EINLEITUNG LESEN SIE. Die Frage nach Distanz und Nähe stellt sich in vielen Bereichen des täglichen Lebens und wird von jedem Kulturkreis unterschiedlich beantwortet. Es gibt zum Beispiel das „Problem“ der physischen Nähe, zum Beispiel wie man sich begrüßt oder wie groß der Abstand zwischen zwei Menschen sein kann oder soll, wenn sie sich unterhalten. Bei Nähe und Distanz denkt man auch daran, wie man sich verhält, wenn es ein Machtgefälle1 gibt, zum Beispiel wie Schüler und Lehrer, Eltern und Kinder sowie Chefs und Angestellte miteinander umgehen. Außerdem schließt dieses Thema auch die Frage nach Privatsphäre ein: Welche Fragen darf ich einer anderen Person stellen? Wen darf ich zu Hause besuchen, ohne vorher anzurufen? Und nicht zuletzt kann auch durch Sprache Nähe und Distanz ausgedrückt werden, zum Beispiel durch das Duzen und Siezen. ÜBERLEGEN SIE Fallen Ihnen noch weitere Bereiche ein, in denen Nähe und Distanz eine Rolle spielen? 1 Ein Unterschied in der Macht; das heißt, eine Person hat mehr Macht oder ist in einer höheren Position als eine andere. 1 ÜBERLEGEN SIE Machen Sie eine Liste, welche positiven und welche negativen Dinge mit Nähe und Distanz verbunden werden können. positiv Nähe Verbundenheit, Freundschaft negativ Verlust von Sachlichkeit2 Distanz DISKUTIEREN SIE Was bedeutet Nähe und Distanz für Sie persönlich? In welchen Situationen ist Ihnen das eine oder andere wichtig? Haben Sie kulturelle Unterschiede im Umgang mit Nähe und Distanz erlebt? Können Sie Beispiele nennen? SPRACHE LESEN SIE. Auf Deutsch ist es oft nicht leicht zu wissen, wann man „du“ und wann man „Sie“ sagen soll. Auch Muttersprachler haben damit oft Probleme, weil es nicht für jede Situation eine eindeutige Regel gibt. Eine englische Studentin hatte das Problem auch, als sie für ein Semester nach Deutschland kam. In ihrer ersten Lehrveranstaltung lernte sie einen netten Kommilitonen kennen. Nach einigen Sätzen sagte er ihr etwas irritiert und auf einigen Umwegen, sie solle ihn doch bitte „duzen“. Sie hatte ihn „gesiezt“, weil sie dachte, das sei die höflichere Form und sie wollte nichts falsch machen. Aber auch das „Sie“ kann unpassend sein, wie die Studentin in dieser Situation lernte. Ganz andere Probleme hatten einige 15-jährige deutsche Schüler, die eine aus Russland stammende Russischlehrerin hatten, die immer alle Schüler siezte. Für einige Schüler war das sehr irritierend und sie fühlten sich sehr unwohl. Deutsche Schüler werden normalerweise erst in der Oberstufe, also mit 16 gesiezt, und selbst da fragen viele Lehrer, ob sie einverstanden sind, wenn sie geduzt werden. 2 nur die Sache betreffend, nicht emotional 2 DISKUTIEREN SIE Was denken Sie über das „duzen“ und „siezen“? Haben Sie manchmal auch Probleme damit? ÜBERLEGEN SIE Wird die Unterscheidung in Ihrer Muttersprache auch gemacht? Wenn ja, wie verwendet man die beiden Formen? Sprechen Sie noch andere Sprachen? Vergleichen Sie mit Deutsch. du Sie hängt davon ab, ob ... Deutsch Chef Eltern Verwandte, die man noch nie gesehen hat beim Einkaufen Studenten untereinander Lehrer zum 15jährigen Schüler Lehrer zum 18jährigen Schüler Nachbarn, die man beim Nachnamen nennt Menschen, die man beim Vornamen nennt DER VERSUCH EINER ERKLÄRUNG - LESEN SIE „Sie“ zeigt Respekt, schafft aber auch Distanz. „Du“ zeigt keinen besonderen Respekt, aber Nähe. Ob Respekt oder Nähe wichtiger genommen wird, hängt von vielen Dingen ab. Zuerst einmal gilt, dass man Leute über 16 Jahren, die man nicht näher kennt und mit denen man nicht verwandt ist, siezt. Eine Ausnahme sind junge Leute untereinander in der Schule, an der Universität oder dort, wo man seine Freizeit verbringt. In der Familie und auch zu entfernten Verwandten sagt man immer „du“, ebenso zu Menschen, mit denen man das „du“ vereinbart hat. Prinzipiell gilt auch, dass man Menschen, die man duzt, mit dem Vornamen anspricht und Menschen, die man siezt, mit Frau X und Herrn Y. Allerdings gibt es eine neuere Form, die vor allem auf geschäftlicher Ebene benutzt wird. Es ist die Kombination von Vornamen und „Sie“. 