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Stück und Autor
„Wenn man einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge entzieht, macht man ihn unglücklich.“
In der Kindheit waren Hjalmar Ekdal und Gregers Werle beste Freunde und ihre Väter
Geschäftspartner. Doch ein dubioser Unternehmensskandal hat die Familien voneinander entfernt.
Während Haakon Werle die Fassade wahren konnte und es zu einem großbürgerlichen Leben
gebracht hat, saß Leutnant Ekdal eine Gefängnisstrafe ab. Als gebrochener Mann, seines
Vermögens und Ansehens beraubt, lebt er nun bei seinem Sohn Hjalmar, dessen
wissenschaftliche Karriere durch den Ruin ebenfalls ein jähes Ende fand.
Hjalmar hat sich ganz gut eingerichtet in seinem mittelmäßigen Leben und gefällt sich in seiner
Rolle als liebevoller Familienvater und genialer Erfinder. Während seine Frau Gina und die geliebte
Tochter Hedwig das Fotoatelier führen und damit den Unterhalt der Familie bestreiten, hat er
gemeinsam mit seinem alten Vater auf dem Dachboden eine Phantasiewelt geschaffen, eine
virtuelle Waldlandschaft, in der sie auf die Jagd gehen, verschiedenste Tiere, darunter eine
angeschossene Wildente, halten und sich aus dem Alltag hinaus träumen.
In dieses Behelfsidyll platzt Gregers Werle hinein, der nach dem unglücklichen Tod der Mutter
lange Jahre in der Einöde verbracht und seinem Vater gegrollt hat. Weil es ihm nicht gelingt, den
verdrängten Konflikt offen mit dem eigenen Vater auszutragen, sucht er sich stellvertretend ein
Aufklärungsprojekt: Seinen Jugendfreund Hjalmar terrorisiert er mit der fanatischen Forderung, ein
Leben ohne Lüge und Selbsttäuschung zu führen. Dabei fördert er Abgründiges aus der
Vergangenheit der beiden Familien zu Tage. Hjalmar bricht unter der aufgedrängten Wahrheit
zusammen und reißt seine vierzehnjährige Tochter, für die Realität und Phantasie noch nicht
unterscheidbar sind, mit in den Abgrund.
Henrik Ibsen, wurde 1828 im norwegischen Skien als Sohn eines Kaufmanns geboren. Nach dem
Bankrott der väterlichen Firma und dem einhergehenden Zusammenbruch der bürgerlichen
Existenz der Familie, nach Apothekerlehre und Medizinstudium wurde er Dramaturg und
Theaterleiter an den Theatern in Bergen und Christiania. Von 1864 bis 1891 lebte er im
„freiwilligen Exil“ in Deutschland und Italien, um schließlich als anerkannter Schriftsteller und
Dramatiker in seine Heimat zurückzukehren. Er starb 1906 in Christiania, dem heutigen Oslo.
Ibsen hinterließ ein großes dramatisches Werk, darunter „Peer Gynt“ (1867), „Die Stützen der
Gesellschaft“ (1877), „Nora oder Ein Puppenheim“ (1879), „Ein Volksfeind“ (1883) und „Baumeister
Solness“ (1893). Seine dramatischen Innovationen im Hinblick auf realistische Dialogführung und
Darstellungsweisen, Gesellschaftskritik, Figurenpsychologie und die analytische Betrachtung der
Vergangenheit haben das moderne europäische Theater stark beeinflusst. Der Theaterkritiker
Alfred Kerr schrieb: „Das Beste und Folgenreichste, was Ibsen uns gegeben hat, ist: die Anregung
zur Wahrheit, in einer künstlerisch verlogenen Zeit; die Anregung zum Ernst, in einer künstlerisch
flachen Zeit; die Lust zur Bewegung, in einer Zeit des Stagnierens; und den Mut, nach jedem
begehrten Stoff zu greifen, der Menschliches enthält, gleichviel, woher er stammt. Darum dürfen
wir ihn wohl den Ahnherrn nennen für unser neues Drama.“
In der 1885 uraufgeführten „Wildente“ stellt er sich und uns die ihm so wichtigen existentiellen
Fragen – durchaus auch mit Ironie: Ist die Wahrheit dem Menschen zumutbar? Macht es glücklich
ohne Lügen zu leben? Können wir Realität und Fiktion noch trennen? Und wer hat überhaupt das
Recht zu bestimmen, was Wahrheit ist?
