Altes Testament Die Heilige Schrift ist eine Einheit, die aus zwei Teilen besteht: Dem sogenannten Alten Testament (AT) und dem Neuen Testament (NT). Die biblischen Kurse zum Alten und Neuen Testament helfen, Schwierigkeiten in bezug auf das Verständnis der Bibel abzubauen. Jeder Teil des Kurses erstreckt sich über ein Kursjahr. Es ist sinnvoll, mit dem Kurs NT 1 zu beginnen. Wer mehr Vorwissen mitbringt, kann auch mit AT 1 einsteigen. AT 1: Tora und Judentum bis zur Zeitenwende Inhalt: Das Erste Testament als Reden von Gott Methoden der Texterschließung – Geschichten vom Anfang Israel in Ägypten Auf dem Weg ins Gelobte Land Weisung und Gesetz Erneuerung und Wiederaufbau des Gottesvolkes Israel bis zur Zeitenwende Sollten wir jetzt Ihr Interesse geweckt haben, stellen wir Ihnen den ersten Teil des Kurses als Leseprobe zur Verfügung. Gerne können Sie sich bei uns für diesen Kurs auch anmelden. Der Kursbeitrag (Unterlagen + Kursbetreuung) beträgt 35€. LINZER FERNKURS: ERSTES TESTAMENT I 1. Aussendung: Das Erste Testament als Reden von Gott 1. 1.1 1.2 Das Erste Testament als Reden von Gott und Mensch Der Name: Altes Testament oder Erstes Testament Schwierigkeiten mit dem Ersten Testament 3 3 3 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 Die Bibel - das Wort Gottes Im Ersten Testament kommen Menschen zu Wort Im Ersten Testament reden Menschen von Gott Die Bibel redet in einmaliger Weise über Gott Zum Verständnis der Inspiration der Hl. Schrift 4 5 5 5 6 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 Der Kanon der Heiligen Schrift Das Entstehen des Kanons der Hebräischen Bibel Der Text des Ersten Testaments Die Kapitel- und Verseinteilung der Bibel Die alten Übersetzungen des Ersten Testaments 7 7 11 11 11 4. 4.1. 4.2 4.3 Der Kulturraum des Ersten Testaments Das Klima Die Pflanzenwelt Die Tierwelt 12 15 15 16 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 Die Geschichte Israels Von der Vorgeschichte zur Geschichte Die Geschichte Ägyptens Die Geschichte der Bevölkerung Mesopotamiens Die Geschichte Israels Ursprungssituationen biblischen Glaubens 16 16 16 17 18 21 6. 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 Einige Grundzüge zu einer biblischen Theologie Biblisches Reden von Gott Biblisches Reden vom Schöpfergott Biblisches Reden vom Bundesgott Biblisches Reden von Gott in verschiedenen Zeiten/Kulturen Textbeispiel: Psalm 23 Die „Mitte“ des Ersten Testaments 24 24 25 25 26 26 28 Literaturliste 28 Herausgeber: Verfasserin: Kursleitung: Büro: 9. Auflage: Dr. Franz Kogler Dr. Roswitha Unfried; Mitarbeit von Mag. Dr. Eva Drechsler Mag. Ursula Pichler Claudia Außerwöger, Michaela Helletzgruber, 0732/7610-3232; Fax DW 3239, e-mail: [email protected] 2002 LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 2 „Dein Wort ist meinem Fuß eine Leuchte, ein Licht für meine Pfade“ (Ps 119,105) Vorwort Ganz herzlich möchte ich Sie als Teilnehmerin bzw. Teilnehmer des Fernkurses zum Alten Testament begrüßen. Neben einem Überblick über alle Schriften des Ersten Testaments wird eine Besprechung wichtiger Bibelstellen angeboten. Dies soll einerseits einen Zugang zu anderen Texten ermöglichen und andererseits zum Verständnis der Bibel beitragen. Innerhalb von zwei Kursjahren werden Sie sich einen guten Einblick in das Erste Testament verschaffen können. Die fortlaufende Lesung des Ersten Testaments scheitert oftmals am Umfang und an der Weitläufigkeit der Texte oder auch daran, daß es in anderen Kulturen und zu anderen Zeiten entstanden ist. Und doch ist dieses sogenannte Alte Testament eine unaufgebbare Wurzel unseres Glaubens. So manche Person ist zur Glaubensgestalt geworden: Abraham als Vater des Glaubens; Mose als der gottgesandte Führer aus der Unterdrückung und Not oder David als der gesalbte König = Messias. Das Erste Testament ist die Heilige Schrift für Jesus und die Urkirchen. Die Bücher des Neuen Testaments wurden ja erst 20-80 Jahre nach dem Tod Jesu geschrieben. Wenn ein Verweis auf die Schrift, auf das Gesetz oder die Propheten im Neuen Testament gemacht wird, dann ist damit die Heilige Schrift, das Buch der Bücher zur Zeit Jesu gemeint. Im Neuen Testament und im Gottesdienst der frühchristlichen Gemeinden wurden selbstverständlich Texte und Begriffe wie Bund, Schöpfer, Gnade, Gerechtigkeit, Erlösung aus dem Ersten Testament verwendet. Für manche wird der Kurs zum Teil auch eine ungewohnte Sicht der Bibel und viele neue Erkenntnisse bringen. Auch wenn es Sie Mühe kosten wird und Sie entweder wegen dieser neuen Sichtweisen oder auch wegen der Fülle des Stoffes aufgeben möchten, so bitte ich Sie dennoch: Lassen Sie sich nicht vorschnell entmutigen und arbeiten Sie die Unterlagen weiter durch. Immer wieder machen Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Erfahrung, daß Auseinandersetzungen und Krisen für den Glauben eine Bereicherung sind. Diese erste Aussendung wird von vielen als sehr trocken und wenig inspirierend empfunden. Dennoch meine ich, daß die Einleitungsfragen einmal geklärt sein sollen und dann im Lauf des Kurses eine Hilfe sein werden, um auftauchende Schwierigkeiten zu überwinden. „Dein Wort ist meinem Fuß eine Leuchte, ein Licht für meine Pfade.“ Mit diesem Wort aus Ps 119,105, das gleichzeitig auch Motto für diesen Kurs sein könnte, wollen wir die Hinführung zum Ersten Testament beginnen. Dr. Roswitha Unfried LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 3 1. Das Erste Testament als Reden von Gott und Mensch Die Hl. Schrift der Christen ist eine Einheit, die aus zwei Teilen besteht: Dem sogenannten Alten Testament (AT) und dem Neuen Testament (NT). Das Christentum verwendet den Namen AT für den ersten Teil der Bibel. Christen berufen sich dafür besonders auf Jer 31,31-34 und das Zeugnis des NT (2 Kor 3,6; Lk 24,27) oder auf die sogenannten Erfüllungszitate (z. B. Mt 2,15). Darum haben für viele Christen vor allem die Verheißungen des AT keine Bedeutung mehr, weil sie ja in Jesus von Nazaret erfüllt sind. 1.1 Der Name: Altes Testament oder Erstes Testament Wenn Christen so denken, dann müssen sie sich auch die Frage gefallen lassen, ob das zweitausendjährige Christentum tatsächlich als Erfüllung der Verheißungen des AT gesehen werden kann. Ist es nicht eher so, daß die Verheißungen der ganzen Hl. Schrift Wirklichkeit wurden, und daß trotzdem ihre endgültige Erfüllung noch aussteht? So sind für Lk 2,29-32 die Worte von Jes 2,2-4; 25,6-8 bezüglich Jerusalem und von Jes 42,6; 49,6 bezüglich des Gesandten erfüllt - und trotzdem erwarten wir die Verwirklichung und Vollendung dieser Verheißungen (vgl. Offb 21,1-5; 22,10.20). Weiters wird das Wort „alt“ von den meisten Christen verstanden als überholt, abgeschlossen, veraltet: Bedeutung hat dann eigentlich nur das NT. Dagegen steht die Erfahrung und das Wissen des Christentums, daß AT und NT die eine Hl. Schrift bilden. Nur das NT als Bibel zu bezeichnen, ist eigentlich eine Unmöglichkeit. Die Kirche hat während der 2000-jährigen Kirchengeschichte gegen jeden Versuch eines Auseinanderreißens an dieser Einheit festgehalten. Schließlich hat das jüdisch-christliche Gespräch zur Einsicht geführt, daß die Bezeichnung AT mißverständlich und verletzend ist. Deshalb wird in letzter Zeit für das sogenannte Alte Testament der Ausdruck „Hebräische Bibel“ oder „Erstes Testament“ verwendet. In diesem Fernkurs wird der Name Erstes Testament (ET) bevorzugt. Anregung: Was fällt Ihnen zu ET ein? Gibt es einen Leitsatz, der für Ihr Glaubensleben Bedeutung hat? 1.2 Schwierigkeiten mit dem Ersten Testament Schwierigkeiten sind vor allem darauf zurückzuführen, daß das ET in einem anderen Lebensraum entstanden ist. Der hebräische Mensch spricht anders von der Erde als der Mitteleuropäer, der geprägt ist durch die griechisch-römische Kultur. Während dieser berichtet, bestimmt, abgrenzt, begreift, sieht (eine Theorie hat) und rein begrifflich (= abstrakt) denkt, so erzählt, umschreibt, erfährt, hört, denkt der hebräische Mensch in Beziehungen (d. h. er lobt, rühmt, bittet und klagt). Das ET kennt keine Abhandlungen oder Lehren, z. B. über den Mann, die Frau, über Gott. Gottesoffenbarungen sind keine Wesensangaben Gottes, wie er in sich ist, sondern wie er sich in dieser Welt dem Abraham, Elija, Jeremia, dem Beter, usw. zu erkennen gibt. Er ist kein Gott der Philosophen „an und für sich“, sondern ein Gott, der den Menschen anspricht und auf Antwort wartet, den Menschen zum Handeln bewegen will. Schwierigkeiten können sich deswegen ergeben, weil das ET in seiner schriftlichen Form 2000-3000 Jahre alt ist; mündliche Überlieferungen sind oft noch älter (z. B. das Lamechlied in Gen 4,23f, die Gestalt des Melchisedek in Gen 14,18-20; der Bundesschlußritus in Gen 15). Oft stehen Texte aus verschiedenen Zeiten, die denselben Inhalt haben, nebeneinander (z. B. Gen 15 und 17; Ex 3,9-14 und Ex 6,2-8) oder sind miteinander verwoben (z. B. Gen 6-8; Ex 14,10-31). Wichtige Texte wurden nämlich einerseits stets neu erzählt, um Antwort zu geben auf die Fragen und Nöte der betreffenden Zeit, andererseits wollte man nichts vom Überlieferten weglassen. Jedes menschliche Reden hat eine bestimmte Form (z. B. Predigt, Vortrag, Unterricht, usw. oder Begrüßungen). Im Alten Orient ist die Sprache ungleich mehr LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 4 gebunden an feste Formen als in modernen Sprachen, z. B. die Botenspruchformel „So spricht ...“ bedeutet, daß nicht mehr der Bote spricht, sondern der, welcher den Boten geschickt hat. Hört ein Israelit „So spricht Jahwe“, dann weiß er: Was folgt, ist Wort Gottes. Das ET ist ein Geschichtsbuch, das wohl weltliche Geschichte erzählt, aber nur insofern diese für den Glauben wichtig ist. In geschichtlichen Ereignissen wird sichtbar, daß Gott an uns Menschen handelt. Geschichte in der Bibel ist also gedeutete Geschichte. Ebenso wie die Bibel keine geschichtlichen Tatsachen vermitteln will, so macht sie auch keine naturwissenschaftlichen Aussagen. Sie sagt, daß Gott handelt; das wie (z. B. der Schöpfung) wird entsprechend dem Stand der betreffenden Zeit ausgedrückt. Viele Christen stoßen sich an den anderen religiösen und sittlichen Ansichten des ET (z. B. die vielen Frauen Davids [2 Sam 3,2-5] oder Salomos [1 Kön 11,3]; der „Betrüger“ Jakob [Gen 27]; der jähzornige Mose [Ex 2,11f] oder die Flüche in den Psalmen [Ps 137,7-9], usw.). Es wird eine Aufgabe dieses Kurses sein, solche und ähnliche Aussagen verstehen zu lernen und die Glaubensaussagen ins eigene Leben einzubinden. Zum Verständnis der Hl. Schrift trägt wesentlich bei, daß der Leser/die Leserin den eigenen Standpunkt kennt. Jeder hat gleichsam eine Brille vor den Augen, mit welcher Texte gelesen werden. Ein Mensch, der nie Vergebung erfahren hat, wird Ps 103 schwer nachempfinden können. Wem es schwerfällt zu vertrauen, wird zu Vertrauenspsalmen wie Ps 91 keinen Zugang finden. Wer tiefe Angst nicht kennt, dem sind Rettungserfahrungen und Dankbarkeit wie im Ps 124 unbekannt. Krieg wird erst dann zur Realität, wenn wir selbst oder unsere Nachbarn davon betroffen sind. Vielen ist dieses Wissen um den eigenen Standpunkt nie zum Problem geworden. Es kann eine Brücke sein, sich selbst, andere und nicht zuletzt den biblischen Text besser zu verstehen. Anregung: Es ist hilfreich, eigene Schwierigkeiten zu erkennen. Welche Schwierigkeiten habe ich mit dem ET? 2. Die Bibel - das Wort Gottes „Das von Gott Geoffenbarte, das in der Hl. Schrift enthalten ist und vorliegt, ist unter dem Anhauch des Heiligen Geistes aufgezeichnet worden.