Gerd Koch/Florian Vaßen Der lange Weg des Lehrstück-Spiels Reiner Steinweg hat Anregungen gegeben. Wir haben sie (verändert) aufgegriffen Theorie und Praxis des Lehrstücks in ihrer heutigen Form sind ohne Reiner Steinweg nicht vorstellbar, das ist inzwischen allseits bekannt. Aber − vielleicht noch wichtiger − ohne ihn hätten sich viele Lehrstück-Interessierte, Theoretiker und Praktiker, nicht mit dem Lehrstück beschäftigt und wären kaum zu ihrer vom Lehrstück geprägten politischen, pädagogischen, theaterpädagogischen und ästhetischen Spiel-Praxis gekommen. Wir verdanken ihm viel! Hätte es ihn nicht gegeben, hätten auch wir − Florian Vaßen und Gerd Koch − uns nicht kennen gelernt, wären nicht langjährige Freunde geworden und hätten nicht gemeinsam eine − wie wir finden − sehr produktive Zusammenarbeit entwickeln können. Ohne Reiner Steinwegs grundlegende Untersuchung „Das Lehrstück“ von 1972, noch mehr ohne seine Aufsätze in der „alternative“, ohne seine Initiative zur Praxis, seine ersten SpielLeitungen, seine Organisation der Lehrstück-Spielwochen hätten auch wir drei uns nicht kennen gelernt. Nicht zuletzt mit Hilfe seiner häufigen und umfangreichen Rundbriefe ist Ende der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts ein Netzwerk von Lehrstück-Spielenden und mit dem Lehrstück Arbeitenden entstanden, das in den folgenden Jahren mit der theaterpädagogischen Zeitschrift „Korrespondenzen“ und weiteren Aktivitäten von ihm und dann auch vielen anderen ausgebaut wurde und bis heute besteht: 30 Jahre Lehrstück und Theaterpädagogik! Es ist also seine fachlich-wissenschaftliche Forschung und Arbeit UND es ist seine Art, Kontakte interessiert zu stiften, zu halten und zu pflegen − mit Ausdauer. Und Ausdauer hatte (und hat) Reiner Seinweg auch als Wissenschaftler im engeren Sinne gezeigt, mit seinen Untersuchungen und Publikationen. Im Sinne der res publica/der polis ist er ein in jeder Hinsicht politischer Wissenschaftler. Wir wollen aus unserer Perspektive aufzeigen, wie vielfältig Reiner Steinweg geforscht, gearbeitet, gespielt und insgesamt gewirkt hat. Dieses biographische Panorama erhält − nach unserer Überzeugung – nur Substanz, wenn dabei Brechts Modell des Lehrstücks im Mittelpunkt steht, und zugleich verhilft dieser persönliche Blick dem Modell des Lehrstücks zu einer ganz eigenen, subjektiven Dimension. 2 1. Lehrstück/Learning-play – Genesis und Rekonstruktion Als Bertolt Brecht 1929 zum ersten Mal den Titel "Lehrstück" verwendete und "Das Badener Lehrstück" am 28.7.1929 im Rahmen der Baden-Badener Musikfestwochen aufgeführt wurde, begann er mit einem Theater-Typus zu arbeiten, der in einem entscheidenden Punkt deutlich über seine Experimente mit dem epischen Theater hinausging: Die Kommunikation von Bühne und Publikum, das Spielen für ein Publikum als zentrale Kategorie des Theaters, wurde abgeschafft oder war zumindest nebensächlich geworden. "das lehrstück lehrt dadurch", wie Brecht formuliert, "daß es gespielt, nicht dadurch daß es gesehen wird. prinzipiell ist für das lehrstück kein zuschauer nötig, jedoch kann er natürlich verwertet werden." (Steinweg 1976:164) Brecht begann mit einer „Kette von Versuchen, die sich zwar theatralischer Mittel bedienten, aber die eigentlichen Theater nicht benötigten, […]." (Brecht 1988:22.1,167) Stattdessen initiiert er einen selbstreflexiven politisch-pädagogischen Spiel-Prozess, der die Trennung von Theorie und Praxis aufzuheben versucht, indem die "tätigen und betrachtenden", sozusagen die "politiker" und die "filosofen", nicht mehr voneinander getrennt sind. (Steinweg 1976:71) Diese als ästhetisch-pädagogisches Experiment entstandene und sich im politischen und kulturellen Umfeld der Arbeiterbewegung am Ende der Weimarer Republik entwickelnde politische Theater-Pädagogik war nicht nur den bekannten Verleumdungen und Beschimpfungen von Rechts, aber auch von Links ausgesetzt (Brecht 1976:319-468), auch die Bezeichnung Lehrstück selbst wurde im allgemeinen Sprachverständnis und sogar in der universitären Forschung lange Zeit als Stück mit einer Lehre, politisches Zeitstück, Agitprop im Sinne von Indoktrination und Kunstfeindlichkeit missverstanden. Allerdings stellt auch Brecht sich selbst die Frage, "ob nicht die bezeichnung lehrstück eine sehr unglückliche" sei (Steinweg 1976:129). Die englische Übersetzung "learning-play" (Steinweg 1976:150), die Brecht höchst wahrscheinlich mitformuliert hat, drückt dagegen in ihrer Betonung des Lernens gegenüber der Lehre und des Spiels als Prozess gegenüber dem Stück als abgeschlossenes Werk viel stärker Brechts Intention aus. Das "Lern-Spiel", wie man analog zur englischen Übersetzung formulieren kann, verweist jedenfalls auf den Aspekt des spielerischen Lernens, den die Bezeichnung "Lehrstück" allzu oft verdeckt hat. Reiner Steinweg war der erste, der gleichermaßen Brechts Theater, Pädagogik und damit sogar die Politik revolutionierende Lehrstück-Konzeption in einer (Re)-Konstruktion zunächst theoretisch und später dann auch praktisch wiederbelebte. Als er 1963/64 begann, sich mit dem Lehrstück zu beschäftigen, wurde ihm bald klar, dass es sich bei Brechts Lehrstück nicht 3 um Agitation und politisches Lehrtheater handelte, indem Theaterfiguren die ’vorgefertigte’ Lehre des Autors von der Bühne herab einem Publikum vortragen, sondern dass die Spielenden als Lernende die eigentlichen Protagonisten waren und im aktiven Spielprozess Erfahrungen − körperlich und zugleich reflektiert − machen sollten. Damit aber wird die sprachlich in einem Text oder einer Äußerung fixierte Lehre ersetzt durch äußere körperliche und innere emotionale, rationale, psychische Haltungen der Spielenden, die nach Brecht in einem engen Zusammenhang stehen. Gleichfalls erkannte Steinweg schon den zentralen Widerspruch "’von sozialer Verantwortung und einem erfüllten Eigenleben’" (Steinweg 1994:6), wie er damals formulierte, d.h. von sozialer Beziehung und Sozietät einerseits und Glücksverlangen des einzelnen und Asozialität andererseits. Weiterhin verteidigte er Brechts Betonung eines ‚positiven Individuums’, eingebunden in ein Kollektiv, gegen die Auffassung von der Auslöschung des Persönlichen im Kollektiv und auch im Lehrstück. 