Prof. Dr. R. Melzer-Ridinger Risikomanagement in der Beschaffung 1 Beschaffungsrisiken und Beschaffungskrisen 2 Typisierung von Risikostrategien - Grundverhaltensweisen im Risikomanagement 3 3.1 3.2 3.3 Anforderungen an das Risikomanagement in der Beschaffung Effektivität und Effizienz im Risikomanagement Systematisches und kontinuierliches Risikomanagement Umfassendes, koordiniertes Risikomanagement 4 Fehlmengenrisiko 4.1 Ausprägungen, Ursachen und Folgen des Fehlmengenrisikos 4.2 Instrumente zur Bewältigung des Fehlmengenrisikos 4.2.1 Bewältigung akuter Fehlmengensituationen 4.2.2 Senkung der Anfälligkeit gegenüber Fehlmengensituationen 4.2.3 Überwälzung der Fehlmengenkosten 4.2.4 Senkung des Fehlmengenrisikos 5 5.1 5.2 Bedarfsrisiko Ausprägungen, Ursachen und Folgen des Bedarfsrisikos Instrumente zur Bewältigung des Bedarfsrisikos 6 6.1 6.2 Qualitätsrisiko Ausprägungen, Ursachen und Folgen des Qualitätsrisikos Instrumente zur Bewältigung des Qualitätsrisikos Viele Unternehmen sind gleichzeitig wachsenden Anforderungen an die performance der supply chain in den Dimensionen Termin, Menge, Qualität und Kosten einerseits und einem wachsenden Beschaffungsrisiko andererseits ausgesetzt: Aktuelle Fertigungs- und Logistikstrategien wie kundenorientierte Fertigung, Senkung der Bestände und Durchlaufzeiten, Verkürzung der am Absatzmarkt angebotenen Lieferzeiten und Reduzierung der Fertigungstiefe steigern die Anfälligkeit für Fehlmengensituationen und Preisrisiken. Neue Risikoursachen wie Variantenvielfalt, kurze, schwer prognostizierbare Lebenszyklen, langfristige Preisvereinbarungen und Abnahmeverpflichtungen sind in der jüngeren Vergangenheit wirksam geworden, bekannte Risikoursachen haben sich verstärkt (z.B. durch global sourcing), sodass den gestiegenen Anforderungen an die Versorgungssicherheit ein erhöhtes Beschaffungsrisiko gegenübersteht. In den folgenden Abschnitten werden Prozessschritte, Strategien und Instrumente eines Risikomanagements dargestellt, das Mengen-, Termin-, Qualitäts-, Bedarfsund Preisrisiken nicht als zufällig entstehendes und unbeeinflussbares Phänomen 1 betrachtet, sondern sich um eine Risikobewältigung bemüht, die den Anspruch erhebt, systematisch, kontinuierlich und koordiniert zu arbeiten. Dieses Risikomanagement umfasst die Aufgabe, aufgetretene Störungen in einem operativen Störungsmanagement zu beseitigen und darüber hinaus systematische, kontinuierliche und koordinierte Risikobewältigung zu betreiben mit dem Ziel, konventionelle Instrumente der Risikoabwehr (Sicherheitsbestände, Lieferantenstreuung u.ä.) durch präventive Instrumente und Risikofolgenüberwälzende Instrumente zu ergänzen, soweit diese wirksam und wirtschaftlich sind. 1 Beschaffungsrisiken und Beschaffungskrisen Die Beschaffung (das supply chain management ) hat die Aufgabe, den Materialfluss und den zugehörigen Informationsfluss in das Unternehmen so zu gestalten und zu lenken, dass der Fertigung zum geplanten Starttermin eines Fertigungsauftrags das benötigte Material in der richtigen Menge und mit den gewünschten Produkteigenschaften zur Verfügung steht ( vgl. Zäpfel, Piekarz S. 12f). Die Leistungsfähigkeit der supply chain kann mittels Kennzahlen festgestellt werden, die die Häufigkeit, den Umfang ( hinsichtlich der betroffenen Bedarfsmengen, Bestellaufträge und Enderzeugnisse) und die Dauer von Fehlmengensituationen differenziert nach Menge, Termin und Qualität messen (vgl. Koppelmann S. 352ff.). Mit der Sicherung der Materialversorgung leistet die Beschaffung einen wesentlichen Beitrag zur Gewährleistung eines auf dem Absatzmarkt geforderten oder vereinbarten Lieferservice. Die Versorgung soll zu möglichst geringen Gesamtkosten gesichert werden. Bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit der Beschaffung im Hinblick auf das Kostenziel werden zunehmend Kostenarten und Kostenwirkungen einbezogen, die in den der Beschaffung nachfolgenden Stufen der Prozesskette, also in der Fertigung, in der Verwaltung und im Vertrieb anfallen und dort zu verantworten sind. Fehlleistungen der Beschaffung hinsichtlich der Leistungsziele erzeugen in der nachfolgenden Prozesskette erhöhten Aufwand oder verursachen einen Schaden auf dem Absatzmarkt und werden dort als Fehlmengen- und Fehlerkosten bezeichnet (vgl. Melzer-Ridinger 1998 S. 31ff.). Gegenstand des Risikomanagements in der Beschaffung sind (aktuelle und drohende) Situationen, in denen die geplante und optimale Zielerreichung beim Versorgungs- und Kostenziel nicht erreicht wird. Hierbei sind 3 Situationen zu unterscheiden: die bedarfsgerechte Versorgung der Fertigung gelingt nicht (fehlendes oder fehlerhaftes Material), die Versorgung kann nur mit besonderen Anstrengungen und Massnahmen, die nicht geplant waren und nicht optimal sind, sichergestellt werden (Engpasssituation), in Erwartung zukünftiger Umweltsituationen werden Maßnahmen ergriffen, die sich im nachhinein als unnötig oder schädlich erweisen und deren Durchführung oder Wirkung (vermeidbare, Opportunitäts-)Kosten verursachen. 2 Aufgabe des Risikomanagements in der Beschaffung ist die Bewältigung der folgenden Risikoarten: Fehlmengenrisiko, als Gefahr, dass der Fertigung zum Starttermin eines Fertigungsauftrags das benötigte Material nicht zur Verfügung steht, Qualitätsrisiko, als Gefahr, dass fehlerhaftes Material geliefert wird, das die benötigten Eigenschaften und Merkmale nicht aufweist, Bedarfsrisiko, als Ungewissheit über Menge, Termin und eventuell Qualitätsmerkmale des zu befriedigenden Bedarfs und als Ungewissheit über die Bedarfsentwicklung, Preisrisiko, als Gefahr von Preisnachteilen gegenüber den Beschaffungskonkurrenten und als Ungewissheit über die zukünftige Entwicklung des Preises, Rechtliches Risiko, als spezielles Risiko des global sourcing. Es bezeichnet die Ungewissheit, die aus der Verschiedenheit der Rechtssysteme und -ordnungen der am internationalen Beschaffungsprozess beteiligten Nationen resultiert. Diese Unsicherheit liegt nicht nur in der ”formalen” Unkenntnis der ausländischen Gesetze, sondern vor allem auch in der fehlenden Kenntnis ihrer praktischen Handhabung und Auslegung; denn geschriebenes Recht und Rechtswirklichkeit weichen in manchen Ländern erheblich voneinander ab. Fehlmengenrisiko Qualitätsrisiko Bedarfsrisiko Preisrisiko Rechtliches Risiko Beschaffungsrisiko Abb. 1: Risikoarten in der Beschaffung Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich auf das Fehlmengen-, Bedarfsund Qualitätsrisiko, die zusammen das Versorgungsrisiko bilden. Krisensituationen in der Beschaffung liegen dann vor, wenn die Beeinträchtigung des Versorgungs- und Kostenziels so stark ist, dass das Überleben des Unternehmens gefährdet ist. Die folgenden Szenarien verdeutlichen beispielhaft, dass Fehlmengen- und Qualitätsrisiken existenzbedrohende Krisen auslösen können: Ein strategisches Material erleidet über längere Zeit einen totalen Lieferausfall alternative Lieferquellen stehen kurzfristig nicht zur Verfügung (Beispiel Lieferausfall des für die Textil- und Kunststoffindustrie strategischen Einsatzfaktors Naphta im Golfkrieg). Fehlerhaftes Material verursacht ein Sicherheitsrisiko am Enderzeugnis. Die verschuldensunabhängigen und deliktischen Produkthaftungsansprüche der geschädigten Kunden auf dem Absatzmarkt und die Image-, Kunden- und Umsatzverluste können existenzbedrohenden Umfang annehmen und nur eingeschränkt auf den verursachenden Lieferanten überwälzt werden. 