“ So hat zuletzt das 2. Vatikanische Konzil in der Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung „Dei Verbum“ (= Wort Gottes) Nr. 11 dargelegt, daß die biblischen Schriften von Gott geoffenbartes Wort sind. Die Kirche glaubt, daß die Bibel nicht irgendeine Sammlung von Büchern aus vergangenen Zeiten und Kulturen ist. Vielmehr haben diese Bücher sowohl Gott als auch Menschen bzw. Menschengruppen zum Urheber bzw. Verfasser. Die Bibel ist Gottes- und Menschenwort. Das Gotteswort ist in der menschlichen Sprache „gebrochen“, wie sich vergleichsweise ein Lichtstrahl in einem Prisma bricht. Das Wort der Bibel ist ein Wort aus der Vergangenheit, aber es bringt nicht ein vergangenes Wort, sondern weist in die Zukunft. Das ET sagt über das Gotteswort im Menschenwort ein Dreifaches: 2.1 Im Ersten Testament kommen Menschen zu Wort Denken wir an das Hohelied. Wir stoßen auf eine Runde junger Mädchen (Hld 5,8). Eine von ihnen beschwört die anderen, ihrem Geliebten zu sagen, daß sie von Liebe krank sei. Darauf wird eines der schönsten Liebeslieder der Weltliteratur angestimmt. Hier spricht sich die Freude des Menschen am Menschen aus. So treffen wir im ET auf Menschenwort, das sich am Menschen begeistert. Das ET kann menschliche Schönheit und Größe besingen, doch weit mehr weiß es uns zu erzählen über menschliche Not, Versagen und Elend (Klgl, Ps, Ijob, Spr, u.a.). So kommt im ET der ganze Mensch zur Sprache: von der Freude über alles Schöne bis hin zur menschlichen Verzweiflung. LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 5 2.2 Im Ersten Testament reden Menschen von Gott Wenn die biblischen Verfasser von Gott reden, dann tun sie dies in der Sprache und mit den Vorstellungen der damaligen Menschen und ihres Weltbildes. So erzählt Gen 2,4b-25 von der Schöpfung in Bildern aus der kleinbäuerlichen Welt Palästinas; ca. 400 Jahre später wird das gleiche Thema wieder dargestellt (Gen 1,1-2,4a), aber jetzt im naturwissenschaftlichen Horizont des 6. Jhd. v. Chr. Wenn auch alle biblischen Zeugnisse vom Menschen reden, sie weisen immer wieder hin auf jenen Gott, der sich Israel verpflichtet und der Israel in Verpflichtung genommen hat. In der Bibel sprechen Menschen nie ausschließlich über sich selbst, sondern letztlich weisen sie von sich weg - hin auf Gott. 2.3 Die Bibel redet in einmaliger Weise über Gott Der Anspruch, den biblische Verfasser an die Menschen stellen, ist oft sehr groß. So waren z. B. die Schriftpropheten Menschen, die ganz eingebunden waren in ihr Volk. Aber sie haben sich vom Auftrag ihres Gottes genötigt gesehen, gegen Israel zu reden. Propheten sind Menschen im Dienst Gottes. Ihr Anspruch an Israel ist nicht in ihrer menschlichen Größe oder religiösen Begabung zu sehen. Gott hat sie ergriffen und geläutert, überwältigt, damit sie so von ihm reden können, wie es für die damalige Zeit und Kultur nicht üblich war: Jahwe zu verkünden als den alleinigen Gott, der die Vorstellung des Menschen übersteigt, sich aber dem Menschen zuneigt. Ähnliches begegnet im ersten Gebot: „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben“ (Ex 20,2f). So verschiedenartig alle Stimmen im hebräischen Kanon auch sein mögen, so einig sind sie sich in diesem einmaligen Bekenntnis. Nirgendwo in der Umwelt Israels findet sich Vergleichbares. Der Alte Orient hat völlig anders gedacht. Er neigte zur Religionsmischung und stellte fremde Götter nie in Frage, sondern setzte sie mit seinen eigenen Göttern gleich. Das Volk Israel hat durchwegs und durchschnittlich ebenso gedacht wie die übrigen Völker: Es neigte zur Religionsmischung und ließ sich von den kanaanäischen Kulten beeindrucken, so daß die Propheten von einem „Weghuren von Jahwe“ sprechen. Das Bekenntnis von Ex 20,2 ist also nicht aus der Vorstellungskraft Israels zu erklären. Der Anspruch dieser alten Gotteszeugen bis hin zu Jesus und seinen Jüngern kann nur verstanden werden von der bezwingenden Anrede Gottes, wenn auch der Hintergrund ihrer antiken Umwelt oder ihre Persönlichkeit beachtet werden muß. Merksatz: Man kann die Menschen der Bibel nicht verstehen, ohne dem „ganz Anderen“ zu begegnen, der sich als Du dem Menschen geoffenbart hat. LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 6 2.4 Zum Verständnis der Inspiration der Heiligen Schrift Neben diesen Beispielen aus der Hl. Schrift selbst gibt es verschiedene Modelle, die den Glaubenssatz, daß die Hl. Schrift inspiriert, also Gotteswort im Menschenwort ist, verdeutlichen. Im Zentrum der schematischen Darstellung steht die Bibel. Das ET ist hineingestellt in die Geschichte Gott (10. bis 2. Jhd. v. Chr.) und in die Kulturen des vorderasiatisch-ägyptischen Raumes. Das Land, wo kanaanäische Religion es entstand, war Kanaan (Palästina), eine Brücke zwischen dem afrikanischen Ägypten und G G nomadische Vorderasien. Religion ET o o Alle Kulturen und Religionen dieses Raumes NT t t haben auf irgendeine Weise Spuren im ET hintert t lassen, sei es, daß die biblischen Menschen sehr vieles aus den anderen Religionen übernommen und in den Jahweglauben eingegliedert haben, Gott sei es, daß sie sich kritisch damit auseinandersetzten, sei es, daß sie es ablehnten. Den stärksten Einfluß haben auf das ET die nomadischen Überlieferungen und Religionen ausgeübt, weil die hebräischen Stämme aus diesem Milieu kamen. Aber auch die kanaanäischen Kulte und Religionen haben den Glauben Israels beeinflußt. In der positiven und negativen Auseinandersetzung mit der bodenständigen kanaanäischen Religion, ihren Sitten und Bräuchen, wurde das ET sehr stark mitgeprägt und hat viele Vorstellungen übernommen, z. B. den Königstitel für Jahwe. Aber auch alle anderen Kulturen und Religionen in diesem Raum haben - meist über kanaanäische Vermittlung - auf das ET eingewirkt. Diese altorientalischen Religionen sind Versuche, das unendliche Geheimnis Gott und seine Schöpfung - dem Menschen nahezubringen und ihm zu einem sinnerfüllten Leben zu verhelfen. Diese Religionen sind daher nicht Ausgeburt menschlicher Phantasie, sondern Zeugen, daß Gott die Menschheit unter vielerlei Gestalten und Vorstellungen seit jeher begleitet hat (deshalb auf der Skizze der Pfeil von Gott her in diese Religionen). Merksatz: Der Geist Gottes ist nicht nur in der Bibel, sondern auch in den Umweltreligionen der Bibel zu spüren. Wohl ist sehr vieles im ET von den Umweltreligionen her verständlich. Aber wir finden Aussagen in der Bibel, die sich von der Umwelt her nicht erklären lassen (deshalb der Pfeil von Gott her direkt zum ET). Das deutlichste Beispiel dafür ist das erste Gebot (Ex 20,2f) oder die Offenbarung des Gottesnamens in Ex 3,14. Das ET ist nach unserer katholischen Glaubensüberzeugung der richtige Weg, den die Menschheit vor Christus gegangen ist, der aber auch neben dem Christentum weiterhin zu Recht besteht (vgl. Röm 11,1-24). Das heißt, wir Christen glauben, daß die Bibel dem unendlichen Geheimnis Gott am nächsten gekommen ist und das mit der Hilfe Gottes. Aber es ist ebenso darauf zu verweisen, daß Gott der Heilige, der ganz Andere, ist. Die Bibel kann das unendliche Geheimnis Gott weder endgültig darstellen noch erklären; denn jede menschliche Rede von Gott bleibt Menschenwort, auch das Gotteswort der Hl. Schrift. Gott will in der Hl. Schrift nicht neugieriges Wissen stillen, sondern den Menschen sein göttliches Du schenken. LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 7 Merksatz: Wir können Inspiration als den Weg verstehen, auf dem der Geist Gottes die Menschen des Alten Israel geführt hat, um ein bleibendes und verpflichtendes Vermächtnis zu schaffen. 3. Der Kanon der Heiligen Schrift Kanon bedeutet Regel, Maßstab. Der biblische Kanon ist die Liste jener Schriften, die von der Glaubensgemeinschaft als inspiriertes Gotteswort anerkannt sind. Sie sind Richtschnur und Norm für den Glauben, für Lehre und Praxis. Voraussetzung für den Kanon ist die Überzeugung, daß sich die Offenbarung Gottes im Menschenwort ereignet, d. h. daß bestimmte Menschenworte Gotteswort sind. Für das ET sind diese Gottesworte in menschlicher Sprache: die tora (= Weisung) des Priesters, der mišpat (= Entscheid) des Richters, der dabar (= Wort) des Propheten, der šir (= Lied) des Sängers und der mašal (= Spruch) des Weisen. Die katholische Kirche zählt 46 Bücher des ET und 27 Bücher des NT. Die Bibel ist also nicht ein Buch, sondern eine Bibliothek von 73 Büchern. Es gibt auch andere Zählungen. Die Hebräische Bibel zählt 24 bzw. 39 Bücher; die griechische Übersetzung (= Septuaginta) und in deren Folge die lateinische (= Vulgata) zählen zu diesen noch sieben weitere Bücher, die lange nur in griechischer Sprache überliefert waren (= deuterokanonisch), zur Hl. Schrift. Außerdem reiht die Hebräische Bibel entsprechend der Entstehungszeit und der Wichtigkeit der Schriften (Tora Vordere [Frühere] und Hintere [Spätere] Propheten - Schriften). Die Übersetzungen ordnen dagegen nach der Zeitfolge: Vergangenheit (Pentateuch, geschichtliche Bücher) - Gegenwart (Psalmen, Lehrbücher) - Zukunft (Schriftpropheten). Die Übersichtstafel auf der folgenden Seite bringt dies gut zum Ausdruck. 