2. Gewalt, Krieg und Widerstand im Lehrstück-Modell Wir kennen Reiner Steinweg bei aller positiven Fähigkeit zu Streit und Kontroverse als einen sehr friedliebenden und pazifistisch denkenden Menschen, der bekanntlich ein großes Engagement und ebenso große Verdienste in der Friedensforschung und -erziehung zeigt bzw. hat, worauf wir später noch eingehen werden. Bei Brecht dagegen finden wir ein durchaus ambivalentes Verhältnis zur Gewalt, er spricht gelegentlich von ‚gerechten’ Kriegen und zeigt offen sein Interesse für die Gewalttätigkeit und Asozialität seiner Figuren Fatzer und Baal. Besonders Brechts Lehrstücke sind von Tod und Gewalt geprägt, so dass es nicht verwundert, dass sich in der Lehrstück-Theorie und -Praxis − besonders im Kontext der Studentenbewegung, wie schon am Ende der Weimarer Republik − erneut die radikale Frage der Gewalt stellte; es entstand eine Diskussion um die Legitimation von Widerstand, um das Verhältnis von gesellschaftlicher Gewaltförmigkeit und persönlicher Gewalttätigkeit. Daraus ergibt sich − durchaus berechtigt − die Frage: Wie passt das Lehrstück zu Reiner Steinweg, was fasziniert ihn so an der Lehrstückkonzeption? Bei Brechts epischem Theater denkt man natürlich sogleich an die bekannten Kriegs- bzw. Antikriegsstücke, von der "Mutter Courage und ihre Kinder" bis zum "Schweyk", vom "Vorspiel" der "Antigone" bis zu "Die Tage der Kommune". Auch in zwei Lehrstücken wird der Krieg direkt thematisiert: Im "Fatzer"-Fragment, das auf den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs basiert, formuliert der Chor als Kommentar, dass der Krieg "als verbrechen erkannt wurde./ und ausspie ein geschlecht/ voll aussatz/ das kurz dauerte und/ untergehend die gealterte welt/ abriß./" (Bertolt-Brecht-Archiv:109/88) Unter der Leitung von Fatzer 4 desertieren bekanntlich vier Soldaten – "im dritten Jahr des Krieges verschwanden während eines Tankangriffs vor Verdun vier Männer Besatzung eines Tanks" – und hoffen auf einen "allgemeine(n) Aufstand des Volkes" gegen "den sinnlosen Krieg" (Brecht 1988:10.1,469). Fatzers Erkenntnis, Brecht nennt es den "Sündenfall" lautet: "der Krieg ist sinnlos" (Brecht 1988:10.1,475). In dem zweiten 'Kriegslehrstück', "Die Horatier und die Kuriatier", angeblich geschrieben im Kontext der Roten Armee, zeigt Brecht in Ahnung des Zweiten Weltkriegs, wie die schwächeren Horatier in dem Angriffskrieg der Kuriatier durch List, sprich dialektisches Denken, den Sieg davontragen. Aber auch in "Die Maßnahme" geht es um die Vorbereitung der Revolution, um bewaffnete Auseinandersetzungen und gewaltsamen Tod. Gerade die Versuchsreihe der Lehrstücke konzentriert sich auf Extremsituationen, in denen es keine einfachen und harmonischen Lösungen gibt und die zumeist tödlich enden: "Ozeanflug", "Badener Lehrstück vom Einverständnis", "Jasager und Neinsager", "Die Maßnahme" und "Die Ausnahme und die Regel". Nicht jedoch der Krieg in örtlicher und zeitlicher Ferne, ob nun in Fatzers Erstem Weltkrieg, dem Rom der Kuriatier oder dem revolutionären China der "Maßnahme", sondern die alltägliche Gewalt, der tagtägliche Krieg bestimmen Text und Spielpraxis der Lehrstücke. Mit inneren und äußeren Haltung, d.h. mit der Verbindung von Einstellungen und Körperausdruck, agieren die Spielenden in der Lehrstück-Situation, wagen sie sich an die Widersprüche der Texte heran, füllen mit ihren Erfahrungen die 'Leerstellen' und arbeiten sich an Brüchen und unlösbaren Konflikte ab. "die form der lehrstücke ist streng, jedoch nur, damit teile eigener erfindung und aktueller art desto leichter eingefügt werden können." (Steinweg 1976:164) Dabei können die Spielenden den Widerspruch von äußerer und verinnerlichter Asozialität und Sozietät als gesellschaftliche "Muster" an sich und anderen wahrnehmen und kennen lernen, im Spiel erfahren und untersuchen, sie zeigen, 'ausstellen', reflektieren und damit zumindest partiell öffentlich machen; das heißt aber, lernen damit umzugehen – die ’Lücken’ im Text und die ‚Brüche’ im Spiel lassen Platz für uns. Der Körper der Lehrstück-Spielenden steht dabei trotz literarischem Text und gesprochener Sprache, trotz Raum und Reflexion im Mittelpunkt, er ist das zentrale Material für Haltungen. In unserer Gesellschaft existiert der menschliche Körper allerdings primär – wir erfahren es alle jeden Tag – als Ware, Konsumartikel und Lustobjekt und er ist gezeichnet von Disziplinierung, Instrumentalisierung und Leistungsdruck bzw. von Verschleiß, Selbstzerstörung und Armut. Der Körper befindet sich sozusagen in einem ständigen Ausnahmezustand und der voyeuristische 'Genuss' an Schrecken und Grausamkeit als Körperzerstörung, sei es in der Realität (Unfälle, Gewalttaten, Krieg) oder – in den letzten 5 Jahren besonders intensiv – in den Medien und ihren brutalisierten Darstellungsformen, soll die 'schleichende' Zerstörung des Körpers, wahrnehmbar in unserer nächsten Umgebung oder an uns selbst, verdecken, was auch durchaus gelingt. Die Inszenierung von Körperdestruktion verstellt uns den Blick auf reale Körperlichkeit. Widerstand gegen diese allgemeine Entwicklung einer Dominanz der Abstraktion gibt es auf vielen Ebenen, besonders aber zum einen durch die Hinwendung zum eigenen Körper und das Bemühen, im erfahrungsbezogenen, teils pädagogischen, teils therapeutischen Prozess, den ’kranken’ Körper zu heilen, und zum anderen durch die radikale Destruktion des Körpers im ästhetischen Prozess und Produkt; Brechts Lehrstücke scheinen beide Aspekte zu verbinden. Dabei ist in Bezug auf die Texte die mittlere Abstraktionsebene, ihre Nüchternheit und Strenge bei gleichzeitiger ästhetischer Intensität, von großer Bedeutung, während auf der Seite der Lehrstückpraxis die vorbegriffliche Erkenntnis als Körpergedächtnis und Körpereinschreibung eine zentrale Rolle spielt. Das konzentrierte Ritual der körperlichen Repetition führt hier entgegen dem Verfremdungsbegriff des epischen Theaters zur Identifikation, allerdings nicht mit psychologisch gezeichneten Personen, mit sog. 'Charakteren', sondern mit Haltungen und auch dies nur zeitlich begrenzt, nämlich solange, bis durch den Rollentausch der distanzierte Blick in produktive Spannung zu der vorherigen identifikatorischen Haltung tritt. Die Intensität einer kathartischen Situation wird also durchaus erlebt, sogleich aber wieder unterbrochen und durch Nachahmung und Übung, Beobachtung und Reflexion verfremdet. Brecht betont: "es ist ein stetiges preisgeben und sammeln, distanzsuchen und herangehen, […]." (Steinweg 1976:171) Gleichwohl durchlebt der Spielende im Lehrstück Körperzerstörung und Tod so intensiv, er verübt Gewalt und erleidet Gewalt so konkret, dass der voyeurhafte Blick auf die Gewalt in den Medien verunsichert wird; das Bedrohlich-Fremde ist im Spiel körperlich ganz nah, wir erkennen es sogar in uns selbst. Im Lehrstück-Spielprozess mit seinem Wechselspiel von Nähe und Ferne, von Spiel und Reflektion können gegen alltägliche zerstörerische Ordnungen – besonders auch durch das "artistische und spielerische Element der Kunst" (Benjamin 1966:126; vgl. Brecht 1976:265), durch eine "Kunst für den Produzenten" (Brecht 1988:22.1,167), – "Inseln der Unordnung" (Müller 1982:178) entstehen. Erstarrte Zustände kommen in Bewegung, Unsicherheit entsteht und erhält eine produktive Perspektive, ein labiles Dazwischen bietet die Möglichkeit zu Neuem, Transformationen werden im Spiel erfahrbar als lernende, als politische und ästhetische Haltung. Die politische Spielform des Lehrstücks mit seiner 'Theatralität der Ausnahme' kann die alltägliche Ordnung, die nichts anderes ist als ein dauernder 6 Ausnahmezustand, in Frage stellen, indem sie die Ausnahme bis zur Unerträglichkeit radikalisiert, dabei im Spiel Grenzen überschreitet und im Spielmodell bis ans Ende geht, d.h. durchaus auch lernen durch Schrecken. Das Moralische und das 'moralisch Böse', das die Politik heute allenthalben bestimmt, wird konfrontiert mit der Radikalität des Asozialen, sprich einer Negativität jenseits von Moral. Gegen moralischen Fundamentalismus bringt es Unruhe und Unordnung, wenn die Forderung aus Brechts "Neinsager" ernst genommen wird, "in jeder neuen Lage neu nachzudenken" (Brecht 1988:3,71) und damit, wie Benjamin formuliert, "vernünftige politische Aktionen zu bewirken, die nicht aus Menschenfreundlichkeit, Nächstenliebe, Idealismus, Edelmut oder ähnlichem, sondern nur aus der jeweiligen Haltung hervorgehen."