niederen Adels im Dialog mit den
drei Brüdern weist den Adel explizit nicht als besonders tugendhaft aus. Die Landsknechte und
Ritter, die nächsten Adressaten, wehren erstmal ab und bezichtigen, wer auch immer die Söhne
geschickt hat, der Lüge, verweisen dann aber an die Bauern – diese sind, entsprechend dem
gängigen Ständestereotyp75, völlig unwissend und fluchen obendrein: ya, so sla uns wol de olde
mord.
An dieser Stelle, dem unteren Ende der Ständereihe, greift erstmals Henselyn ein. Er
kommentiert, die Rechtfertigkeit sei wohl früher bei den Bauern gewesen, nun aber außer Landes
gereist. Er führt damit zwei wesentliche Referenzpunkte ein, die noch öfters im Text vorkommen:
die olden dage, die alte Zeit, in der Gerechtigkeit geherrscht habe, und die fremden Länder, in
denen die Situation entweder viel besser oder viel schlechter aussehe.76 Henselyn ist es auch, der
an dieser Stelle die Fortsetzung der Reise im Rahmen der Ständeordnung ablehnt: Der zweite
Bruder schlägt vor, in die Städte zu reisen und die Bürger und Kaufleute zu befragen, Henselyn
aber verweist auf die gängige Wucherpraxis bei diesen und rät, die Geistlichkeit zu besuchen. Der
weitere Verlauf zeigt jedoch, dass er diesen Vorschlag von Anfang an für aussichtslos hält, denn
danach wollen die Brüder weiter zu den Mönchen ziehen, Henselyn aber schlägt zuerst die Säufer,
dann die Frauen vor, bevor die Mönche als letzte Ständevertreter übrig bleiben.
Gheselen, yuwe werff is nicht vele werd / jodoch wyl wy yw wysen to rechte / de Rechtferdicheyt hebbe wy noch
nicht ghelerd / se is wech ghereyset, manckt de rutere und landesknechte. Henselyn , p. 8.
74 Volker Honemann, Aspekte des "Tugendadels" im europäischen Spätmittelalter. In: Grenzmann, Ludger; Stackmann,
73
Karl (Hg.): Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981.
Stuttgart 1984 (Germanistische Symposien, Berichtsbände, 5), 274–286.
75 Hélène Feydy, Zum Bild des Bauern von Brant bis Dürer: Satirische Perspektiven des Ordo mundi, in: Simpliciana 22,
2000, 91–128; Herwig Ebner, Der Bauer in der mittelalterlichen Historiographie. In: Appelt, Heinrich (Hg.): Bäuerliche
Sachkultur des Spätmittelalters. Internationaler Kongress, Krems an der Donau, 21. bis 24. September 1982. 2.,
unveränd. Aufl. Wien 1997 (Veröffentlichungen des Instituts für Mittelalterliche Realienkunde Österreichs, 7), 92–123;
Helga Schüppert, Der Bauer in der deutschen Literatur des Spätmittelalters - Topik und Realitätsbezug. In: ebd., 125–
176.
76 Vgl. gleich darauf der Hinweis Henselyns, dass die Wucherpraxis in den Städten der Lombardei wesentlich schlimmer
ausgeprägt sei als hier zu Hause.
23
Die
Reihung
der
Ständevertreter
spiegelt
die
Konfusion
in
der
mittelalterlichen
Gesellschaftsordnung wider. Es ist hier nicht die funktionale Dreiteilung oratores, bellatores,
laboratores, die die Reise der Brüder bestimmt, auch nicht ihre pragmatische Erweiterung um die
Kaufleute und Richter, wie sie in vielen spätmittelalterlichen Ständetexten vorkommt.77 Die
Ständereihe im Henselyn zeichnet vielmehr eine direkte absteigende Linie der Macht, von ganz
oben nach ganz unten, aus der Weltklerus, Mönche und Kaufleute ausgenommen sind und die nur
aus Männern besteht. Die klare Linie, die die weltliche Macht von oben nach unten nimmt, und
die Stellung außerhalb davon, die Klerus, Mönche, Säufer und Frauen einnehmen, macht den
sozialen Referenzpunkt des Textes deutlich: eben jene Kaufleute, deren Besuch sich laut Henselyn
nicht lohnt, sind es, für die die weltliche Machtkette die entscheidende ist, der sie jedoch nicht
direkt unterworfen sind, der sie aber dennoch näher stehen als den Geistlichen, von deren Welt
sie recht weit entfernt scheinen. Sie sind es, denen die Verfehlungen der anderen Stände
vorgeführt werden, ohne jedoch eine Selbstverortung vorzunehmen.