3.1 Das Entstehen des Kanons der Hebräischen Bibel Der erste Teil, die Tora, ist im Zeitraum vom 10. Jhd. bis zum 5. Jhd. v. Chr. entstanden. Ihr Inhalt ist so wichtig und tiefgreifend, daß er nicht nur einmal, sondern öfter erzählt wurde. Heute wird allgemein angenommen, daß die älteste Erzählschicht aus dem 10. Jhd. v. Chr. stammt. Da in ihr der Gottesname Jahwe vom Anfang an verwendet wird, nennt man sie die jahwistische Überlieferung (= J). Im 8. Jhd. v. Chr. entstand die zweitälteste Schicht, genannt: die elohistische Überlieferung (= E). Der Verfasser verwendet bis Ex 3,14 die Gottesbezeichnung Elohim. Im Laufe des 7. Jhd. v. Chr. wurden dann beide Schichten vereinigt. Zugleich entstand im 7. Jhd. v. Chr. ein predigtartiges Erzählwerk, das ein Jahrhundert später eine Bearbeitung erhielt. Es ist dies das sogenannte Deuteronomium (= Dtn, „zweites“ Gesetz, besser: Zweitschrift des Gesetzes, vgl. Dtn 17,18). Und im 6. Jhd. v. Chr. entstand die jüngste Erzählschicht des Pentateuchs, die Priesterschrift (= P). Diese verschiedenen Quellschriften wurden schließlich von einer oder mehreren uns nicht mehr bekannten Personen ineinandergeschachtelt und verwoben. Die Tora lag gegen Ende des 6. Jh. v. Chr. im wesentlichen in der heutigen Form vor. Die verschiedenen Schichten des Pentateuchs wurden sicherlich nicht aus Geschichtsinteresse oder aus rein literarischem Interesse zusammengearbeitet, sondern um die heiligen Überlieferungen des Volkes Israel als eine Einheit zu haben. LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 8 Übersichtstafel Hebräischer Kanon Kanon der Septuaginta (= Kanon der Juden und der Kirchen der Reformation) (= katholisches. Verzeichnis der Hl. Schriften) 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Gen Ex Lev Num Dtn 6 7 8 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 Jos Ri 1 Sam 2 Sam 1 Kön 2 Kön Jes Jer Ez Hos Joël Am Obd Jon Mich Nah Hab Zef Hag Sach Mal 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 23 37 38 24 39 Ps Ijob Spr Rut Hld Koh Klgl Est Dan Esr Neh 1 Chr 2 Chr 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 1 2 3 4 5 Tora Vordere Propheten Hintere Schriften LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 Gen Ex Lev Num Dtn Pentateuch oder 5 Bücher Mose 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 Jos Ri Rut 1 Sam (1 Kön) 2 Sam (2 Kön) 1 Kön (3 Kön) 2 Kön (4 Kön) 1 Chr 2 Chr Esr Neh Tob (deuterokanonisch) Jdt (deuterokanonisch) Est 1 Makk (deuterokanonisch) 2 Makk (deuterokanonisch) 22 23 24 25 26 27 28 Ijob Ps Spr Koh Hld Weish (deuterokanonisch) Sir (deuterokanonisch) 29 30 Jes Jer Klgl Bar (deuterokanonisch) Ez Dan Hos Joël Am Obd Jon Mich Nah Hab Zef Hag Sach Mal 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 8 Das ganze Werk hatte für die Jerusalemer Kultgemeinde nach 500 v. Chr. kanonisches Ansehen. Nach dem Exil (587-538 v. Chr.) wurden die Gegensätze zwischen Jerusalem und Mittelpalästina immer schärfer, bis sich schließlich die Samaritaner von der Jerusalemer Kultgemeinde überhaupt trennten und ihren eigenen Tempel auf dem Berg Garizim errichteten. Für sie sind nur die fünf Bücher des Mose Heilige Schrift. Das bedeutet, daß spätestens das Jahr 300 v. Chr. für die Kanonisierung des Pentateuch als Endpunkt anzusehen ist. Der zweite Teil der Hebräischen Bibel besteht aus den Vorderen und Hinteren Propheten. Zu den Vorderen Propheten, die im christlichen Kanon als geschichtliche Bücher bezeichnet werden, zählen Josua - Richter - 1 und 2 Samuel - 1 und 2 Könige. Die Hinteren Propheten oder Schriftpropheten sind: Jesaja - Jeremia - Ezechiel das Zwölf-Prophetenbuch (das sind: Hosea - Joël - Amos - Obadja - Jona - Micha Nahum - Habakuk - Zefanja - Haggai - Sacharja - Maleachi). Die Vorderen Propheten erzählen die Geschichte Israels von der Landnahme um ca. 1200 v. Chr. bis zum Untergang Jerusalems im Jahre 587/86 v. Chr. In der heutigen Fassung wurde dieses Erzählwerk um 550 v. Chr. unter Einarbeitung der verschiedensten volkstümlichen, prophetischen und offiziellen Überlieferungen abgeschlossen. Die Hinteren Propheten umfassen 15 Einzelpropheten. Sie wirkten vom 8. Jhd. v. Chr. bis in die Zeit nach dem Exil hinein. Die Worte dieser charismatischen (= mit Gottes Geist ausgestatteten) Persönlichkeiten wurden durchwegs von ihren Schülern und ihnen nahestehenden Kreisen aufgeschrieben und gesammelt. Bis die Schriften jedoch allgemein Anerkennung gefunden hatten, verging oftmals eine geraume Zeit. Der erste markante Zeitpunkt für die Wertschätzung prophetischer Schriften als Hl. Schrift wird im Exil gewesen sein. Damals erkannte man, daß die Propheten des 8. und 7. Jhd. v. Chr. mit ihrer Geschichtsdeutung recht hatten: dort, wo Israel Jahwe verläßt, rennt es ins Verderben (z. B. Jes 7,9). Die nachexilische Kultgemeinde konnte aus den gleichen Prophetenschriften die Hoffnung empfangen, daß Jahwe die Herzen der Menschen umkehren und ein neues Israel schaffen wird (z. B. Jer 31,31-34). Spätestens um das Jahr 200 v. Chr. lagen die prophetischen Bücher in ihrer heutigen Fassung vor, wie z. B. die um 190 v. Chr. entstandene Stelle Sir 48,22-49,10 bezeugt. Die kanonische Anerkennung dieser Schriften war jedoch damit noch nicht für alle gegeben. So wissen wir aus der Zeit Jesu, daß die Sadduzäer (= Priesterpartei in Jerusalem) nur die Tora als Heilige Schrift anerkannten, dagegen die Pharisäer (= Laien, Schriftgelehrte) auch die Propheten bereits zur Heiligen Schrift rechneten. Den dritten Teil des ET nennen die Juden die „Schriften“, die Christen „Lehrbücher“ und Psalmen. Dieser Teil besteht aus Psalmen - Ijob - Buch der Sprichwörter - Rut - Hohelied - Kohelet - Klagelieder - Ester - Daniel - Esra - Nehemia - 1 Chronik - 2 Chronik. Er umfaßt erzählende und prophetische Literatur, die Gebets- und Weisheitsliteratur Israels. Die einzelnen Bücher sind zu unterschiedlichen Zeiten entstanden und haben zum Teil auch sehr alte Texte verarbeitet. Gemeinsam ist allen diesen Büchern, daß ihre endgültige Fassung sehr spät in der nachexilischen Zeit erfolgte. Zur Zeit Jesu war der Kanon noch im Fluß. Als im Jahre 70 n. Chr. der Jerusalemer Tempel von den Römern zerstört wurde, war das Judentum bis auf die Wurzel getroffen. Von den jüdischen Religionsparteien (= Sadduzäer, Pharisäer, Essener, Zeloten, Herodianer) überstanden nur die Pharisäer die Katastrophe. Der Rest war ein Judentum ohne Priester mit Schriftgelehrten (= Rabbinen) als führender Schicht. Es kam zu einer völligen Neuorientierung. Von 70 - 135 n. Chr. war Jamnia, 20 km südlich von Jaffa, das geistige Zentrum des Judentums. Hier schloß man auf der sogenannten „Synode“ von Jamnia gegen 100 n. Chr. den Prozeß der Kanonwerdung ab. LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 9 Merksätze: Der jüdische Kanon umfaßt die drei Teile Tora, Propheten, Schriften. Je nach Zusammenordnung kann man 39, 24 oder 22 Bücher zählen. Die evangelischen Christen haben auf diesen Kanon wieder zurückgegriffen und zählen 39 Schriften des ET. Wie wir bereits gesehen haben, ist der Kanon von Jamnia nicht das einzige bei den Juden entstandene Verzeichnis der Hl. Schriften. In der Septuaginta (= griechische Übersetzung) hat sich eine andere Kanonform entwickelt, welche nicht nur jene 39 Bücher umfaßt, die in Jamnia als kanonisch anerkannt wurden, sondern auch sieben weitere Schriften hinzunimmt: Baruch - Tobit - Judit - 1 Makkabäer - 2 Makkabäer - Weisheit - Sirach. Diese werden von der katholischen Kirche deuterokanonische Bücher, von der evangelischen Kirche und den Juden apokryphe Bücher genannt. In der frühen Kirche wurde sowohl der enger gefaßte Kanon als auch der erweiterte verwendet. In der abendländischen oder lateinischen Kirche setzte sich das erweiterte Verzeichnis von 45 bzw. 46 Schriften durch. (Die Zahl 45 erreicht man, wenn man die Klagelieder oder Baruch zu Jeremia dazuzählt). Der hl. Hieronymus (= Übersetzer, der die Vulgata schuf) wollte um 400 n. Chr. auf den hebräischen Kanon zurückgreifen. Er konnte sich jedoch nicht durchsetzen. In den östlichen Kirchen dagegen war der hebräische Kanon vorherrschend. Erst am Ende des 7. Jhd. n. Chr. wurde der erweiterte Kanon übernommen. Auf dem Konzil von Trient (1546 n. Chr.) wurde für die röm.-kath. Kirche der Kanon mit 45 bzw. 46 Schriften endgültig festgelegt. Merksätze: Die Liste der Texte zur Hl. Schrift entstand in einem langen Prozeß. Es dauerte oft lange, bis eine geschichtliche Erzählung, eine Weisung, ein prophetisches Wort oder ein Weisheitsspruch Hl. Schrift wurde. 3.2 Der Text des Ersten Testaments Außer der Entstehungsgeschichte des Kanons ist auch jene des vorliegenden Textes der im 20. Jhd. gedruckten Bibeln interessant. Fast alle Schriften des ET wurden in hebräischer Sprache verfaßt. Hebräisch ist die Sprache der Stämme, die ab dem 12. Jhd. in Kanaan seßhaft wurden. Dan 2,4-7,28 und Esra 4,8-6,12 sind in einer Weiterentwicklung des Hebräischen, in Aramäisch geschrieben. Das war zur auch zur Zeit Jesu die Umgangssprache; Hebräisch blieb die Kultsprache. Die deutero-kanonischen Bücher sind in griechischer Sprache überliefert. Erst im 20. Jhd. hat man Teile in hebräischer Sprache entdeckt, z. B. von Jesus Sirach in Qumran und auf Massada. Vom Text des ET gibt es keine Originale, nur handschriftliche Abschriften. Trotzdem kann heute mit größerer Sicherheit als bei jedem anderen Buch aus dem Altertum gesagt werden, daß der überlieferte Text im wesentlichen mit den Originalen gleich ist. Unterschiede von dem aus den Handschriften gewonnenen Text und den letzten großen Funden in Qumran zeigten sich zum allergrößten Teil nur in Rechtschreibvarianten. Wichtige hebräische Handschriften (zunächst Schriftrollen, später erst Codices [= aufeinandergelegte und zusammengeheftete Blätter]), sind: Papyrus Nash (Ende 2. Jhd. v. Chr.): enthält die 10 Gebote und das „Höre Israel“ zwei Jesajarollen von Qumran (ca. 80 v. Chr.) Codex Cairensis (895 n. Chr.) Petersburger Prophetenkodex (916 n. Chr.) Leningrader Codex (1008 n. Chr.): Grundlage für die hebräischen Bibeln unserer Zeit LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 10 Aleppo Codex (1. Hälfte des 10. Jhd. n. Chr.) Abischa-Rolle (11. Jhd. n. Chr., Pentateuch-Handschrift der Samaritaner [Nablus]) 3.3 Die Kapitel- und Verseinteilung der Bibel Unsere heute gebräuchliche Kapiteleinteilung des ET stammt von Stephan Langton (1150-1228 n. Chr.), der sie für die lateinische Übersetzung des ET geschaffen hat. Die Juden Palästinas teilten das ET in 452 Sedarim (= Ordnungen), die Juden Babyloniens in 54 (53) Paraschen (= Wochenabschnitte). Etwa im 15. Jhd. n. Chr. wurde die christliche Kapiteleinteilung von den Juden zu ihren Einteilungen hinzugenommen, so daß sie die Bibel heute genau so zitieren wie wir. Gen 2,4-25 ist zu lesen: Buch Genesis, Kapitel 2, Vers 4 bis 25. Gen 1,1-11,9 ist zu lesen: Buch Genesis, Kapitel 1, Vers 1 bis Kapitel 11, Vers 9. Die einzelnen Verse werden mit Kleinbuchstaben unterteilt. z. B.: Gen 2,4a = Buch Genesis, 2. Kapitel, erste Hälfte des 4. Verses. Gen 2,4b = Buch Genesis, Kapitel 2, 2. Hälfte des Verses 4 Gen 4,1-5,5.7-9 = Genesis, Kap. 4, Vers 1 bis Kap. 5, Vers 5 und die Verse 7 bis 9 f = auch der folgende Vers: z. B.: Gen 1,1f = Gen 1,1-2 ff = auch die folgenden Verse: Gen 1,1ff = der mit Gen 1,1 beginnende Abschnitt V. = Vers; VV. = mehrere Verse 3.4 Die alten Übersetzungen des Ersten Testamentes Jede Übersetzung ist mit großen Schwierigkeiten verbunden. Wer einen Text von einer Sprache in eine andere übersetzt, wird durch seine Bildung, den Kulturkreis, aus dem er stammt, seine Weltanschauung und Sprachkenntnisse bewußt oder unbewußt geprägt sein. Zusätzlich stellt sich das Problem, daß es verschiedene Wörter in einer alten Sprache gibt, die bei uns nicht gebräuchlich sind oder vielleicht etwas anderes bedeuten - und umgekehrt. Auch der Satzbau ist oftmals sehr verschieden von jenem einer modernen Sprache. Obendrein ist Hebräisch keine indogermanische, sondern eine semitische Sprache. Daher bringt jede Übersetzung eines Schriftstückes von der originalen Sprache in eine andere bereits eine gewisse Auslegung mit sich. Die wichtigsten Übersetzungen sind: * S eptuaginta (= LXX oder G): Die Juden in der Zerstreuung (= Diaspora) nahmen zumeist die Landessprache an. Es mußten daher für den Gebrauch im Gottesdienst Übersetzungen geschaffen werden. Als erste jüdische Gemeinde stand die Gemeinschaft von Alexandrien in Ägypten (ein Zentrum griechisch-hellenistischer Kultur) vor dieser Notwendigkeit. Der Legende nach sollen 72 gelehrte Juden in Alexandrien um 200 v. Chr. die Bibel übersetzt haben. Darum trägt diese Übersetzung den Namen Septuaginta. Sie wurde unterschiedlich übersetzt: Manche Bücher sind buchstäblich, manche sinngemäß, manche sehr frei wiedergegeben. Die Bedeutung dieser Übersetzung liegt darin, daß zum ersten Mal die nichtjüdische Welt die biblische Offenbarung kennenlernen konnte. Die Frühkirche bestand großteils aus Heidenchristen. Das NT ist Griechisch geschrieben. Stellen aus dem ET werden im Wortlaut der Septuaginta ins Christentum übernommen. Die Septuaginta ist also für die junge Kirche maßgebend. Weitere griechische Übersetzungen aus dem 2. Jhd. n. Chr. sind von Aquila, Symmachus und Theodotion. * D ie Hexapla wurde von Origenes, einem großen christlichen Gelehrten, in Zusammenarbeit mit vielen Mitarbeitern in den Jahren 230 - 240 geschaffen. Sie brachte LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 11 in sechs Spalten (darum der Name Hexapla) den biblischen Text in folgenden Sprachen und Übersetzungen: Hebräisch - Hebräisch in griechischer Umschrift Übersetzung des Aquila - Übersetzung des Symmachus - Septuaginta - Übersetzung des Theodotion. Dieses Werk von unschätzbarem Wert, das aus 6000 Blättern in 50 Bänden bestand, wurde 638 n. Chr. bei einem Brand Caesareas am Meer vernichtet. Einige wenige Stellen kennen wir aus anderen Werken frühchristlicher Schriftsteller. * A b 500 v. Chr. war Aramäisch die Volkssprache. Darum fügte man im Gottesdienst nach dem Verlesen des Bibeltextes aramäische Übersetzungen an. Diese wurden mit der Zeit sehr frei, bzw. man fügte Erläuterungen zum Verständnis bei. Ein solcher Text heißt Targum (= Übersetzung). Die großen jüdischen Bibeln führen bis heute die verschiedenen Targumim neben dem hebräischen Text an. * A uch lateinische Übersetzungen wurden bald notwendig. Sie wurden zusammengefaßt mit dem Sammelnamen „Vetus Latina“ (= Alte Lateinische). * P apst Damasus I. (366 - 384 n. Chr.) beauftragte Hieronymus, eine neue, einheitliche Übersetzung zu schaffen. Hieronymus arbeitete einen Großteil seines Lebens in Betlehem an dieser Aufgabe. Die zwischen 390 - 405 n. Chr. entstandene Vulgata (= die Allgemein-Gebräuchliche) ist für die lateinische Kirche der offizielle Bibeltext geworden. Erst 1979 erschien ein überarbeiteter Text, die „Neo-Vulgata“. Weitere wichtige Übersetzungen sind die syrische (= Peschitta), die koptische, die äthiopische, die armenische und die arabische. Merksätze: Das ET ist fast ausschließlich in hebräischer Sprache geschrieben. Übersetzungen wurden und werden sehr sorgfältig angefertigt. 4. Der Kulturraum des ET Im Ostjordanland hat das Tafelland seine ursprüngliche Gestalt noch am besten erhalten. Durch die Tätigkeit des Wassers bildete sich ein verzweigtes Talsystem, das sich nach Westen, zum Jordan hin, entwässert. Dabei sind vier große Talsysteme zu unterscheiden: Im Norden zwischen Yarmuk und Hermonmassiv schiebt sich das Kulturland am weitesten nach Osten vor. Die Grenze ist das vulkanische Haurangebirge. Heute gehört das Gebiet zu Syrien. Im ET heißt es ‘Baschan’. Das Gebiet zwischen Yarmuk und dem Nordende des Toten Meeres heißt im ET ‘Gilead’. Das Gebiet zwischen Jabbok und Arnon ist das atl. ‘Mischor’ = ‘Ebene’. Gegen Süden folgt dann Moab bis etwa zum Sered und vom Sered bis zum Golf von Aqaba erstreckt sich das Land ‘Edom’, eine gewaltige Gebirgslandschaft mit Höhen bis zu 1600 m. Im ET heißt das Gebiet oft ‘Seïr’. Der Jordan entsteht aus drei Quellflüssen (Hasbani, Banjas und Dan). Es lassen sich in seinem Verlauf mehrere Landschaften unterscheiden: LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 12 I. Das Hule-Tal: Es war ehemals ein sumpfiges Schwemmland, das heute kultiviert ist. Der See Gennesaret liegt bereits 200 m unter dem Meeresspiegel. II. Das Gebiet von BetSchean: Der Graben erreicht hier eine Breite von 15 - 20 km. III. Hier ist der Graben nur 2 km breit. Die Enge endet mit der Einmündung des Jabbok im Osten und des Wadi Fara im Westen. IV. Es folgt der breiteste Teil des Jordangrabens, ca. 20 km. Schließlich mündet der Jordan ins Tote Meer. Es liegt 400 m unter dem Meeresspiegel und ist 85 km lang, bis zu 15 km breit und bis 400 m tief. Lebewesen fehlen völlig, da das Meer keinen Abfluß hat, das Wasser verdunstet und die Salze zurückbleiben. Im ET heißt das Tote Meer ‘Salzmeer’ (z. B. Jos 3,16). Das Westjordanland ist der am stärksten durchgliederte Teil Palästinas. Galiläa ist ein Kalksteingebirge, das im Norden durch das Leontestal vom Libanon getrennt ist. Im Osten, Westen und Süden fällt es in Verwerfungen ab. Zu unterscheiden sind Obergaliläa mit dem Dschebel Dschermaq (1208 m) als höchstem Berg Palästinas und Untergaliläa mit dem Tabor (588 m) als höchster Erhebung. Im Mittelteil und im Westen gibt es mehrere Ebenen, z. B. die Ebene von Megiddo (= Jesreel-Ebene). Sie ist eine der fruchtbarsten Ebenen Palästinas und obendrein von verkehrsgeographischer Bedeutung. Durch sie verläuft nördlich die Ost-West-Verbindung, die sich mit der Nord-Süd-Verbindung, der alten Küstenstraße (= Via Maris), kreuzt. Im Altertum war diese Ebene daher der klassische Kriegsschauplatz (Ri 4,6.12.15; 2 Kön 23,29f; Offb 16,16). Das samarische Gebirge bildet mit dem judäischen Gebirge einen geschlossenen Zug, auf dessen Rücken die Wasserscheide zwischen Mittelmeer und Jordan verläuft. Auf dem Rücken des samarischen Gebirges liegen die wichtigen biblischen Orte Samaria, Tirza, Sichem, Schilo und Bet-El. Das judäische Gebirge ist schroff und steigt im Süden bis 1028 m an. Im ET heißt es ‘Gebirge Juda’. Die Küstenebene ist ca. 200 km lang und 3 - 40 km breit. Der bedeutendste Hafen ist heute Haifa; früher waren die Häfen Akko, Caesarea und Jafo wichtig. LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 13 Das Gebiet von Beerscheba: Das Land fällt von einer Höhe von 1000 m bei Hebron auf 250 m bei Beerscheba ab. Hier beginnt die Negev-Wüste. Palästina liegt auf der Landbrücke zwischen Afrika und Asien/Europa im „Fruchtbaren Halbmond“, zwischen Ägypten und dem Zweistromland. Diese Lage läßt es verständlich erscheinen, daß die politischen Mächte ihren Einfluß in diesem Gebiet geltend machen. Palästina ist der moderne geographische Name für das Land, das im ET „Kanaan“ genannt wird. Es ist der äußerste Westrand der arabischen Wüste und geprägt durch den Beginn des syrisch-afrikanischen Grabenbruchs in der Nord-SüdRichtung. Merksätze: Palästina besteht aus vielen verschiedenen Landschaften. Sie bieten zum Teil gute Voraussetzungen für menschliche Besiedlung. Der Kulturraum, in dem Palästina eingebettet ist, läßt sich aus der folgenden Graphik gut ablesen: LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 14 4.1 Das Klima Der Unterlauf des Jordan, der Negev und das Tote Meer haben tropisches Klima. Die Temperaturen können hier mehr als 40 Grad betragen. Der überwiegende Teil Palästinas hat Mittelmeerklima, d. h. subtropisches Klima. Der Sommer ist regenlos, der Winter regenreich. Die Regenzeit beginnt im Oktober und endet im April. Der Regen kommt ausschließlich vom Westen. In höheren Lagen gibt es auch Schneefälle. Der Jänner ist der kälteste Monat, Minusgrade kommen aber selten vor. Juli und August sind die heißesten Monate. Heiße Ostwinde (= el-chamsin) führen schwüle Luft mit sich und bringen beim Übergang vom Winter zum Sommer die Vegetation zu plötzlichem Erliegen. Die durchschnittliche jährliche Niederschlagsmenge beträgt im palästinischen Kulturland rund 400-500 mm (vgl. Österreich 750-800 mm). 4.2 Die Pflanzenwelt Urlandschaften waren: Wüste: Wenn die jährliche Niederschlagsmenge weniger als 200 mm beträgt und weniger als die Hälfte des Bodens mit Pflanzenwuchs bedeckt ist, spricht man von Wüste. Palästina ist im Osten und Süden von Wüste umgeben. Dazu kommt das Wüstengebiet des Jordangrabens. Es handelt sich durchwegs um Kalksteinwüsten. Gelegentlich kommen Oasen vor (z. B. En-Gedi, Jericho). Steppe: Niederschlagsmenge beträgt 300-400 mm pro Jahr. Niedrige Sträucher und Gräser ermöglichen Weidewirtschaft. Der Steppengürtel ist relativ schmal. Wüste und Steppe gehen ineinander über. Wald: Bei einer jährlichen Niederschlagsmenge von 500 mm waren die meisten Gebiete Palästinas ursprünglich durchgehend bewaldet. Die Gewinnung von Akkerland und Nutzholz während Jahrtausenden führte zur Verkarstung der ehemals bewaldeten Gebirgsgegenden. Zusammenhängende Waldgebiete gibt es heute noch am West-Rand des judäischen und samarischen Gebirges, am Karmel und in Obergaliläa. Ansonsten trifft man auf Haine, Baumgruppen und einzelne Bäume, die oft Namen tragen und seit altersher als Behausung von Göttern und Dämonen galten. Heute bemüht man sich, verkarstete Gebiete wieder aufzuforsten. Diese Gliederung des Landes in drei Urlandschaften hat geschichtliche Folgen. Die Wüste kommt für menschliche Besiedlung nicht in Frage, dafür die Steppe. Sie ist Ursprungsland menschlicher Ackerbaukultur. Man nützte sie, noch bevor man Wälder rodete und in Oasen Besiedlungskulturen errichtete. Wildwachsende Pflanzen sind: Eichen, Föhren, Aleppokiefern, Johannisbrotbäume, Mastixbäume, Weißdorn, Tamarisken, Weißpappel, Ginster, Christusdorn, Gräser, Anemonen, Herbstzeitlose. Pflanzen, die heute wirtschaftlich genutzt werden, sind: Weizen, Gerste, Baumwolle, Mohrenhirse, Oliven, Feigen, Wein, Granatapfel, Sykomoren, Datteln, Bananen, Feigenkaktus, Zitronen, Orangen, Äpfel, Birnen, Kirschen. Merksätze: Den geographischen Verhältnissen entsprechend gibt es drei Urlandschaften: Wüste, Steppe, Wald. Heute wird auch die Wüste unter großen Anstrengungen bewässert und bewirtschaftet. 4.3 Die Tierwelt In früher Zeit gab es viele wilde Tiere, die heute ausgestorben sind oder sich in andere Gegenden zurückgezogen haben: Bär, Elefant, Löwe, Leopard, Panther, Gepard, Strauß, Krokodil, Wildochse. LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 15 Heute noch gibt es: Wolf, Schakal, Hyäne, Fuchs, Hund, zahllose Arten von Eidechsen, Skorpione, Spinnen, Bienen, Wespen, Hornissen, Mücken, Fliegen, mehr als 50 Arten von Heuschrecken. Jagdtiere: Gazelle, Hase, Steinbock, Wildschwein, Rebhuhn. Weitere Tiere: Hamster, Ratten, Mäuse, Klippschliefer, verschiedenste Vögel. Haustiere: Esel, Rind, Kamel, Pferd, Schaf, Ziege, Hund, Katze. 5. Die Geschichte Israels Die Heilige Schrift ist nicht in einem geschichtlichen und kulturellen Leerraum entstanden. Das ET ist als Literatur Teil des reichen Kulturerbes, das uns vom sogenannten ‘fruchtbaren Halbmond’, dem Gebiet zwischen Ägypten im Südwesten und Mesopotamien im Nordosten vermittelt wurde. Deshalb ist es notwendig, neben der Geschichte und Kultur des Gottesvolkes Israel auch die Völker und Kulturen seiner Umwelt ins Auge zu fassen. 