(Benjamin 1977:II.2,663) So werden der Schrecken und das Erschrecken als Methode des Lernens der Spielenden, d.h. unerfüllte Potentialität, zum Signum der Lehrstücke, jener destruktiven Spiele der Unordnung, die in ihrer gewaltförmigen Negativität ein widerständiges Potential gegen die Gewalt unserer Zeit beinhalten. Im Kontext dieser Ausführungen wird deutlich, dass Reiner Steinweg die Lehrstücke als Antigewalttexte, als ‚Anti-Aggressionstraining’ und als theatrale Formen gegen Alltagsgewalt und Unterdrückung verstanden und praktiziert hat. Eben „weil wir ohne Waffen sind“, hat er in Kooperation mit anderen versucht mit dem Lehrstück-Modell eine „Sensibilisierung gegenüber Gewaltphänomenen und eine Stärkung der Vermittlungsfähigkeit des Ich gegenüber der gesellschaftlichen Produktion von Gewalt“ zu erreichen, und im Spiel- und Reflexionsprozess die „verschärfte Wahrnehmung latenter Gewalt“ und die „Deligitimierung der herrschenden Alltags- und Routinegewalt“ sowie „die eigenen (unterdrückten) Gewaltneigungen und -ängste“ (Steinweg u.a.: 1986.37f) körperlich und sprachlich erfahrbar zu machen. 3. Über 40 Jahre Lehrstückforschung 2008 inszenierte Frank Castorf an der Berliner Volksbühne Bertolt Brechts und Hanns Eislers "Maßnahme" (ohne den bestimmten Artikel "Die") und Heiner Müllers " Mauser", also dessen Kommentar- und Kritik-Textstück zu Brechts Lehrstück, an einem Theaterabend: "Maßnahme / Mauser ". In einem der Inszenierung hinzugefügten Monolog Heiner Müllers, nur kurz seitens der Schauspieler unterbrochen durch ein „Ach, Heiner“, zitiert die Bühnenfigur Müller aus einem Brief Heiner Müllers an Reiner Steinweg, publiziert entweder 7 als „Absage an das Lehrstück“ oder als „Verabschiedung des Lehrstücks“ (Steinweg 1978:232; Müller 1978:85) Für einen Moment erscheint das Bühnengeschehen wie ein Gespräch zwischen einem stummen, zuhörenden Reiner Steinweg und dem mit dem Lehrstück abrechnenden Müller; denn die Bühnenfigur Müller spricht Steinweg − wie in Müllers Originalbrief vom 4. Januar 1977 − direkt an: „Lieber Steinweg, ich habe mit wachsender Unlust versucht, aus dem Wortschlamm (der Schlamm ist mein Teil) unserer Gespräche über das LEHRSTÜCK etwas für Dritte Brauchbares herauszuklauben. Der Versuch ist gescheitert, mir fällt zum LEHRSTÜCK nichts mehr ein. […], und ich denke, daß wir uns vom LEHRSTÜCK bis zum nächsten Erdbeben verabschieden müssen. […] Was bleibt: einsame Texte, die auf Geschichte warten. […] Die Maulwürfe oder der konstruktive Defaitismus.“ (Steinweg 1978:232) Ironie der Geschichte: So kommt jemand auf die Bühne eines Lehrstücks, der uns und die Fachwelt sehr gut begründet mit Brecht darauf hinwies, dass die Lehrstücke nicht für die Zuschau-Bühne, sondern für arbeitende Kollektive zur Selbstverständigung gedacht seien. Andersherum betrachtet: Indem Castorf die Absage ans Lehrstück und den Hinweis auf den Lehrstück-Experten auch auf die (auf seine) Bühne bringt und dennoch ein Lehrstück inszeniert, verweist seine Konzeption des " Maßnahme / Mauser "-Abends auf die LehrstückKonzeptions-Debatten, die ohne Reiner Steinweg nicht substanziell hätten geführt werden können. Speziell auf Steinwegs kritische Edition von "Die Maßnahme" (1972, 2. Auflage 1976) sei hier hingewiesen: In einer Reihe von Publikationen konkretisierte und sicherte er seine Grundlagen-Untersuchung "Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung" von 1972 (2., überarb. Auflage 1976). Hierbei kam ihm seine fundierte philologische Ausbildung zu gute − und die ist gerade dort vonnöten, wo die Konstruktion, die formale Struktur des Textes, der Text-Körper als dezidierter (also entscheidender, entschiedener) Mitspieler seine Rolle in spielerischen Selbstverständigungsprozessen hat. Reiner Steinweg war als philologischer Forscher auf dem Felde der Brechtschen Lehrstücke ausdauernder Besucher und Handschriften-Entzifferer im Brecht-Archiv zu DDR-Zeiten und hat so immer wieder als west-deutscher Bürger das Umfeld des Brechtschen Schaffens in der damaligen DDR aufgesucht. Zu vermuten ist, dass solcher Zugriff nicht nur dem philologischen Interesse geschuldet war. Vielmehr ist es offensichtlich, dass jemand, der schon damals friedenspolitisch bewegt war und friedenspolitisch einiges bewegt hatte (Ostermärsche, Friedensmarsch von San Francisco nach Moskau 1960/61), nicht unbedarft oder gar naiv seine Forschungen betrieb, sondern gewissermaßen im Kalten Krieg eine Utopie 8 der Kommunikation ohne Kriegsgelüste vorwegnahm und im Forschungsformat realisieren konnte − sicher nicht ohne Schwierigkeiten dort wie hier. Neben der kritischen Edition von "Die Maßnahme", ergänzt um eine ausführliche Sammlung von Fundstellen zum Lehrstück bei Brecht und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, und der grundlegenden Untersuchung " Das Lehrstück" wurde die theaterpädagogische Arbeit in Theorie und Praxis entscheidend von zwei Sammelbänden beeinflusst: Zum einen "Brechts Modell der Lehrstücke. Zeugnisse, Diskussion, Erfahrungen" (1976), ein Band mit der vollständigsten Zusammenstellung von Zeugnissen zum Lehrstück, mit kontroversen Diskussionen und ersten Praxiserfahrungen; zum anderen der Sammelband mit dem schönen Titel " Auf Anregung Bertolt Brechts" (1978), der unterschiedliche, auch internationale Versuche des Arbeitens mit Lehrstücken präsentiert. 1984 haben wir zusammen mit Reiner Steinweg den Band "Assoziales Theater. Spielversuche mit Lehrstücken und Anstiftung zur Praxis" herausgegeben, in dem neben einer umfangreichen Lehrstück-Bibliographie zum ersten Mal ein so breites Spektrum von Lehrstück-Praxis, von Spielversuchen und Workshops, mit sehr verschiedenen methodischen und politischen Ansätzen, vom soziologischen Experiment bis zu ästhetischen Erfahrungen, zur Diskussion gestellt wurde. 