VL: Einführung in die Erkenntnistheorie, Grundmann WS 02/03 12. Februar 03 Quellen der Rechtfertigung II: Rationalismus §1 Allgemeines Rationalismus (auch: Metaphysik): Reine Vernunft (rationale Intuition, rationale Einsicht) ist eine erfahrungsunabhängige Quelle der Rechtfertigung. In diesem Fall spricht man auch von Rechtfertigung a priori. Der Rationalismus ist eine Form von Fundamentalismus. §2 Motivation Es gibt klare Grenzen der empirischen Rechtfertigung von Meinungen durch Sinneserfahrung: (i) notwendige Wahrheiten der Logik (pvqq), der Mathematik (2+2=4), der Semantik (Junggesellen sind unverheiratete Männer), aber auch der Philosophie (über Essenzen, Kategorien, allgemeines Kausalprinzip der Natur etc.) (ii) Möglichkeiten, die sich nicht aus der Erfahrung extrapolieren lassen (also weder aktualisierte Möglichkeiten noch nomologische Möglichkeiten) (iii) gehaltserweiternde Inferenzprinzipien, die über den unmittelbaren Erfahrungsgehalt hinausführen, lassen sich nicht empirisch rechtfertigen; von ihnen hängt aber ein Großteil unseres empirischen Wissens ab Induktion, Abduktion §3 Geschichte Klassische Rationalisten: Platon: Zugang zu notwendigen Wahrheiten über vorgeburtlichen Kontakt der Seele mit den Ideen (Anamnesis, angeborenes Wissen) (Aritoteles): heuristischer Zugang über die Erfahrung (epagoge), aber noetisches Erfassen Descartes: rationale Intuition, natürliches Licht Leibniz: Widerspruchsprinzip als Methode Kant: transzendentale Argumente (A) Angeborene Ideen Bis Kant ist apriorisches Wissen Wissen, das uns angeboren ist und deshalb nicht durch Erfahrung erworben 1 werden muss (Prototyp: Platos VL: Einführung in die Erkenntnistheorie, Grundmann WS 02/03 12. Februar 03 Anamnesislehre, Leibniz). Für Kant ist apriorisches Wissen einfach erfahrungsunabhängig gerechtfertigt. ‚angeboren‘ ist weder hinreichend noch notwendig für ‚erfahrungsunabhängig gerechtfertigt‘ nicht hinreichend: ontogenetisch apriorisches Wissen kann in der Stammesgeschichte (phylogenetisch) erworben sein (K. Lorenz); evolutionäre Erkenntnistheorie nicht notwendig: Kinder, Erwachsene vor jeder Reflexion oder Anwendung einer apriorischen Methode müssen dieses Wissen noch nicht haben (man kann also auch apriorisches Wissen durch Verwendung einer erfahrungsunabhängigen Methode erwerben) (B) Was ist die apriorische Methode? Descartes: Intuition Leibniz: Anwendung des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch (Begriffsanalyse) Kant: transzendentale Argumente §4 Varianten des Rationalismus (1) radikaler Rationalismus: Alles Wissen beruht auf Vernunft (Platon, Fichte?) (2) gemäßigter Rationalismus: Es gibt bestimmte Bereiche der Welt, über die Wissen (ausschließlich) auf rationalistischem Weg erworben werden kann (Aristoteles, Kant, BonJour) (3) gemäßigter Empirismus: Wissen über die Relation unserer Vorstellungen (Bedeutungen) kann auf rationalistischem Weg erworben werden (Logik, Mathematik, Semantik: Hume, Russell, Ayer, Carnap): analytische Sätze werden apriori gewusst. §5 Einige Unterscheidungen (1) analytische und synthetische Urteile (Unterscheidung implizit bei Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, 4. Abs.; explizit bei Kant, KrV, B 10ff) Analytische Urteile sind wahr aufgrund von Bedeutung; sie sagen nichts über die Welt aus, sondern nur über die Beziehung unserer Begriffe (Wörter). Synthetische Urteile sind wahr aufgrund der Tatsachen in der Welt; sie sagen etwas Informatives über diese Welt aus. (2) notwendige vs. kontingente Propositionen 2 VL: Einführung in die Erkenntnistheorie, Grundmann WS 02/03 12. Februar 03 Semantische Unterscheidung (betrifft allein den Bezug) Notwendige Propositionen sind, wenn sie wahr sind, wahr in allen möglichen Welten (ontologischer Grundbegriff von Leibniz). Wenn eine Proposition notwendig wahr ist, dann hätte es nicht anders sein könenn, als sie sagt. (Logische, mathematische, semantische und essentielle Wahrheiten: Wasser ist H2O) Kontingente Wahrheiten sind nur in der aktualen (wirklichen) Welt wahr. Es hätte auch anders sein können, als sagen. (3) Unfehlbarkeit vs. Fehlbarkeit Epistemische Unterscheidung (betrifft den Grad der Rechtfertigung) Unfehlbarkeit: Der