Die Reihenfolge, in der die auftretenden Personen miteinander sprechen, wird also nacheinander
von drei hierarchischen Ordnungen bestimmt: der Familie, der (weltlichen) Ständeordnung und
einer dritten, die ich Tugendordnung nennen möchte. Diese Tugendordnung, in der zunächst
Säufer und Frauen, dann Kleriker und Mönche stehen, wird in der Textlogik von Henselyn
induziert und ist damit satirisch gebrochen. Gleichzeitig rückt sie auf subtile Weise diejenigen ins
Blickfeld, die in diesem Diskurs außerhalb der weltlichen – und damit nützlichen –
Ständeordnung stehen, es sind diejenigen, die nur profitieren und verzehren, ohne
gesellschaftlichen Nutzen oder Waren zu produzieren. Vor allem diese Personen, die die
Textordnung als außerhalb stehend definiert, sind kaum in der Lage, auf die Frage der Söhne
einzugehen, sie haben eine völlig verzerrte Vorstellung von der gesuchten Rechtfertigkeit und
können sich nicht einmal auf die Befehlskette, in der diese weitergereicht wurde, beziehen.
Das diskursive Feld
Ebenso wie unterschiedliche Ordnungen die Struktur des Textes bestimmen, sind es auch
unterschiedliche Diskurse, die abgehandelt oder zumindest kurz berührt werden. Der diskursive
Rahmen wird bereits durch den Untertitel des Spiels eingeführt: Von der Rechtfertigkeit.
Rita Voltmer, Krämer, Kaufleute, Kartelle. Standeskritischer Diskurs, mittelalterliche Handelspraxis und Johannes
Geiler von Kaysersberg, in: Ebeling, Dietrich/Holbach, Rudolf/Irsigler, Franz (Hrsg.), Landesgeschichte als
multidisziplinäre Wissenschaft. Festgabe für Franz Irsigler zum 60. Geburtstag. Trier 2001, 401-445.
77
24
Rechtfertigkeit ist ein Begriff aus der Rechtssprache, der im Mittelniederdeutschen Eingang
sowohl in theologische Debatten, Bibelübersetzungen und die Alltagssprache gefunden hat.
78
Ursprünglich bezeichnet er den Status einer Person, für eine Gerichtsverhandlung bereit zu sein,
im Sinne von rechtschaffen und integer, weiterhin die Forderung an das Gericht, den Beteiligten
Recht zu tun, also gerecht zu urteilen. Lateinische Synonyme sind justus, aequus und integer. Im
theologischen Diskurs bezeichnet rechtfertig
den Menschen, der seine Rechnung mit Gott
beglichen hat – etwa Hiob, der einsieht, dass er nicht aus sich selbst heraus rechtfertig werden
kann, und in der spätmittelalterlichen Auffassung von Werkgerechtigkeit dann die Möglichkeit,
durch eine definierte Anzahl von frommen Werken die begangenen Sünden auszugleichen.79 Die
im Henselyns bok gestellte Frage, wo denn die Rechtfertigkeit zu finden sei, greift insofern eine
höchst virulente alltagsjuristische und theologische Frage auf und beantwortet sie gewissermaßen
im reformatorischen Sinne: niemand kann aus sich selbst heraus rechtfertig werden, nur das
stetige Streben danach und Gottes Gnade rechtfertigen beim Gericht. Dieser eschatologische
Bezugspunkt wird im Text mehrmals von Henselyn eingebracht und am Ende noch einmal in
Form eines Holzschnitts mit einem Totenschädel auf den Punkt gebracht.
Eine dritte Bedeutungsebene des Wortes verweist auf die weltliche Seite des RechtfertigkeitsDiskurses: Die richtige, weil gerechte Ordnung der Gesellschaft, und genau diese wird im
Henselyns bok diskursiv anders beantwortet als in den meisten Traktaten und didaktischen
Texten, die die Ständeordnung behandeln. Das Henselyns bok qualifiziert sich damit als ein Text,
in dem signifikante Aussagen über die Sozialordnung getroffen werden, wobei er sich nicht auf
eine diskursive Ebene beschränkt, sondern die juristischen, theologischen und soziologischen
Teildiskurse gemeinsam abhandelt. Diese Verschränkung von unterschiedlich gewichteten
Teildiskursen in ein und demselben Text scheint charakteristisch zu sein für die
spätmittelalterliche didaktische Unterhaltungsliteratur, die jedoch sämtlich gewissermaßen als
diskursive Master-Frage die Sozialordnung diesseits und jenseits des jüngsten Gerichts, also
Streben nach einer gerechten Welt und Heilsstreben, aufweist.
Darunter werden noch andere, tagesaktuelle Fragen abgehandelt: der Ständediskurs, der
Tugenddiskurs und der Geschlechterdiskurs. Die Behandlung des Ständediskurses ergibt sich, wie
Schiller-Lübben, Mittelniederdeutsches Wörterbuch Bd. 3, 436; auch die Belegstellen bei Grimm, Deutsches
Wörterbuch Bd. 14, 410-418; die Synonyme und die begriffliche Überschneidung mit dem religiösen Begriff
Rechtfertigung im Deutschen Rechtswörterbuch.
79 Arnold Angenedt/Thomas Braucks/Rolf Busch/Thomas Lentes/Hubertus Lutterbach, Gezählte Frömmigkeit, in:
Frühmittelalterliche Studien 29, 1995, 1–71.
