LK GE NS-Herrschaftstechniken Uehlein S.1 NACH OTTO KOELLREUTTER 20 ... Das Führerprinzip des deutschen Führerstaates baut demgegenüber auf völkischer Grundlage auf. Es wurzelt in der Staatsautorität des völkischen Staates, d. h. in einer Gemeinschaftsethik. Die Idee der Gemeinschaft, die Idee des »Wir« als Ganzheit eines Volkes bildet die politische Kraft des Führerstaates. Die seelische Verbindung des Volkes mit dem Staate bildet das Wesen der Staatsautorität, die auf der Vorstellung der Einheit von Volk und Staat beruht. Nur der völkische Staat hat diese natürliche Gerneinschaftsbasis, nur in ihm gibt es deshalb echte Staatsautorität. Der Liberalismus, dem diese Ganzheits- und Einheitsvorstellung von Volk und Staat fehlte, hatte deshalb auch kein Verständnis für das Wesen der Autorität, der liberale Staat ist der Idee nach immer ein »autoritätsloser Freiheitsstaat«. Wenn Hitler als Grundsatz des Aufbaus des deutschen Führerstaates bezeichnet hat »Autorität jedes Führers nach unten und Verantwortlichkeit nach oben«, so hat er damit das Wesen der echten Führerschaft umschrieben. Denn wesentlich ist für den Führerstaat die Anerkennung des Grundsatzes der offenen Verantwortlichkeit der Führer. Nur sie kann politisch einheits- und gemeinschaftsbildend wirken, nur durch sie wird die bewußte politische Verbundenheit von Volk und Staat erreicht, die zum Wesen des echten autoritären Staates gehört. Der Führerstaat trägt immer antiliberale Züge; und er kann auch niemals geprägt und gestaltet werden durch den Typus des liberalen Menschen, sondern nur durch den Typus von Männern, die sich ihrer inneren Verbundenheit mit Volk und Staat stets bewußt sind. 25 … Totaler Staat kann deshalb auch immer nur ein von einer bestimmten Staatsidee getragener Staat sein. Der deutsche Führerstaat muß deshalb die nationalsozialistische Staatsidee als einheitliche Haltung dem ganzen Volke aufprägen. Darin besteht die eigentliche Aufgabe der »Partei« als Bewegung, die ja als solche mit den alten Parteien nichts mehr zu tun hat. 5 10 15 Die »Partei« im nationalsozialistischen Staate hat eine einheitsbildende Aufgabe. Sie ist die politische »Bewegung«, der unter dem Führer die Verantwortung für den Aufbau, Bestand und die Sicherung der politischen Gestaltung des deutschen Volkes obliegt. 30 ...Sie hat den Anspruch darauf, als politische Elite zu gelten, weil ihre Träger schon im liberalen Staate die neue politische Weltanschauung des Führers in ihrer Größe erkannt, mit ihm gekämpft und sie dem Volke aufgeprägt haben. In der Bewegung entstand so zuerst der neue Typus des »politischen« Menschen, der vor allem in der jungen Generation den deutschen Führerstaat tragen muß. Und so ist die Führung 35 dieses deutschen Führerstaates, um die Worte der Nürnberger Proklamation Hitlers zu gebrauchen, »eine Führung, die nicht im Volk ein Objekt ihrer Betätigung erblickt, sondern die im Volke lebt, mit dem Volke fühlt und für das Volk kämpft« ... LK GE 5 10 15 20 25 30 35 40 NS-Herrschaftstechniken Uehlein S.2 Zur Herrschaftstechnik Hitlers In der Tat, die geschickte Handhabung der Fiktion von der „legalen" und „nationalen Revolution hätte nicht genügt, den Übergang vom Rechtsstaat zur totalitären Diktatur reibungslos zu gestalten. Dazu bedurfte es noch eines weiteren Mittels der Machtergreifungs- und Herrschaftstechnik, dessen sich Hitler