3 Typisierung von Risikostrategien - Grundverhaltensweisen im Risikomanagement Generell stehen einem Risikomanagement die Strategien der Risikovermeidung (bzw. –verminderung), der Risikoüberwälzung, sowie der Risikoübernahme zur Verfügung: Die Strategie der Risikovermeidung arbeitet ursachenbezogen. Sie sammelt Informationen über die häufig langen und komplexen Risikoursache-Wirkungs-Ketten in der supply chain und setzt Instrumente und Maßnahmen ein, die in den Risikoentstehungs- oder -entwicklungsprozeß eingreifen mit dem Ziel, risikoauslösende Faktoren so zu verändern, dass bestimmte Ereignisse überhaupt nicht eintreten, dass ihre Eintrittswahrscheinlichkeit geringer wird, dass das Ausmaß der Störung oder die Dauer der Störung reduziert wird. Ursachenorientierter Risikovermeidung sind sachliche und wirtschaftliche Grenzen gesetzt, da die Risikoursache häufig außerhalb des Einflussbereichs des Unternehmens liegt und da ihre Analyse und Beeinflussung einen hohen zeitlichen und monetären Aufwand verursacht. Sie ist in der Regel ungeeignet, Störungen kurzfristig zu beseitigen. Die Strategie der Risiko(folgen)überwälzung ist wirkungsorientiert. Sie entwickelt Instrumente, mit denen es gelingt, den Schaden durch Fehlmengen und fehlerhaftes Material auf den verursachenden Lieferanten zu überwälzen. Die Möglichkeiten der Risikoüberwälzung sind aus rechtlichen Gründen begrenzt, da die Durchsetzung von Schadensersatzforderungen an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, die vertraglich nur eingeschränkt geschaffen werden können. Da die Risikovermeidung und die Risikoüberwälzung häufig zumindest kurzfristig nicht möglich sind, muss ein großer Teil der Risiken übernommen und durch Sicherungsstrategien beherrschbar gemacht werden (Risikoübernahme). Die Strategie der Risikoübernahme verhält sich gegenüber dem Beschaffungsrisiko anpasserisch und arbeitet ausschließlich wirkungsorientiert. Sie setzt Maßnahmen ein, die die wirtschaftlichen Folgen der Risikoereignisse für das abnehmende Unternehmen verändern. Sie werden mit der Absicht vorgenommen, den Grad der negativen Zielbeeinträchtigung möglichst klein zu halten. Es wird mit einem Risikooder Schadenseintritt gerechnet, aber die Folgen eines solchen sollen so gering wie irgend möglich gehalten werden. Die Beschaffungsrisiken werden als nicht oder nicht wirtschaftlich beeinflussbar betrachtet und nach Instrumenten gesucht, mit denen die Fertigung vor Fehlmengensituationen durch fehlendes oder fehlerhaftes Material geschützt werden kann und Instrumente entwickelt, die im Störungsfall eingesetzt werden können. Im Rahmen solcher Sicherungsstrategien unterscheidet man Sanierungsstrategien, mit deren Hilfe die Schäden beim Eintritt von Risiken möglichst wirkungsvoll behoben werden sollen, von Präventivstrategien, die eine Beeinträchtigung der Fertigung von vornherein zu verhindern suchen. Sanierungsstrategien werden eingesetzt, wenn die Fehlmengen- oder Fehlersituation bereits eingetreten ist (Improvisation). Ihr Ziel ist die Schadensbegrenzung. 4 Sanierungsstrategien im Beschaffungsbereich stellen Personalkapazitätspuffer bereit und Flexibilität im Hinblick auf Lieferbeziehungen und Geschäftsprozesse. Präventivstrategien nehmen die Gefahr von Fehlmengensituationen gedanklich vorweg und suchen Maßnahmen, um die Fertigung vor den Risikofolgen zu schützen: Sicherheitszeiten und –bestände, Lieferantenstreuung, intensive Qualitätsprüfung verringern die Anfälligkeit des abnehmenden Unternehmens gegenüber Fehlmengensituationen( vgl. Wildemann S. 156ff, Schneeweiß S. 290ff). Die Merkmale der Risikostrategien sind in Abb. 2 nochmals zusammengestellt. Risikostrategie Arbeitsweise und Instrumente Ziele Risikovermeidung ursachenorientiert markt- und betriebsgerichtet Vermeidung der Risikoursache Senkung der Eintrittswahrscheinlichkeit Reduzierung des Ausmaßes der Störung Reduzierung der Dauer der Störung Risikoüberwälzung Wirkungsorientiert Marktgerichtet Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen Risikoübernahme Wirkungsorientiert betriebsgerichtet Präventiv und reaktiv Schadensbegrenzung Verlängerung des Reaktionszeitraums Abb. 2: Merkmale der Risikostrategien in der Beschaffung 3 Anforderungen an das Risikomanagement in der Beschaffung 3.1 Effektivität und Effizienz im Risikomanagement Die Leistungsfähigkeit des Risikomanagements ist an der Effektivität (Wirksamkeit) und an der Effizienz (Wirtschaftlichkeit) der angewendeten Strategien und Instrumente zu messen. Die auf das Fehlmengen- und Qualitätsrisiko bezogenen Maßnahmen sind wirksam, wenn sie die Risikosituation oder ihre Folgen wirksam beeinflussen, d.h. wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit (ex ante betrachtet) bzw. die Häufigkeit (ex post betrachtet) der Fehlmengensituationen reduziert wird, die Dauer der Fehlmengensituation verkürzt wird, 5 das Ausmaß (bezogen auf die Anzahl der betroffenen Materialidentnummern, Bestellaufträge, Enderzeugnisse oder auf den Anteil der nicht richtig gelieferten Bestellaufträge am gesamten Einkaufsvolumen) der Fehlmengensituationen vermindert wird, der Reaktionszeitraum als Zeitraum zwischen Erkennen einer (drohenden) Fehlmengensituation und Eintritt des Risikos bzw. der Risikofolgen verlängert wird, die Risikofolgen für das betroffene Unternehmen reduziert werden. Aufgabe des Entscheidungsträgers im Risikomanagement ist, die Handlungsmöglichkeiten unter Berücksichtigung der situativen Gegebenheiten hinsichtlich ihrer Wirksamkeit zu beurteilen. Gleichzeitig ist zu beachten, dass die Gestaltung der risikopolitischen Instrumente, die Durchführung einer Risikoanalyse und die Realisierung der gewählten Handlungsmöglichkeiten Kosten oder Nachteile für andere Beschaffungsziele verursacht. Daraus ergibt sich die Überlegung, dass die Strategien und Instrumente nicht auf jede Situation und für jedes Beschaffungsobjekt in gleicher Weise und Intensität angewendet werden sollten, sondern dass sie entsprechend ihrem individuellen und situativen Kosten-Nutzen-Verhältnis (Effizienz) eingesetzt werden sollten. Die Kosten eines Instruments lassen sich an dem Aufwand an Zeit, personellen und monetären Ressourcen messen, die ihr Einsatz benötigt. Als indirekte Kosten des Instrumenteneinsatzes sind etwaige Nachteile einer Handlungsmöglichkeit auf andere Kostenarten und die Flexibilität zu berücksichtigen. Der Nutzen eines Instruments kann gemessen werden an dem Schaden, der vermieden wird. Auf das Fehlmengen- und Qualitätsrisiko bezogene Maßnahmen sind effizient, wenn die Kosten und anderen Nachteile des Instrumenteneinsatzes nicht höher sind als die zu vermeidenden Fehlmengen- und Fehlerkosten. Ein an den Zielen Effektivität und Effizienz orientiertes Risikomanagement muss systematisch, kontinuierlich und koordiniert betrieben werden: Systematisches und kontinuierliches Risikomanagement Systematisches Risikomanagement fordert eine Vorgehensweise, die nach verbindlichen und allgemeingültigen Grundsätzen und Richtlinien arbeitet, anstelle einer Vorgehensweise, die ad hoc, willkürlich und fallweise Regelungen trifft. Systematisches Vorgehen kann als planmäßig, geordnet gekennzeichnet werden. Den Funktionsträgern im Einkauf, in der Disposition und in der Qualitätsprüfung, die über den Einsatz risikopolitischer Instrumente entscheiden, werden klare Regelungen (Verfahrensanweisungen) und Zielvorgaben an die Hand gegeben, sie verfügen über die notwendige Datenbasis und Instrumente zur Unterstützung der Informationsgewinnung und Entscheidungsfindung. Verfahrensanweisungen legen beispielsweise Beurteilungskriterien zur Messung des Beschaffungsrisikos und deren Gewichtung fest und beschreiben die Informationsquellen, die geeignet sind, die Beurteilung vorzunehmen. Eine einheitliche und geplante Systematik der Risikobewältigung 6 verspricht Lerneffekte über Ursache-Wirkungsbeziehungen in der supply chain und macht die Entscheidungsfindung sicherer und schneller, da auf Erfahrungen zurückgegriffen werden kann, macht die Aktivitäten und Ergebnisse des risikoorientierten Verhaltens für andere Prozessmitglieder transparent und schafft Vertrauen in der Prozesskette, sodass kumulierte Sicherheitsbestände und –zeiten in der Versorgungskette vermieden werden können, verringert den Abstimmungsaufwand zwischen den Funktionsträgern, vermeidet, dass sich das Risikomanagement auf die Lösung aktueller und dringlicher Problemfälle und das Kurieren an Symptomen beschränkt. Systematisches Risikomanagement folgt den Phasen eines systematischen Problemlösungsprozesses: 1. Phase: Problemanalyse Analyse der Risikosituation hinsichtlich Bedeutung, Risikoursachen und –wirkungen. 