78
25
oben gezeigt, primär aus der Art und Reihenfolge, in der die Personen miteinander sprechen. Sie
agieren eine originelle Ständeordnung, die um die „unnützen“ Elemente bereinigt und dennoch
nicht vollkommen säkularisiert ist – der Papst als oberstes Glied bleibt, Weltklerus und Mönche
fallen heraus. Auch die Kaufleute, Bürger und Richter haben keinen festen Platz in dieser
Ordnung, die weder auf der funktionalen Dreiteilung noch der eschatologischen Teilung in
Jungfrauen, Verheiratete und Witwen entspricht. Das Henselyns bok organisiert einen
Ständediskurs, der auf das Auseinanderbrechen der alten Ordnung ohne bisher angedeutete
Alternative hinweist: Die Geistlichkeit hat ihre Funktion für die Gesellschaft verloren, die
Stadtbürger und Kaufleute haben keinen angemessenen Platz darin gefunden, und der alten
Ordnung mangelt es an Legitimation. Das war durchaus nicht immer so, denn es gibt zahlreiche
positive Bezüge auf die alte Zeit – die jedoch unwiederbringlich vorbei ist. Angesichts der
kommunikativen Situation des Textes nicht verwunderlich, sind nur die Kaufleute völlig von der
allumfassenden Kritik an der herrschenden Ordnung ausgenommen, die Söhne treffen keinen
Vertreter der eigenen Gesellschaftsschicht, um noch weiter desillusioniert zu werden. Der
Ständediskurs wird hier weniger mit einer vagen Hoffnung auf eine bessere Ordnung versehen als
von einer impliziten Arroganz getragen, dass sich die eigene Schicht gewissermaßen jenseits jeder
Kritik befindet.
Zu dieser Abhandlung des Ständediskurses passen zwei Teildiskurse aus dem Text: der
antiklerikale und der misogyne Diskurs. Beide werden in Form von Interdiskursen abgehandelt,
sie prägen nicht die grundlegende Ordnung des Textes, sondern werden bereits von der
dialogischen Ordnung an den Rand platziert. Beide Interdiskurse rekurrieren kurz auf offenbar
vorhandenes stereotypes Wissen: Kleriker plappern sinnloses Latein, sie leben nicht, was sie den
Laien predigen, sie reden ständig vom Gericht, jedoch ohne ein gutes Beispiel zu geben, sie sind
gänzlich im Bewusstsein der eigenen Bedeutung verfangen und stehen damit außerhalb der
nützlichen weltlichen Ordnung.80 Der misogyne Diskurs zeigt sich zunächst an der Abwesenheit
von Frauen im Feld der positiv besetzen weltlichen Ordnung, Ständevertreter sind immer
männlich. Die Frauen treten dann ohne jegliche weitere soziale Differenzierung, von Henselyn
vorgeschlagen, direkt nach den Säufern und Prassern auf und stehen damit im Zusammenhang mit
„De klosterlüde: [...] uns horet den Leyen rechtferdicheyt vortogeven / se straffen in ören böze seden un nuen sunden
/ dar ysaias in synen drydden van heft geschreven / placebo dorch Gunst heft nicht rechtferdicheyt, men part in den
sunden. De erste broder: Unse sökent is doch nicht vele bewant / nu wy se hir nicht hebben gefunden / de meysten
holden Rechtferdicheyt fur eyn tantt / sy hebbent gehort, se is vyl na der werlt verswunden.“ [Die Klosterleute: Es ist an
uns, den Laien Rechtfertigkeit vorzugeben / sie in ihren bösen Sitten und neuen Sünden zu strafen / wie Jesaia in seinem
dritten geschrieben hat ] Henselyn, p. 15.
80
26
den nicht-nützlichen Gliedern der Gesellschaft. Dem misogynen Diskurs wird im Vergleich zum
antiklerikalen Diskurs mehr Platz eingeräumt, denn an die Antwort der Frauen auf die Frage nach
der Rechtfertigkeit schließt sich ein kurzer Disput zwischen Henselyn und den Söhnen über die
rechte Behandlung von Frauen an. Die Frauen selbst tun im Dialog wenig, um eine so negative
Charakterisierung zu verdienen:
„I neen, das moge gy unse mansz umme fragen / de konen yw beth na wysen dan wy / men
secht, se is hir gewest in den olden dagen / uns dorve gy da nicht myt bedencken, wo deme
ok sy.“81
Sie verweisen zunächst darauf, man möge ihre Männer fragen, die alles besser wissen als sie selbst,
und beziehen sich, wie schon die Bauern vor ihnen, auf die alte Zeit, zu der die Rechtfertigkeit
wohl noch bei ihnen gewesen sei. Darauf reagiert Henselyn mit einer Auflistung misogyner
Stereotype: die Frauen wissen nichts über die wichtigen Dinge, sie hegen eine stete Gier auf
Neues, das, was sie für richtig halten, ist nichts als Sünde und Tand.82 Die Söhne geben ihm
grundlegend recht, fordern jedoch, die Frauen nicht insgesamt zu verdammen, sondern se
sachtmodigen straffen und leren. Den Söhnen, die als unerfahrene Jünglinge eingeführt werden,
wird hier qua Geschlecht Kompetenz über die Frauen zugeschrieben, die ohne eine weitere
Differenzierung nach sozialem Status, Alter oder Familienstand auskommt. Die Verortung der
Frauen und ihrer Verfehlungen in den oberen Gesellschaftsschichten wird jedoch dadurch
geleistet, dass sowohl die Söhne als auch Henselyn ihre Aussagen durch namentlich
ausgezeichnete Bibelstellen befestigen, nämlich den Propheten Jesaja und den Jacobusbrief. In
beiden geht es um den Hochmut der Reichen und die Eitelkeit der reichen Töchter Zion, die von
Gott erniedrigt werden und deren Gefallen über sich selbst Gottes Missfallen erregt.83
Interessanterweise ist die Stelle bei Jesaja 3,16-25 nicht explizit geschlechtsspezifisch
ausformuliert, sondern Mahnung des Propheten richtet sich an die höheren Stände und ihre
Henselyn, p. 13.
