Hermann Siegenthaler Was steckt hinter dem Begriff „Heilpädagogik“? Seit der Begriff „Heilpädagogik“ 1861 von Deinhardt und Georgens geprägt wurde, sorgt er für Unbehagen, fordert die Kritik heraus und führt zu Vorschlägen, ihn zu ersetzen. „Sonderpädagogik“, „Pädagogik der Behinderten“, Spezielle Pädagogik“ u.a. wurden angeboten und erwiesen sich bei anderen Autoren wieder als unbefriedigend. Ich will durch die folgenden knappen Ausführungen darlegen, zu welchen Ueberlegungen der Begriff wie das Unbehagen seines Gebrauchs führen kann. In historischer Hinsicht ist erwähnenswert, dass im damals erschienen Begriff „Heilpädagogik“ zwei wesentliche Strömungen zusammentreffen, die zugleich seine Wurzeln ausmachen: Einerseits das im Christentum lebendige Gebot der unbedingten Nächstenliebe, die sich als Nachfolge Jesu im praktischen Alltag zu erweisen hat. Man erinnere sich daran, dass die weitaus grösste Zahl der von der kath Kirche als „Heilige“ anerkannten Menschen sich dadurch auszeichnen, sich den Kranken, Schwachen, Geächteten und Randständigen zuzuwenden. Der Wortteil „heil“ ist ein Begriff der religiösen Erfahrung und macht es somit erforderlich, das theologische Verständnis beizuziehen. (Der Begriff „Caritas“ spielt hier eine wichtige Rolle) Dabei wäre zu beachten, dass „heil“ /„das Heil“ mehr ist als „ganz“, wie paradox dies auch klingen mag. Man denke an einen Satz wie „Dem Menschen ist das Heil zugesprochen“, oder an Begriffe wie „Heilserwartung“ / „Heilsgeschichte“. Die Wurzeln der Heilpädagogik im Christentum sind unverkennbar. Andererseits ist es nicht von ungefähr, dass ausgerechnet in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts der Begriff geprägt wurde: das rasante Aufkommen der Naturwissenschaften, der Technik und mit diesen zusammen die Medizin gaben in Bezug auf „Wissenschaftlichkeit“ klare Voraussetzungen vor. Das medizinische Denkmodell (Diagnose – Therapie – Ueberprüfung) ist in der Heilpädagogik unverkennbar, obwohl von „Heilung“ keine Rede sein konnte! Damit sind die beiden Wurzeln der „Heilpädagogik“ verdeutlicht – zugleich aber auch die wichtigsten Kritikpunkte genannt: Sowohl das„Heil“- Verständnis im religiös-alltäglichen wie im theologischen als auch das „Heilen“ im medizinischen (und populären) Sinn machen den Begriff äusserst fragwürdig und, wie man folgern kann, unbrauchbar..... .....Und trotzdem ist der Begriff geblieben. Offensichtlich ist das, was er meint, beständiger als alle Strömungen, die ihn in Frage stellen: Es geht um die Erziehung (und Förderung) jener Heranwachsenden, die aus physischen/ psychischen/sozialen Gründen in ihrer Entwicklung behindert sind und der besonderen, ihrer Situation angepassten Zuwendung bedürfen. Um diese Besonderheit zu betonen, bot sich der Begriff „Sonderpädagogik“ zu recht an. Der „Begründer“ der modernen Heilpädagogik, Heinrich Hanselmann (1885 – 1960), hat sich bereits in den Dreissigerjahren des 20.Jahrhunderts mit beiden Begriffen auseinandergesetzt . In einem Vortrag von 1932 fragt er „Was ist Heiilpädagogik?“, im Grundlagenwerk von 1941 lautet eine Titelüberschrift: „Was ist `Heilpädagogik`? Sondererziehung?“ Die später einsetzende Kritik am Begriff „Sonderpädagogik“ hielt diesem vor, das Besondere zu sehr zu betonen und entspreche einer „Absonderung“ des Menschen mit Behinderung. (Heute klingt dieselbe Auffassung mit dem Begriff „Separation“ eher als Abschwächung). Es ist dies zwar eine spezielle Lesart – der Inhalt aber muss ernst genommen werden. Einen wesentlichen Beitrag, welcher der Diskussion um den Begriff wie das Anliegen der Heilpädagogik nach 1950 eine neue Sichtweise verliehen hat, lieferte Paul Moor (1899 – 1977), der die Heilpädagogik nach dem zweiten Weltkrieg stark beeinflusste und eine Generation von Heilpädagogen prägte. Er formulierte den einfachen, einprägsamen aber folgenreichen Satz: „Heilpädagogik ist Pädagogik und nichts anderes“. Man fragt wohl etwas erstaunt: Weshalb diese Betonung “nichts anderes“? Was könnte denn Heilpädagogik anderes sein? Etwa Angewandte Kinderpsychiatrie, ein medizinischer Hilfsberuf, Psychologie oder Therapie irgendwelcher Richtung, die in jenen Jahrzehnten wie Pilze aus dem Boden schossen? Nein: schlicht und einfach „Pädagogik“. Damit