nun bediente: des Dualismus von „Staat“ und „Partei", der auch im Einparteienstaat fortdauerte. Entgegen einem weitverbreiteten Klischeedenken bedeutet totalitäre Herrschaft keineswegs geschlossene, monolithisch-eingleisige Ordnungsstruktur. Es entspricht auch nicht den Tatsachen, daß sie rationaler, mit höherer Effektivität arbeite oder kraft des Führerprinzips dem komplizierten Pluralismus der Demokratie überlegen sei. Vielmehr hat Hitler darauf verzichtet, Partei und Staat gänzlich zu verschmelzen. Auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens blieben rivalisierende Instanzen bestehen oder wurden sogar neu geschaffen. So kam zum Beispiel statt der versprochenen Reichsreform die Verwandlung des Bundesstaates in ein unüberschaubares System von Satrapien, in denen oft sogar drei verschiedene Führungsinstanzen den Primat beanspruchten: Reichsstatthalter, Gauleiter und Ministerpräsident. Statt einer Verwaltungsvereinfachung hat die Inflation des Führerprinzips die Zuständigkeitsverhältnisse noch kompliziert. Reibereien, Leerlauf, Doppel- und Mehrgleisigkeit waren die Folge, und es zeigte sich rasch, daß dies nicht eine Kinderkrankheit des neuen Systems war, sondern zu seinem Wesen gehörte. Tatsächlich handelte es sich hier um eine weitgehend bewußt eingesetzte Herrschaftstechnik, die besonders in der Machtergreifungsphase, aber auch danach eine wichtige Funktion besaß. Dies Verfahren erleichterte die Gewinnung der Fachleute, denen ein Fortbestehen der bisherigen Ordnung zugesichert wurde. Wie im Fall der „legalen Revolution" trübte ihnen die Genugtuung über die eigene Bedeutung auch im neuen System den Blick dafür, daß diese Zweigleisigkeit nur eine relative, jederzeit aufhebbare Freiheit konzedierte und daß in entscheidenden Fragen der Führer und seine Verfügungsgewalt über die direkten Mittel des Zwangs und Terrors stets den Ausschlag gaben: so wie neben dem fortbestehenden Rechts- und Justizwesen, dieser täuschenden Fassade, die Schutzhaft-, Gestapo- und KZ-Politik, unerreichbar für alle Gerichte, ihre Wirkungsmöglichkeiten entfaltete. Damit ist auch die zweite Funktion angedeutet, die dieser Dualismus, diese Zwei- und oft Vielgleisigkeit der Herrschaftsstruktur schon in der Machtergreifungsphase besaß. Der Führer stand als einziger über dem Wirrwarr der Zuständigkeiten und Befehlsreihen, die fast allen Beteiligten, Nationalsozialisten und Nichtnationalsozialisten, ihre Hoffnungen ließ, sie an das Regime band; er war der oberste Schiedsrichter, dessen omnipotente Stellung durch alle Rivalitäten der Unterführer, alle Konflikte zwischen Staat und Partei, Wehrmacht und SA, Wirtschaft und Verwaltung immer neu bestätigt wurde; er konnte, indem er den einen gegen den anderen ausspielte und jedem recht zu geben schien, die eigene Macht desto unangefochtener behaupten und steigern. Hitler hat, wie schon in der Kampfzeit, dies Prinzip, das alle von abhängig machte, bis zur Virtuosität benutzt. Wie weit es volle Absicht oder eher Ausdruck der sprunghaften Stimmungen des Führers und seiner Bewegung war, die dem Chaos näherstand als der Ordnung, wird umstritten bleiben. Jedenfalls hat dieses gesteuerte Chaos die grotesken Fehleinschätzungen der nationalsozialistischen Revolution durch die Zeitgenossen verhängnisvoll beeinflußt. Kar! Dietrich Bracher, Die deutsche Diktatur, a. a. O., S. 232f.