5.1 Von der Vorgeschichte zur Geschichte Das Gebiet des ‘fruchtbaren Halbmonds’ ist eines der ältesten Siedlungsgebiete der Erde. Spuren menschlicher Besiedlung in Palästina (am Berg Karmel) reichen bis in die frühe Altsteinzeit (200.000 - 150.000 v. Chr.). Vom vorgeschichtlichen Menschen wissen wir sehr wenig. Doch läßt sich mit Sicherheit feststellen, daß er an ein Weiterleben nach dem Tod glaubt: Man gibt einem Toten Gegenstände und Nahrung mit, die ihm bei seinem Leben nach dem Tod nützlich sein sollen. In Palästina liegt auch die älteste bis jetzt entdeckte Stadt der Welt: Jericho (Besiedlungsreste ab ungefähr 8.000 v. Chr.). Merksätze: Palästina liegt im fruchtbarsten Gebiet des Vorderen Orients. Wir finden hier einige der ältesten Anzeichen menschlicher Zivilisation. 5.2 Die Geschichte Ägyptens Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. beginnt man Ereignisse in Hieroglyphenschrift aufzuzeichnen. Der Nil wird zur Bewässerung genutzt, auf der Sinaihalbinsel werden Kupfer und Türkis abgebaut. Könige verstehen sich als Vergegenwärtigung des Gottes Horus. Totentempel und Pyramiden (= Begräbnisstätten) entstehen. 2135 v. Chr. geht das Alte Reich zugrunde. Eine Zeit der Orientierungslosigkeit folgt. Während der Herrschaft des Mittleren Reiches bestehen Handelsbeziehungen zu kanaanäischen Städten; um diese zu sichern, werden Kriegszüge unternommen. Es wandern Bevölkerungsteile von Palästina nach Ägypten aus. In diese Zeit (nach 2000 v. Chr.) ist die Wanderung Abrahams (Gen 12,10ff) anzusetzen. Das Mittlere Reich wird durch die Herrschaft der Hyksos (= asiatische Bevölkerungsgruppen, die auch Palästina beherrschten) um 1750 v. Chr. beendet. Im Neuen Reich (ab 1554 v. Chr.) herrschen ägyptische Könige, die von jetzt an Pharaonen genannt werden. Der Pharao gilt als Göttersohn. LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 16 Wichtige Ereignisse dieser Zeit: Kultzentralisation: Als alleiniger Gott wird die Sonnenscheibe (Aton) verehrt. Die beabsichtigte Vereinheitlichung konnte sich aber nicht durchsetzen. Die ägyptische Herrschaft wird bis zum Eufrat ausgedehnt. Amarnabriefe: Briefwechsel von palästinischen Fürsten mit dem Pharao. Erfolgreichster Pharao ist Ramses II (1290 - 1224); unter ihm rege Bautätigkeit. Erste inschriftliche Nennung von Israel (= Stamm, der in Mittelpalästina siedelte). Ab ungefähr 1190 v. Chr. beginnt der Niedergang Ägyptens. Kurze Blütezeit noch nach 1000 v. Chr. Zwei Feldzüge, in die Palästina verwickelt ist, nämlich 924 (Schischak I; vgl. 1 Kön 14,25f) und 609 (Necho, vgl. 2 Kön 23,29). 525 v. Chr. übernehmen die Perser die Herrschaft (mit einer Unterbrechung von einigen Jahrzehnten) bis 333 v. Chr. Alexander von Makedonien die Macht übernimmt. Für die Bibel wird Alexandria, das er gründet, bedeutsam. 5.3 Die Geschichte der Bevölkerung Mesopotamiens Die Völker der Frühgeschichte des Zweistromlandes (ab 3000 v. Chr.) sind Sumerer und Semiten. Um 2320 entsteht das Großreich Akkad, das die ganze damals zivilisierte Welt des Vorderen Orients umfaßt. Die Königreiche heißen Assur, Mari, Babylon. Der bekannteste Text aus der Hälfte des 18. Jhds. v. Chr. ist der Codex Hammurabi. Diese hochstehenden Kulturen werden immer wieder bedroht durch Bevölkerungsgruppen, die aus den weniger wohnlichen Gebieten (Arabische Wüste und unwirtliches Bergland) in das Kulturland drängen. Es sind die semitischen Amoriter. Abraham (wahrscheinlich auch Isaak) dürfte ein Amoriter gewesen sein. Der geistige Mittelpunkt und die Hauptmacht des Zweistromlandes im 2. Jahrtausend ist Babylon. Assyrer, Babylonier, Elamiter und Hetiter ringen um die Macht. Schließlich geht das alt-babylonische Reich unter. Einerseits verbünden sich die Aramäergruppen miteinander, die aus der Wüste ins Kulturland drängen; andererseits unterwirft Assur die ältere Macht Babylon. Die Aramäer sind wegen ihres wohlorganisierten Heeres gefürchtete Gegner. Sie gewinnen gegen Ende des 2. Jahrtausends immer mehr an Bedeutung; ein eigenes Königreich mit Damaskus als Hauptstadt gründen sie jedoch erst nach 950 v. Chr.; ab dem 9. Jhd. werden sie zu gefährlichen Gegnern, aber auch zu Verbündeten Israels gegen die Assyrer. Nach Dtn 26,5 gehörte Jakob dieser Bevölkerungsgruppe der Aramäer an. Ab 912 v. Chr. übernehmen die Assyrer wieder die führende Rolle. Es gibt ständig kriegerische Auseinandersetzungen mit Aramäern. 732 wird Damaskus erobert, 722/21 fällt Samaria (2 Kön 17,1-6). Aus dem Nordreich Israel werden Menschen weggeführt und Nicht-Israeliten, d. h. Nicht-JHWH-Verehrer angesiedelt (2 Kön 17,24ff). Auch Jerusalem wird belagert, weil es sich mit Ägypten gegen Assyrien verbündete (2 Kön 18,13ff). Das Versprechen einer hohen Tributzahlung verschont Jerusalem vom Untergang. Neben dieser kriegerischen, oft sehr grausamen Tätigkeit waren die assyrischen Könige große Förderer der Kultur und Kunst. 625 beginnt der Aufstieg Babylons; 612 wird die Hauptstadt Assyriens, Ninive, zerstört. Nach 609 spielt Assyrien in atl. Zeit politisch keine Rolle mehr. Neu-Babylon (= Chaldäa) übernimmt die Rolle der führenden Macht. 604 besteigt Nabu-kudurri-usur II. (= der aus der Heiligen Schrift bekannte Nebukadnezzar) den Thron. Er ist wie sein Vorbild Hammurabi ein großer Feldherr und Friedensfürst zugleich. 597 belagert Nebukadnezzar Jerusalem; König Jojachin ist klug genug, sich zu ergeben und in die Gefangenschaft zu gehen (2 Kön 24,8-16). Der neue König Zidkija bricht jedoch den Treueeid. Es kommt zu einer neuerlichen Belagerung LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 17 Jerusalems und zur Eroberung der Stadt im Jahr 587/86 (2 Kön 25,8-21). Die Oberschicht der Bevölkerung wird weggeführt; fremde Bevölkerungselemente werden jedoch in Juda und Jerusalem nicht angesiedelt. Der Glanz des neubabylonischen Reiches dauert nur kurz. Um 650 entstand ein neues Reich im Vorderen Orient: das Reich der Meder. Kurz danach wurde es in zwei Reichshälften geteilt: in Medien mit der Hauptstadt Ekbatana (vgl. Esra 6,2; Tob 3,7; 7,1) und in Persien. 552 gelingt es Kyrus II., die beiden inzwischen selbständig gewordenen Reichshälften wieder zu vereinen. Dieses medisch-persische Reich ist bis 335 die beherrschende Macht im Vorderen Orient. 538 gestattet König Kyrus den Judäern die Heimkehr aus dem babylonischen Exil nach Jerusalem (Esra 1,1-4). Er ist einer der größten und mildesten Herrscher, die der Alte Orient hervorgebracht hat. Unter seinen Nachfolgern kommt es jedoch wieder zu blutigen Auseinandersetzungen. Unter König Darius I. (522-486) ist das Perserreich auf seinem Höhepunkt; er baut die beiden Hauptstädte Persepolis als Kult- und Susa als Verwaltungszentrum. Die glanz- und wechselvolle Geschichte dieses Großreiches endet um 335 v. Chr. Alexander d. Große von Makedonien tritt die Herrschaft im Vorderen Orient an. Mit ihm beginnt der Einfluß der griechisch-hellenistischen Kultur im Vorderen Orient. Die Erben Alexanders kämpfen um Palästina. Bis 198 v. Chr. überwiegt die Herrschaft der Ptolemäer, 198 v. Chr. übernehmen die Seleukiden die Macht. Merksätze: Palästina liegt im Spannungsfeld zwischen Ägypten und dem Zweistromland. Die beherrschenden Mächte sind Ägypten, Assyrien, die Aramäerstaaten, Babylon (= Chaldäer), die Perser und schließlich die Griechen. Israel ist nur zur Zeit Davids und Salomos eine politische Größe, die sich mit diesen Mächten messen kann. 5.4 Die Geschichte Israels Der Glaube Israels unterscheidet sich von den Religionen der umliegenden Völker. Diese erleben den Kreislauf der Naturereignisse, die sich immer wiederholen, und vergöttlichen die Naturkräfte. Israel jedoch ordnet die Zeit nach Zeiten, die nicht wiederkehren, sondern aufeinanderfolgen. Die Gegenwart ist das Ergebnis von Ereignissen in der Vergangenheit und weist in die Zukunft. Gott hat sich in der Geschichte geoffenbart; er lenkt die Geschichte, „er ist da“ (= der Gottesname Jahwe; vgl. Ex 3,14). Die Feste in Israel sind ein Gedenken an die in der Geschichte gewirkten Heilstaten Gottes. So ist das Pesachfest in erster Linie nicht ein Frühjahrsfest, sondern das Gedächtnis an die Befreiung aus Ägypten. Durch die Feier der Feste wird Gottes Heilshandeln gegenwärtig; es wird jedoch auch auf die Zukunft verwiesen. Der Geschichtsablauf ist Offenbarung der Führung Gottes und Heilsangebot für jede Zeit. Die Annahme dieses Angebots in Gehorsam oder Ungehorsam ist entscheidend dafür, ob die Ereignisse Heils- oder Unheilsgeschichte werden. Vor dem Volk Israel gibt es bereits Völker mit hochstehenden Kulturen. Die Vorfahren der Israeliten sind Wanderhirten (= Nomaden). Sie werden im Laufe der Zeit seßhaft. Um 2000 v. Chr. wechseln (Halb-) Nomaden im Sommer aus den Winterweiden (Wüste - Steppe) in die bereits kultivierten Gebiete des fruchtbaren Halbmonds. Dort dürfen die Tiere das Unkraut der abgeernteten Felder abweiden. Verträge regeln die Benutzung der Brunnen. Schließlich bleiben diese Gruppen im Kulturland. Zunächst siedeln sie im Buschwald der gebirgigen Höhen, drängen aber dann in die fruchtbaren Ebenen und verdrängen die Kanaanäer oder leben friedlich mit ihnen. Diese Landnahme stellt man sich (später) als Eroberung vor . Obwohl die Bibel die Landnahme sehr kriegerisch schildert, so hat die Geschichtswissenschaft gezeigt, daß die Landnahme fast ausschließlich ein friedlicher Prozeß war, der langsam vor LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 18 sich ging: Von der syrisch-arabischen Wüste wanderten Gruppen und Stämme in der Zeit der Patriarchen und der Landnahme (2000 - 1200 v. Chr.) ein. Die Josef-Josua-Gruppe versucht eine solche ‘Landnahme’ in Ägypten. Die Angehörigen dieser Gruppe geraten in Abhängigkeit und fliehen unter der Führung des Mose. Das Gelingen ihrer Flucht (= Exodus) schreiben sie Jahwe zu. Ins Land Kanaan gekommen, rufen sie die bereits seßhaft gewordenen verwandten Gruppen auf, sich mit ihnen zu verbünden. Das Verbindende ist der Glaube an den einen Gott, an Jahwe. Die Rettungserfahrung derer, die aus Ägypten kommen, gleichen denen, die schon früher oder aus anderen Gebieten einwanderten. Führungspersonen und Rettungserfahrungen werden miteinander verbunden. Es entstehen Glaubensgestalten wie Abraham und Mose und eine durchgehende Erzählung von Abraham bis Josua, mit dem die Einwanderungszeit endet. Eine geschichtliche Erinnerung an ein Bündnis oder an die Erneuerung eines solchen findet sich in Jos 24. In Israel wurde schon sehr bald der Gottesname aus Ehrfurcht nicht mehr ausgesprochen. In diesem Kurs wird der Gottesname nach hebräischer Gewohnheit mit den Mitlauten JHWH geschrieben. Gelesen wird „Jahwe“ oder „Jachwe“, bzw. im Judentum der Herr oder der Name. Merksätze: Ab dem 19. Jhd. v. Chr. ist Palästina Endpunkt von großen Wanderbewegungen: Aus der Wüste kommende halbnomadische