1986 publizierte Reiner Steinweg zusammen mit Peter Petsch und Wolfgang Heidefuß unter dem Titel "Weil wir ohne Waffen sind" die Ergebnisse und den Prozess eines großen PraxisProjekts zur friedenspolitischen Nutzung von Lehrstück-Arbeit. Dieses Buch ist ein exemplarisches Handbuch einer Theaterpädagogik, die sich strukturieren lässt eben durch Anregungen Bertolt Brechts, durch die Textsorte Lehrstück und durch die sozialwissenschaftliche und philologische Haltung der hier aktiven Mitarbeiter. Es ist eine sorgfältige und diskursive Dokumentation einer längerfristigen Pädagogik und eben nicht nur workshop-haften Kurzzeitpädagogik. Die Genauigkeit des Protokollierens des Geschehens wird hier deutlich sichtbar: Steinweg und seine Mitarbeiter nehmen wie in einer grounded theory-Forschung die Überlegungen der aktiven Subjekte in ihrem Akteursstatus wahr und halten sie, sich ihnen anschmiegend, fest. Aus solchen Entwürfen können dann lebensweltlich bedeutsame Konzepte entstehen, die nicht top down verhängt oder verordnet werden, sondern die bottom up ihre Dignität erwerben − also von der Basis, von den Wurzeln her: mithin radikal sind. Zu Form und Aufbau dieses aus reflektierter Praxis entstandenen Buches noch dieser Hinweis: Es ähnelt in Absicht und Gestaltung dem 1952 von Brecht und dem Berliner Ensemble herausgegebenen großformatigen Buch "Theaterarbeit"; in beiden Publikationen 9 wird Theaterarbeit als Prozess, als Produktionsprozess und als Produkt, das wiederum neue Prozesse anstößt, vorgestellt − jeweils sich selbst reflektierend beobachtend. Wie die dokumentierte Arbeit selbst ein exemplarisches Lernen im Kontext theatraler Phantasie/Denkweise ist, so soll es auch das Buch mit seinen Mitteln sein. Modelle werden hier vorgestellt, die auch die Begründungen ihrer Konstitution mitliefern, so dass eine Übernahme der Modelle immer auch den Kontext ihrer Entstehung und den neuen Kontext berücksichtigen muss. Es geht dabei also nicht um Vorschriften, nicht einmal um Vorbilder, sondern um Entwürfe, die als Muster dienen können. Brecht schreibt dazu: "Modelle zu benutzen ist eine eigene Kunst; so und so viel davon ist zu lernen. Weder die Absicht, die Vorlage genau zu treffen, noch die Absicht, sie schnell zu verlassen, ist das Richtige. […] Gedacht als Erleichterung, sind die Modelle nicht leicht zu handhaben. Sie sind nicht gemacht, das Denken zu ersparen, sondern es anzuregen; nicht dargeboten, das künstlerische Schaffen zu ersetzen, sondern es zu erzwingen. Nicht nur zur Abänderung der Vorlage, auch zur Annahme ist Phantasie nötig." (Theaterarbeit 1952:305) Mittlerweile zwei Auflagen hat auch Reiner Steinwegs handliches Buch "Episches Theater und Lehrstück" (1995 und 2., veränderte Aufl. 2004) erfahren. Es verarbeitet nicht zuletzt die internationale Arbeit Reiner Steinwegs, in unserem Falle in Brasilien; Ingrid DorminKoudela, selbst ausgewiesene Lehrstück-Forscherin und -praktikern aus São Paulo berichtet darüber in ihrem Vorwort. Es stellt eine Summe von Reiner Steinwegs bisherigem Tun dar und kann als eine Art Lehr-Lern-Buch für heute Interessierte sehr gut genutzt werden. Vielleicht noch stärker als mit den genannten Standardwerken zum Lehrstück hat Steinweg mit drei Heften der Zeitschrift "Alternative" gewirkt: 1971 H. 78/79: Materialistische Literaturtheorie III. Große und Kleine Pädagogik. Brechts Modell der Lehrstücke; 1973 H. 91: Brecht-Materialien I. Zur Lehrstückdiskussion; 1976 H. 107: Erprobung des Brechtschen Lehrstücks. Politisches Seminar im Stahlwerk Terni. Unverzichtbar für damaliges (und heutiges) Arbeiten waren und sind diese Hefte, auch, weil sie ein couragiertes, eingreifendes Muster von wissenschaftlicher Publizistik darstellen, das den engen Rahmen fachwissenschaftlicher Diskurse zu überschreiben trachtet(e). Den Gegenpol sozusagen bildet das von Reiner Steinweg im Brecht-Archiv mit großer Genauigkeit und Mühe erstellte Fatzer-Typoskript, das seit 1972 als Geheimtipp unter den ‚Brechtianern’, unter Theaterleuten, Schriftstellern wie Heiner Müller und Lehrstück-Spielern kursierte. Neben den Fragmenten vom "Bösen Baal dem asozialen" avancierte das "Fatzer "Fragment zu einem der wichtigsten Texte der Lehrstück-Spielpraxis. Hier schien ein anderer Brecht als der ‚offizielle’ sichtbar zu werden, in diesem „Furchtzentrum“ steigerte sich 10 Brechts Lehrstück-Modell zur äußersten Radikalität. Anders als der ‚klassische’ Brecht des epischen Theaters ist dieser Text, nach Müller "präideologisch, die Sprache formuliert nicht Denkresultate, sondern skandiert den Denkprozeß. Er hat die Authentizität des ersten Blicks auf ein Unbekanntes, den Schrecken der ersten Erscheinung des Neuen." (Müller 1989:35) Wegen der nicht unproblematischen Editionsweise des „Fatzer“ in Band 10.1 der Großen Berliner und Frankfurter Ausgabe von Brechts Werken, dient Reiner Steinwegs Typoskript bis heute als Grundlage vieler Lehrstück-Versuche. Steinwegs Re-Konstruktion von Brechts Lehrstücktheorie auf der Grundlage langjähriger Forschungen im Bertolt-Brecht-Archiv Berlin, der Versuch ein "Begriffsgeflecht" zu entwickeln und es in Verbindung mit den Lehrstück-Texten zu sehen, hieß auch, wie er selbst betont, "Konstruktion der Lehrstücktheorie"(Steinweg 1994:8), da Brecht selbst nur Bruchstücke einer Theorie vorgelegt hatte. Auf eine intensive theoretische Kontroverse um ahistorische Systematisierung und Überbetonung des Lehrstücks gegenüber dem epischen Theater (Haarmann/ Wallach/ Baumgarten (1973), Berenberg-Gosler/ Müller/ Stosch (1974), Mittenzwei (1976)) folgte Ende der 70er Jahre − wiederum initiiert von Reiner Steinweg − eine neue vielfältige, in sich heterogene Lehrstück-Praxis in der Bundesrepublik Deutschland vor allem in den Bereichen Schule, Universität und Politische Bildung, aber auch im Theater (Vgl. Steinweg 1978). 1981 wurde die Gesellschaft für Theaterpädagogik gegründet, die einen organisatorischen Rahmen für die praktische Lehrstück-Arbeit bot, seit 1984 das Lehrstück-Archiv-Hannover (LAH) vor allem für sog. "graue Literatur", d.h. nicht publizierte Arbeiten, Erfahrungsberichte und Protokolle, betreut und seit demselben Jahr die theaterpädagogische Zeitschrift "Korrespondenzen" herausgibt, die bis vor einiger Zeit den programmatischen Untertitel "Lehrstück ... Theater ... Pädagogik..." trug; heute lautet der Titel "Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen". In den 90er Jahren begann eine neue Diskussion über den Theater-Charakter der Lehrstücke bzw. über die Rolle der Musik, die zu der These von Klaus-Dieter Krabiel führte, dass das Lehrstück " nicht zur dramatischen Literatur" gehört, sondern zu "(vokal-) musikalischen Genres" (Krabiel 1993:4), eine These die aus der engen Verflechtung von Musik und Text bei Brechts ersten vier Lehrstücken entstanden ist, die aber in ihrer Monokausalität nicht tragfähig ist. Brecht wird dabei zum Librettisten der Komponisten reduziert und seine deutliche politische Intention wird völlig außer Acht gelassen (vgl. Hartung 2004). Qualität und Quantität der Lehrstück-Publikationen von Reiner Steinweg werden noch beeindruckender, wenn man berücksichtigt, dass er parallel dazu als Redakteur der in der Reihe edition suhrkamp erschienenen Vierteljahresschrift "Friedensanalysen" von 1976 bis 11 1999 tätig ist. Mit den insgesamt 24 Bänden steckte er einen weiten Rahmen ab, der die Makro- wie die Mikro-Ebene von Friedensforschung und -praxis gleichermaßen umfasste. Für die Lehrstückarbeit war der Band 10 (1979) mit