Dieselbe stereotype Behandlung der Frauen als Gruppe zeigt die niederdeutsche Bearbeitung des Reynke de Vos, hier
werden Frauen ebenfalls im Vorbeigehen als geschwätzig, neugierig und redegewandt darggestellt. Jan Goossens, Der
Verfasser des Reynke de Vos. Ein Dichterprofil. In: Berteloot, Amand (Hg.): Reynke de Vos - Lübeck 1498. Zur
Geschichte und Rezeption eines deutsch-niederländischen Bestsellers ; [Ausstellung mit dem Titel: Die Unheilige
Weltbibel. Der Lübecker Reynke de Vos (1498 - 1998)] vom 28. Oktober bis zum 24. November 1998]. Münster,
Hamburg, London 1998 (Niederlande-StudienKleinere Schriften, H. 5), 45–79. Zu den übrigen Bestandteilen des
misogynen Diskurses im Spätmittelalter siehe Daniela Hacke, Stadt, Hof und Schrift: Vom "streitbaren Dialog" der
Geschlechter im Europa des 15.-18. Jahrhunderts, in: Lundt, Bea/Salewski, Michael/Timmermann, Heiner (Hrsg.),
Frauen in Europa. Mythos und Realität. Münster 2005, 398–423.
83 „De ghesellen to Henselyn: Henselyn, dar is de rechte warheyt mede / umme den willen leth god de wird plagen / nye
homoth, nye sünde, nye dantze und trede / so Ysaias schreff in dennen olden dagen / jodoch schal men de fruwen nicht
vorachten / men se sachtmodigen straffen und leren [...]“ Henselyn, p. 14.
81
82
27
Frauen. Dies ist ein Beispiel dafür, wie der spätmittelalterliche misogyne Diskurs zunehmend
ursprünglich geschlechtsneutrale moralische Kategorien benutzte, um spezifisch weibliche
moralische Verkommenheit zu definieren.
Der Dialog mit und über die Frauen steht in der Textordnung im Zusammenhang mit dem Dialog
mit und über die Säufer und Prasser und verknüpft somit den misogynen mit einem
exemplarischen Tugenddiskurs. Die Säufer haben, ebenso wie die Frauen, eine ganz eigene
Vorstellung von der Rechtfertigkeit, denn sie halten sich, je betrunkener sie werden, selbst für
immer perfekter darin. Sie geben, ironischerweise, den Brüdern die einzige positive Antwort, die
sie auf ihrer Reise erhalten, was die Söhne bereits vermutet hatten: de drunckerde laten syk
suluen des dunncken/dat se rechtferdich syn wor se sytten [die Säufer lassen es sich selbst immer
so scheinen / als seinen sie rechtfertig, wo sie gerade sitzen] sagt der zweite Bruder noch vor dem
Dialog, und genauso kommt es.
Intertextualitäten
Gleichzeitig weist der Text Merkmale der laiendidaktischen und ständetheoretischen Schriften
des späten 15. Jahrhunderts auf: Die Schlussrede des Henselyn und die einleitende Rede des
Dichters
sind
in
monologisch-didaktischer
Form
gehalten
(direkte
Anrede
der
LeserInnen/HörerInnen, Interjektion merke)84 und behandeln eines der vorherrschenden Themen
der laiendidaktischen Literatur: das Streben nach jenseitigem Heil durch diesseitige gute Taten.