ordnet Moor der Heilpädagogik im weiten Feld der Humanwissenschaften ihren Platz zu, kann sich abgrenzen und sich orientieren – an der Pädagogik. Diese Richtungsweisung ist bis heute gültig geblieben. Die neuesten Begriffe wie „Integrale Pädagogik“ oder „Inklusive Pädagogik“ (in Abgrenzung zu Separation) bestätigen diese Auffassung. Bloss: Was ist Pädagogik? Moor scheint die Antwort auf diese Frage vorauszusetzen! Er liefert dazu keine Definition, was ihm wiederum die Kritik eingebracht hat, sein Satz sei ein Postulat, das er selbst nicht eingelöst habe. Statt eine Definition zu liefern, greift er auf die Grundfrage aller Pädagogik zurück: Was ist Erziehung? Und jetzt prägnanter: Was ist Erziehung angesichts eines Kindes mit Behinderung? Das ist in der Tat die fundamentale Frage, die immer wieder neu gestellt werden muss, weil jedes Kind mit irgendwelcher Behinderung die Erziehung in Frage stellt. Ich habe den Satz von Moor Jahre später aufgrund meiner Bemühungen um die Erziehung und Entwicklungsförderung schwerbehinderter Kinder präzisiert: Heilpädagogik sei eine „verfeinerte“ Pädagogik, die selbst dort, wo wir trotz grösster Bemühungen an Grenzen stossen, subtile Aeusserungen auzufspüren und aufzu greifen bereit ist. Dahinter steckt die Auffassung, dass gerade hier, in dieser „heilpädagogischen Situation“, einem aufgehen kann, was Pädagogik (als Theorie von Erziehung/Förderung) in ihrem tiefsten Kern ist. Man könnte den bisherigen Ueberlegungen schon längst die Frage entgegen halten: Ist es denn notwendig, sich über einen Begriff zu streiten, wo doch das mit ihm Gemeinte weit wichtiger ist? Ist die Diskussion nicht bloss von theoretischem Interesse – und riecht nach „akademischem Stallgeruch“? Emil E.Kobi, ebenfalls ein Schüler von P.Moor, pflegte in diesem Zusammenhang zu sagen, er sei noch nie missverstanden worden, wenn er in Gesprächen gesagt habe, er widme sich der Heilpädagogik. Folglich sei für ihn die Frage nach dem Begriff zweitrangig. Ich bin einerseits glücklich darüber, dass wir immer wieder nach dem richtigen Begriff und dem angemessenen Verständnis ringen müssen, um dadurch unermüdlich nach dem Verständnis des eigenen Denkens und Handelns zu fragen! Ich erkenne andererseits die bestehende Gefahr, dass ein derart unklarer Begriff für alle möglichen Interpretationen offen steht und anerkenne die Bemühungen, hier Klarheit zu schaffen. Heilpädagogik ist zunächst ein Begriff zur Verständigung wie jeder andere Begriff auch. Doch wäre es unhaltbar, sich an dieser Oberfläche zu begnügen. Wer den Begriff Heilpädagogik braucht, muss erkennen, dass zugleich die Einstellung, die damit verbunden wird, offen zu legen ist. So geht es jetzt also darum, genauer zu bezeichnen, was ich mit der Aussage, Heilpädagogik sei eine verfeinerte Pädagogik, meine. Ich lege in diesen Begriff die Auffassung, dass es keine Bildungs-un-fähigkeit gibt – es gibt nur eine Umwelt, die nicht bereit oder nicht in der Lage ist, Möglichkeiten zur Entwicklungsförderung zu entdecken und umzusetzen. Insofern gibt es auch keine „hoffnungslosen Fälle“. (Das war Ende der Sechziger- anfangs der Siebzigerjahre neu, denn man kannte damals den Begriff „Bildungsunfähigkeit“ selbst im Gesetz und setzte ihn mit „Pflegebedürftigkeit“ gleich!) Hier schliesst sich die Forderung, die bereits erwähnte fundamentale Frage, was denn Erziehung angesichts eines Kindes „mit Behinderung“ sei, unmittelbar an. Und genau darin erlebte ich die Bereicherung, welche sich aus dem heilpädagogischen Denken für die Allgemeine Pädagogik ergibt. Wenn ich jetzt einen anderen Standort wähle, um von ihm aus die bisher knappen Sätze zu überdenken, kann ich verdeutlichen, dass es eigentlich um die Frage nach dem Menschenbild ( oder –verständnis) geht, das es zu entdecken gilt. Die Frage lautet somit: Was ist der Mensch – und wie kann ich ihn verstehen, wenn die Möglichkeit besteht, behindert zu sein, oft so sehr, dass mich im alltäglichen Verständnis nichts an einen „vollgültigen“ Menschen erinnert? Wie ist es möglich, hier dennoch von „Würde“ zu sprechen, die uns als Aussenstehende verpflichten könnte, unseren Umgang entsprechend als „würdevoll“ zu bezeichnen und zu gestalten? (Mein Besuch vor kurzem in einer DemenzAbteilung eines