dem Schwerpunkt "Bildungsarbeit" besonders wichtig, in dem der Erziehungswissenschaftler Horst Rumpf den "Ansatz beim Szenischen, bei der Arbeit von Subjekten an der Konstitution ihrer Erfahrungswelt" (Rumpf 1979:165), empfahl. Wie nun sieht Reiner Steinwegs Friedenskonzept im Zusammenhang mit den Lehrstücken, aus? Für ihn wie für viele andere ist Frieden nicht die bloße Abwesenheit von Krieg bzw. Gewalt als ein Aufzwingen von fremdem Willen. Das hebräische Wort, der jüdische Gruß "shalom" und der arabische „salam“, jeweils (zu) schnell mit "Friede" oder "Friede sei mit Dir/mit Euch" übersetzt, scheint eine passende Bestimmung des Konzepts von Reiner Steinweg − als ‚Lehrstück-Steinweg’ in Kombination mit dem ‚Friedens-Steinweg’ − zu sein. „Shalom“/“salam“ meinen das gelungene Zusammengefügt-Sein von Verschiedenem, signalisieren die Hoffnung auf etwas Gesamtheitliches, ein gesundes (heiles) Ganzes − was noch im Lateinischen Gruß "salve" oder im Englischen "salvation" steckt. Und es bedeutet nicht allein Untadeligkeit des Verhältnisses zu den Mitmenschen, als ein gedeihliches soziales Verkehrsverhältnis zu Mitmenschen, sondern auch Wohlbefinden von Körper, Geist und Mentalität (wie es in alten Übersetzungen heißt). Der Gruß "shalom"/„salam“ will einen Produktionszusammenhang des kommunikativen Gelingens stiften, stellt uns eine noch zu bewältigende Aufgabe, spannt einen Horizont auf. Vor diesem Horizont findet auch Reiner Steinwegs Friedensarbeit statt; aber auch seine Lehrstückarbeit und die vieler anderer hat hier ihren Platz als Vorgang des Erinnerns, des Einbringens und Durcharbeitens von Erfahrungen und Bedürfnissen in Hinsicht auf das Entwickeln von neuen Haltungen und neuem Handeln. Lehrstücke sind störrische, störende und verstörende Übungsstücke zur Bewältigung von Friedlosigkeit. Sich immer wieder und aufs Neue in die Modellsituationen der asozialen Muster von Lehrstücken zu begeben, ist sehr hilfreich, um Bewältigungsversuche gegen Überwältigungen verschiedener Art bestehen zu können. 4. Lehrstück-Spiel-Praxis ... im zeitgeschichtlichen und politischen Kontext Als Reiner Steinweg seine Publikation "Lehrstück und episches Theater" plante, fragte er bei Gerd Koch nach, in welchem Jahr die erste Lehrstückspielwoche in Ovelgönne bei Celle (Niedersachsen) stattgefunden habe, an der ja auch er teilgenommen hatte. Gerd Koch 12 erinnerte sich daran, dass das nach Mitte der 1970er Jahre gewesen sein müsse − und die Übungswoche habe begonnen am Tag nach dem Wochenende des ersten Trecks von Bauern und anderen Demonstranten im niedersächsischen Wendland, der sich gegen das AtomWiederaufbereitungslager Gorleben gerichtet habe. Das war im März 1979, und es war ein Kontext, in dem Lehrstückarbeit damals stand: Bürgerschaftliches Engagement und zivilgesellschaftlicher Ungehorsam bildeten den Rahmen und Resonanzboden − auch für das Arbeiten mit Lehrstücken, ja, eine Art neues Kalendarium entstand: Man bezog sich bei Zeitangaben auf Termine von Demonstrationen, politischen Kongressen, Publikationen. Mit anderen Worten: Der Kalender war (mit-)bestimmt durch Daten (Orte, Zeiten, Personen, Lektüre, Kongresse) der politischen Sozialisation. Der sog. Pfingstkongress im Mai 1976 − auch Antirepressionskongress genannt − in Frankfurt am Main war solch ein Termin: Personen, die sich vom Lehrstückspiel kannten, trafen sich dort wieder − im übrigen: nicht speziell verabredet, eher zufällig; aber dann doch nicht zufällig, weil man ja an seinem Wohnund/oder Studienort (in diesem Falle Münster in Westfalen und Hamburg) im sog. Lehrstückzusammenhang sich befand, so dass es nicht ganz zufällig war, dass man sich an Orten politischer Sozialisations-Möglichkeiten begegnete. Das Hamburger Lehrstück-Kollektiv, entstanden aus einem erziehungswissenschaftlichen Seminar zur Politischen Bildung/Sozialkunde am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg, setzte seine Arbeit im Sozialpädagogischen Zusatzstudium derselben Universität fort. Es änderte das traditionelle Lehr-Lern-Format zugunsten einer eher projektorientierten Arbeit in gemeinsamer Leitung und fasste das akademische Seminar als eine Art Lebenszusammenhang auf, indem etwa das Maß der akademischen Doppelstunde von zweimal 45 Minuten zugunsten einer vollen dreistündigen Veranstaltung erweitert wurde; und: eine jede der wöchentlichen Sitzungen begann mit einem Frühstück (eine Lebenserfahrung aus Wohngemeinschaften aufgreifend). Ferner wurde in Briefform Protokoll geführt: Eine Korrespondenz begann miteinander, auch in der Form, dass man sich in Briefe anderer mit Kommentaren hineinschrieb oder intensive Randbemerkungen machte. Aus solchem Material, das später mit Texten aus Lehrstückspielwochen angereichert wurde, entstand 1982 eine Diplom-Arbeit unter dem Titel " Politisches Lernen unter entfremdungsarmen Bedingungen aufgezeigt am Beispiel einer zweijährigen Praxis mit den Lehrstücken von Bertolt Brecht". Die Autoren waren Otto Clemens und Peter Rautenberg − übrigens sind beide als Diplom-Pädagogen, z. T. mit Fortbildung, im Felde von Theater- und Kulturarbeit weiterhin tätig. Ausgehend vom politischen Gruppenlernansatz Brechts und seiner Lehrstücke polemisierte man gegen einen ‚musisch’-kulturellen Ansatz der 13 Jugendbildung zugunsten eines ‚politisch’- kulturellen. Gerd Koch, damals wissenschaftlicher Assistent am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg und Mitglied im Hamburger Lehrstück-Kollektiv, schrieb parallel zu dieser Zeit seine Doktorarbeit zu Bertolt Brechts politisch-kultureller Bildung, als Buch unter dem Titel "Lernen mit Brecht" zuerst 1979 erschienen, eine erweiterte Auflage kam 1988 heraus. Schon in der Hochschule emanzipierte man sich vom Hochschulbetrieb und noch deutlicher, indem man deren Räumlichkeiten verließ und sich in einem selbstverwalteten Kulturhaus in Hamburg-Altona (Werkstatt 3) allwöchentlich zu Lehrstück-Übungen traf. Hier befand man sich in einem anregenden politischen Netzwerk und im Kontakt zu vielen anderen, z. T. nahen und z. T. ferner stehenden Gruppierungen. Und ein Weiteres ist noch zu erwähnen: Während der Praxis-Tagung zur Animation (vgl. Opaschowski 1981; als Brechtianer mit positivem Bezug zur französischen politisch-sozialen „Existentiellen Animation“, wie die Müller/Pagé beschrieben) wurde der Kontakt zu einem neuen Ansatz des Theatermachens hergestellt, nämlich zum Konzept des "Theaters der Unterdrückten" von Augusto Boal. Hier sah man eine ähnlich politische Perspektive und man sah Differenzen: Bei Boal die alltägliche Empirie, die es galt zu würdigen auch im Sinne von Ivan Illichs Pädagogik der Unterdrückten und einer politisch-kulturellen Dynamisierung. Bei Brecht waren es die literarische, ästhetische Vorlage, eine Reihe von spielmethodischen Anregungen, die der Strukturierung von Erinnerung, Erfahrung und Handlungsperspektive dienen konnten. Das Hamburger Lehrstück-Kollektiv beteiligte sich folglich an Veranstaltungen in der Stadt, seien es