2. Phase: Entscheidungsfindung Suche nach wirksamen Handlungsmöglichkeiten, Beurteilung der Effizienz der Handlungsmöglichkeiten mit dem Ziel, Risikoinstrumente situationsgerecht auszuwählen und anzuwenden. Auswahl einer Handlungsmöglichkeit. 3. Phase: Realisation Durchführung der gewählten Alternative, Kontrolle der Zielerreichung, Einleiten von Anpassungsmaßnahmen, Auswerten der Erkenntnisse für neue Projekte. Erfolgreiches Risikomanagement kann nicht gelegentlich betrieben werden, sondern muss als kontinuierliche Aufgabe betrachtet werden. Umfassendes, koordiniertes Risikomanagement Umfassendes Risikomanagement fordert Information und Abstimmung in der supply chain anstelle isolierter abteilungsbezogener Arbeit, um Verschwendung und inkompatible Maßnahmen zu vermeiden Supply chain management erfordert eine Vielzahl interdependenter Entscheidungen und Maßnahmen, die arbeitsteilig erbracht werden. Dabei besteht die Gefahr, dass die Funktionsträger im Einkauf, in der Disposition oder in der Qualitätsprüfung die ihnen zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten ausschließlich danach beurteilen, wie sie sich auf die Ziele in ihrem Verantwortungsbereich auswirken und dabei das Verhalten der Prozessnachbarn als ungewiss und unbeeinflussbar betrachten. Dieses Verhalten führt zum einen zu Verschwendung durch kumulierte Sicherheitsbestände und –zeiten in der Prozesskette, zum anderen zu inkompatiblen Maßnahmen. Umfassendes Risikomanagement zeichnet sich dadurch aus, dass die Funktionsträger sich der Tatsache bewusst sind, dass ihre Entscheidungen, Maßnahmen und Unterlassungen auf vor- und nachgelagerten Stufen der Prozesskette ein Risiko auslösen und verstärken können ( Fehlerfortpflanzung, Peitscheneffekt), 7 die Funktionsträger die Wirksamkeit und Effizienz von Risikoinstrumenten nicht nur für ihren Verantwortungsbereich, sondern für die performance der gesamten supply chain und die total cost of ownership beurteilt. Dabei sind sie bereit auf Vorteile im eigenen Verantwortungsbereich zu verzichten, um Vorteile für die gesamte Versorgungskette zu erzielen oder Nachteile zu vermeiden, die Funktionsträger die Entscheidungen und Handlungen der Prozessnachbarn nicht als unbeeinflussbares und unbekanntes Datum betrachten, sondern sich über das risikorelevante Verhalten der Funktionsträger und deren Wirksamkeit informieren und dieses bei der eigenen Entscheidungsfindung berücksichtigen. Fehlmengenrisiko Ausprägungen, Ursachen und Folgen des Fehlmengenrisikos Eine Fehlmengensituation liegt aktuell vor, wenn ein geplanter Fertigungsauftrag nicht gestartet werden kann, weil das benötigte Material nicht oder nicht in ausreichender Menge zur Verfügung steht. Das Risikomanagement in der Beschaffung beschäftigt sich auch mit drohenden Fehlmengensituationen, in denen erkennbar ist, dass das benötigte Material zum Bedarfstermin ohne entsprechendes Engpassmanagement nicht oder nicht in ausreichender Menge zur Verfügung stehen wird. Als Verursacher für eine Fehlmengensituation wird spontan meist der Lieferant und seine logistische Kette, also seine Vorlieferanten und die von ihm beauftragten logistischen Dienstleister genannt. Ursachen für die Lieferung der falschen Artikel, für verspätete Lieferung, für Mindermengenlieferung und kompletten Lieferausfall können in der Fertigung des Lieferanten liegen (Kapazitätsengpässe, Qualitätsprobleme) sie können durch Fehler in den administrativen Geschäftsprozessen des Lieferanten verursacht werden (Verzögerungen in der Auftragsabwicklung, Fehler und Verzögerungen in der Bestellabwicklung, Kommissionierfehler), sie können auf seinen Vormärkten und auf dem Transportweg zwischen Lieferant und Abnehmer verursacht werden. Bei drohender Illiquidität oder in einem Liquiditätsengpass gerät unter Umständen die Fertigung des Lieferanten ins Stocken, weil er von seinen Lieferanten nicht mehr beliefert wird. Qualitätsprobleme Kapazitätsengpass Fehlmengensituation Fehler im Geschäftsprozess Finanzieller Engpass Störung auf dem Transportweg Störquelle Prozesskette des Lieferanten Abb. 3: Ursachen für Fehlmengensituationen in der Verantwortung des Lieferanten Nicht immer jedoch wird eine Fehlmengensituation in der Störquelle Lieferant und seiner logistischen Kette verursacht. Organisatorische Mängel und Fehler im 8 Geschäftsprozess Produktionsplanung und Materialdisposition des Abnehmers (vgl. hierzu auch die Ausführungen in Abschnitt 5.1 zum Bedarfsrisiko) können Ursache dafür sein, dass die Bedarfsmenge und/oder der Bedarfstermin falsch prognostiziert wird. Fehler im Geschäftsprozess Bestellabwicklung des Abnehmers können Ursache dafür sein, dass ein Bestellauftrag zu spät ausgelöst wird oder eine Diskrepanz zwischen dem gewünschten Anlieferungstermin und dem bestätigten Liefertermin übersehen wird oder nicht an die Disposition weitergegeben wird. Als weitere Störquelle ist der Absatzmarkt des Abnehmers zu erkennen. Kurzfristige Änderungen von Kundenaufträgen, kurzfristige Lieferwünsche und falsche Einschätzung der Entwicklung des Bedarfs auf dem Absatzmarkt können eine Fehlmengensituation verursachen, wenn diese Probleme durch die Produktionsplanung planerisch nicht bewältigt werden können oder durch Bestände aufgefangen werden können. Die Bedeutung der Störquellen Absatzmarkt und Produktionsplanung und Materialdisposition des Abnehmers für das Fehlmengenrisiko werden im Abschnitt 5.1 ausführlicher betrachtet. Absatzmarkt Abnehmer Lieferant Vorlieferant Logistischer Dienstleister Fehlmengenrisiko Abb.4: Verursacher von Fehlmengenrisiko Die direkte Wirkung drohender und aktueller Fehlmengensituationen ist die Entstehung von Fehlmengenkosten. Darunter sind aufwandsgleiche und Opportunitätskosten im Einkauf und in der Prozesskette zu verstehen, die in Folge der Fehlmenge auftreten oder zur Schadensbegrenzung aufgewendet werden: Dem Einkauf und der Materialdisposition/Produktionsplanung stehen in einer drohenden oder aktuellen Fehlmengensituation eine Reihe von Instrumenten zur Verfügung, die im Abschnitt 4.2 detailliert betrachtet werden. Zur Vermeidung eines Produktionsstillstands und zur Sicherung der Liefertermine gegenüber Kunden kann eine beschleunigte Übermittlung des Bestellauftrags, ein beschleunigter Beschaffungstransport, ein Deckungskauf bei einem anderen Lieferanten, eine Materialsubstitution, eine Änderung des Produktionsprogramms erwogen werden. Der zeitliche Aufwand der Mitarbeiter in Einkauf und Disposition für die Suche und den Vergleich der Handlungsmöglichkeiten hat den Charakter von Opportunitätskosten. Höhere Preise und Beschaffungsnebenkosten haben den Charakter aufwandsgleicher Kosten. Im schlimmsten Falle droht ein Produktionsstillstand und in Folge eine Lieferverzögerung gegenüber den Kunden des Abnehmers. In diesem Falle entstehen Opportunitätskosten für unbeschäftigte Anlagen und Mitarbeiter und durch Imageverlust auf dem Absatzmarkt. Eine weitere mögliche Ausprägung der Fehlmengenkosten können Schadensersatzansprüche des Kunden auf dem Absatzmarkt und Vertragsstrafen (Pönale) sein (vgl. MelzerRidinger 1991 S. 139f). Höhe und Erscheinungsformen der Fehlmengenkosten sind abhängig von 9 der Dauer der Fehlmenge, dem Umfang der Fehlmenge, dem Zeitpunkt, zu dem die drohende Fehlmenge erkannt wird (je frühzeitiger eine drohende Fehlmenge erkannt wird, um so größer ist die Zahl der Handlungsmöglichkeiten und damit die Chance, die Fehlmengenkosten gering zu halten), der Reaktion auf drohende oder eingetretene Fehlmengensituationen. Damit sind erste Anhaltspunkte für die Entwicklung wirkungsorientierter Instrumente (vgl. 4.2.2) gegeben. Hat die Fehlmengensituation ihre Ursache in der Störquelle Lieferant oder in seiner logistischen Kette, ist es - insbesondere im Hinblick auf die Rechtsfolgen und damit auf die Möglichkeiten, die Folgen einer eingetretenen Fehlmengensituation auf den Lieferanten zu überwälzen - von Bedeutung, die Lieferverzögerung vom Lieferverzug und dem Lieferausfall zu unterscheiden: Eine Lieferverzögerung liegt vor, wenn der Lieferant