3 Insgesamt gibt es natürlich große Unterschiede, für die es nicht unbedingt eine Regel gibt. In einem konservativen Umfeld, zum Beispiel im Bankenviertel einer Großstadt oder in einem reichen Stadtteil, wird vermutlich häufiger „Sie“ verwendet, in einem liberaleren Umfeld mit vielen jungen Menschen, zum Beispiel in einer typischen Studentenstadt, hört man auch in Restaurants, Kneipen oder beim Einkaufen häufiger, dass Kunden geduzt werden. STRATEGIEN Was kann man tun, wenn man nicht sicher ist, ob „du“ oder „Sie“ passender ist? 1. Sie können nachfragen. Sie können erklären, dass Sie unsicher sind und nicht wissen, welche Variante besser ist. Oder Sie können, vor allem wenn Sie älter als die andere Person sind oder „eine Stufe höher stehen“, selbst anbieten, dass Sie sich duzen können. 2. Wenn Sie nicht sicher sind, können Sie ganz vorsichtig „Sie“ benutzen und beobachten, wie die andere Person reagiert. „Sie“ ist auf jeden Fall die höflichere Variante. 3. Eine andere Möglichkeit, die allerdings nicht gut funktioniert und deshalb sehr lustig ist, ist das Vermeiden. Das heißt, man spricht so, dass man keine direkte Anrede verwendet. Fragen formuliert man nicht mit „Können Sie mir sagen, ...“, sondern mit „Ich wollte fragen, ...“. Wo es möglich ist, kann „Sie“ auch durch „man“ umschrieben werden. Für wenige Sätze kann das eine Lösung sein, aber längere Gespräche sind so garantiert unmöglich. TESTEN SIE DIE STRATEGIEN Wie würden Sie sich in den folgenden Situationen verhalten? Spielen Sie die Situationen mit einem Partner und probieren Sie dabei verschiedene Strategien aus. a) Zwei 35-jährige Sprachkurses. Frauen treffen sich beim ersten Termin eines b) Am Tag nach einer Party mit sehr, sehr viel Alkohol, bei der Ihnen Ihr Chef das „du“ angeboten hat, kommen Sie zur Arbeit. c) Sie fangen einen neuen Job an. Sie bemerken, dass in Ihrem neuen Arbeitsumfeld normalerweise geduzt wird, aber das fällt Ihnen als dem „Neuen“, der jünger ist, ziemlich schwer, besonders bei Ihrem Chef. Außerdem hat niemand zu Ihnen gesagt, dass Sie „du“ sagen sollen. 4 „WIE GEHT ES IHNEN?“ – EINE BERICHTEN SIE IN KURZE FRAGE MACHT GROßE PROBLEME IHREM KURS Wann fragt man in Ihrer Muttersprache „Wie geht es dir?“ oder „Wie geht es Ihnen?“ Welche Personen fragt man? Wie kann man darauf antworten? Wissen Sie auch, wie man das auf Deutsch macht? Auf Deutsch fragt man nicht bei jeder Begrüßung, wie es jemandem geht. Auf Englisch und in vielen anderen Sprachen ist es ein Teil der Begrüßung, aber auf Deutsch fragt in der Regel nur, wenn man auch eine Antwort hören möchte. Leute, die man nicht zum ersten Mal sieht oder mit denen man nur selten auf einer beruflichen Ebene zu tun hat, fragt man nicht, wie es ihnen geht. Für Deutsche wäre das zu viel Nähe. Menschen, die man „siezt“, aber etwas besser kennt, kann man fragen, wie es Ihnen geht. Sehr oft reicht dann als Antwort „Danke, gut.“ Es kann aber auch passieren, dass jemand dann erzählt, wie viel Stress er bei der Arbeit hat, welche gesundheitlichen Probleme er hat usw. Das gilt aber als „distanzlos“ und nicht angemessen bei geringem Grad an Bekanntschaft. Bei Freunden ist die Frage „Wie geht es dir?“ – oder die Kurzform „Wie geht’s?“ normalerweise Teil einer Unterhaltung und wird auch meist wahrheitsgemäß beantwortet. Körpersprache Auch mit der Körpersprache kann man Nähe oder Distanz ausdrücken. Machen Sie dazu die nächste Aufgabe. VERGLEICHEN SIE Beantworten Sie die Fragen darüber, wie man sich in Ihrem Heimatland und in Deutschland verhält und diskutieren Sie anschließend in Gruppen. Was gefällt Ihnen besser? Warum? Ist Ihnen eine der Formen unangenehm? 