politische, pädagogische und/oder künstlerische; einzelne Mitglieder nutzten Elemente der Lehrstückarbeit in ihren jeweiligen Tätigkeitsfeldern; auch für die hochschuldidaktische Weiterbildung engagierte man sich (etwa in Konzepten politischer Bildung und politisierter Gruppendynamik in der Folge von Klaus Horn). Und man fand Arbeitskontakte zur theater-künstlerischen Szene der Stadt; etwa zu SchauspielerInnen des bundesweiten Modellversuchs Künstler und Schule (MOKS), so dass Schauspiel-Training von dort (durch Guido Huller, der später das Junge Theater Göttingen leitete) angenommen werden konnte. Auch mit einem Autor gab es Kontakte, die aus der Lehrstück-Arbeit entwickelt wurden: Bernhard Laux hatte Berufsverbot, d. h. er kam nicht in den Schuldienst, und arbeitete nun als Autor und Dramaturg. Während des Norddeutschen Theatertreffens war er dramaturgisch beteiligt an der Einstudierung des Brechtschen „Brotladens“ in einem leer stehenden Wohnhaus im Werftarbeiter-Stadtteil Kiel-Gaden (siehe seinen Bericht darüber in 14 Steinwegs Buch "Auf Anregung Bertolt Brechts", S. 260 ff.) und ließ sich von Brecht anregen für seine eigene Produktion für Bühne und Rundfunk und Theoriebildung. Und schließlich gehört in den Kontext damaliger Lehrstück-Arbeit: Namentlich in den Hessischen Jugendhöfen Dörnberg oder Dietzenbach und im West-Berliner Wannseeheim für Jugendarbeit wurde schon mit Lehrstücken bzw. dadurch angeregt Jugendbildungsarbeit betrieben. Man konnte dort jeweils auf langjährige Erfahrung von emanzipativer Jugendarbeit zurückgreifen (vgl. Lüers u. a.: 1971). Solche Jugendhöfe waren übrigens namentlich von der amerikanischen re-education-Politik eingerichtet worden, z. T. von solchen MitarbeiterInnen der Militärregierung, die durch das NS-System aus Deutschland vertrieben wurden und nun in einer Mischung aus (deutscher) Jugendbewegung und amerikanischer Gruppenpädagogik selbst-organisierte, nicht autoritäre und ergebnisoffene Jugendarbeit entwickelt hatten, in Hessen übrigens durchaus im Kontakt mit dem Institut für Sozialforschung, der Kritischen Theorie der sog. Frankfurter Schule. Trotz dieser vielfältigen und breit gefächerten Entwicklung lagen die Zentren der LehrstückArbeit in den 1970er Jahren doch an den Hochschulen, dort fand die intensivste Entwicklung statt bzw. sie ging von dort aus, indem etwa in der Soziologie, der Literaturwissenschaft (Theatertheorie und -pädagogik, Arbeiterliteratur, politische Ästhetik) oder der Erziehungswissenschaft (Politische Bildung/Sozialkunde, Didaktik/Methodik, Hochschuldidaktik) mit Lehrstücken unter Heranziehung von Reiner Seinwegs theoretischen Schriften und seinen Funden bei Brecht experimentiert wurde. An der Universität Oldenburg wurde die Lehrstückarbeit vor allem in der Lehrerausbildung eingesetzt, besonders im Kontext der szenischen Interpretation, die Ingo Scheller entwickelte (siehe seine Erinnerung in Scheller 2007:10ff.). An der Universität Münster wurde an ästhetisch-politischen Haltungen und kultur-politischen Verständnissen gearbeitet, später stand das Brechtsche Fatzer-Fragment im Blick (siehe auch Martins Jürgens’ Erinnerung in Jürgens 2007:15ff.). Bernd Ruping, aus dem Münsteraner Lehrstückzusammenhang stammend, verfasste eine Dissertation mit dem Titel "Material und Methode. Zur Theorie und Praxis des Brechtschen Lehrstücks" (Münster 1984), die auch eine systematisch-historische Berichterstattung zur Lehrstück-Praxis der 1970er/1980er Jahre ist. An der Universität Hannover entwickelte und praktizierte Florian Vaßen zusammen mit Studierenden (zu Beginn auch noch gemeinsam mit Ralf Schnell) eine Reform der Eingangsphase des Studiums der Literaturwissenschaft: Eine handlungsorientierte Einführung mittels Arbeit an und mit Lehrstücken fand und findet − variiert − bis heute statt. Integriert in 15 das Studium leiten studentische Tutorinnen und Tutoren Lehrstückspiel in kleinen Gruppen an, zum Teil auch in Tagungsstätten außerhalb der Universität oder in Wochenendseminaren. Nach ersten intensiven theoretischen Diskussionen begann 1977 die praktische Arbeit; Reiner Steinweg kam nach Hannover, aber er referierte nicht mehr über Brechts Lehrstücktheorie, sondern er leitete erste praktische Lehrstück-Versuche. Im Wintersemester 1977/78 wurde die Lehrstück-Konzeption in Einführungsseminare der Literaturwissenschaft integriert, das sog. Hannoveraner Modell als eine Verbindung von Theorie und Praxis, von diskursiver Analyse und Spielprozess entstand (vgl. Koch u.a.1984:175-191). Es folgten über mehrere Jahre Lehrstückpraxis-Blockseminare in Dringenberg bei Bad Driburg im Rahmen des Germanistik-Studiums und Wochenseminare außerhalb des Universitätsbetriebs, z.B. in Ovelgönne vom 2. bis 6. April 1979 − Lehrende wie Studierende hatten damals mehr Zeit oder sie nahmen sich eben die Zeit! Unter dem Titel "Ästhetische Erfahrung als Widerstandsform. Zur gestischen Interpretation des ‚Fatzer’-Fragments" präzisierten Ralf Schnell und Florian Vaßen in dem schon erwähnten Buch "Assoziales Theater. Spielversuche mit Lehrstücken und Anstiftung zur Praxis" ihre Position: Der Begriff der ästhetischen Erfahrung, "gewonnen im gestischen Umgang mit literarischen Texten", die ihre politische Qualität in dem Widerstand gegen die "Deformationen des Alltags" besitzen, betont eine spezifische Dimension der LehrstückKonzeption, die in vielen Spiel-Versuchen eher verdeckt blieb. Es geht dabei um die ästhetische Konkretion von Differenzerfahrungen, um die Komplexität und Unausdeutbarkeit vor allem der literarischen Texte, die in Gesten, Haltungen und Reden der Spielenden aktuell materialisiert werden und in szenischen Bildern ihre widersprüchliche Ausdrucksform finden: "Der Prozeß der Visualisierung verdeutlicht […] den Prozeß der literarischen Produktion, die Produziertheit des Textmaterials. [...] Angelegt ist diese Arbeitsweise auf eine ästhetische Sensibilisierung, die in ihrer intellektuellen wie körperlichen Fundierung neue Wahrnehmungsmöglichkeiten und Produktionsformen gegen Zurichtung und Instrumentalisierung entwickelt, Wahrnehmungsmöglichkeiten, die nicht aus der sinnlichen Produktion und Reproduktion des Alltags (Spiel, Tanz etc.) entstehen, sondern aus der Destruktion von ästhetischem Text und Geschichte." (Schnell u.a. 1984:170) Mit dieser klaren Positionierung haben wir uns gegen den Vorwurf der Entpolitisierung qua Ästhetisierung gewehrt, indem wir der "Konstruktion von ‚Kausalitäten und Sinnzusammenhängen’" eine "Konfrontation mit der im poetischen Text selber sedimentierten historischen Erfahrung ", "Fragmentarisierung" und "ungelöste Widersprüche" bei Brecht selbst (Schnell u.a.: 1985:12) entgegenstellten. 