Der Dichter führt die rechtferticheyt als eine der größten Tugenden ein und bezeichnet sie als
eine Schuldigkeit, die der Mensch vor Gott hat. Gleichzeitig macht er deutlich, dass niemand
allein aufgrund seiner Taten gerecht werden kann, sondern die göttliche verzeihende Gnade ein
unverzichtbarer Bestandteil der Rettung ist. God is rechtferdich, iodoch barmhertig darby. Der
Dichtermonolog entwirft damit einen heilsgeschichtlichen Rahmen für das satirische Spiel und
erwähnt einige Haltepunkte der spätmittelalterlichen Alltagsfrömmigkeit: das Vaterunser, das
Gebot,
dem
Nächsten zu
vergeben,
ein herausragendes Beispiel
aus den üblichen
Tugendkatalogen, die Pflicht und Verantwortung gegenüber Gott und dem Nächsten. Jedoch folgt
die Verbindung der Schuldigkeit vor Gott mit der angestrebten Sozialordnung erst während des
Stückes, der Dichter selbst erwähnt keinerlei soziale Verantwortung oder konkrete
Der Dichtermonolog und der Henselyns-Monolog erfüllen alle Merkmale der dictio und admonitio bei Kästner in
seiner Typologie der mittelalterlichen Lehrdialoge: monologisch, asymmetrisch, kann in öffentlichem Rahmen
stattfinden, funktioniert auch ohne Einwürfe eines anderen Dialogpartners und verfolgt eine eindeutig geäußerte
ermahnende Absicht. Kästner, Mittelalterliche Lehrdialoge, 75-76.
84
28
Handlungsanweisungen, um die Rechtfertigkeit zu erlangen. Das tut dagegen der Narr Henselyn
in seinem Schlussmonolog: Er entwirft einen Lasterkatalog aus einer Reihe von Sprichwörtern
und Metaphern, der sich zunächst besonders gegen das Lügen und die leeren Worte, denen keine
Taten folgen, wendet. Weite Teile dieses Katalogs lesen sich wie die zeitgenössischen
Dekalogauslegungen zum achten Gebot, in denen regelmäßig unterschiedliche Formen des
Lügens, falsche Eide, falsche Zeugnisse, nicht eingehaltene Versprechen etc. genannt werden.
Dann jedoch wechselt die Rede des Henselyn von der Dekalogauslegung zum Fürstenspiegel: mit
der expliziten Erwähnung eines Herren, der segel und breue nicht acht, die Bauern unterdrückt
und ihnen zu viele Steuern abverlangt, anstatt sie zu schützen, die Klagen der Armen nicht hört,
gerne Turniere reitet und kämpft und ähnliche mögliche Verfehlungen, die genau so etwa in den
Ständebeichten des zeitnah in Lübeck gedruckten Werkes Lycht der sele vorkommen. Selbst
wenn Henselyn am Ende noch einmal sagt, dass alle diese Laster für alle zählen, Herren und
Knechte, so ist mit dem Bezug auf die Ständebeichten der Edelleute doch erneut eine Verortung in
der patrizischen Schicht der Hansestadt geleistet.
Damit stammen alle auszumachenden Intertexte aus dem religiösen Bereich, sowohl die direkt
ausgezeichneten von den Dialogpartnern zitierten Bibelstellen85 als auch die Allusionen und
Ausführungen der Monologisten, die sich inhaltlich und strukturell an laiendidaktischem
Schrifttum orientieren oder auch solches imitieren. Die Kombination aus Ständedidaxe und
Unterweisung ist dabei für das Unterhaltungsgenre keinesfalls spezifisch, sondern macht einen
großen Anteil der volkssprachlichen und lateinischen Predigtliteratur seit dem 13. Jahrhundert
aus.86
Satire, Humor und Revolution
Henselyn, der Narr, ist die dominante Figur, die den Handlungsablauf bestimmt, kommentiert und
am Ende in einen größeren Zusammenhang stellt. Damit ist auch nahegelegt, dass die Erzählung
lustig, parodistisch oder satirisch gemeint ist – und das muss sie auch, denn wie gezeigt, legt die
Genaue Angaben der Bibelstellen fehlen im Henselyns bok. Erwähnt wird mehrmals der Prophet Jesaia, einmal
explizit darin Buch 3, in dem es um die Bestrafung Israels, vor allem der höheren Stände, geht. Weiterhin nennt
Henselyn in seiner Ausführung über die hochmütigen Frauen den Apostel Jacobus. Insgesamt wirken die Bibelstellen
mehr wie pflichtschuldige Legitimationsstrategien, denn keine Stelle passt genau oder auch nur offensichtlich
annähernd auf ihren Kontext im Henselyns bok.
86 Hans-Joachim Schmidt, Allegorie und Empirie. Interpretation und Normung sozialer Realität in Predigten des 13.
Jahrhunderts. In: Schiewer, Hans-Jochen; Mertens, Volker (Hg.): Die deutsche Predigt im Mittelalter : internationales
Symposium am Fachbereich Germanistik der Freien Universität Berlin vom 3. - 6. Oktober 1989. Tübingen 1992, 301–
332.
