Statement von Heidi Merk, Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, anlässlich des Paritätischen Pflegekongresses 2009 am 4. Juni 2009 in Potsdam Sehr geehrte Damen und Herren, „Pflege als Versicherungsleistung – Perspektive trotz Legislative!“ lautet das Motto, unter das wir die Veranstaltung gestellt haben. Das klingt provokant und soll es auch sein. Die Pflegeversicherung ist die jüngste der fünf Sozialversicherungssäulen. Erst 1995 als Pflichtversicherung eingeführt, steckt sie – wenn nicht mehr in den Kinderschuhen, dann doch quasi gerade mitten im zarten Teenageralter. Wir erinnern uns noch gut daran: nachdem die Frage des Ja geklärt war, ging es um den Umfang, die Höhe der Leistungen und wie das bezahlbar gemacht werden könnte. Die Opferung eines Feiertags (Buß- und Bettag) brachte nach langem Gezerre schließlich den Durchbruch, denn das sollte die Deckungslücken schließen helfen. Und leider war somit von Anfang an klar, dass noch viele Änderungen am Pflegeversicherungsgesetz vorgenommen werden mussten, denn dem Gesetz fehlte die notwendige Ehrlichkeit. Die Pflegeversicherung wurde vor 14 Jahren eingeführt, weil durch die Erosion traditioneller, familienorientierter Lebensformen und der damit wegfallenden Bereitschaft oder Möglichkeit, Familienangehörige innerhalb der Familie zu versorgen, immer mehr Menschen im Alter im Fall ihrer Pflegebedürftigkeit auf Hilfe von außen angewiesen waren, die sie aus eigenen Mitteln nicht finanzieren konnten. Wir alle wissen, dass sich die Situation seit den 1990ern nicht wesentlich verbessert hat. Der demografische Wandel – wir stecken mitten drin. Die Menschen werden immer älter und immer mehr ältere Menschen sind auf Unterstützung, auf Pflege und Hilfe angewiesen. Dieser Herausforderung müssen wir uns stellen und wir müssen zukunftsfähige Perspektiven entwickeln. Der Paritätische will mit diesem Kongress genau dafür eine Plattform bieten. Von der Würde des Einzelnen bei der Pflege ist viel die Rede, aber haben wir wirklich alle verinnerlicht, was uns und dem Staat die Verfassung Deutschland aufgetragen hat? Mit der Würde ist jener Achtungsanspruch gemeint, der dem Menschen Kraft seines Menschseins zukommt, und zwar unabhängig von seinem körperlichen oder geistigen Zustand, seinen Leistungen oder seinem sozialen Status. Die Menschenwürde ist oberstes Grundrecht und Wurzel aller Grundrechte, das wird oft zu leicht vergessen. Und somit ist auch ganz klar: der Gesetzgeber ist verpflichtet, allgemeinverbindliche Normen so zu erlassen, dass der Schutz der Menschenwürde bestmöglich gewährt wird. Diese Richtschnur, meine Damen und Herrn, müssen wir uns immer vor Augen führen, wenn wir die Würde des Menschen in der Pflege einfordern und da müssen wir unerbittlich sein. Mit mehr als 3.900 Einrichtungen in der Mitgliedschaft, darunter ambulante Dienste und stationäre Einrichtungen sowie Anbieter von Tages- und Kurzzeitpflege und Beratungsstellen, gehört der Bereich Altenhilfe und Pflege zu den großen Tätigkeitsfeldern unseres Verbandes. Ob die Auswirkungen der Gesundheitsreform oder die jüngste Pflegereform – die Auseinandersetzung mit neuen Gesetzesvorhaben gehörte zu den Topthemen in den vergangenen Jahren. Im steten Zusammenspiel mit den Fachreferenten und Fachreferentinnen aus unseren Landesverbänden sowie den Vertreterinnen und Vertreter unserer überregionalen Mitgliedsorganisationen hat der Paritätische die Auswirkungen der jeweiligen Reformen auf Einrichtungen und Betroffene analysiert, hat Probleme aufgedeckt und beim Namen genannt und die Politik auf weiteren gesetzlichen Regelungsbedarf aufmerksam gemacht und sich engagiert in die politischen Prozesse eingebracht. Doch es gibt nach wie vor viel zu tun, wie nicht zuletzt die aktuelle Debatte um einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, die wir im Rahmen dieses Kongresses aufgreifen, deutlich macht. Im März vergangenen Jahres wurde das Pflegeweiterentwicklungsgesetz vom Bundestag beschlossen. Im Juli 2008 ist es in Kraft getreten. Die Pflegereform sollte der große Wurf werden, doch schon damals war allen Beteiligten klar, dass dieses Gesetz nur Stückwerk sein konnte. Nach der Pflegereform war vor der Pflegereform. Denn ihr fehlte, wie immer man die erreichten Verbesserungen beurteilen mochte, das Entscheidende: eine Neudefinition dessen, was Pflegebedürftigkeit ist und nach welchen Kriterien man ihren Grad künftig beurteilen soll. Der bisherige Pflegebedürftigkeitsbegriff, da sind wir uns alle einig, ist zu eng gefasst. Zu eng, da er die Pflege einseitig auf Hilfen bei körperbezogenen Verrichtungen reduziert. Zu eng, da andere zentrale Lebensbereiche und Aktivitäten, da