16 Auf den ersten Blick scheint allerdings schon bei Brecht der Aspekt der Ästhetik im Vergleich zu Aspekten wie Politik und Pädagogik, Körper und Gewalt eher ein nachgeordneter Gesichtspunkt in der Lehrstück-Theorie und -Praxis zu sein. So schreibt er in dem Text "Zur Theorie des Lehrstücks": "ästhetische maßstäbe für die gestaltung von personen, die für die schaustücke gelten, sind beim lehrstück außer funktion gesetzt"; aber es heißt dort ebenfalls: "für die spielweise gelten anweisungen des epischen theaters. das studium des V-effekts ist unerläßlich." Schließlich formuliert Brecht: "die form der lehrstücke ist streng, jedoch nur, damit teile eigener erfindung und aktueller art desto leichter eingefügt werden können." (Brecht 1976:164) Die Form der Lehrstücke wird bestimmt von einer ‚mittleren Abstraktionsebene’, sie steht sozusagen zwischen der diskursiven und der poetischen Sprache. In diese spezifische Form, die sehr karg und sparsam in ihren Mitteln ist, eben "streng", können jedoch um so besser eigene Erfahrungen, auch in Form alltagssprachlicher Formulierungen, eingefügt, aber auch mit ihr konfrontiert werden, da weder die Abstraktion eines theoretischen Textes noch die Bildlichkeit und Metaphorik eines poetischen Textes vorherrscht. Anders als beim Rollenspiel und Psychodrama basiert der Lehrstück-Spielprozess allerdings auf kunstvoll gebauten, literarischen Texten, in denen nicht nur die gesellschaftlichen Muster "hochqualifiziert" sind, sondern auch die sprachlichen. Sie bestehen zumeist aus reimlosen Versen mit unregelmäßigen Rhythmen und gestischer Sprache, d.h. es ist eine gesprochene und doch zugleich eine poetisch geformte Sprache. Daneben spielen ästhetische Verfahren wie die Ambiguität der Figuren, die Kontraste und Widersprüche in der Konstruktion der Szenen, die Montage von Chören und Kommentaren eine zentrale Rolle. So kann man dem "spröde(n) sich verweigernde(n) Textkorpus" der Lehrstücke "höchste künstlerische Strenge" (Winnacker 1994:71; vgl. auch Winnacker 1997) zuerkennen und damit eine große poetische Intensität. Dem Lehrstück liegt also im Sinne Adornos durchaus ein "artistisches Prinzip" (Adorno 1981:419) zugrunde, es kann weder "nur als Spielvorlage" noch "nur als Text" (Winnacker 1994:72) verstanden werden. Aber auch die Haltungen der Spielenden und ihr Gestus sind in ihrer Formung und Ausdruckskraft ästhetisch konstituiert; sie verweisen auf den Alltag und sind doch zugleich aus ihm herausgelöst, werden zu lebenden Körperbildern, die in ihrer Stilisierung zitierbar und damit auch wiederholbar sind. Weiterhin besteht in der Versuchsreihe der Lehrstücke eine produktive Spannung zwischen dem organisierten Experimentieren und dem freien Variieren und Improvisieren der Spielenden, Brecht spricht in einem etwas anderen Kontext von der "Einheit von Freiheit des Einzelnen und Diszipliniertheit des Gesamtkörpers“, vom 17 „Improvisieren mit festem Ziel" (Brecht u.a. 1976:111). Aus diesen verschiedenen ästhetischen Konstituenten resultiert schließlich, dass auch die Wahrnehmung der Beobachter im Spielprozess eine ästhetische Orientierung erhält. Zumeist wurden in der Spiel-Praxis der pädagogische und der ästhetische Aspekt, fundiert von einer politischen Orientierung – sicherlich je unterschiedlich – miteinander verbunden. Schon Walter Benjamin schrieb dazu: "Ihre pädagogische Wirkung haben sie zuerst, ihre politische dann und ihre poetische ganz zuletzt." (Benjamin 1977:II.2,662) In vielen Lehrstück-Praxisversuchen, zumal wenn eine direkte politische Anwendung angestrebt wurde, blieb die Analyse "des ästhetischen Typus Lehrstück" (Steinweg 1994:9), seiner ästhetischen Konstitution, seines artistischen Prinzips und seiner poetischen Struktur, d.h. der Kunst-Aspekt, im Vergleich zu der breiten Rezeption und Praxis in den verschiedensten sozialen Feldern jedoch nachgeordnet. Auch für Reiner Steinweg stand die ästhetische Dimension des Lehrstücks für eine lange Zeit sicherlich nicht im Zentrum seiner Arbeit, aber er hat sie auch nie negiert, ja eigentlich das soziale Handeln und Erproben immer auch als eine ästhetische Vorgehensweise verstanden. In seiner letzten Buchpublikation zum Lehrstück hebt er insbesondere Distanz und Verfremdung, aus dem Zusammenhang heraus gelöste, stilisierte Gesten und Körperbilder, Montage sowie Widerspruch und Kontrast als "grundlegendes ästhetisches Prinzip" (Steinweg 1995:94) des Lehrstücks hervor. Aus den verschiedenen Mustern der Lehrstückarbeit geht hervor, dass sowohl konzentriert, fast wie bei Exerzitien gearbeitet wurde − ohne Störung von einem wie immer gearteten Außen, fast wie in einer sozial-therapeutischen Ruhesituation. Dann aber drängt derselbe Arbeitsansatz nach außen ins Sozial-Politische, will politische Kultur beeinflussen. Es bietet sich an, solche (im Theater übliche) Doppelbestimmung mit Begriffen zu beschreiben, die der Verwendung durch Hannah Arendt entlehnt sind. Lehrstück-Arbeit ist übende Tätigkeit im oikos, also im geschützten Haus, im Raum, der nicht alles hineinlässt und unmittelbare Selbstverständigung ermöglicht. Aber, um Theaterarbeit zu einer vita activa, so wieder mit Hannah Arendt gesagt, zu einem aktiven Leben werden zu lassen, bedarf es der Handlung im öffentlichen Raum, des Agierens auf der agora (dem Markt, dem Platz). Demokratische Öffentlichkeit und Kultur sind − nach Hannah Arendt − immer aufs Neue zu bewältigende Aufgaben, sind Teilnahme, Eingriffe, Strukturierungen des Feldes, Interessensbekundungen, Handeln von Angesicht zu Angesicht und ganz körperlich, soziale Haltungen einnehmend und Gestaltungen von Welt vornehmend. Hannah Arendt hat ihr Modell von Öffentlichkeit dem der klassischen griechischen polis nachgestaltet. Es rechnet noch nicht mit der 18 allgegenwärtigen Medialität, gibt aber eine Zielmarkierung für Öffentlichkeit und Verhalten in Öffentlichkeit als menschlicher Aufgabe. Lehrstückarbeit kann − in seiner Verbindung von oikos- und agora-Handeln − als Herstellung kleiner literarisch-politischer Öffentlichkeiten verstanden werden. Lehrstückarbeit ist eine "Versuchsanordnung" (Brecht) im Kleinen wie fürs Große, es findet eine kommunikative "Produktionsberatung" statt, ein Begriff den Brecht von K. A. Wittfogel übernommen hat. Als 1979 die schon erwähnte erste Lehrstückspielwoche unter Teilnahme von Reiner Steinweg in einem Schullandheim in Ovelgönne bei Celle selbstorganisiert durchgeführt wurde, befanden wir uns in Ort und Zeit nahe am Geschehen der Proteste gegen das Wiederaufbereitungslager für atomare Brennstäbe in Gorleben − auch heute noch ein kontroverses Thema mit Protesten im Wendland und entlang der Zugstrecke von Frankreich nach Norddeutschland; auch das NATO-Panzer-Übungsgelände Bergen-Hohne oder der Militärstandort Munster sind nicht weit entfernt. Und: Ovelgönne und Celle liegen ganz in der Nähe des ehemaligen KZ Bergen-Belsen, der heutigen Gedenkstätte Bergen-Belsen. Das war uns Lehrstück-Spielenden bekannt, und es kam bei einigen das Interesse auf, gerade wegen des politischen Spiels mittels Lehrstück-Passagen, einige Stunden zum Besuch der Gedenkstätte einzuplanen. Getreu einem Vollversammlungsprinzip wurde darüber mit allen debattiert. Mehrheitlich wurde beschlossen, die konzentrierte Arbeit im Schullandheim nicht zu verlassen, sondern weiter an politischen Haltungen und Modell-Situationen u.