den vom Einkauf genannten Anlieferungstermin (bzw. Abholtermin) bestätigt hat und die Lieferung zu diesem Termin nicht eingetroffen ist (bzw. zur Abholung bereitliegt). Die Fälle der Mindermengenlieferung und der Falschlieferung sind ebenfalls der Lieferverzögerung zuzuordnen. Aus einer Lieferverzögerung wird Lieferverzug unter den folgenden Voraussetzungen: Der Abnehmer kann die Lieferung verlangen (Fälligkeit), in der Regel heißt das, dass ein vereinbarter Liefertermin verstrichen ist, der Lieferant wurde „in Verzug“ gesetzt durch eine (einmalige) schriftliche und unzweideutige Aufforderung zur Lieferung (Mahnung), der Lieferant hat die Verzögerung zu vertreten (Verschulden). Ist der Liefertermin zweifelsfrei nach dem Kalender bestimmt, kann auf die Mahnung verzichtet werden. Der Lieferant gerät mit dem Verstreichen des Termins automatisch in Verzug. Lieferausfall liegt vor, wenn der Lieferant die Lieferung verweigert oder aus objektiven (juristisch Unmöglichkeit) oder subjektiven (juristisch Unvermögen) Gründen nicht in der Lage ist zu liefern ( vgl. Löhr S. 60f). Für das präventive und reaktive Verhalten in einer Fehlmengensituation ist es von großer Bedeutung, die Schadensersatzansprüche des geschädigten Abnehmers und insbesondere die Voraussetzungen zu kennen, unter denen diese entstehen: Liegt (nur) eine Lieferverzögerung vor, kann der Abnehmer (noch) keinen Schadensersatz wegen verspäteter Lieferung verlangen. Ist die Lieferung fällig und eine Mahnung erfolgt (damit liegt Lieferverzug vor) kann Schadensersatz gefordert werden, wenn der Lieferant sich nicht auf höhere Gewalt berufen kann. Ereignisse, die unter den Begriff höhere Gewalt fallen, müssen – nach der herrschenden Auffassung in der Rechtsprechung - unvorhersehbar und/oder unabwendbar sein. Nichtbelieferung durch den Vorlieferanten, Ausfall von Produktionsanlagen und Streik gelten im Regelfall nicht als höhere Gewalt, werden ihr aber in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen gerne gleichgestellt. Sind die genannten 3 Voraussetzungen für Verzug gegeben, sollte das weitere Vorgehen des Abnehmers davon bestimmt werden, ob ein Deckungskauf möglich ist oder nicht: 10 Ist der Abnehmer auf die Lieferung durch diesen Lieferanten angewiesen, kann bzw. muss er auf Erfüllung des Vertrags warten und kann neben der Erfüllung des Vertrags Ersatz des durch den Verzug entstehenden Schadens (soweit dieser nachweisbar und aufwandsgleich ist) verlangen. Kann der Abnehmer die bestellten Komponenten, Rohstoffe oder Investitionsgüter bei einem anderen Lieferanten beziehen (Deckungskauf) und will vom Vertrag zurücktreten, muss er zunächst eine angemessene Nachfrist setzen mit der ausdrücklichen Erklärung, dass er die Annahme der Lieferung nach Ablauf der Frist ablehne. Nach Ablauf der Frist kann der Abnehmer vom Vertrag zurücktreten und Schadensersatz wegen Nichterfüllung verlangen, d.h. beim Deckungskauf den Preisunterschied und die entstandenen Kosten oder - wenn kein Deckungskauf erfolgt - die entstandenen Kosten und eventuell den entgangenen Gewinn. Auf die Nachfristsetzung kann verzichtet werden, wenn der vereinbarte Liefertermin den Zusatz „fix“ erhält (§376 HGB). Im Falle eines Lieferausfalls muss weiter unterschieden werden, ob dieser auf Unwilligkeit des Lieferanten, auf subjektives Unvermögen oder objektive Unmöglichkeit zurückzuführen ist. Will der Lieferant die vereinbarte Leistung nicht erbringen, zum Beispiel weil andere Abnehmer bessere Konditionen oder andere Vorteile bieten, kann der Abnehmer Schadensersatz wegen Nichterfüllung fordern. Die nachträgliche und anfängliche objektive Unmöglichkeit tritt in der Praxis selten auf. Eine Leistung ist objektiv unmöglich, wenn sie von niemandem, also weder vom Vertragspartner noch von einem anderem erbracht werden kann. Kannte der Vertragspartner die anfängliche Unmöglichkeit, hat der Abnehmer Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschadens (Aufwendungsersatz). Hat der Lieferant die nachträgliche Unmöglichkeit zu vertreten, schuldet er Schadensersatz wegen Nichterfüllung. Die Leistung ist subjektiv unmöglich, wenn zwar der Vertragspartner sie nicht erbringen kann, ein anderer aber dazu in der Lage ist. Verpflichtet sich der Lieferant zu einer Leistung, die ihm schon bei Abschluss des Vertrags unmöglich war (anfängliche subjektive Unmöglichkeit), schuldet er unabhängig von einem Verschulden Schadensersatz wegen Nichterfüllung. Nachträglich subjektiv unmöglich ist eine Leistung, die dem Schuldner erst nach Vertragsabschluss unmöglich geworden ist. Hat der Lieferant diese Unmöglichkeit zu vertreten, schuldet er wiederum Schadensersatz wegen Nichterfüllung. Kann der Lieferant beweisen, dass er die subjektive Unmöglichkeit nicht zu vertreten hat, wird er von der Verpflichtung zur Leistung befreit. In diesem Falle kann der Abnehmer also keinen Schadensersatz geltend machen. In den meisten Fällen wird der Lieferant versuchen, sich auf höhere Gewalt zu berufen oder auf Ereignisse die er in seinen Geschäftsbedingungen der höheren Gewalt gleichstellt (vgl. Klamroth 66ff). Instrumente zur Bewältigung des Fehlmengenrisikos Um aktuelle und drohende Fehlmengensituationen möglichst wirksam und kostengünstig zu bewältigen, ist eine besonders enge Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen Einkauf, Materialdisposition und eventuell Transportdisposition und Vertrieb erforderlich, da nicht jede Fehlmengensituation kostenintensive Maßnahmen rechtfertigt und die den Funktions- und Entscheidungsträgern zur Verfügung stehenden Instrumente sich ergänzen und ersetzen. Bewältigung aktueller Fehlmengensituationen 11 Bemühungen zur Bewältigung einer akuten Fehlmengensituation verhalten sich gegenüber dem Beschaffungsrisiko wirkungsorientiert und reaktiv. Im Rahmen des akuten Störungsmanagements werden Instrumente gesucht und eingesetzt mit dem Ziel, den zugesagten Liefertermin und die zugesagte Liefermenge gegenüber dem externen Kunden trotz aufgetretener Störung zu gewährleisten, die Fehlmengenkosten zu begrenzen und die Störung möglichst schnell zu beheben. (vgl. Götte,Gallasch S. 77 f) Reaktionsmöglichkeiten bestehen grundsätzlich im Einkauf, in der Disposition/Produktionsplanung und in der Transportdisposition: Reaktionsmöglichkeiten des Einkaufs: Deckungskauf, Materialsubstitution, Beschleunigung der Bestellübermittlung, Materialbeistellung, Bürgschaft für Lieferanten gegenüber Vorlieferanten. Möglichkeiten der Disposition: Angreifen des Sicherheitsbestands, Zugriff auf reservierten Bestand, Änderung der Produktionsplanung, kurzfristiger Übergang auf Fremdbezug. Möglichkeiten in der Transportdisposition: Wechsel des Transportmittels, Einzeltransport statt räumlicher oder zeitlicher Bündelung. 12 Materialsubstitution Deckungskauf Bestellübermittlung Materialbeistellung Bürgschaft Bewältigung der Fehlmengensituation Abb. 5: Instrumente des Einkaufs zur Bewältigung von Fehlmengensituation Um die Wirksamkeit und Effizienz der Instrumente im Einzelfall beurteilen und vergleichen zu können, ist es in jedem Falle erforderlich, die Fehlmengensituation hinsichtlich Ausmaß, Ursachen, Wirkungen und Handlungsspielraum zu untersuchen. Um Ausmaß und Wirkungen der aktuellen Fehlmengensituation beurteilen zu können, sind die folgenden Analysen durchzuführen: Teileverwendungsnachweis des fehlenden Materials prüfen, um die potentiell betroffenen internen Kunden, also Teile oder Baugruppen, die das fehlende Material in der Stückliste führen, festzustellen. Bestandssituation der betroffenen Materialidentnummern prüfen und feststellen wie viele und welche geplante Fertigungsaufträge betroffen sein werden. Dienen die geplanten Fertigungsaufträge der Lagerergänzung oder sind Kundenaufträge zu bedienen? Welche Reaktionszeit verbleibt bis zum vereinbarten Liefertermin gegenüber dem Kunden? Wie groß sind die Puffer in den PlanDurchlaufzeiten der nachfolgenden Fertigungsstufen? Welche der theoretisch in Frage kommenden Handlungsmöglichkeiten in der aktuellen Fehlmengensituation möglich und vorteilhaft