Gruppen verbünden sich mit verschiedenen Gruppen des Kulturlandes und versuchen, im Kulturland seßhaft zu werden. Mit dieser Bewegung beginnt die sogenannte Patriarchenzeit. Eine Gruppe versucht eine Landnahme in Ägypten. Unter Mose fliehen sie und kommen nach Kanaan, wo sie sich mit anderen verwandten Gruppen verbünden. Der Zusammenschluß dieser Gruppen wird durch die nachträgliche Feststellung ausgedrückt, daß sie sagen, immer schon miteinander verwandt gewesen zu sein. Die jeweiligen Vorfahren der Stämme werden zu Brüdern oder in ein Vater-SohnVerhältnis gebracht. Die Väterzeit wird als Geschichte einer Familie dargestellt. Die Bibel gibt also nicht den historischen Verlauf wieder, sondern das späte Stadium des bereits bestehenden Volkes Israel. Es deutet sein Bestehen als Abstammungsergebnis von einem einzigen Vater Abraham. Typisch für die Zeit zwischen der Landnahme (ungefähr 1200 v. Chr.) bis zur Errichtung des Königtums sind die sogenannten Richter. Sie sprechen Recht, sind aber auch Rettergestalten. Von JHWHs Geist erfaßt, befreien sie Israel aus Feindgefahr. Schließlich wird jedoch ein Feind aus dem Süd-Westen, die Philister, so bedrohlich, daß das Volk um einen König ruft (1020 v. Chr.). Somit beginnt die Zeit der Könige. Saul - David - Salomo sind Herrscher über die zwölf Stämme. Nach dem Tod Salomos zerfällt das Reich in zwei Hälften: das Südreich Juda und das Nordreich Israel (932 v. Chr.). Sie gehen getrennte Wege, zunächst gegeneinander, dann nebeneinander. Im Süden gibt es ein erbliches Königshaus, im Nordreich bleibt das charismatische (= vom Geist immer neu begabte) Führertum erhalten. Wohl ist das Nordreich der Versuchung zum Glaubensabfall (zu Baal) und das Königtum einer absoluten Machtausübung nicht entkommen. Beides ist aber mit dem Glauben an JHWH nicht zu vereinen. 722 wird Samaria (die Hauptstadt, und der letzte Widerstand des Nordreichs) von den Assyrern eingenommen und verwüstet. Ein Teil der Bevölkerung wird in die assyrische Gefangenschaft gebracht, andere Gruppen werden angesiedelt. Im ehemaligen Nordreich entsteht eine Mischbevölkerung. Politische Selbständigkeit hat es nie mehr erreicht. Um 300 wird auch die religiöse Trennung vom Judentum vollzogen: die Glaubensgemeinschaft der Samaritaner entsteht. 587 fällt auch das Südreich, und zwar in die Hände der Babylonier, und Jerusalem wird zerstört. Die Oberschicht wird nach Babel geführt. Dieses Exil ist eine LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 19 Zeit der Besinnung. Vor allem die alten, überlieferten Glaubenstraditionen werden gesammelt, neu gedeutet und aufgeschrieben. 538 gestattet die neue Macht im Vorderen Orient, der Perserkönig, die Heimkehr. Juda und Jerusalem werden wieder aufgebaut. Der Tempel wird zum Zentrum des JHWH-Glaubens. Die politische Unabhängigkeit hat auch Juda nicht mehr erhalten. Perser-, Griechen- und Römerherrschaft werden nur kurz unterbrochen vom Befreiungskampf der Makkabäer. 70 n. Chr. wird der Tempel wieder zerstört. 132-135 n. Chr. versucht Bar Kochba nochmals, das Land von der Römerherrschaft zu befreien. Das Ergebnis heißt: Es darf kein Jude mehr Aelia Capitolina (= Jerusalem nach 135 n. Chr.) betreten. Das jüdische Volk wird über die damals bekannte Welt zerstreut. Bei jeder zeitlichen Einordnung ist zu beachten, daß von keinem Ereignis die zeitgenössischen Dokumente erhalten sind. Wir kennen nur die späteren Glaubenszeugnisse der Bibel und sehr spärlich außerbiblische Angaben bzw. Funde. Zeit Ereignis/Gestalt 1800 1500 1250 1000 Abraham Ägypten/Sklavenhaus Auszug Saul-David-Salomo 932 Reichsteilung: N-Reich Israel Texte „Lebensregeln“, „Sagen“ münd- Lieder, Sprichwörter lich „Weisungen“ J(ahwist) Ladeerzählung Aufstiegserzählung Thronfolgeerzählung 722 622 587 S-Reich Juda und Jerusalem Untergang Samarias - Assyr. Exil Dtn-Reform - Joschija Fall Jerusalems - Zidkija um 550 538 Ende des Babylonischen Exils - Perser 515 333 166 63 6 v. Chr. 30 n. Chr. 49-64 70 70-90 5.5 Maleachi 2. Tempel (Judentum) Griechen (Alexander) Makkabäeraufstand Römer Geburt Jesu Tod Jesu E(lohist) Elija, Hosea/Amos Micha, Jesaja D(euteronomium); Jeremia Dtr Geschichtswerk Ezechiel - Deuterojesaja P(riesterschrift) Chron Geschichtswerk Haggai, Sacharja, „Schriften“ und Psalmen Daniel 1/2 Makk Paulusbriefe Zerstörung des 2. Tempels Evangelien Ursprungssituationen biblischen Glaubens Der Mensch lebt nicht für sich allein, sondern er lebt in Gemeinschaft. Er gestaltet allein und mit anderen die Geschichte. Was Menschen tun und wie sie leben, hängt zusammen. Glaube und Handeln, Glaubensgemeinschaft und Gesellschaft, Bibel und Leben beeinflussen einander. Das heißt, daß einerseits der Glaube das politische Handeln beeinflußt, andererseits aber auch aus den konkreten politischen Ereignissen heraus Bibelaussagen zu verstehen sind. Um biblische Aussagen in ihrer Tiefe zu erfassen, ist es wichtig, die Texte vor dem Hintergrund der entsprechenden LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 20 Zeit zu lesen. Dabei gilt es zu beachten, daß Bibeltexte sehr oft einen zweifachen Hintergrund haben: einerseits erzählen sie von Ereignissen in einer konkreten Zeit (z. B. die Rettung Israels um 1225), andererseits dienen sie verschiedenen Autoren in verschiedenen Zeiten, um ihren Zeitgenossen die biblische Botschaft zu verkünden. Es gibt also zwei Ursprungssituationen biblischer Texte: die Situation des Ereignisses und die Situation, in der dieses Ereignis verkündet bzw. der Text aufgeschrieben wird. So spricht ein Soldat, der selbst im 2. Weltkrieg an vorderster Front war, anders über diesen Krieg als ein 30-jähriger Lehrer, der ihn nicht aus eigener Erfahrung kennt; oder jemand, der das 2. Vatikanische Konzil erlebte, kann wahrscheinlich besser einschätzen, was sich seit 1965 z. B. in der Liturgie geändert hat, als jemand, der das Konzil nicht mitverfolgte. Es wird eine der Aufgaben dieses Kurses sein, immer wieder auf solche Ursprungssituationen biblischen Glaubens und auf die Verkündigung der biblischen Botschaft in verschiedenen Zeiten hinzuweisen. Solche wichtigen Ursprungssituationen biblischen Glaubens sind: a) Die Väterzeit Im beginnenden 2. Jahrtausend wandern semitische Gruppen in Kanaan ein. Abraham, Isaak und Jakob sind Wanderhirten (= Nomaden) im Übergang zum Seßhaftwerden. Ur - Haran - Sichem - Betel - Hebron - Beerscheba werden als Aufenthaltsorte der Erzväter genannt. Mit den Kulturlandbewohnern haben sie Kontakte, z. B. wegen der Benutzung von Brunnen (Gen 21,25). Einerseits bestimmen die nomadischen Gegebenheiten weiterhin ihr Leben und ihre religiösen Bräuche, andererseits übernehmen sie aber bereits Rechtsordnungen der Seßhaften, da sie ja wirtschaftlich von ihnen abhängig sind (z. B. Gen 16,5f: Nach dem im Kulturland geltenden Gesetz darf Hagar nicht verstoßen werden. Darum behandelt Sara ihre Magd so, daß Hagar davonläuft). Die einzelnen Gruppen schließen sich in Konföderationen (= Vertragsverhältnis von Stämmen mit bestimmten Rechten und Pflichten) zusammen. Es entsteht dadurch eine Lebensgemeinschaft ähnlich der zwischen Verwandten. Ein solches Verhältnis wird „Eid und Bund“ genannt. Inhalte sind die Verpflichtung zu enger Zusammengehörigkeit, die Wahrung der Interessen der einzelnen Stämme und die Sicherung des Überlebens der schwächeren Stämme. b) Die Zeit des Exodus Am Anfang der Volksgeschichte Israels stehen die Erfahrungen der Befreiung aus Knechtschaft und der Rettung aus unmenschlichen Nöten: aus Hunger, Durst, äußerer und innerer Gefahr. Auch hier werden die Erfahrungen der einzelnen Gruppen miteinander verglichen und verwoben, so daß schließlich eine Erzählung von der Rettung entsteht, die dann wiederum zu vier verschiedenen Zeiten in Worte gefaßt wird. Bei einer solchen Betrachtungsweise ist es nicht mehr so wichtig, wo die Rettung am Schilfmeer (Ex 13,17f; Ex 14,1f) tatsächlich stattfand oder ob Horeb (Ex 3,1; Dtn 5,2) und Sinai (Ex 19,1.20) ein- und derselbe Berg sind. LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 21 c) Die Zeit der Landnahme Das Buch Josua stellt den Prozeß des Seßhaftwerdens, der sich über Jahrhunderte erstreckte, in einem kurzen Eroberungsfeldzug unter Josua dar. Es vereinheitlicht und faßt die verschiedenen Landnahmeerzählungen der Stämme zusammen. Die biblische Erzählung ist eine „typische“ Erzählung. Daneben gibt es andere Darstellungen, z. B. Ri 1,1-36. Dem ET geht es nicht in erster Linie darum, genau zu berichten, wie die Stämme das Land in Besitz nahmen, sondern es geht um die Bezeugung des mächtigen Handelns JHWHs an seinem Volk - auch bei der Hineinführung ins Kulturland. „Dieses Land ist den Vätern von JHWH gegeben“ lautet das Bekenntnis späterer Jahrhunderte. Die Landnahme ist auch nicht der direkte Übergang von einer Nomaden- in eine Stadtkultur. Die (Halb-) Nomaden werden zuerst Bauern; nach und nach erfolgt dann das Hineinwachsen in die städtische Kultur. Erst am Beginn der Königszeit (um 950 v. Chr.) werden ein Palast und ein Tempel gebaut (vgl. 2 Sam 7; 1 Kön 6-8). Die Siedlungen der Halbnomaden unterscheiden sich beträchtlich von denen der kanaanäischen Stadtstaaten. Die kanaanäischen Häuser sind gut gebaut, die Fußböden sind gepflastert. Es gibt eine gute Kanalisation und Wasserleitungsanlagen. Die halbnomadischen Siedlungen dagegen sind primitiv gebaut, Luxusgegenstände fehlen, die Keramik ist einfach. Die Stadtmauern sind sehr dürftig. Israel wird zunehmend von einer neuen Macht, den Philistern, bedroht. Die Bibel erklärt dies mit dem Ungehorsam und dem Abfall Israels zu den Gottheiten Kanaans. Der Wunsch nach einem König (nach einem Führer), der nicht nur wie die sog. Richter die aktuelle Gefahr bannt, sondern das Volk immer führt , wird laut. d) Die Königszeit David verkörpert den idealen König. Er wird von JHWH (1 Sam 16) und dem Volk (2 Sam 2; 5) gesalbt. Er eint Nord- und Südstämme, erobert die jebusitische Stadt Jerusalem und macht sie zum weltlichen und geistlichen Zentrum der israelitischen Gruppe. Er ist der Gesalbte. Man hofft, daß JHWH wieder einen solchen Gesalbten senden wird. Sein Sohn Salomo wird als Friedenskönig bezeichnet. Dieses „Goldene Zeitalter“ ermöglicht die erste Niederschrift aller mündlichen Traditionen. Es entsteht der sogenannte Jahwist. Die Zeit der getrennten Reiche ab 932 beschreibt die Bibel als eine Zeit des Verfalls sowohl auf kulturellem als auch auf religiösem Gebiet. Die Könige als Repräsentanten des Volkes haben versagt. Auch dieses Urteil des biblischen Geschichtsschreibers wird der tatsächlichen Bedeutung z. B. der Omriden (NReich, 1. Hälfte des 9. Jhds.) oder Hiskijas (S-Reich, Ende des 8. Jhds.) nicht gerecht. Vereinfachend wird die Königsgeschichte als Antwort auf die Frage dargestellt, warum „das Gericht“ kommen mußte. Außerdem wird die Geschichte aus der Sicht des Südreiches geschrieben. e) Die Zeit des Exils Während des Exils ist es der führenden Schicht des Volkes (König, Hof und Priester) nicht möglich, das Volk zu regieren. In dem durch die Deportation zum Teil entvölkerten Land dringen neuerlich nomadische Elemente aus der Wüste ins Kulturland ein. Im entmutigten Volk, das fragt, wo JHWH jetzt handelt und wie, entstehen neue Antworten. JHWH wird handeln wie am Anfang, wie beim Exodus. Es wird ein neues JHWH-Volk, ein neues Jerusalem geben! Außerdem ist das Exil der Anstoß, alle Glaubensüberlieferungen aufzuschreiben. Es entsteht eine Sammlung der Schriftrollen - die Bibel. Neben dem unerreichbaren und zerstörten Tempel entstehen Synagogen (= Lehr- und Bethäuser). f) Die Zeit nach dem Exil Obwohl 515 v. Chr. der 2. Tempel eingeweiht wird, erhält das Glaubensleben erst unter dem LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 22 Statthalter Nehemia und dem Priester Esra um 450 v. Chr. eine neue Form: Der Kult und die Sitten werden neu geordnet, die Glaubensgemeinschaft abgegrenzt von Gemeinschaften, die den reinen JHWH-Glauben nicht bewahrt haben (u.a. die Samaritaner). Die Priester übernehmen die Führung in der Theokratie. Der zweite Tempel in Jerusalem wird von Antiochus Epiphanes IV. (1 Makk 1,10) entweiht (1 Makk 1,20-28). Das und seine sonstige judenfeindliche Politik führt zu den Makkabäerkämpfen. 