Bedürfnisse und Bedarfe nach Zuwendung, Beaufsichtigung, Kommunikation und sozialer Teilhabe ausgeblendet werden. Natürlich spielen körperliche Aspekte eine Rolle, wenn man über Pflegebedürftigkeit spricht. Wer auf Grund körperlicher Beeinträchtigungen in seiner Mobilität eingeschränkt ist, keine Treppen mehr steigen, sich nicht mehr selbständig an- und ausziehen oder der täglichen Körperhygiene widmen kann, ist auf Hilfe angewiesen und bedarf pflegender Unterstützung. Doch was ist mit dem Demenzkranken, der durchaus mobil und körperlich dazu in der Lage wäre, sein Essen selbständig zu sich und zwei Treppenstufen auf einmal zu nehmen, aber sich nicht erinnert, welche Medikamente er in welcher Menge zu sich nehmen muss und schlicht vergisst, dass die Nahrungsaufnahme überlebensnotwendig für ihn ist? Auch dazu besteht Konsens: Auch dieser Mensch ist hilfebedürftig – und abhängig von der Unterstützung, Betreuung und Beaufsichtigung anderer. Ziel und Maßstab allen Handelns muss es sein, sowohl dem einen wie dem anderen durch entsprechende Pflege so weit wie möglich Selbstbestimmung und soziale Teilhabe zu ermöglichen – und vor allem anderen: ein Leben in Würde. Die bisherige Einteilung in drei Pflegestufen greift hier deutlich zu kurz. Viele der inzwischen rund eine Million Demenzkranken kamen in diesem System kaum vor. Auch pflegebedürftige Kinder oder Menschen mit Behinderungen, fielen – sofern sie nicht körperlich, sondern „nur“ geistig beeinträchtigt waren – durchs Raster und erhielten mitunter überhaupt keine Leistungen aus der Pflegeversicherung. Mit dem Pflegeweiterentwicklungsgesetz konnten hier einige Verbesserungen, insbesondere für Menschen mit Demenz, erzielt werden. Erste Schritte in die richtige Richtung. Aber der große Wurf war das noch nicht. Am 29. Januar diesen Jahres legte der Beirat seinen Bericht und Empfehlungen zur Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs vor. Zukünftig soll es nicht mehr nur drei, sondern fünf Pflegestufen geben, so die Empfehlungen des Beirates. Wesentliches Kriterium für die Einstufung sollen dann nicht mehr der Zeitaufwand für körperliche Pflege sein, sondern vor allem der Grad der Selbständigkeit, mit dem der oder die Pflegebedürftige noch im Leben steht. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt hat Anfang der vergangenen Woche angekündigt, die Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs noch in diesem Jahr auf den Weg zu bringen. Noch sind aber viele Fragen offen. Klar ist, wenn der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff umgesetzt und entsprechend neue Begutachtungsverfahren eingeführt werden, wird das gravierende Auswirkungen auf die Zukunft der Pflege in unserem Land haben. Der in der vergangenen Woche vorgestellte Umsetzungsbericht, den der Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums erstellt hat, belegt, dass die bisherigen politischen Vorstellungen deutlich zu kurz greifen. Keines der vier in dem Bericht vorgestellten Szenarien ist zur Umsetzung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs geeignet. Auch das teuerste der vier Szenarien, das von einem Mehrkostenbedarf in Höhe von rund drei Milliarden ausgeht, arbeitet mit Umschichtungen innerhalb des Systems zu Lasten einzelner Betroffenengruppen. Es kann nicht sein, dass Verbesserungen für den einen bisher sträflich vernachlässigten Personenkreis durch die Schlechterstellung anderer ebenso Pflegebedürftiger erkauft werden. Die Ausweitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs und die überfällige Einbeziehung demenzkranker Menschen sind kostenneutral nicht zu haben. Selbst bei vorsichtigen Schätzungen muss von mindestens fünf Milliarden Euro Mehrkosten ausgegangen werden. Der Vorschlag des Expertenbeirats zur Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs ist ein Meilenstein. Mit der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs bietet sich die Chance, endlich die unerträgliche Diskriminierung demenzkranker Menschen zu beenden. Es ist fachlich nicht mehr länger vertretbar, wenn ausschließlich körperliche Beeinträchtigungen zur Feststellung des Pflegebedarfs herangezogen werden. Die Umsetzung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs bietet darüber hinaus die Chance, den überbürokratisierten Bereich der Pflegeversicherung neu zu ordnen und zu einem einfachen überschaubaren bürgerfreundlichen Zuschussmodell zu gestalten. Auch diese Chance muss genutzt werden. Die gesamte Diskussion wird jedoch politisch unglaubwürdig und ins Leere gehen, wenn nun nicht auch mehr Mittel für die Pflege bereit gestellt werden. Jetzt muss die Politik zeigen, was ihr Menschen, die auf Pflege angewiesen sind, wert sind.