sind, ist nach Durchführung der in der folgenden Checkliste aufgeführten Aktivitäten erkennbar: Bestellauftrag und Auftragsbestätigung des Lieferanten prüfen, Lieferanten mahnen und Nachfrist setzen, Alternative zugelassene Lieferanten und Materialien feststellen und deren Lieferzeit prüfen, Preisunterschiede zum fehlenden Materialien berechnen, Bestandssituation des fehlenden Materials hinsichtlich Sicherheitsbestand und reserviertem Bestand prüfen, Höhe der Fehlmengenkosten abschätzen und deren Überwälzbarkeit beurteilen, Ursache der Fehlmenge feststellen und deren Beeinflussbarkeit durch den Abnehmer beurteilen. Abb.6: Checkliste Aktivitäten in aktuellen Fehlmengensituationen Wirksame Instrumente zur Bewältigung einer aktuellen Fehlmengensituation stehen auch der Abteilung Disposition/Produktionsplanung zur Verfügung: Zugriff auf reservierte Bestände Zugriff auf Sicherheitsbestände Änderung der Produktionsplanung Bewältigung der Fehlmengensituation Abb. 7: Instrumente der Disposition zur Bewältigung einer Fehlmengensituation 13 Bei programmorientierter Disposition kann der Zugriff auf den Sicherheitsbestand und reservierte Bestände ein sofort wirksames und geringe Kosten verursachendes Instrument sein: Im Falle einer Fehlmenge ist zunächst zu prüfen, ob der Sicherheitsbestand den Materialbedarf bis zum voraussichtlichen Lieferzeitpunkt decken kann. Diese Information ist aus dem Lagerverwaltungssystem für die fehlende Materialidentnummer ersichtlich. Ist der Sicherheitsbestand kleiner als der Materialbedarf bis zum voraussichtlichen Lieferzeitpunkt, besteht eventuell die Möglichkeit, auf reservierte Bestände zuzugreifen, ohne den zugehörigen Fertigungsauftrag zu gefährden. Diese Möglichkeit besteht häufig, wenn der Dispositions-Parameter „sollen alte Reservierungen überschrieben werden“ auf „nein“ gestellt ist: Wenn das Lagerverwaltungssystem eine Fehlmenge meldet, ist häufig noch ein Lagerbestand physisch vorhanden. Diese „Schein-Fehlmengensituationen“ ist auf die Planungslogik der rollierenden programmorientierten Materialdisposition zurückzuführen. Die Bestandsrechnung im Lagerverwaltungssystem unterscheidet den physisch vorhandenen, den disponierbaren und den Sicherheitsbestand. Reservierungen sind Plan-Lagerabgänge zum Starttermin bisher geplanter Fertigungsaufträge. Sie werden vom physisch vorhandenen (Buch-)bestand subtrahiert, um den disponierbaren Bestand, der für Lagerentnahmen zur Verfügung steht, zu errechnen. Neben den Reservierungen gelten Sicherheitsbestände, die für ungeplante Lagerentnahme bereitgehalten werden, als planerisch nicht verfügbar. Der disponierbare Bestand wird rollierend (häufig täglich) neu errechnet: Physisch vorhandener Bestand Reservierungen Sicherheitsbestand Disponierbarer Bestand. Lagen im letzten Planungslauf weitere Reservierungen für Fertigungsaufträge mit Termin in der weiteren Zukunft vor und werden diese nicht storniert, wenn neue (dringendere) Aufträge hinzukommen, gilt der physisch vorhandene reservierte Bestand nicht als disponierbar. In akuten Fehlmengensituationen ist in vielen Fällen eine Änderung der Produktionsplanung das wirksamste Instrument, Fehlmengenkosten zu begrenzen: Kurz vor der Eröffnung eines Fertigungsauftrags wird er einer sog. Auftragsfreigabe unterzogen, die die Aufgabe hat, die Kapazitäts- und Materialverfügbarkeit (nochmals) zu untersuchen. Wird im Rahmen der Auftragsfreigabe eine Fehlmenge festgestellt, besteht die Möglichkeit, die betroffenen Fertigungsaufträge neu zu planen, d.h. einen Fertigungsauftrag mit verkürzter Plan-Durchlaufzeit (in diesem Falle wird der Starttermin verschoben, ohne den Endtermin zu verändern), mit reduzierter Produktionsmenge oder verschobenem Endtermin freizugeben. Die Neuplanung der betroffenen Fertigungsaufträge ergänzt oder ersetzt das Engpassmanagement im Einkauf, um den Schaden bis zum Eintreffen der Lieferung 14 zu minimieren. Die Neuplanung von Fertigungsaufträgen muss etwaige negative Wirkungen auf andere Aufträge erkennen und berücksichtigen. So besteht bei langen Rüstzeiten die Gefahr, dass eine materialbedingte Losteilung wegen des entstehenden zusätzlichen Kapazitätsbedarfs einen Kapazitätsengpass auslöst, der wiederum die Termineinhaltung anderer Fertigungs- oder gar Kundenaufträge gefährdet. Die Neuplanung sollte zunächst prüfen, ob eine Änderung der Fertigungsaufträge, die den Charakter von Lagerergänzungsaufträgen haben, ausreichend ist. Eine mengenmäßige Reduzierung oder zeitliche Verschiebung von Fertigungsaufträgen, die kostengünstige Losmengen oder eine Auffüllung des Sicherheitsbestands zum Ziel haben, verursacht vergleichsweise geringe Opportunitätskosten und sollte stets der Verschiebung von Kundenaufträgen vorgezogen werden. Die im letzten Abschnitt dargestellten Maßnahmen sind dem operativen Risikomanagement zuzuordnen, das innerhalb der vom strategischen Risikomanagement geschaffenen Rahmenbedingungen agiert. Das strategische Risikomanagement zeichnet sich dadurch aus, dass es Beschaffungsrisiken antizipiert und vorausschauend Strategien entwickelt und umsetzt mit dem Ziel, die Höhe der Fehlmengenkosten beim Auftreten von Fehlmengensituationen (Anfälligkeit) zu senken (vgl. 4.2.2), Fehlmengenkosten auf den verursachenden Lieferanten überwälzen zu können (vgl. 4.2.3), das Fehlmengenrisiko zu senken (vgl. 4.2.4). Senkung der Anfälligkeit gegenüber Fehlmengensituationen Instrumente zur Senkung der Anfälligkeit gegenüber Fehlmengensituationen sind der antizipativen Anpassungsstrategie zuzuordnen. Eine Anpassungsstrategie ist dann sinnvoll, wenn sich die Ursachen für Fehlmengen außerhalb der Einflussbereichs des abnehmenden Unternehmens befinden oder deren Beeinflussung nicht wirtschaftlich ist. Durch eine zielgerichtete Beeinflussung der Rahmenbedingungen beim Abnehmer (betriebsgerichtete Maßnahmen) soll ein „Schutzwall“ aufgebaut werden, der die Fehlmengensituation bei Auftreten einer Lieferverzögerung verhindert bzw. hinausgezögert (Sicherheitsbestände und – zeiten), soll der Handlungsspielraum in Fehlmengensituationen erweitert werden und so die Dauer einer Fehlmengensituation verkürzt, die Zahl der betroffenen Fertigungsaufträge und die Fehlmenge reduziert werden, soll der Zeitraum zwischen Erkennen der (drohenden) Fehlmengensituation und Eintreten der negativen Wirkungen verkürzt werden. Sicherheitsbestände und Sicherheitszeiten sind Instrumente des Bestandsmanagements, um zu vermeiden, dass Verzögerungen und Fehler im Geschäftsprozess Materialdisposition und Bestellabwicklung zu einer Fehlmengensituationen führen oder um wenigstens die Dauer einer Fehlmengensituation zu verkürzen, die Zahl der betroffenen Fertigungsaufträge und die Fehlmenge zureduzieren. 15 Der Sicherheitsbestand hat die Aufgabe, ungeplanten Bedarf in der Beschaffungszeit zu decken. Er sorgt dafür, dass Bestellaufträge früher frei gegeben werden und angeliefert werden als bei planmäßiger Abwicklung des Geschäftsprozesses Materialdisposition und Bestellabwicklung erforderlich wäre. Bei programmorientierter Disposition wird ein Teil des physischen Bestands nicht als disponierbar betrachtet, bei verbrauchsorientierter Disposition wird der Meldebestand oder die Bestellmenge um den Sicherheitsbestand erhöht. Sicherheitszeiten werden zusätzlich zu der PlanBeschaffungszeit kalkuliert, um Verzögerungen der Lieferzeit und in der internen Bestellauftragsabwicklung zu antizipieren. Die durch Sicherheitsbestände verursachten Bestandskosten sind bei hochwertigem, verderblichem und Material mit sporadischem Bedarf besonders hoch. Zur Festlegung des Sicherheitsbestands werden Angaben über das Bedarfsrisiko in der Beschaffungszeit und über den angestrebten Lieferbereitschaftsgrad benötigt, der wiederum unter Berücksichtigung des Konflikts zwischen Lager- und Fehlmengenkosten festzulegen ist. Diese Angaben stehen in der Praxis nur in seltenen Fällen zur Verfügung, so dass die Festlegung des Sicherheitsbestands auf Erfahrungswerten beruht (vgl. MelzerRdinger 1991 S. 125ff). Zur Erweiterung des Handlungsspielraums in Fehlmengensituationen steht dem Einkauf das Instrument Lieferantenpolitik zur Verfügung. Um die Möglichkeit eines Deckungskaufs strategisch vorzubereiten, kann der Einkauf mehrere Lieferanten für ein Material zulassen und gezielt mit mehreren Lieferanten Beziehungen pflegen. So kann kurzfristig auf alternative Lieferquellen zugegriffen werden, deren Leistungsfähigkeit bekannt sind und die den Bedarf des Abnehmers kennen. Insbesondere bei global sourcing, das durch lange Transportwege und häufige Wechsel der Transportmittel ein erhöhtes Risiko für Lieferverzögerungen birgt, sollten ergänzend regionale Lieferanten mit kurzen Transportzeiten zugelassen werden, auf die im Fehlmengenfalle zugegriffen werden kann. Beschaffungsmarktforschung mit einem ausreichenden Planungshorizont, effiziente Terminverfolgung und Frühwarnsysteme, sind Instrumente des Einkaufs, um drohende Fehlmengensituationen möglichst frühzeitig zu bemerken (vgl.MelzerRidinger 1991 S. 29ff). 