1 Makk 4,36-61 erzählt von der Wiedereinweihung des Tempels. Glaube und Politik sind nicht voneinander zu trennen. Ein Schlagwort „Religion ist Privatsache“ ist für das Altertum und die Bibel undenkbar. Propheten sprechen stets in das politische Geschehen hinein. Die geschichtlichen Überlieferungen deuten die Geschichte Israels vom Glauben an den einen Gott. Diese Linie wird im NT fortgesetzt: Lukas stellt die Menschwerdung des Gotteswortes in das Weltgeschehen, indem er die Geburt Jesu (2,1f) und sein erstes Auftreten (3,1f) mit der römischen und der jüdischen Welt-Geschichte verbindet. Schließlich wird den verfolgten Christen in Kleinasien als Trost in schwerer Zeit zugerufen, daß der eine Gott der Herr der Geschichte ist (Offb 1,8). Anregung: Versuchen Sie, ähnliche „Ursprungssituationen“ Ihres Glaubens, bzw. des Christentums in unserem Jhd. zu entdecken . Merksatz: Markante Zeiten für die Verkündigung des atl. Glaubens sind die Zeit der Väter - des Exodus - der Landnahme - der Königszeit - des Exils - nach dem Exil. Textbeispiel: Jos 24 Jos 24 ist die Erinnerung an einen Bundesschluß oder eine Feier der Erneuerung des Bundes. Die Gruppen, die schon in Kanaan siedelten, werden aufgefordert, dem am Sinai geschlossenen Bund beizutreten. Die eingewanderten Israeliten sind aber bereits nach kurzer Zeit vom Glauben an JHWH abgefallen und werden nun von Josua zu einer neuen Entscheidung gerufen. Kapitel 24 des Josuabuches ist wie folgt aufgebaut: 1-2a: Einleitung, Situationsschilderung 2b-13: Historischer Prolog: Aufzählung der Heilstaten JHWHs (JHWH-Rede) 2b-4 Handeln JHWHs an den Vätern (auch an Esau!) 5-6 Herausführung aus Ägypten 7 Rettung am Schilfmeer 8-10 Wüstenwanderung 11-13 Jordandurchquerung und Landgabe 14-24: Entscheidung des Volkes 14-15 Aufruf Josuas zur Entscheidung 16-18 Antwort des Volkes: Anerkennung der Taten JHWHs und Erklärung, diesem Gott dienen zu wollen. 19-20 Warnung Josuas vor den Folgen eines Glaubensabfalls 21 Ausdrückliche Erklärung des Volkes, JHWH dienen zu wollen. 22-23 Unterstreichen der Freiwilligkeit und Aufruf Josuas, die Götzen wegzutun und JHWH zu dienen 24 Bestätigung der Entscheidung durch das Volk 25-27: Bundesschluß 28: Entlassung des Volkes Diese Ur-Kunde von einer Bundesschlußfeier zeigt deutlich, daß JHWHs geschichtliches Handeln an Israel eine Entscheidung für ihn erst ermöglicht. Weil er so für Israel eingetreten ist, darum ist die einzig logische Gottesverehrung die JHWH-Verehrung. Dieser Text sagt auch, daß die Väter anderen Göttern dienten (VV. 2.14), bzw. daß die Israeliten sich entscheiden könnten, anderen Göttern zu dienen (VV. 15f). LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 23 Anregung: Vielleicht wird eine solche Aussage manche Christen an der Wende ins 3. Jahrtausend befremden. Aber gibt es nicht auch in unserer Zeit Götzen, denen wir dienen? Was (Wer) bestimmt in meinem Alltag das Handeln? 6. Einige Grundzüge zu einer biblischen Theologie Die Schriften der Bibel sind Beziehungsgeschichten. Sie sind Zeugnisse davon, daß sich Gott den Menschen offenbart, sich erkennen und erfahren läßt. Wenn also der biblische Mensch von Gott redet, dann erzählt er gleichzeitig auch von sich selbst, vom Gottesvolk und von der Welt. Darüber, wie Gott „an und für sich ist“, macht die Bibel keine Aussagen, sondern darüber, wie er von Menschen erfahren wird und wie Menschen von ihm reden. 6.1 Biblisches Reden von Gott Jedes biblische Sprechen von Gott (= Theologie) ist immer Sprechen vom Menschen (= Anthropologie) und umgekehrt. Gottlosigkeit (= Atheismus) oder eine Gott-ist-totTheologie gibt es in biblischen Zeiten auch in der Umwelt Israels nicht. Alles ist durchwirkt und getragen von Mächten. Nur der törichte Mensch verneint höhere Mächte und ist gottlos, d. h. er lebt, als gäbe es keinen Gott (vgl. Ps 14,1; 53,2); jeder vernünftige, weise Mensch ist gottesfürchtig und anerkennt Gott (z. B. Spr 9,10; Ps 111,10). Während die Menschen bis zum Ende des Mittelalters alles, was geschieht, mit Gott verbinden, muß in der Neuzeit immer wieder auf diese Beziehungen hingewiesen werden. Das christliche Glaubensbekenntnis beginnt: „Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater, den Schöpfer des Himmels und der Erde.“ Die grundlegende Glaubenserfahrung Israels am Anfang ist die Erfahrung, gerettet zu sein aus Bedrohung und aus Not, die oft aussichtslos zu sein scheint. Immer wieder stoßen wir auf das Bekenntnis, daß JHWH gerettet hat. So steht als Überschrift über dem Zehnwort: „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.“ (Ex 20,2) JHWH hat Israel befreit. Er und nur er kann die alleinige Verehrung fordern neben ihm gibt es keinen anderen Gott, keinen anderen „höchsten Wert“. Dieses Bekenntnis vom Retter-, Befreier-, Erlöser-Gott nimmt im strikten Eingottglauben Israels das Bekenntnis zum Schöpfergott auf: „Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat“ (z. B. Ps 124,8). Dieses doppelte Grundbekenntnis vom Gott Israels als Retter und Schöpfer durchzieht alle Schriften des ET. Die Bibel spricht in einer zweifachen Form von JHWH: vom Gott des Bundes und von Gott, dem Schöpfer. Beide Weisen der „Rede von Gott“ bedienen sich Bilder. Dabei muß jedoch beachtet werden, daß kein Bild, keine Vorstellung und Darstellung, die man sich von Gott macht, Gott zeigt, wie er wirklich ist, da er menschliches Reden, Wahrnehmen und Begreifen übersteigt. Ein Gottesbild, absolut gemacht (d. h. losgelöst von der Wirklichkeit), erstarrt und wird zum Götzen. Der lebendige Gott läßt sich nicht festlegen, sondern er erweist sich immer wieder aufs Neue als der „ganz Andere“, über den der Mensch nicht verfügen, den der Mensch nicht in den Griff bekommen kann. Darum heißt es in Ex 20,4 „Du sollst dir kein Gottesbild machen ...“. Trotzdem ist es dem Menschen, dem Gottesvolk aufgegeben, von Gott zu reden in menschlicher Sprache und in menschlichen Bildern mit dem Wissen, daß ein Bild oder eine Definition Gottes, eine Aussage über Gott nie verabsolutiert und als einzig gültig für ewige Zeiten hingestellt werden darf. Anregung: Versuchen Sie, Ihr „Gottesbild“ (die Veränderung des Redens von Gott, die es wahrscheinlich auch in Ihrem Leben gibt) darzustellen. LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 24 6.2 Biblisches Reden vom Schöpfergott Wenn der Alte Orient und damit auch die Bibel über Gott als den Schöpfer von allem spricht, dann wird gesagt, daß er das Chaos (oft im Bild der Urflut dargestellt) besiegt (Ps 74,12-17), daß er König ist über alle Götter (Ps 136,2) und daß er Garant für alle Ordnung ist (Ps 104). Die Welt ist geordnet nach dem Vorbild einer himmlischen Welt, die unveränderbar in sich selbst ruht (= statisch). Alles Bestehende wird von diesem Vorbild und dieser Ordnung umfaßt (= universalistisch). Das Leben ist in einer pyramidenförmigen Rangordnung (= hierarchisch) eingeteilt. Sprache und Bilder entsprechen den höfisch-herrschaftlichen Regeln und Verhaltensweisen (vgl. Gen 1,1-2,4a; Jes 6). JHWH, der Schöpfer des Himmels und der Erde, ist König wie ein absoluter Herrscher (vgl. Ps 2); der Tempel ist das Abbild seiner himmlischen Wohnung, der Kult von JHWH selbst geregelt (vgl. Ex 25-31; Ez 40); der König gilt als Vertreter JHWHs (Ps 110), das Böse stellt den Rest des Chaos dar, der von JHWH in seine Grenzen gewiesen wird (Ps 93). Die Gesellschaft in diesem Modell ist geordnet - von oben nach unten. Die Basis der Pyramide bilden die Untertanen; über ihnen steht ein unumschränkt mächtiger Herrscher, der die Gottheit vergegenwärtigt. Die Untertanen sind diesen Königen (Pharaonen - Gottkönigen) Unterwerfung schuldig. Ein Beispiel in der Bibel für diese unterwürfige Haltung, die keinen Widerspruch duldet, ist das Buch Ijob. Trotz vieler Schicksalsschläge bleibt Ijob demütig, fromm, gottesfürchtig (Ijob 1,21; 2,10), ja unterwürfig wie die Ijobgestalt in den Auseinandersetzungen eines leidenden Gerechten in den Überlieferungen der Umwelt Israels. Im biblischen Ijobbuch hat der Schriftsteller ein dramatisches Ringen des Ijob mit seinen Freunden und letztendlich mit JHWH eingefügt in die Erzählung vom Dulder Ijob. Er wehrt sich heftig gegen die Ratschläge der Freunde, die ihm die gängigen Antworten der erstarrten Schulweisheit vorhalten, und wendet sich immer ungestümer direkt an JHWH. Ein Mensch Ijob - wagt es, von JHWH Antwort zu fordern (vgl. Ijob 29-31; besonders 31,35-40). Eine solche Herausforderung JHWHs, Antwort zu erhalten, ist im oben beschriebenen ersten Modell von Gottesvorstellungen undenkbar. Ijob bekommt Antwort von JHWH. Das führt uns zur zweiten Möglichkeit, über Gott zu reden. Anregung: Lesen Sie Ijob 1-2; 42,7-17 einerseits und Ijob 3; 29-31; 38-42,6 andererseits. Wie wird die Beziehung Ijob - JHWH jeweils dargestellt? 