85
29
Anordnung der Dialogpartner im Henselyns bok eine geradezu revolutionäre Neuordnung der
Gesellschaft nahe oder formuliert einen Status quo, der völlig unopportun ist: eine zwar göttlich
legitimierte, aber rein weltlich ausgeführte Hierarchie, in der der Klerus keine Rolle mehr spielt
und in dem die Stadtbürger und Kaufleute völlig außerhalb jeder Kritik stehen. Die Formulierung
dieser Utopie geschieht jedoch nicht in offensichtlicher karnevalesker Weise, in der Oben und
Unten gänzlich vertauscht sind, sondern der sozialrevolutionäre, vor allem antiklerikale und
misogyne Gestus entsteht allein durch die Aufstellung der Dialogpartner. Die drei Söhne –
männlich, vermutlich Angehörige eben der patrizischen Schicht, die sich selbst von der Kritik
ausnimmt, und untereinander kaum mit verschiedenen Rollen oder Charaktereigenschaften zu
differenzieren87 – fungieren als gleichbleibend höfliche, aber unerbittlich Antworten einfordernde
neutrale Richter, die am Ende gemeinsam mit dem Vater ihr Urteil über die gesamte Gesellschaft
sprechen – alle sind für sich selbst und ihre Taten verantwortlich. In dem Moment, in dem
Henselyn in die Reihe der Ständevertreter eingreift und damit die traditionelle funktionale
Teilung der Gesellschaft parodiert, ist der Schaden im Grunde schon geschehen – eine weltliche
Hierarchie wurde entworfen, nach der die Söhne nicht unmittelbar logisch wissen, an wen sie
sich als nächstes wenden sollen. Der Klerus bietet sich nicht mehr als notwendiger Bestandteil der
Gesellschaftsordnung an. Das Auftreten des Narren und seine prominente Rolle in dem Stück
mindern nur etwas die Schärfe der inszenierten und performativ geschaffenen Gesellschaftskritik.
Er ist auch der einzige, der explizit lustige Verse spricht und sich gleich darauf immer wieder
selbst als Geck oder Narr bezeichnet, ansonsten ist auch der Humor des Textes sehr subtil:
Vermutlich war es die Typenhaftigkeit der Ständevertreter und ihre Konfrontation mit der Frage
nach der Rechtfertigkeit, die die LeserInnen/ZuschauerInnen zum Lachen reizten, denn sie
machen selbst keinerlei offenkundige Späße. Auch die Naivität der drei Söhne, die die
Rechtfertigkeit suchen wie einen entlaufenen Hund, ist ein humoristisches Element.
Insgesamt sind die wenigen satirischen und parodistischen Einlagen – das Latein der Kleriker, das
Gelalle von der eigenen Rechtfertigkeit der Säufer, Henselyns derbe Wortwahl – jedoch nur ein
Rahmen, der es möglich macht, auf diskursiver Ebene eine radikale Gesellschaftskritik zu
In über der Hälfte ihrer Auftritte sprechen die Brüder ohnehin mit einer gemeinsamen Stimme, nämlich immer dann,
wenn sie einen Ständevertreter befragen, dazwischen bauen ihre Reden immer nahtlos aufeinander auf. Der älteste fasst
entweder noch einmal zusammen, was gesagt wurde, oder äußert Sorge über das Gelingen der Reise, der zweite kommt
oft mit einem neuen Vorschlag, und der dritte bringt mehrmals Henselyn ins Spiel. Abweichende Meinungen oder
Dispute der drei untereinander sind nicht auszumachen.
87
30
inszenieren. Das Mittel dazu ist nicht die Satire selbst, sondern der Dialog, denn die Kritik liegt
zunächst in der Anordnung der Dialogpartner, mehr als in ihren eigentlichen Antworten.
Die Fastnachtstraditionen wurden und werden immer wieder im Zusammenhang mit der
Bedeutung der Figur der „verkehrten Welt“ für die spätmittelalterliche Gesellschaft – und vor
allem für die reformatorische Zeit – gelesen.88 Entscheidend ist, ob die verkehrte Welt als positive
oder negative Utopie oder als Beschreibung eines zu verdammenden Status quo eingeführt wird,
und gerade frühreformatorische und humanistische Autoren waren durchaus in der Lage, eine
Umordnung der bestehenden Gesellschaftsordnung in Form einer Umwertung der einzelnen
Stände als Chance zu begreifen – ohne jedoch die grundlegend hierarchische Ordnung
anzuzweifeln. 89 Ähnlich auch im Henselyn: Hier wird eine neue, radikal andere und antiklerikale
Gesellschaftsordnung vorgeführt und probeweise ausgelebt – aber viel zu subtil, um klar in der
mundus inversus-Tradition zu stehen. Das daraus zu befürchtende Chaos wird durch die als
Rahmentexte angeordneten Verweise auf die universell gültigen Tugend- und Lasterkataloge
gemildert, und die Lösung besteht darin, individuelle Verantwortung einzufordern und damit das
Versinken der alten Ordnung abzufangen. Damit sind der Ständesatire und auch dem
Fastnachtstreiben wieder einmal ihre natürlichen Grenzen – die grundlegende Anerkennung
einer hierarchischen Ordnung – gesetzt worden.