4.2.3 Überwälzung der Fehlmengenkosten Im Abschnitt 4.1 wurde erläutert, dass – wenn keine besonderen Vereinbarungen getroffen wurden - das abnehmende Unternehmen Schadensersatzansprüche wegen verspäteter Lieferung oder wegen Nichterfüllung geltend machen kann, wenn die Voraussetzungen des Lieferverzugs vorliegen oder eine vom Lieferanten zu vertretende Unmöglichkeit. Um gegenüber der gesetzlichen Rechtslage erweiterte Ansprüche auf Schadensersatz zu erreichen oder die Bedingungen, unter denen die Schadensersatzansprüche durchzusetzen sind, zu erleichtern, können die folgenden vertraglichen Vereinbarungen mit dem Lieferanten getroffen werden. Diese sollten nicht in den allgemeinen Einkaufsbedingungen aufgenommen werden, sondern individuell vereinbart werden, um nicht in Konflikt mit dem AGB-Gesetz zu kommen: 16 Die Verpflichtung des Lieferanten zur umgehenden Mitteilung erkennbarer Leistungsstörungen kann als Nebenpflicht im Vertrag vereinbart werden. Die Verletzung dieser Nebenpflicht führt zu Schadensersatzansprüchen aus positiver Vertragsverletzung. Das wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn der Lieferant dem Abnehmer nicht unverzüglich mitteilt, dass eine Liefermenge Ausschuss ist, dass das Transportunternehmen mit der Lieferung einen Unfall hatte oder dass das Werk des Lieferanten bestreikt wird. Unabhängig vom Verschulden des Lieferanten können dann Ansprüche auf Ersatz der Schäden erhoben werden, die entstehen, weil der Abnehmer spät von der Verzögerung erfahren hat. Die gesetzliche Pflicht zu mahnen und eine Nachfrist einzuräumen kann individuell abgedungen werden. Der Abnehmer könnte dann sofort nach Verstreichen des vereinbarten Liefertermins einen Deckungskauf vornehmen oder Schadensersatz wegen verspäteter Lieferung verlangen. Diese Klausel ist nach dem AGB unwirksam und muss deshalb individuell vereinbart werden. Die Vereinbarung einer Vertragsstrafe ( Pönale ) verschafft dem Abnehmer die umfassendsten Ansprüche bei Lieferverzögerungen. Eine Pönale ist eine von der Dauer der Lieferverzögerung abhängige Strafe, die in % des Auftragswerts angegeben wird. Eine Pönale hat für den Abnehmer den Vorteil, dass ein Schaden nicht nachgewiesen werden muss, dass er nicht einmal entstanden sein muss und dass die Strafe unabhängig von einem Verschulden des Lieferanten gezahlt werden muss. Pönalen können unwirksam sein, wenn der Vertragspartner unangemessen benachteiligt wird (vgl. Grunwald S. 308). Mit der folgenden – individuell vereinbarten – Vertragsformulierung schafft der Einkäufer die Voraussetzungen, unmittelbar nach Verstreichen des Liefertermins einen Deckungskauf vornehmen zu können und ohne Mahnung und Nachfristsetzung Schadensersatz fordern zu können: „Der Auftragnehmer gerät ohne weitere Mahnung in Verzug, wenn er seine Lieferungen und Leistungen nicht zu den vereinbarten Lieferterminen erbringt. Der Auftraggeber ist dann ohne Setzung einer Nachfrist berechtigt, nach seiner Wahl Nachlieferung und Schadensersatz wegen verspäteter Lieferung oder statt der Erfüllung Schadensersatz wegen Nichterfüllung zu verlangen oder vom Vertrag zurückzutreten. Darüber hinaus hat der Auftraggeber das Recht, eine Vertragsstrafe in Höhe von ...% des Gesamtauftragswerts pro Verzugswoche (bzw. -tag, -monat), maximal ...% des Gesamtauftragswerts zu verlangen. Für den Auftragnehmer erkennbare Lieferverzögerungen hat er dem Auftraggeber unverzüglich mitzuteilen“ Abb.8: Vertragsklausel zur Erweiterung der gesetzlichen Schadensersatzansprüche bei Lieferverzug (Quelle: Grunwald S. 308) Bezüglich der in Abschnitt 2 genannten Kriterien zur Klassifizierung des Verhaltens gegenüber Beschaffungsrisiko ist die Überwälzung der Fehlmengenkosten durch entsprechende vertragliche Vereinbarungen auf den ersten Blick als antizipativ, wirkungsorientiert und marktgerichtet einzustufen. Da der Lieferant durch die drohende Vertragsstrafe bzw. Schadensersatzforderungen zu verstärkten Bemühungen um Beherrschung seiner Beschaffungs-, Fertigungs- und Transportprozesse motiviert wird, werden die Vertragsvereinbarungen auch das Risiko einer Fehlmengensituation senken. Somit können vertragliche Vereinbarungen 17 auch als Instrument der ursachenorientierten Risikovermeidung betrachtet werden, die im folgenden Abschnitt detailliert betrachtet werden. 4.2.4 Senkung des Fehlmengenrisikos Hat die Risikoanalyse die Ursachen für Fehlmengensituationen offengelegt und hinsichtlich ihrer Beeinflussbarkeit klassifiziert, können Instrumente entwickelt werden, die geeignet sind, in den Risikoentstehungs- oder -entwicklungsprozeß einzugreifen mit dem Ziel, risikoauslösende Faktoren so zu verändern, dass bestimmte Ereignisse überhaupt nicht eintreten oder dass ihre Eintrittswahrscheinlichkeit zumindest geringer wird. Wird das identifizierte Fehlmengenrisiko durch den Lieferanten und seine logistische Kette verursacht oder dort verantwortet, sind Instrumente zu suchen, die die Leistungsfähigkeit und/oder die Leistungsbereitschaft verbessern: Unterstützung des Lieferanten bei Versorgungsengpässen auf den Vormärkten und bei Qualitätsproblemen, Gestaltung und Vereinbarung von Abrufsystemen mit einer rollierenden Bedarfsinformation, um dem Lieferanten möglichst frühzeitig einen verlässlichen Input für seine Produktions- und Materialbedarfsplanung zu liefern, Durchführung der Beschaffungstransporte in Eigenregie, um Transportmittel und – weg, sowie den logistischen Dienstleister selbst festlegen zu können, Vereinbarung einer Pönale und/oder eines Fixterminauftrags, um die Sensibilität des Lieferanten für Lieferverzögerungen zu erhöhen, Vertragliche Verpflichtung des Lieferanten zum Aufbau von Flexibilitätspotentialen und Puffern. Neben diesen Bemühungen, die Leistungsfähigkeit des Lieferanten zu verbessern, kann sich das Bemühen des Abnehmers darauf richten, die Leistungsbereitschaft des Lieferanten zu steigern: In Zeiten vorübergehender Lieferengpässe muss der Lieferant eine Priorisierung der vorliegenden Aufträgen und der zugehörigen Kunden vornehmen, um die verfügbare Liefermenge in einer Weise zuzuteilen, die aus seiner Sicht möglichst geringe Fehlmengenkosten verursacht. Dabei spielt regelmäßig die Bedeutung des Kunden und die Attraktivität der Geschäftsbeziehung eine große Rolle. Im Rahmen der Lieferanten- und Kontraktpolitik sollte der Einkauf daher versuchen, durch eine Bündelung des Materialbedarfs der Geschäftsbereiche oder Betriebe (Zentraleinkauf), durch Verringerung der Lieferantenzahl und enge Bindung an Lieferanten (single sourcing) sowie durch gezielten Einsatz von Anreizen wie Abnahmeverpflichtung, attraktive Preisvereinbarungen und Unterstützung des Lieferanten bei Bemühungen um Kostensenkung und Qualitätsverbesserung eine bedeutende Stellung als Kunde zu erhalten. Gelingt dies, wird der Kunde im Falle vorübergehender Lieferengpässe bevorzugt beliefert (vgl. Melzer-Ridinger 1995 S. 85ff). Eine weitere Gruppe von Instrumenten ist als betriebsgerichtet einzuordnen. Ansatzpunkt dieser Maßnahmen sind Fehler und Störungen im Geschäftsprozess des Abnehmers oder betriebliche Rahmenbedingungen, die ein Fehlmengenrisiko auslösen. Neben der Vermeidung des Bedarfsrisikos (vgl. hierzu Abschnitt 5.2 ) 18 stehen dem Einkauf im Rahmen der Lieferantenpolitik die folgenden Ansatzpunkte zur Verfügung: Die Beurteilung und Auswahl von Lieferanten sollte die logistische Kompetenz und Qualitätsfähigkeit des Lieferanten als Entscheidungskriterium berücksichtigen und Vorlieferanten und logistische Dienstleister einbeziehen. Bei der Lieferantenauswahl sollte nicht nur eine „statische“ auf die aktuelle Situation bezogene Analyse der Leistungsfähigkeit und –bereitschaft durchgeführt werden. Eine „dynamische“ periodenübergreifende Analyse ist vor allem dann angezeigt, wenn der Bedarf eines abnehmerspezifischen Materials längerfristig steigt oder fällt. In diesem Falle ist zu prüfen, ob die Gefahr besteht, dass der Lieferant die Bedarfsmenge als unattraktiv empfindet und aus dem Absatz- und Produktionsprogramm eliminiert bzw. – bei steigendem Bedarf – ob er bereit und in der Lage ist, dem Bedarfswachstum durch Kapazitätserweiterung gerecht zu werden. Bei der Beurteilung und Auswahl sollten die Kriterien Flexibilität, Auslastung und räumliche Nähe berücksichtigt werden. 