„Ibsen glaubte, daß es zur Schaffung einer modernen Tragödie der Greuel der klassischen
Tragödie und ihrer überlebensgroßen Gestalten nicht bedürfe, sondern daß in den scheinbar
kleinen Freveln des Alltags, in Geldnot, Betrügereien, halben Lügen, gefälschten Unterschriften,
genügend tragischer Konfliktstoff verborgen sei. Melpomene, die klassische Muse des
Trauerspiels, entdeckte er auf dem heimischen Plüschsofa.“
Georg Hensel, Spielplan
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Es war einmal eine Bodenkammer
„Es war einmal eine Bodenkammer. Niedrig zogen sich die abgeschrägten Wände zu
den Bretterdielen herab, und das Tageslicht musste sich seinen Weg mühsam durch
spinnwebenbedeckte Dachluken und Ritzen suchen. Hier hielten die Menschen allerlei
Tiere gefangen und entwöhnten sie durch ihre Zucht und Pflege dem freien Leben.
In einem halbdunklen Winkel stand ein Korb, der mit ganz besonderer Sorgfalt weich
ausgepolstert war. Denn er barg das Vornehmste unter all diesen der Freiheit beraubten
Geschöpfen, nämlich eine Wildente. Doch nicht nur die Vornehmste, sondern auch die
am meisten Bedauernswerte von allen schien sie zu sein.
Ein Wildvogel in einer Bodenkammer: Das ist doch wohl notwendig eine Tragödie?
Vielleicht ist es eine Wildente gewesen, die ihre lebenslange Gefangenschaft gar nicht
ungern ertrug. Sie mag auf der Jagd eine Ladung Schrot unter die Flügel bekommen
haben, mag auf den Grund des Wassers gesunken sein, und dort, in Seetang und Algen
verbissen, ließ sie sich vom klugen Jagdhund aufspüren und zu seinem Herren bringen.
Anfangs befremdet sie wohl die Bodenkammer, aber die Haustiere beeifern sich sehr,
dem
weitgereisten
Fremdling
ihre
Bewunderung
zu
zeigen.
Flügellahm
und
eingeschüchtert durch die eben überstandenen Gefahren der Freiheit, gewöhnt sie sich
leicht an ihr bequemes Gefängnis. Sie brüstet sich, indem sie ihre lahm geschossenen
Schwingen gegen die staubigen Scheiben ausbreitet und es den anderen vormacht, wie
sie einst mutvoll Stürmen trotzend, unter ziehenden Wetterwolken dahin schwebte. Und
mit Behagen empfindet sie dabei, dass sie in Wahrheit geborgen im Kreise der gutmütigen
Tauben und Hühner sitzt. Nur eines unter ihnen allen hält den vorgespielten
Freiheitsdrang für echt: ein kleiner, blinder Singvogel. Und im Wunsch und Drang, der
Wildente beizustehen, es ihr wieder zu lehren, wie man die Schwingen regt und die
Freiheit erobert, vergisst sich der Singvogel, - vergisst seine eigene hilflose Blindheit:
Tastend breitet er sein Gefieder aus, steigt empor, verfängt sich im dichten Dunkel, - und
stürzt mit zerbrochenen Flügeln zu Boden.“
Lou Andreas-Salome: Henrik Ibsens Frauen-Gestalten. Jena 1919
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