Die Singularität der Aussagen
Die Ungewöhnlichkeit einzelner Aussagen zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt, die
Abweichungen vom herrschenden Diskurs ist im Rahmen einer Diagnostik der diskursiven
Praktiken kaum möglich. Was ist hegemoniale Aussage, was Abweichung? Faktisch stehen die
unterschiedlichsten Organisationsmodelle zur Verfügung – welches davon ist hegemonial, wie
sehen Abweichungen aus? Gibt es überhaupt eine stillschweigende gesellschaftliche Übereinkunft,
die eine festgelegte Einteilung der Menschen vorsieht? Wie groß sind die Spielräume,
Alternativen dazu zu formulieren und damit alternative gesellschaftliche Praxen vorzuschlagen,
Siehe etwa Bob Scribner, Popular religion in Germany and Central Europe, 1400 - 1800. New York 1996, über den
Nürnberger Druck von 1508, in dem ein Priester einen Pflug zieht und ein Bauer auf der Kanzel steht, was Scribner als
eine Folie zur möglichen Nachahmung und Umstürzung der Gesellschaftsordnung liest.
89 Ninna Jørgensen, Bauer, Narr und Pfaffe. Prototypische Figuren und ihre Funktion in der Reformationsliteratur.
Univ., Diss. Arhus. (Acta theologica Danica, 23.) Leiden 1988, 109-113.
88
31
die dann etwa im Rahmen der Reformation realisiert wurden und wiederum den hegemonialen
Diskurs bildeten?
Die Problematik an dieser Fragestellung liegt darin, hegemonialen Diskurs und Abweichung zu
einem gegebenen historischen Zeitpunkt – hier: dem späten 15. Jahrhundert – ausmachen zu
wollen. In der Reformation wurde unbestritten gegen bestimmte gesellschaftliche Ordnungen und
Machtverhältnisse rebelliert und andere an ihre Stelle gesetzt. Das verleitet dazu,
präreformatorische Texte in diesem Zusammenhang zu sehen und zu bewerten – werden
reformatorische Forderungen mit einigen Jahrzehnten vorweggenommen, oder wird am Vorabend
der Reformation noch ganz und gar mittelalterliches Denken, Lesen und Sprechen gepflegt?
Die unbestrittene Heterogenität der vorhandenen gesellschaftlichen Ordnungsentwürfe im
Spätmittelalter kann eine Möglichkeit bieten, die stereotype Vorstellung von Ständeordnung zu
hinterfragen. Den Texten wird zunächst eine Neutralität im Bezug auf die Frage nach historischer
Modernität oder Konservativität zugesprochen, um sie aus dem Schatten heraustreten zu lassen,
den die Reformation auf das ihr vorangehende Jahrhundert wirft. Ausgehend von der von
Foucault analysierten Notwendigkeit von Gesellschaften, sich selbst ein Innen und Außen zu
konstruieren, können auch die spätmittelalterlichen Entwürfe für die gesellschaftliche Ordnung
kategorisiert werden – wer gehört dazu, wer steht außerhalb, und wie sind Innen und Außen
weiter hierarchisch oder binär geordnet.
Die
Geschichtswissenschaft
neigt
dazu,
Vorzeichen
von
Krisen
in
gesellschaftlichen
Umbruchszeiten zu sehen. Die Krise des Römischen Reichs, die Krise der katholischen Kirche vor
der Reformation, die Krise der modernen Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts – wie
plausibel diese Setzungen auch sein mögen, sie sind ex post-Setzungen und keine direkten
Abbilder und Beschreibungen sozialer Wirklichkeiten im 4., 15. oder 19. Jahrhundert. Ein
methodisches Problem der Diskursanalyse wird somit im Spätmittelalter in besonderer Weise
virulent: Die oft implizite Annahme, es gebe einen herrschenden Diskurs, und die Bewertung
einzelner Aussagen als abweichend oder normativ innerhalb dieses herrschenden Diskurses. Für
das Henselyns bok ist es schwer, die dort dargestellten sozialen Ordnungsvorstellungen nicht als
modern zu bezeichnen: Die Analyse hat ergeben, dass hier ein geradezu reformatorisches
Programm der Ständeordnung formuliert – zwar mit einem satirisch zwinkernden Auge, dennoch
ist die Idee einer göttlich legitimierten, ansonsten aber rein weltlichen hierarchischen Reihe der
Macht ein Bruch mit den programmatischen Aussagen des Spätmittelalters über den ordo mundi.
Dass die Ständereihe einerseits durch die Position innerhalb der weltlichen Befehlskette (Kaiser –
32
Kurfürsten – Landvögde – Ritter - Bauern), andererseits durch die Teilhabe an einem
gemeinsamen christlich-männlichen Moral- und Wertekanon (Frauen und Säufer sind
ausgeschlossen) bestimmt und befestigt ist, rückt sie in die Nähe der vieldiskutierten
protestantischen Ethik und der lutherischen Idee von den drei Ständen, verweist aber ebenso auf
Belegsammlungen, die differenzierte Konzeptionen von Hierarchie als des durchdringenden
Ordnungsprinzips des Kosmos, jedoch mit unterschiedlichen Ausprägungen in Kirche und Staat,
bereits im 14. Jahrhundert verorten.90
Hierarchie und das große Ganze
Am Henselyns bok sollten mehrere Aspekte beispielhaft gezeigt werden: Erstens die
Kontextualisierung eines literarischen Textes, wobei Ergebnisse aus Forschungen über die
Sozialordnung im mitteleuropäischen Hochmittelalter auf das nordeuropäische Spätmittelalter
angewandt wurden. Die Darstellungen im Henselyn ergaben hier eine deutliche Abweichung von
den bekannten drei- und viergliedrigen Ordnungen sowohl funktionaler als auch moralischer Art
und zeigten ein auffälliges Interesse für die Abgrenzung kirchlicher und weltlicher Macht. Die im
Text repräsentierte Gesellschaftsordnung ist gleichzeitig ständisch und moralisch geordnet, die
Sozialordnung hat ihre Begründung in einer laiendidaktischen Rechtfertigungslehre, die starke
Emphase auf individuelle und ständische Verantwortung legt, um weniger die gesellschaftliche
Ordnung aufrechtzuerhalten, als jenseitiges Heil zu erlangen. Inwieweit dieses Ergebnis singulär,
zeit- order texttypisch ist, müssen weitere empirische Studien zeigen.