5 Bedarfsrisiko 5.1 Ausprägungen, Ursachen und Wirkungen des Bedarfsrisikos Informationen über den Bedarf der näheren und weiteren Zukunft werden als Grundlage der aktuellen Bestellentscheidungen benötigt, für die Festlegung des Bestellsystems und der Bestellparameter (Bestellmenge und –termin) und dienen dem Einkäufer als Grundlage für Verhandlungen mit dem Lieferanten über Abnahmeverpflichtungen und langfristige Preisvereinbarungen. Wegen des Zeitbedarfs für die internen Vorgänge (Bestellübermittlung, Wareneingang, Qualitätsprüfung, Bestandsverwaltung) und der Lieferzeit des Lieferanten müssen Termine und Mengen für Bestellungen auf der Basis eines geplanten Bedarfs entschieden werden. Bestellmengen und –termine werden für fremdbezogene Komponenten entweder als Bestellregeln festgelegt (verbrauchsorientierte Disposition) oder für jeden Bedarfsfall neu und rollierend geplant (programmorientierte Disposition). Die programmorientierte Disposition errechnet auf der Basis von Stücklisten, Durchlaufzeiten und geplanten Produktionsaufträgen tages- und mengengenau den Materialbedarf für einen Zeitraum, der in der Regel mehrere Monate in die Zukunft reicht. Nach einem Bestandsabgleich werden die errechneten Nettobedarfsmengen zu kostengünstigen Bestellmengen zusammengefasst und auf Basis der Beschaffungszeit der Tag errechnet, an dem der Bestellauftrag ausgelöst werden muss, um termingerecht angeliefert zu werden. Die Genauigkeit der Nettobedarfsmengen und –termine zum Zeitpunkt der Freigabe von Bestellaufträgen ist in der Praxis jedoch häufig gering. Dies ist in den meisten Fällen auf Bestandsdifferenzen und Änderungen in der Produktionsplanung zurückzuführen: Eine Ursache für Fehlinformationen über den Nettobedarf zum Zeitpunkt der Freigabe von Bestellaufträgen sind Bestandsdifferenzen. Der Bestandsabgleich 19 basiert auf den Angaben des Lagerverwaltungssystems über den „physisch vorhandenen“ Bestand. Aus verschiedenen Gründen, die vornehmlich organisatorischer Natur sind, entspricht der tatsächlich vorhandene Bestand nicht dem Buchbestand. Der terminierte Nettobedarf einer Materialidentnummer wird nach dem MRPPlanungsschema berechnet, indem der zum Planungszeitpunkt physisch vorhandene und disponierbare Bestand unter Berücksichtigung der Reservierungen und offener, noch nicht gelieferter Bestellungen fortgeschrieben wird, bis der disponierbare Bestand negativ wird, d.h. eine Reservierung nicht durch disponierbaren Bestand gedeckt ist. Wird der geplante Anlieferungstermin nicht eingehalten, ist auch der Nettobedarf falsch terminiert. Produktions-, Auftragsabwicklungs- und Beschaffungsprozesse benötigen in der Praxis häufig mehr Zeit als der Kunde auf dem Absatzmarkt bereit ist, als Lieferzeit zu akzeptieren. Um der Forderung nach kurzen Lieferzeiten auf den Absatzmärkten gerecht zu werden, stoßen die Hersteller den Beschaffungsprozess und eventuell Teile der Fertigung auf der Grundlage von Absatzprognosen an (Auftragsauslösungsart: Prognosen). Wird die Fertigung bzw. die Beschaffung durch Rahmenaufträge angestoßen oder durch Kundenaufträge, stellt sich häufig das Problem, dass Kunden ihre Aufträge kurzfristig ändern oder sich nicht an die anvisierten Bedarfsmengen halten. Da ständig neue Informationen über den Bedarf auf dem Absatzmarkt eintreffen und sich auch die verfügbare Kapazität ändert, wird der Produktionsplan regelmäßig überarbeitet ( revolvierende, rollierende Planung). Jede Änderung des Produktionsplans kann zu einer Änderung der im letzten Planungslauf geplanten Bestellanforderungen führen. Entsteht der Bedarf früher und/oder in einer höheren Menge als im letzten Planungslauf geplant, entstehen keine Probleme, soweit nur Bestellaufträge betroffen sind, die außerhalb des fixierten Planungsintervalls (frozen period) liegen. Eventuell müssen bereits freigegebene Bestellaufträge vorgezogen oder erhöht werden oder es entstehen neue Bestellanforderungen mit Bestelltermin und eventuell Anlieferungstermin in der Vergangenheit. Entsteht der Bedarf später und/oder in einer geringeren Menge als im letzten Planungslauf geplant, müssen eventuell bereits freigegebene Bestellaufträge storniert oder verschoben bzw. geändert werden (oder Bestandskosten und –risiko in Kauf genommen werden). Werden Bestellaufträge außerhalb des fixierten Planungshorizonts geändert (vorläufige Bestellaufträge) sind keine negativen Wirkungen zu erwarten. Eine Bedarfsänderung auf der Ebene des Enderzeugnisses und auf der Ebene eigengefertigter Baugruppen und Teile löst auf der Ebene fremdbezogenen Material um so eher eine Änderung bereits freigegebener Bestellungen oder einen Terminengpass aus, je länger die Durchlaufzeiten über alle Fertigungsstufen sind und je niedriger die Bestände sind. Werden kostenorientierte Lose gebildet, können „nervöse Systemreaktionen“ dazu führen, dass eine Reduzierung des übergeordneten Bedarfs eine Erhöhung des Bestellvorschlags und einen Terminengpass verursacht(vgl. Tempelmeier S. 338ff, Lee u.a. S. 78ff). Die verbrauchsorientierte Disposition legt für jede Materialidentnummer eine 20 Bestellregel fest, die unabhängig vom aktuellen Bedarf über längere Zeit beibehalten wird. Diese Bestellregel bestimmt als Lagerergänzungsregel, in welchen Mengen bestellt wird und ob das Lager nach Ablauf eines festen Bestellintervalls (Bestellrhythmus) oder in Abhängigkeit vom aktuellen Lagerabgang (Bestellpunkt) ergänzt werden soll. Zur zielorientierten Festlegung der Bestellregel und seiner Parameter benötigt die verbrauchsorientierte Disposition Kennzahlen über den Periodenbedarf. Die verbrauchsorientierte Disposition arbeitet mit der Prämisse, dass der Lagerabgang gleichmäßig erfolgt. Weist die Zeitreihe des Bedarfs tatsächlich einen stark schwankenden oder sporadischen Lagerabgang auf oder tritt ein Strukturbruch des Bedarfs auf, wird im Vergleich zur optimalen Bestellpolitik zuviel oder zu wenig, zu spät oder zu früh bestellt. Das Bedarfsrisiko (der Prognosefehler) ist bei verbrauchsorientierter Disposition abhängig von der Eignung des Prognoseverfahrens und seines Parameters und von der Länge der Beschaffungszeit (vgl. Melzer-Ridinger 1991 S. 94ff). Ungewissheit über die langfristige Entwicklung der Bedarfsmenge und den Bedarfstrend ist bei strategischen Entscheidungen im Rahmen der Lieferanten- und Kontraktpolitik von Bedeutung. Zur Erzielung von Preisvorteilen und zur Sicherung der Versorgungsziele werden häufig Rahmenverträge mit Lieferanten geschlossen, die eine Abnahmepflicht und eine Konventionalstrafe bei Nichterfüllung der Abnahmepflicht vorsehen. Ändert sich der Bedarf in der Laufzeit des Vertrags grundlegend (Strukturbruch), besteht die Gefahr, dass die vereinbarte Abnahmemenge höher ist als der Materialbedarf, sodass entweder eine Konventionalstrafe zu zahlen ist oder ungeplante und unvorteilhafte Bestandskosten