Grund erzwingt die Wahrheit der Meinung. Die Wahrheit ist notwendig relativ zum Grund, aber der Inhalt der Meinung ist nicht notwendig. Fehlbarkeit: Der Grund erzwingt die Wahrheit der Meinung nicht. Notwendige Wahrheiten können fehlbar gerechtfertigt sein; kontingente Wahrheiten unfehlbar (cartesianische Propositionen). (4) Inkorrigibilität vs. Korrigibilität Korrigibilität nur durch Evidenzen derselben Quelle (negative epistemische Autonomie) Korrigibilität durch Evidenzen einer anderen Quelle §6 Klassischer Rationalismus und Einwände Klassischer Rationalismus: Notwendige Wahrheiten (analytisch und synthetisch) können ausschließlich apriori (durch Vernunft) gerechtfertigt werden. Apriorische Rechtfertigung ist negativ epistemisch autonom und unfehlbar (Platon, Kant, Kitcher 1980) E1 Kripke 1993: Es gibt notwendige Wahrheiten, die empirisch erkannt werden: Identitätsaussagen, die Namen oder natürliche Arten Begriffe (rigide Designatoren) enthalten, sind notwendig. Wir entdecken die Identität (von Abendstern und Morgenstern; Wasser und H2O) empirisch. E2 Quine 1952: Rechtfertigung ist prinzipiell fehlbar. Auch die Rechtfertigung von mathematischen, logischen Aussagen ist im Zuge des Fortschritts dieser Disziplinen korrigierbar. 3 VL: Einführung in die Erkenntnistheorie, Grundmann WS 02/03 12. Februar 03 E3 Casullo 1988: Die apriorische Rechtfertigung von notwendigen Propositionen ist empirisch widerlegbar. Notwendige Wahrheiten implizieren aktuale Wahrheit, doch die kann durch Erfahrung widerlegt werden. Zeitgemäßer Rationalismus: Wir können notwendige Wahrheiten in manchen Fällen durch rationale Einsicht rechtfertigen, wobei diese Rechtfertigung fehlbar und empirisch widerlegbar ist. Es ist nicht inkonsistent, die Fehlbarkeit und empirische Widerlegbarkeit apriorischer Rechtfertigung zu behaupten. A1 Aus der Erfahrungsunabhängigkeit der Rechtfertigung folgt nicht ihre Infallibilität. (BonJour 1998) A2 Für die Rechtfertigung ist Zuverlässigkeit hinreichend, Wahrheitsgarantie ist nicht notwendig. A3 Durch empirische Widerlegbarkeit ist die Apriorizität der positiven prima facie Rechtfertigung nicht beeinträchtigt. (Casullo 1988) §7 Die Methode rationaler Rechtfertigung (1) Begriffsanalyse (i) das Verstehen einer Proposition führt automatisch zum Glauben an ihre notwendige Wahrheit (Selbstevidenz der Proposition): BonJour. (ii) Begriffsanalyse durch die Reflexion darauf, unter welchen kontrafaktischen Bedingungen wir einen Begriff anwenden würden: Jackson. (iii) Überprüfung daraufhin, welche Begriffsverknüpfungen zu einem Widerspruch führen (Leibniz). E1 So lassen sich nur analytische Aussagen rechtfertigen und keine Wahrheiten über die Welt (Kant, KrV, B 23) R1 Boghossian 1997, Jackson 1998: Wieso soll es nicht möglich sein, mittels Begriffsanalyse etwas über die Welt herauszubekommen, von der unsere Begriffe handeln? Analytisch wären die Aussagen dann nicht im metaphysischen Sinne (wahr aufgrund von Bedeutung), sondern nur im epistemischen Sinne (gerechtfertigt durch Begriffsanalyse). E2 Die Existenz von analytischen Aussagen (im Sinne von ‚wahr aufgrund von Bedeutung‘) ist problematisch. Quine 1953: (i) Analytizität ist nicht ohne Zirkularität definierbar. Quine 1960: (ii) Aus behavioristischer Perspektive lässt sich nicht unterscheiden, ob zwei Ausdrücke synonym sind oder ob sie aus empirischen Gründen einfach korreferentiell verwendet werden. 4 VL: Einführung in die Erkenntnistheorie, Grundmann WS 02/03 12. Februar 03 R2(i) Wenn wir annehmen, dass Ausdrücke/Symbole eine bestimmte Bedeutung haben, dann liegt damit auch fest, ob zwei Ausdrücke dieselbe Bedeutung haben (analytisch sind) oder nicht. R2(ii) Das Problem hängt dann allein von der methodischen Prämisse des Behaviorismus ab. (2) Transzendentale Argumente Es gibt notwendige Bedingungen, die Gegenstände erfüllen müssen, um für uns erfahrbar zu sein. Diese Bedingungen gelten apriori für die für uns erfahrbaren Gegenstände (sofern sie für uns erfahrbar sind). E Wie können wir davon apriori wissen? Nur indem wir eine synthetisch apriori gerechtfertigte Theorie der notwendigen Bedingungen der Erfahrung voraussetzen. Doch dann können TAe nicht die generelle