5 in Ihrem Heimatland in Deutschland Wie begrüßt man ... a. ... Freunde? b. ... Familienmitglieder? c. ... entfernte Bekannte? d. ... Menschen, die man zum ersten Mal sieht? Berührt man sich, wenn man sich unterhält? Wie groß ist der Abstand, wenn man mit ... a. ... Freunden ... b. ... Arbeitskollegen ... c. ... dem Chef ... ... spricht? Küssen sich Menschen (die ein Paar sind) in der Öffentlichkeit? DER VERSUCH EINER ERKLÄRUNG - LESEN SIE In Deutschland begrüßt man sich sehr oft, indem man sich die Hand gibt. Das gilt nicht nur für geschäftliche Kontakte, sondern auch für private Kontakte mit Menschen, mit die man nicht so gut kennt. Freunde und Familienmitglieder kann man mit einer Umarmung oder Küsschen auf die Wange begrüßen, wobei das in jeder Familie und in jedem Freundeskreis unterschiedlich ist. Meist küssen sich zwei Männer untereinander nicht, Frauen untereinander küssen sich auf die Wange und auch bei Frauen und Männern ist es verbreitet. Bei einer Unterhaltung hält man etwas Abstand. Spätestens wenn Ihr Gesprächspartner einen Schritt zurückgeht, sind Sie zu nah. Berührungen (Schulterklopfen etc.) sind nur bei Freunden und guten Bekannten gerne gesehen, dann macht es auch keinen Unterschied, ob es Männer oder Frauen sind. DISKUTIEREN SIE Wie ist es in anderen Ländern? Welchen Eindruck macht beispielsweise das deutsche Kommunikationsverhalten auf einen Spanier? Wie geht es einem Deutschen in Spanien? Welche Situationen können entstehen? Wie könnte man damit umgehen? Spielen Sie eine solche Situation. 6 „Turn-Taking“ Der Körperabstand spielt eine große Rolle, um in einer Unterhaltung Nähe und Verbundenheit einerseits oder Distanz und Respekt andererseits auszudrücken. Das gilt auch für das sogenannte „Turn-Taking“, die Regeln für die Gesprächsübernahme, wenn sich zwei oder mehr Leute unterhalten. Man unterbricht den Chef oder Lehrer nicht, wenn er gerade spricht, ebenso wenig klopft man ihm einfach mal auf die Schulter. Bei Freunden ist es dagegen unter bestimmten Umständen in Ordnung, wenn man ihnen ins Wort fällt3. Und um es noch etwas komplizierter zu machen: Es gibt nicht nur innerhalb einer Gesellschaft Unterschiede beim „Turn-Taking“, sondern auch zwischen verschiedenen Kulturen. Hier ein Beispiel: Als in der Nachbarwohnung einer deutschen Familie ein italienisches Paar einzog, dachten die deutschen Nachbarn zuerst, das Paar würde immer nur streiten. Es war manchmal recht laut und man unterbrach sich gegenseitig. Erst nachdem sie die Nachbarn besser kennen gelernt hatten, bemerkten sie, dass es kein Streit war, sondern einfach eine andere Art sich zu unterhalten. Italiener finden Deutsche in Bezug auf die Gesprächsführung vielleicht ziemlich langsam und langweilig, weil recht lange Pausen zwischen den Gesprächsbeiträgen entstehen. Andererseits berichtete ein Niederländer von einem Treffen mit Finnen, dass er durch die doch recht langen Pausen nervös wurde, die für Finnen aber eine Geste des Respekts sind, denn sie ermöglichen dem Gesprächspartner, noch etwas zu sagen, wenn ihm noch etwas einfällt. Der Niederländer hatte aber das Gefühl, dass seine Gesprächspartner mit seinen Kommentaren nicht einverstanden waren, weil sie nicht antworteten. DISKUTIEREN SIE Haben Sie schon einmal in einem Gespräch Pausen erlebt, die Sie eigentlich zu lang und deshalb unangenehm empfanden? Oder haben Sie schon einmal mit jemandem gesprochen, der Sie ständig unterbrochen hat? Wie haben Sie das wahrgenommen? Hat es Sie gestört? Handelte es sich dabei um Menschen aus Ihrem Kulturkreis? Wenn ja, in welchem Verhältnis standen Sie zueinander? Welche Pausen finden Sie bei welchen Gesprächspartnern angemessen? Wer darf Sie unterbrechen? 3 jemandem ins Wort fallen = jemanden unterbrechen 7 „RUHE, JETZT REDE ICH ...“ – WIE KANN MAN JEMANDEN UNTERBRECHEN? Mit welchen Sätzen kann man jemanden unterbrechen? Ordnen Sie zu, was für Freunde, den Chef, Arbeitskollegen, Fremde oder Eltern geeignet ist oder was völlig inakzeptabel ist. Fallen Ihnen noch mehr Sätze ein? 1) Ruhe, jetzt rede ich! 2) Entschuldigung, dass ich unterbreche, aber ... 3) Das kannst du so nicht sagen .... 4) Halt die Klappe! 5) Entschuldige, aber du kommst vom Thema ab. 6) Ich unterbreche dich ungern, aber ... 