6.3 Biblisches Reden vom Bundesgott Das Vorbild für dieses Sprechen von Gott ist die Beziehung zwischen Verwandten (Eltern - Kind) oder in der Politik (z. B. der Kaiser zu den Herzögen) und umgekehrt. Eine solche Beziehung schließt andere Beziehungen ähnlicher Art aus, ist also exklusiv (vgl: „Man kann nicht zwei Herren dienen“). Das Sprechen von Gott ist hier mit starken Gefühlen verbunden (= emotional, z. B. Eifersucht, Liebe, Treue); die Beziehung ist vertraglich geregelt (vgl. die Begründungen prophetischer Verkündigung, z. B. Am 3,9-11; 8,4-7); die Sprache lehnt sich an die Sprache der Diplomaten an (vgl. Gen 18,23ff; so mit Gott zu reden, ist erst aufgrund von Gen 18,17f möglich). In diesem Modell ist Sprechen von Erwählung und Verheißung, von Zukunft und von Segen beheimatet, wenn den Vertragsbedingungen - der Beziehung - entsprochen wird, aber auch von Drohung, Strafe und Fluch, wenn ein Partner vertragsbrüchig wird. „Rache“ und „Vergeltung“ ist dann die Wiederherstellung des ursprünglichen Verhältnisses, der Beziehung, wie sie am Anfang war (vgl. z. B. Jer 2,2f, Hos 11,1; Ez 16,6). Diese Rache wird aber - Gott sei Dank - anders ausfallen, als wir Menschen meinen (Jes 35,4; Jes 55,8; Ps 103,11ff; Jes 2,4; Hos 11,9b). In der Bibel wird von Gott in dieser zweifachen Form (Retter- und Schöpfergott) gesprochen. Das im Alten Orient vorherrschende hierarchische Lebensgefühl ist aber in Israel durch den partnerschaftlichen Bundesgedanken verdrängt worden. In LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 25 beiden Modellen kommt die ganze Breite menschlicher Beziehungen zur Sprache. Es überwiegt aber bei aller Ehrfurcht die Überzeugung, daß der Gott Israels nicht ein über allem schwebender und herrschender Hierarch, ein absoluter König ist, sondern ein Gott, der Beziehung zu den Menschen aufgenommen hat, so wie er sich selbst vorstellt: „Ich bin der ‘Ich-bin-da’ ... So sag zu den Israeliten: Jahwe, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt. Das ist mein Name für immer und so soll man mich nennen in allen Generationen“ (Ex 3,14f). Anregung: Welche Ereignisse, Menschen, Erinnerungen prägen mein Denken von Gott, meinen Glauben? 6.4 Biblisches Reden von Gott in verschiedenen Zeiten / Kulturen Wie von Gott gesprochen wird, hängt stark mit der Gesellschaftsordnung und der Kultur zusammen, in der biblische Texte ihre schriftliche Form erhalten. So wird z. B. über Gott, der rettet und befreit, in Europa anders gesprochen als in Südamerika, und in Südamerika kommt es wieder darauf an, ob man ein Indianer, Industrieller, Großgrundbesitzer, Katechet, Priester, ein Bewohner der Elendsviertel, Bischof, Armeeangehöriger oder Straßenkind ist. Was für das Leben heute gilt, gilt auch für die Zeit der Bibel. Die Hl. Schrift besteht aus verschiedenen Schriften, die in einem Zeitraum von ungefähr 1000 Jahren entstanden sind; mündliche Überlieferungen sind oft weitaus älter. Es sind Texte, die für die Verkündigung der Glaubensbotschaft dienen. Viele Texte späterer Zeiten greifen auf „Ursprungssituationen“ biblischen Glaubens zurück. So wird z. B. den nach Babylon Verbannten (587 - 538 v. Chr.) vom rettenden Handeln JHWHs beim Exodus aus Ägypten erzählt. Damit wird ihnen zugesagt: JHWH wird wieder so handeln wie damals. Er wird einen zweiten Exodus ermöglichen, größer und umfassender als der erste. Es wird eine Aufgabe dieses Kurses sein, immer wieder auf diese Verflochtenheit der biblischen Schriften mit Kultur und Gesellschaft hinzuweisen. 6.5 Textbeispiel: Ps 23 Ps 23 zeigt, wie verschieden das Vertrauen auf JHWH ausgedrückt werden kann: Zunächst sprechen die Verse 1-3 vom Vertrauen in Bildern aus dem Milieu der Wanderhirten. Vers 4 führt das Bild weiter und leitet über zu den Versen 5f, zu Gastmahl, Salbung und Leben im Haus des Herrn (= Bilder aus der Welt des Jerusalemer Tempels). LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 26 Martin Buber hat die Hl. Schrift „verdeutscht“, d. h. er hat versucht, der hebräischen Sprache so weit wie möglich treu zu bleiben. Bei ihm (Die Schrift, IV: Die Schriftwerke. Verdeutscht von M. Buber - F. Rosenzweig, Heidelberg 1986, S. 37/38) klingt dieser Psalm so: Ein Harfenlied Dawids. ER ist mein Hirt, mir mangelts nicht. Auf Grastriften lagert er mich, zu Wassern der Ruh führt er mich. Die Seele mir bringt er zurück, er leitet mich in wahrhaftigen Gleisen um seines Namens willen. Auch wenn ich gehn muß durch die Todschattenschlucht, fürchte ich nicht Böses, denn du bist bei mir, dein Stab, deine Stütze - die trösten mich. Du rüstest den Tisch mir meinen Drängern zugegen, streichst das Haupt mir mit Öl, mein Kelch ist Genügen. Nur Gutes und Holdes verfolgen mich nun alle Tage meines Lebens, ich kehre zurück zu DEINEM Haus für die Länge der Tage. Dieter Stork versucht, die Psalmen„neu zu lesen“. Ps 23 lautet wie folgt (Zukunft, die heute beginnt. Die Psalmen - neu gelesen, Stuttgart 1992, S. 47): Du lädtst mich ein Eine Weide mit frischem Gras, ein Wald atmet, ein Garten leuchtet, ein Acker trägt, eine Welt voller Lachen, Brot und Arbeit, so viele Möglichkeiten! Eine Quelle sprudelt, klares, frisches Wasser: ich trinke. Ich vertraue. Du bringst mich in eine gute Zukunft, Gott, mein Hirt, mein Beschützer. Manchmal ist es dunkel. Dann habe ich Angst. Aber du suchst und findest mich, bringst mich ins Vertrauen zurück. Ich habe Hunger und Durst: ein Tisch wird für mich gedeckt. Du, Gott, machst mich satt. Brot und Wein sind meine Speise, und mein Feind muß zuschauen. Du lädtst mich in deine Gemeinde ein, zu Brüdern, Schwestern, Freunden. Ich bin gern hier, fühle mich geborgen. Ich danke. Ich werde fröhlich sein. Ich will dir singen mein Leben lang! Zephanja Kameeta überträgt den Psalm in die Situation von Schwarz-Afrika (Gott in schwarzen Gettos, Psalmen und Texte aus Namibia, Erlangen 1983, S. 22): Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er läßt mich sehen ein Land der Gerechtigkeit und des Friedens und leitet meine Schritte dorthin. Er gibt mir neue Kraft. Er führt mich auf der Straße des Siegers um seiner Verheißung willen. Wenn auch Stürme gewaltsamer Auseinandersetzungen über mich hereinbrechen, fürchte ich mich nicht, Herr, denn du bist bei mir. Du, mein Hirte, beschützt mich mit deiner Macht und Liebe. Du schaffst mir meine Freiheit im Angesicht meiner Feinde. Du heißt mich willkommen als deinen Ehrengast und füllst mir den Kelch mit Gerechtigkeit und Frieden. Ich weiß: Deine Güte und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang; und deine befreiende Liebe wird meine Heimat sein, solange ich lebe. Anregung: Versuchen Sie, „Ihren“ Psalm 23 zu schreiben. Wie bete ich in einer schwierigen Situation um Vertrauen und Hilfe - wie möchte ich beten wie habe ich gebetet? LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 27 6.6 Die „Mitte“ des Ersten Testaments Die heutige Mitte des ET ist die Offenbarung JHWHs am Sinai (Ex 19 - Num 10,10). Um diese legen sich zwei Rahmen: Die Wüstenwanderung zum (Ex 15,22-18,27) und vom Sinai weg (Num 10,11-36,13) einerseits sowie die Auszugs- (Ex 1-15,21) und die Landnahmeerzählung (Jos 1,1 - Ri 2,5) andererseits. Von dieser Mitte aus wendet sich der Blick in die Vergangenheit: Woher kommt Israel? Wer sind die Vorfahren? Zunächst werden die Väterüberlieferungen (Gen 11,10-50,26) gesammelt und den Auszugs-, Sinai- und Wüstenwanderungstraditionen vorangestellt. Der Blick geht noch weiter in die Vergangenheit, die zugleich bleibende Gegenwart ist. In „Geschichten vom Anfang“ wird über den Ursprung von allem und über die grundlegenden Beziehungen und die Störungen derselben erzählt (Gen 1-11). Die Geschichte Gottes mit seinem Volk geht von der Mitte aus weiter in die Zukunft. Sie wird gemessen an der Frage, ob Israel dem (Sinai)-Bund „gerecht“ geworden ist und „gerecht“ wird (= biblischer Begriff von Gerechtigkeit). Israel im Land (Ri - 2 Kön; 1 Chron 10 - 2 Chr 36) hat drei Säulen: das Königtum mit dem kritischen Gegenüber des Propheten und den Tempel. 587 wird Jerusalem zerstört; es gibt keinen König und zunächst auch keinen Tempel mehr. Der JHWH-Glaube braucht ein neues Zentrum: Die alten Überlieferungen werden gesammelt und zur Grundlage und einigenden Kraft des JHWH-Volkes. Bereits im Jahr 622 v. Chr. hat man das Gesetzbuch des Herrn gefunden (2 Kön 22,3ff). Dieses Geschehen ist so etwas wie die „Geburtsstunde“ der Buchreligion. Die im Exil gesammelten und zum Teil neugefaßten Überlieferungen der Bücher Gen - Dtn erhalten kanonisches Ansehen. Es folgen die prophetischen Bücher als Gotteswort, das sich in der Geschichte bewahrheitet hat. Die Sammlung von zum Teil sehr alten Liedern findet Verwendung für Gottesdienst und Gebet, die Weisheitstraditionen geben Anweisungen, wie man sich verhalten soll, damit das Leben gelingt. Den Abschluß der hebräischen Schriften bildet das Buch Daniel. Es ist Zeugnis einer Vielfalt von apokalyptischen Schriften zur Zeitenwende, die Ereignisse der Endzeit „enthüllen“. Das Zeugnis von JHWH, der sich am Sinai geoffenbart hat, findet seine Fortsetzung im NT. Direkte Verbindungen werden vor allem in Hebr 1,1-2a; Röm 1,1-4; Mt 1,1-17 und Lk 1,26-56 aufgezeigt. Das NT kennt keinen Zweifel darüber, daß der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs der Vater unseres Herrn Jesus Christus ist. Literaturliste U. Struppe, Einführung in das Alte Testament, Stuttgart 1994 (Verlag Katholisches Bibelwerk), 134 Seiten, S 304,-Eine knappe, aber inhaltsreiche Einführung in das Alte Testament in leicht verständlicher Sprache. Hinter dem Konzept steht die jahrelange Erfahrung des „Fernkurses für theologische Bildung“ in Wien. S. Bock, Kleine Geschichte des Volkes Israel. Von den Anfängen bis in die Zeit des Neuen Testamentes. Mit einer Einleitung von Norbert Lohfink (Herder Taschenbuch, 1642), Freiburg 21991, 191 Seiten, S 100,-F. Gradl - F.J. Stendebach, Israel und sein Gott. Einleitung in das Alte Testament (Biblische Basis Bücher, 4), Stutttgart (Katholisches Bibelwerk) 1992, 296 Seiten, S 297,-E. Zenger, Das Erste Testament. Die jüdische Bibel und die Christen, Düsseldorf (Patmos) 21992, 208 Seiten, S 225,- Als Anhang finden Sie das letzte Kapitel eines Dokumentes der Päpstlichen Bibelkommission (1993): Die Interpretation der Bibel im Leben der Kirche. Das gesamte Dokument kann im Bibelreferat ( 0732/7610/365) um S 20,-- + Portokosten bestellt werden. LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1. Aussendung 28 LINZER FERNKURS Erstes Testament I Tora und Judentum bis zur Zeitwende 1. Aussendung: Das Erste Testament als Reden von Gott Erstes Testament - Die Bibel: Gotteswort im Menschenwort Biblisches Reden von Gott - Geographie und Geschichte Israels 2. Aussendung: Methoden der Texterschließung - Geschichten vom Anfang Die Auslegung der Hl. Schrift - Der Mensch und seine Welt Erzählungen von Glaubensvätern und Glaubensmüttern 3. Aussendung: Israel in Ägypten Von Kanaan nach Ägypten: Die Josefsgeschichte - Im Schatten der Pyramiden Der Gottesname, die Gestalt des Mose, das Pascha 4. Aussendung: Auf dem Weg ins Gelobte Land Die befreiende Tat Jahwes beim Auszug und während der Wüstenwanderung Das Sinaigeschehen 5. Aussendung: Weisung und Gesetz Das Recht als Grundlage von Freiheit und Sicherheit Rechtsprechung in verschiedenen Epochen der Geschichte Israels Gesetz und Propheten 6. Aussendung: Erneuerung und Wiederaufbau des Gottesvolkes Das babylonische Exil - Entstehung des Judentums - Wiederaufbau des Tempels Esra und Nehemia - Die Propheten der nachexilischen Zeit 7. Aussendung: Israel bis zur Zeitwende Unter Fremdherrschaft - Der Glaube der Väter und die hellenistische Aufklärung Der Kampf für den Glauben der Väter: Apokalyptik - Makkabäerzeit Religiöse Strömungen und Religionsparteien bis zur Zeitwende LINZER FERNKURS - ERSTES TESTAMENT I: 1 Aussendung 29