ä. zu arbeiten; ja, es hieß auch, man solle dieser Konzentration, diesem Selbstbezug nicht entfliehen, stärker noch: Diejenigen, die einen ‚Ausflug’ zur Gedenkstätte machen wollten, könnten es wohl nicht mehr aushalten in der konzentrierten Übungsatmosphäre. Die wiederum entgegneten, dass neue, über die Gruppen- und Selbsterfahrungssituation hinausgehende Impulse doch sehr nützlich seien, um nicht immer nur im pool mitgebrachter Erfahrungen zu bleiben. Auch würde man sicher − durchs Lehrstück-Spiel angeregt − erfahrungsoffener gegenüber den Eindrücken der Gedenkstätte sein. Es ergab sich, dass eine Teilgruppe aus der Gesamtgruppe sich herauslöste und sich auf den Weg zur Gedenkstätte machte. Wenn wir uns recht erinnern, dann war Reiner Steinweg einer derjenigen, der solche Unterbrechung nicht für richtig hielt. Die in der Tendenz klösterliche Arbeitsatmosphäre (siehe oikos) sollte − wie unter kontrollierten Experiment-Bedingungen − aufrechterhalten werden. Die hier gefundenen Rituale sollten genügen, u.a. auch das musikalische Wecken durch Reiner Steinweg, tägliche Körperübungen (sehr nützlich und mit großem Nachholbedarf für akademisch sozialisierte Personen, namentlich durch Gerburg de Atencio einfühlsam und gekonnt angeleitet), Übungen unter verabredeten Untersuchungsprämissen, 19 Rollenwechsel, Arbeit mit chorischen Partien, freie Aktivierung von mitgebrachten SpielModellen, Reflexions-Runden, Zeiten fürs Protokollieren. Auch gehörte zur Verabredung der Spielwoche, dass die einzelnen Spielgruppen zum Wochenende unter einander und vor fachlich interessierten Gästen etwas präsentieren sollten. Die erste Spielwoche mit Lehrstücken hat weitere Spielwochen nach sich gezogen. Sie hat ermutigt, am jeweiligen Ort der Teilnehmer weiterzuwirken, sie hat eine Vernetzung hergestellt, hat dadurch fachlich und mental ermutigt, hat Bezugspunkte gegeben, die Wirklichkeit strukturieren halfen. Zwei Anekdoten als Beleg dazu: Eine Studentin musste nach einer Spielwoche wieder ins gewohnte Uni-Seminar. Sie verließ es nach wenigen Minuten, weil ihr die Seminarkommunikation wie tot vorkam nach dem mehrdimensional aktivierenden Lehrstück-Spiel-Wochen-‚Seminar’. Ein anderer Teilnehmer kommt zurück in seine Wohngemeinschaft und wird fast nicht wieder erkannt, weil er persönlich gestärkt in Diskussionen eingreift. Und eine beruflich relevante Rückmeldung: Durch das konzentrierte Arbeiten mit Lehrstücken und durch das Akzeptieren des Lehrstücks als Mitspieler habe man gelernt, Erfahrungswissen so zu strukturieren, dass reflektiertes Wissen entsteht − was ganz bei mir selbst ist und von mir wie von außen beobachtet werden kann. Es zeigt sich, dass die Dialektik von internem und externem Tun nicht stillgestellt werden sollte im Lehrstück-Spiel, sondern als eine produktive Widersprüchlichkeit ihm konstitutiv ist. Innerhalb dieser und späterer Lehrstückspiel-Phasen wurde diese Thematik immer wieder angesprochen − zum Teil auf der Folie eines Streits um das Politische bzw. das Unpolitische oder um Aktion und Reflexion. Im aktuellen Fall während des Lehrstück-Spielens sind solche Debatten oft unproduktiv, weil etwa die Motivation zum sich öffnenden Spiel behindert wird. Da aber Lehrstücke auch so etwas wie ein politisches Seminar sind, wie der Komponist Hanns Eisler meinte, gehören solche Meinungsunterschiede zum Bestandteil des gesamten Vorgehens. Brecht sagte ja, dass er seine Lehrstücke so offen konstruiert habe, dass Teile eigener Erfahrung Platz in ihnen finden könnten. Solcher Streit wäre ins Spiel zu bringen (in doppeltem Verständnis). Spiel und Arbeit kommen dicht zueinander. 5. Zeit- und Weg-Genosse Reiner Steinweg − Shalom/Salam Seit mehr als 30 Jahren besteht unser freundschaftlicher Kontakt zu Reiner Steinweg: Wir lernten ihn kennen als Mitspieler in Lehrstück-Spielphasen, als Experten für Theorie und Praxis des Lehrstücks, als Autor zur Lehrstück-Thematik und zur Friedensforschung und praxis, als Tagungsorganisator, als Redakteur und Herausgeber, als Mit-Herausgeber des 20 Bandes "Assoziales Theater" und der Publikation "Erzählen, was ich nicht weiß ", als Musiker, als forschenden Interviewer und präzisen Protokollanten. Seine Friedensaktivitäten aus der Zeit vor der Lehrstück-Phase − wenn man so sagen darf − sind uns durch vertrauensvolle Personen (Hans-Konrad Tempel und Erika Bluth) verbürgt. Die schulischen Aktivitäten um seine Lehrer Heinz Schultz, der eine "Erziehung zum kritischen Denken" (Volkhard Brandes/Reiner Steinweg 1993) pflegte, sowie Ernst Werner, der seinen Schülern verbat zu gehorchen (Volkhard Brandes u. a. 1988, Volkhard Brandes u. a. 1990), sind von Reiner Steinweg und anderen publiziert worden – unter anderem zusammen mit Volkhard Brandes, seinem Mitschüler, dem langjährigen Freund von Gerd Koch und unserem Verleger Aber wie wird es weitergehen? Die ältere Generation hat sich aus der aktiven LehrstückArbeit schon zurückgezogen (Jürgens, Ritter, Scheller) oder beginnt doch, ihre Aktivitäten allmählich zu reduzieren (Koch, Vaßen). Andere haben sich auf Augusto Boal konzentriert oder sind zum Film und den neuen Medien gewechselt. Die mittlere Generation hat − z.T. notgedrungen − andere Berufs- und Lebenszusammenhänge gewählt und für die Jüngeren ist Brechts Modell des Lehrstücks oft nur noch eine unter vielen theaterpädagogischen Methoden; zudem reduziert sich der institutionelle Rückhalt, ganz zu schweigen vom grundlegend veränderten politischen Hintergrund. Geht also eine "Epoche" des Lehrstücks zu Ende? Zumindest sollten wir gemeinsame überprüfen und überlegen, ob und wie es weitergehen kann. Reiner Steinweg, − dessen sind wir uns ganz sicher – wird sich auch hierbei nachdrücklich beteiligen. Wir fragen uns sowieso, wie schafft Reiner ‚Sisyphus’- Steinweg all dies und all dies Verschiedene? Wir wissen es nicht! Wir wissen aber: er scheint immer ‚im Dienst’ zu sein. In der Zeit vor Email und Internet geschah es durchaus − und viele können davon berichten −, dass ein Anruf von Reiner kam, in dem er mitteilte, dann und dann sei er für etwa eine Stunde auf dem Bahnhof und da könne man doch das und das für die und die Sache noch besprechen, ein Manuskript durchgehen oder Ähnliches. Ja, so etwa machte er einiges möglich, so hielt er Verbindung, so arbeitete er − zusammen mit anderen − am ‚großen Netz’ des Lehrstücks. Nicht verhehlen möchten wir aber auch die Gedanken, die Fragen: Wie hält er das alles durch? Machen seine Augen mit? Hilft der Spezial-Tee weiterhin? Greifen Anregungen aus der traditionellen chinesischen Medizin? Ist das Musizieren als das ganz Andere gegenüber den vielen Tätigkeiten vielleicht eine Kräftigung? Nun, jedenfalls: 70 Lebensjahre sind geschafft. Keine Kleinigkeit − eine imponierende Fülle. Salve! Shalom! Salam! 21 Literatur Adorno, Theodor W.: Engagement. In: Ders.: Noten zur Literatur. Suhrkamp: Frankfurt a. 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