DAS NARRATIVE INTERVIEW Dualismus von Objekt und Subjekt – jedwede Struktur der objektiven Seite, jedwedes Handeln und Deuten der subjektiven Seite zugewiesen – wird aufgehoben. Pierre Bourdieu: Habitus, Feld, Praktik, Symbolischem Kapital usw. Anthony Giddens: Theorie der Strukturierung, Dualität jeder Struktur Clifford Geertz: Modell der dichten Beschreibung – Darstellung des Handelns der Akteure aus ihrer Perspektive heraus. Jürgen Habermas: Trennung von Lebenswelt und System in differenzierten Gesellschaften Daraus ergibt sich für Sieder die Fragestellung: „wie sich die Praktiken der interagierenden Akteure einerseits und ihre sozialen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen etc. Handlungsbedingungen andererseits an einem sozialhistorisch situierten Fall zueinander verhalten. Oder in einer einfachen Paraphrase des berühmten Marx-Wortes formuliert: Wie Menschen unter bestimmten Handlungs- und Deutungsbedingungen ihre Geschichte machen, obgleich sie dabei nicht frei sind.“ (Sieder, Ethnohistorie, S. 169) Um das zu erfassen, brauchen wir eine Methode, die das ermöglicht – und zwar auf der Ebene der Datenerfassung (narratives Interview), der Sampleauswahl (rekursiv, theoretisches Sampling), der Textanalyse (sequentiell) und der Darstellung (narrative Prinzipien und praktische Prinzipien sichtbar machen) METHODEN Quantitative Methoden Qualitative Methoden Hypothesenbildung, Auswahl des Samplings, Datenerhebung, Datenanalyse Induktive Methode: Vom Besonderen (Einzelfall) zum Allgemeinen (Theorie) Deduktive Methode: Vom Allgemeinen zum Besonderen Abduktives Vorgehen (Charles S. Peirce): rekursives Verfahren Verschiedene Methoden wären: Interview, Tiefeninterview, Schriftliche Befragung, Gruppendiskussion, Soziometrie, Beobachtung, Teilnehmende Beobachtung, Nonreaktive Verfahren, Inhaltsanalyse, Experiment, Sekundäranalyse Das narrative-biographische Interview Spezialform des qualitativen Interviews (Fritz Schütze, 1978). Betonung von Erzähltexten (im Gegensatz zu Beschreibungstexten und Argumentationstexten) – eben Narrationen. Eingesetzt v. a. in der Biographie- und Lebenslaufforschung. „Das narrative Interview zeichnet sich gerade dadurch aus, daß es den Erzählenden einem starken Zwang zur realitätsgetreuen Rekonstruktion vergangener Ereignisse aussetzt, ohne daß der Druck vom Interviewer auszugehen scheint oder gar das situative Klima das Interview gefährden könnte.“ (Lamnek, Bd. 2, S. 73) WAHRHEIT DURCH ERZÄHL-ZWÄNGE Sieder unterscheidet drei (lt. ihm vermutlich universelle) Zugzwänge des Erzählens: Detaillierungszwang Kondensierungszwang Gestaltschließungszwang Aber: Auch das Gespräch selbst und die Entscheidungen, was erzählt wird und was nicht, ist soziales Handeln Keine Abbildung der „Realität“, aber Entsprechung. Bruch zwischen Vergangenheit und jeder Erzählung über sie. „Dieser Bruch besteht sowohl infolge der inzwischen gesetzten Praktiken und aufgeschichteten Erfahrungen als auch infolge der inzwischen vorgenommenen Deutungen und Interpretationen dieser Praktiken und Erfahrungen.“ (Sieder, ebd., S. 152) wir haben nur Abbild der Vergangenheit, nur eine Vorstellung. 5 PHASEN DES NARRATIVEN INTERVIEWS Weicher Interviewstil, offene und erzählgenerierende Fragen Vorstellung des Forschers, Gesprächsvereinbarung und Regieanweisungen Einladung zur/und Eingangserzählung Immanentes (rückgreifendes) Nachfragen Exmanentes Nachfragen Eventuell: Rekonstruktion von Routinen Eventuell: Reasoning: Gespräch über das Gespräch Nachgespräch und Verabschiedung: TRANSKRIPTION UND SICHTUNG DES MATERIALS schreibe auf, was Du hörst (frei machen von der Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes) AUSWAHL WEITERER INTERVIEWPARTNER theoretisches Sampling. Nur möglich bei rekursiven Verfahren! TEXTANALYSE (SEQUENZANALYSE) Textreduzierendes Verfahren versus sequentielles Verfahren Textanalyse muss den Lebensprozess in seiner äußerlichen Ereignishaftigkeit und in seiner innerlichen Erfahrungs-, Erlebnis- und Wissensaufschichtung rekonstruieren. Und: Den aus der Retrospektive zwangsläufig entstehenden, auf das bekannte (vorläufige) Ende der Entwicklung ausgerichteten, Charakter der Erzählung hypothetisch in einen Lebensweg mit offenen Optionen rückverwandeln. (vgl. Sieder, ebd., S. 160) möglich über Sequenzanalyse Bis zu fünf Schritte: 1. Was will uns der Erzähler mitteilen? 2. Was sind die historischen (zeitlichen, örtlichen, funktionellen, usw.) Bedingungen dessen, worüber erzählt wird? (Kontextwissen) 3. Auslotung des Handlungsspielraumes (Erzählungs- und Handlungshypothesen) 4. Frage nach dem inneren Erleben des erzählten Geschehens psychologische Interpretation 5. Wird eine Ideologie ausgedrückt? Eintragen auf Hypothesenblatt DARSTELLUNG Es gibt kein theorieloses Erzählen – und keine Theorie ohne Erzählung. Erklärende Erzählung: Hermeneutische, Analytische und Dialektische Prozeduren Wenn mehrere Fälle: Unsystematische Typologie erstellen LITERATUR Sieder, Reinhard (1998): Erzählungen analysieren – Analysen erzählen. Narrativ-biographisches Interview, Textanalyse und Falldarstellung. In: Ethnohistorie. Friedrichs, Jürgen (1980): Methoden empirischer Sozialforschung. 14. Auflage 1990. Opladen: Westdeutscher Verlag. Atteslander, Peter (1971): Methoden der empirischen Sozialforschung. Berlin, New York. Lamnek, Siegfried (1995): Qualitative Sozialforschung. 2 Bde. 3. korr. Auflage. Weinheim: Psychologie Verlags Union. Ginzburg, Carlo (1988): Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli - die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. In: Ginzburg, Carlo: Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis. DTV, München 1988.