7) Du nervst. 8) Entschuldigung, darf ich jetzt auch mal was sagen? 9) Hör mir bitte auch mal zu! 10) Immer redest du nur von dir! Diskutieren Sie in der Gruppe! 8 Hierarchie und soziale Distanz Wie wichtig ist in Ihrem Heimatland der Respekt vor dem Chef? Wie höflich müssen Kinder zu ihren Eltern sein? Wie sprechen Schüler mit Lehrern? Und Lehrer mit Schülern? Wie behandeln sich Menschen, die aus unterschiedlichen sozialen Schichten kommen? DISKUTIEREN SIE Sprechen Sie über die Besonderheiten dieser Beziehungen in Ihrem Heimatland. Können Sie sich vorstellen, dass es in anderen Ländern anders ist? Respekt oder Unabhängigkeit und Selbstständigkeit – was ist Ihnen wichtiger? Es gibt große kulturelle Unterschiede beim Umgang mit Hierarchie und Macht. In manchen Ländern ist Respekt sehr wichtig und man würde beispielsweise das Privatleben des Staatspräsidenten nicht in der Öffentlichkeit diskutieren. In anderen Ländern ist es dagegen an der Tagesordnung, dass sich Zeitungen, Komiker und Privatpersonen über die Fehltritte und Vorlieben ranghoher Politiker auslassen. Hier kann man Unterschiede darin erkennen, wie viel Respekt ein Kulturkreis vor Hierarchie und Macht haben. Darf man den Chef kritisieren? Dürfen Kinder sich gegen die Eltern auflehnen? Stehen Jugendliche im Bus für ältere Menschen auf? Aber auch: Wie viel Kontakt haben die Reichen mit den Armen, die Mächtigen mit den weniger Mächtigen? Heiraten Firmenchefs Sekretärinnen und Ärztinnen Taxifahrer? In vielerlei Hinsicht ist Respekt natürlich wichtig, aber auch bestimmte Freiheiten, zum Beispiel jemanden kritisieren dürfen, der höher gestellt ist, haben ihre Vorteile. Dass es nicht den einen richtigen Weg gibt, wird deutlich, wenn man an die Erziehung von Kindern denkt. Man möchte, dass Kinder lernen, sich den Regeln der Gesellschaft entsprechend zu verhalten. Außerdem möchte man, dass sie selbstbewusst und selbstständig sind. So betonen manche mehr den Gehorsam (Anpassung an die Regeln), manche ermuntern die Kinder mehr, ihre Ideen und Wünsche durchzusetzen. Natürlich ist beides wichtig, nur worauf mehr Wert gelegt wird, ist in jedem Kulturkreis anders. 9 SCHREIBEN SIE Welches ist die richtige Balance zwischen Distanz und Nähe? Beziehen Sie sich dabei auf ein Thema, beispielsweise auf die Kindererziehung oder auf den Umgang von Chef und Angestellten. ________________________________________________________________________ ________________________________________________________________________ ________________________________________________________________________ ________________________________________________________________________ ________________________________________________________________________ ________________________________________________________________________ ________________________________________________________________________ ________________________________________________________________________ ________________________________________________________________________ ________________________________________________________________________ ________________________________________________________________________ ________________________________________________________________________ ________________________________________________________________________ ________________________________________________________________________ ________________________________________________________________________ ______________________________________________________________ 10 Interview Haben Sie noch Fragen? Dann fragen Sie doch die Deutschen! Machen Sie ein Interview! Erstellen Sie zuerst einen Fragebogen. Die Fragen könnten zum Beispiel solche sein: 1) Wie begrüßen Sie Ihre Freunde? a. mit Küsschen b. mit Umarmung c. Hand geben d. ohne Körperkontakt 2) Sagen Sie „du“ oder „Sie“ zu Ihrem Chef? 3) Respekt oder Unabhängigkeit? Was ist/wäre Ihnen bei der Erziehung Ihrer Kinder wichtiger? 11