Pflegeheimes stellte mich mit ungeheurer Vehemenz wieder vor diese Frage!) Mit diesen Fragen befinde ich mich in der Philosophischen Anthropologie, einer Disziplin innerhalb der Philosophie, die im 20.Jahrhundert eine bedeutende Strömung darstellt. Sie deckt auf, dass auf dem Grund jeglichen Handelns und Denkens in Bezug auf den Menschen ein meist verborgenes und unausgesprochenes Menschen-Bild steckt. Ich habe – wiederum aufgrund meiner Erfahrungen im Bereich schwerbehinderter Menschen – diese Frage in mein heilpädagogisches Denken übernommen und bin dabei auf ein Verständnis gestossen, von dem ich glaube, dass es keinen Menschen ausschliesst. Ich meine zu erkennen, dass im heutigen Menschenbild, wie es z.B. von den Plakatsäulen herunterstrahlt oder im wirtschaftlichen Denken herrscht, Menschen mit Behinderung keinen Platz haben. Solange dies so ist, bleiben Reformen jeglicher Art an der Oberfläche haften. Und da helfen auch Begriffs-änderungen nichts! Ich stelle weiter fest, dass dieses Denken (d.h. das nach dem Menschenverständnis fragende) im gegenwärtigen Trend der „Heil/Sonderpädagogik“ verdrängt oder zumindest vernachlässigt wird – vielleicht vor lauter Reformen! Wesentliche Fragen sind aber nicht beantwortet, wenn sie vergessen werden. Wer den Einwand erhebt, dieses Denken sei „individuums-zentriert“ oder „defektorientiert“, wie man dies der „traditionellen Heilpädagogik“ vorwirft, hat die eigentliche Frage und den vorgeschlagenen Denkweg nicht verstanden! Wir seien für das Menschenbild verantwortlich, von dem wir uns leiten lassen – so meint der Philosoph Karl Jaspers. Dieser Verantwortung dürfen wir nicht ausweichen, denn diese Forderung hat Auswirkungen für den Alltag. Statt aber eine weitere Abhandlung über das hier zugrunde liegende Menschenverständnis vorzulegen, will ich bloss zwei fundamentale Aspekte aufgreifen. Dass ich in den bisherigen Ausführungen längstens den Wirkungsbereich der „Heilpädagogik“ über die Heranwachsenden hinaus geöffnet habe und zum Grundsätzlichen in jedem sogenannten „Helfenden Beruf“ vorgestossen bin, ist sicher deutlich geworden. Es geht um das Verständnis des Menschseins unter den oben bereits gestellten Fragen. Menschsein zeigt keinerlei absolute Stabilität und erlaubt folglich keine absolute Gewissheit: Menschsein ist brüchig, d.h. in jedem Aspekt, den wir unserem Selbstverständnis zuordnen, droht ein Einbrechen – in den Beziehungen, in der Gefühlslage, in der Befindlichkeit, in der Entwicklung, im körperlichen Wohlbefinden etc. In der Umgangssprache pflegen wir von „Schicksalsschlägen“ zu sprechen. Zugleich bedeutet aber die Brüchigkeit nicht Abbruch – sondern fordert den Menschen dazu auf, neue Möglichkeiten zu entdecken. Es sind jene Momente in Grenzsituationen, in die jeder Mensch gestellt wird. Ich weiss, das klingt etwas leichtsinnig, daher müssten an dieser Stelle weitere Hinweise folgen. Der zweite zu erwähnende Aspekt betrifft die „Würde“ des Menschen, ein Begriff, der wieder weitere Ueberlegungen erforderte. Er will zum Ausdruck bringen, dass da ein „Etwas“ den Menschen auszeichnet, das mehr ist als das, was wir erkennen, das es zu „achten und zu schützen“ gilt (wie es in unserer Bundesverfassung heisst). Im Umgang mit Menschen, die von Randständigkeit bedroht und in ihrer Lebensgestaltung auf Hilfe angewiesen sind, bin ich in der Position der mitmenschlichen Zuwendung und ordne dem Anderen Aspekte der Würde zu. Konkret: Meine Verantwortung als Heilpädagoge liegt darin, dass ich es bin, der dem Kind mit Behinderung (selbst an der Grenze) diese Würde zuordnet. Dabei lasse ich mich im Alltag von der Frage leiten: Wo erfahre ich im Umgang mit dem Kind Momente, in denen ich dieses genannte „Etwas“ wahrnehme? Es sind wohl jene, von denen ich auch sagen kann,, sie machten seine und meine Lebensqualität spürbar und erfahrbar, für die zu erfahren sich zu leben lohnt. Und so kehre ich zu meiner Ausgangsfrage zurück: „Was steckt hinter dem Begriff Heilpädagogik?“. Darauf kann ich jetzt antworten: Das, was ich an Bedeutung aufgrund alltäglicher Erfahrungen in den begriff hineinlege. Welchen Begriff ich für diese Erfahrungen schliesslich wähle, ist zweitrangig. Was ich aber hineinlege, dafür habe ich die Verantwortung zu tragen.