Methode apriorischer Rechtfertigung liefern. (3) Vorstellbarkeit, Denkbarkeit, modale Intuitionen Wenn wir uns Szenarien vorstellen können, dann ist das ein prima facie Indiz dafür, dass sie möglich sind. Wenn sich Szenarien nicht vorstellen lassen, dann ist das ein prima facie Indiz gegen ihre Möglichkeit. Etwas, dessen Negation nicht möglich ist, ist notwendig. E Bartelborth 2001: Trivialitätsverdacht; mit ein bisschen Fanatasie lässt sich alles ohne Einschränkungen vorstellen. R Vorstellbarkeit ist nicht identisch mit der Möglichkeit bildhaftem Imaginierens. Eher Denkbarkeit. Für die Vorstellbarkeit eines Szenarios ist es nicht hinreichend, wenn wir es uns isoliert denken können. Sondern: Wir müssen uns eine ganze Welt (vollständig) denken können, in die das Szenario konsistent hineinpasst. Außerdem muss diese denkbare Welt explanatorisch kohärent sein. (Zusatzbedingungen schränken die Beliebigkeit des Denkbaren ein.) §8 Verbleibende Probleme des zeitgemäßen Rationalismus P1 Woher wissen wir überhaupt, dass modale Intuitionen zuverlässig sind? R1 BonJour 1998: Wenn wir eine Proposition verstehen, dann glauben wir daran, dass sie notwendigerweise wahr ist. 5 VL: Einführung in die Erkenntnistheorie, Grundmann WS 02/03 12. Februar 03 E1 Abgrenzungsproblem: Wir können den Einfluss anderer empirischer Vormeinungen (neben dem Verstehen) auf unserer Überzeugung gar nicht ausschließen. E2 Die Selbstevidenz der Proposition kann die internalistischen Rechtfertigungsbedingungen nicht erfüllen. Der Internalismus verlangt, dass uns ein Grund bekannt ist, der die Wahrheit der Meinung wahrscheinlich macht. Wenn wir jedoch aufgrund unseres Verstehens glauben, dass die Proposition notwendigerweise wahr ist, dann haben wir damit nur einen bestimmten semantischen Gehalt und keine epistemische Klassifikation (also keinen Grund, der die Wahrheit der Proposition – relativ zum Grund – wahrscheinlich macht. (Grundmann 1999) R2 Die Rechtfertigungskraft modaler Intuitionen lässt sich durch den Skeptiker nicht berechtigterweise in Frage stellen. A Um modale Intuitionen in ihrer Rechtfertigungskraft in Frage zu stellen, muss der Skeptiker annehmen (und zwar mit guten Gründen), dass es möglich ist, dass modale Intuionen stets falsch sind. Also muss der Skeptiker annehmen, dass er modale Aussagen rechtfertigen kann. Das kann jedoch nur mit Hilfe modaler Intuitionen geschehen. Also kann der Skeptiker die Rechtfertigungskraft nur um den Preis epistemischer Inkonsistenz in Frage stellen. Seine Rechtfertigung widerspricht dem Inhalt der gerechtfertigten Proposition. (Grundmann & Misselhorn 2003) P2 Wie können wir die Zuverlässigkeit modaler Intuitionen erklären? Wenn wir modale Realisten sind, dann kann es keine kausale Beziehung zwischen der Realität möglicher Welten (dem Wahrmacher) und unseren Evidenzen für sie geben (in der aktualen Welt). Grund: Zwischen möglichen Welten gibt es keine kausalen Beziehungen. Damit scheinen evolutionäre Erklärungen auszuscheiden. Doch wie lässt sich die Zuverlässigkeit dann erklären? 6 VL: Einführung in die Erkenntnistheorie, Grundmann WS 02/03 12. Februar 03 Literatur Bartelborth, T. 2001: „A-priori Rechtfertigung und Skeptizismus“, in: T. Grundmann (Hg.), Erkenntnistheorie, Paderborn, S. 109-124. Boghossian, P. 1997: „Analyticity“, in: Hale, B. & Wright, C. (Hg.), A Companion of the Philosophy of Language, Oxford, S. 331-368. BonJour, L. 1998: In Defense of Pure Reason, Cambridge. Casullo, A. 1988: „Revisability, Reliabilism and A Priori Knowledge“, in: Philosophy and Phenomenological Research 49, S. 187-213. Grundmann, T. 1999: „BonJour’s Self-Defeating Argument for Coherentism“, in: Erkenntnis 50, S. 463-479. Grundmannm, T. & Misselhorn, C. 2003: „Transcendental Arguments and Realism“, in: H.-J. Glock (Hg.), Strawson and Kant, Oxford UP, S. 205-218. Jackson, F. 1998: From Metaphysics to Ethics, Oxford. Kitcher, P. 1980: „Apriori Knowledge“, in: The Philosophical Review 89, S. 3-23. Kripke, S. 1993: Name und Notwendigkeit, Frankfurt am Main. Quine, W.V. 1953: „Two Dogmas of Empiricism“, in: ders., From a logical Point of View, Cambridge (Mass.), S. 20-46. Quine, W.V. 1960: Word and Object, Cambridge (Mass.). 7