Zweitens sollte die Diffusion des gelehrten Diskurses über die Sozialordnung in einen
Alltagsdiskurs und die performative Umsetzung der Ordnung gezeigt werden, um das Auftreten
und die Bedeutung einzelner diskursiver Stränge auszumachen. Dafür erwies sich der Henselyn als
außerordentlich günstig: Hier ringen unterschiedliche Interdiskurse um die Vorherrschaft – der
Tugenddiskurs wird aus juristischer und theologischer Perspektive eingeführt, dann als
Ständediskurs weitergeführt, macht einen kurzen Ausflug in den Geschlechterdiskurs und endet
schließlich in einer übergreifenden Erörterung über die Gesellschaftsordnung mit dem
universellen Bezugspunkt des Jüngsten Gerichts und wiederholten Verweisen auf die
David E. Luscombe, Hierarchy in the late Middle Ages: criticism and change, in: Canning, Joseph/Oexle, Otto Gerhard
(Hrsg.), Political thought and the realities of power in the Middle Ages =. Politisches Denken und die Wirklichkeit der
Macht im Mittelalter. Göttingen 1998, 114–126.
90
33
Vergänglichkeit des weltlichen Daseins. Diese Verschlingung der Diskurse, in denen weltliche
und eschatologische Erörterungen über das gute Leben von juristischer, theologischer oder
politisch-soziologischer
Seite
beleuchtet
werden,
scheint
ein
Charakteristikum
der
spätmittelalterlichen Inkunabeln zu sein – es geht immer ums Ganze. Und damit möchte ich eine
Lesart für das Henselyns bok und die übrigen Inkunabeldialoge vorschlagen, die über die Frage
„vorreformatorisch oder nicht“ hinausgeht: Da sich in dem Konzept der Hierarchie, der
Sozialordnung, die über die Ständereihe hinausgeht, die unterschiedlichsten Diskurse vermischen,
ist offenbar die Ständeordnung nicht mehr das bestimmende Ordnungsprinzip, sondern andere
Fragen, Themen und Ausschlusskriterien werden wichtiger.91 Progressive und konservative
Tendenzen vermischen sich, und letztendlich scheint genau diese Vermischung das entscheidende
zu sein: Für die richtige Gesellschaftsordnung reicht eine Aufstellung von drei oder mehr Ständen
nicht aus, sondern die Frage, was mit Kaufleuten, Frauen, Sündern und Nichtchristen passiert,
spielt eine entscheidende Rolle in den Reflektionen der Zeitgenossen. Die Ständeordnung verliert
ihre Bedeutung – die sie vielleicht schon immer nur in den theoretischen Reflexionen der
Theologen hatte – und macht einer komplexeren Fragestellung über die Hierarchie Platz, ohne die
grundlegende moralische Ordnung der Gesellschaft anzugreifen.92 Die Untersuchung der
spätmittelalterlichen Dialoge zeigt, dass es in unterschiedlichen Verfasserkreisen einen Prozess
der Aneignung der Debatten um die herrschende Sozialordnung gab – und dass diese dazu
führten, dass vielfältigere Erfahrungswelten in die Frage nach der Ordnung integriert wurden. Ein
kleines, künstlerisch wenig anspruchsvolles mittelniederdeutsches Drama geht damit weit über
das hinaus, was die meisten modernen Forschungsansätze leisten können: Man spricht hier über
das große Ganze.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgt beispielhaft anhand französischer Literatur Jonathan Beck, A critical moment in the
history of "Hierarchy": Secular literature in France in the Age of Schism and the Conciliar Movement, in: Kuntz, Marion
L./Kuntz, Paul Grimley (Hrsg.), Jacob's ladder and the tree of life. Concepts of hierarchy and the great chain of being.
New York 1988, 161–210.
92 Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass Henselyn nicht als typisches Fastnachtsspiel gelesen werden sollte, da sich
hier die alternativen Entwürfe meist gerade auf die moralische Ordnung der katholischen Kirche beziehen und diese
umzuwerten suchen. Vgl. die Charakterisierung der weiblichen und ehelichen Moralvorstellungen im dänischen
Fastnachtsspiel bei Søndergaard, Fastelavnsspillet, 46-65.
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