entstehen. Eine Unterschätzung des langfristigen Bedarfs kann Ursache für einen Versorgungsengpass sein. Strukturbrüche werden verursacht durch eine konstruktive Änderung des Enderzeugnisses (Materialsubstitution, Design-, Verpackungs-, Ausstattungsänderungen), Änderungen des Absatzprogramms (Sortimentsbereinigung oder –erweiterung) und nachhaltige Änderungen des Bedarfs nach dem Enderzeugnis auf dem Absatzmarkt. Um zu vermeiden, dass ein falsch prognostizierter Bedarf unerwünschte Bestände oder eine Fehlmengensituation verursacht, stehen verschiedene Instrumente zur Verfügung, die im nächsten Abschnitt dargestellt werden. Bewältigung des Bedarfsrisikos Die Abteilung Produktionsplanung/Materialdisposition hat die Möglichkeit, das kurzfristige Bedarfsrisiko ursachenorientiert zu vermindern und wirkungsorientiert zu bewältigen. Bei der Erläuterung der Bestimmungsfaktoren des Bedarfsrisikos in Abschnitt 5.1 wurde bereits deutlich, dass bei weitem nicht alle Bedarfsänderungen auf geänderte oder neue Kundenaufträge zurückzuführen sind (Produktionsplanänderungen wegen eines kurzfristig erkannten Kapazitätsengpasses oder –überschusses) und dass die 21 Änderungen auf der Ebene des fremdbezogenen Materials unerwartet und intensiver als die Änderung auf der vorgelagerten Planungsstufe sein kann. Eine rollierende Materialbedarfs- und Bestellplanung mit einer möglichst späten Freigabe der Bestellaufträge verbessert die Planungsqualität und steigert die Flexibilität des Einkaufs, kurzfristige Änderungen des Materialbedarfs termin- und mengengerecht zu bedienen. Die Entscheidungsträger in der Produktionsplanung/Materialdisposition können durch die Gestaltung der rollierenden Materialbedarfsplanung und die Festlegung der Bestands- und Dispositionsparameter einen erheblichen Einfluss auf das Bedarfsrisiko bzw. den Prognosefehler bei fremdbezogenen Komponenten ausüben. Bei der Gestaltung der rollierenden Materialbedarfsplanung hinsichtlich Planungshorizont, Planintervalle, fixiertem Planungshorizont(frozen period) und Genauigkeit der Planung sind die folgenden Wirkungszusammenhänge zu berücksichtigen: Der gesamte Planungshorizont sollte mindestens so lang sein wie die gesamte Durchlaufzeit über alle Fertigungsstufen der Eigenfertigung und die längste Beschaffungszeit unter den fremdbezogenen Komponenten. In der Regel werden die Informationen über den Bedarf des Absatzmarktes (Primärbedarf) immer ungenauer je weiter die Informationen in die Zukunft reichen. Aktualisierte und neue Informationen über den Absatzmarktbedarf, aber auch über die verfügbare Anlagen- und Mitarbeiterkapazität sollten möglichst zeitnah durch eine Revision der Planung berücksichtigt werden, um den Zeitraum für die Suche, Beurteilung und Realisierung von Anpassungsmaßnahmen zu erweitern. Bei der Festlegung der Planintervalle, d.h. der Abstände zwischen Planrevisionen ist jedoch zu berücksichtigen, dass Planrevisionen auf zeitlich oder sachlich nachgeordneten Planungsebenen ihrerseits als Störung wirken, deren Intensität im Vergleich zur auslösenden Planrevision weitaus stärker sein kann. Bei langen Durchlauf- und Beschaffungszeiten kommt es vor, dass Planrevisionen für weit in der Zukunft liegende Fertigungsaufträge auf der Ebene der fremdbezogenen Komponenten Bestellaufträge auslösen, die nicht mehr ohne terminliches Engpassmanagement abgewickelt werden können oder dass bereits ausgelöste Bestellaufträge geändert werden müssen. Um diese Problematik zu vermeiden, kann ein Teil des Planungshorizonts fixiert werden (frozen period). Planrevisionen, die eine Änderung der Bestellaufträge im fixierten Planungshorizont auslösen, werden dann systemtechnisch angezeigt und erst nach Zustimmung des betroffenen Einkäufers zugelassen. Die Einteilung des Planungshorizonts in Teilperioden bestimmt die Genauigkeit der Planung. Wenn statt einer tagesgenauen Planung eine nur wochengenaue Planung zugelassen wird, können sich kurzfristige Schwankungen des Bedarfs innerhalb der Teilperioden ausgleichen. Die Praxis, Bedarfsunsicherheit durch rollierende Planung zu bewältigen, erweist sich jedoch als untauglich, wenn Änderungen auf der Ebene des Primärbedarfs noch vorgenommen werden, wenn im Einkauf bereits feste Bestellaufträge ausgelöst wurden oder dort Terminengpässe entstehen. Planungshorizont Planintervalle rollierende Planung 22 Frozen period Genauigkeit der Planung Abb.9: Rollierende Planung zur Bewältigung des Bedarfsrisikos Die Ausführungen machen deutlich, dass eine aktive Gestaltung der Informationsflüsse (Koordination der an der Bedarfsprognose beteiligten Funktionsträger)sich um organisatorische Maßnahmen bemühen sollte, die Bedarfsunsicherheit zum Zeitpunkt der Auftragsfreigabe des ersten dadurch ausgelösten Bestellauftrags zu reduzieren. Hier können die folgenden Ansätze diskutiert werden: Verbesserung der Absatzprognosen durch Einbezug zukunftsorientierter Informationen und durch Berücksichtigung von Bestandsinformationen auf den Absatzmärkten und in den Vertriebsgesellschaften, Disziplin des Vertriebs bei der Zusage von Lieferterminen, Änderungen und Zusagen an Kunden erst nach Absprache mit Disposition und Einkauf, bessere Informationen über die Bestände im logistischen Kanal (beim Lieferanten und beim Abnehmer) und Belastung des Vertriebs mit Kosten infolge schlechter Prognosen. Auch bei der Festlegung der Bestands- und Dispositionsparameter sollte die Wirkung auf das Bedarfsrisiko und den Prognosefehler berücksichtigt werden. Der Parameter Bereitstellungsart entscheidet, ob ein Bestand für das betrachtete Material vorgesehen ist. Bei auftragsorientierter Bereitstellung wird für jeden Bedarf ein Bestellauftrag erzeugt. Somit führt jede Bedarfsänderung auch zu einer Änderung der Bestellauftrags mit dem Risiko, dass der Bestellauftrag einen terminlichen Engpass aufweist oder vor der Änderung freigegeben wurde. Bei lagerorientierter Bereitstellung können Bedarfsänderungen teilweise durch den Bestand ausgeglichen werden. Der Parameter Dispositionsart legt die Datenbasis für die Bedarfsplanung fest. Bei der verbrauchsgesteuerten Bedarfsermittlung erfolgt die Ermittlung des Bedarfs jeder einzelnen Fertigungsstufe durch die Anwendung von Prognoseverfahren . Benötigte Input-Daten sind die empirisch ermittelten Verbräuche des betrachteten Materials in der Vergangenheit. Durch die isolierte Sichtweise einzelner Fertigungsstufen werden für die Ermittlung der Dispositionsparameter lediglich stufenbezogene Informationen benötigt. Die aus dem Strukturzusammenhang herausgelöste Betrachtung der Fertigungsstufe kann dazu führen, dass die Modifikation einer Dispositionsregel übergeordneter Stufen als Veränderung der Bedarfsstruktur mit der Folge einer (unnötigen, vielleicht schädlichen) Anpassung der Parameter interpretiert werden (Jensen S. 17f). Durch eine entsprechende Wahl des Prognoseverfahrens und der Einstellung der Sensitivität der Prognose (Glättung) kann jedoch eine Steigerung der Planungsstabilität erreicht werden. Bei der programmorientierten Bedarfsermittlung erfolgt im Unterschied zur einstufigen Vorgehensweise der verbrauchsorientierten Disposition eine von den Primärbedarfen der Endproduktstufe ausgehende zentrale Koordination der Bedarfsplanungen für alle Fertigungsstufen. 23 Die programmorientierte Bedarfsplanung durchläuft die Teilschritte Bruttobedarfsrechnung, Nettobedarfsermittlung und Vorlaufterminierung. Die terminierten Bedarfe inklusive Zusatzbedarf werden zum Bruttobedarf addiert. Im nächsten Schritt werden diese terminierten Bedarfe periodenweise mit dem (geplanten) disponierbaren Bestand abgeglichen. Dieser umfasst zuzüglich zu dem vom Planungszeitpunkt fortgeschriebenen disponierbaren Bestand auch die bereits bestellten, jedoch noch nicht gelieferten Mengen. Der Sicherheitsbestand einer Materialidentnummer gilt in der Regel nicht als Bestandteil des disponierbaren Bestands. Ein Bestellauftrag wird ausgelöst, wenn eine neue Reservierung zu einem negativen disponierbaren Bestand führt, d.h. zur Befriedigung der Reservierung der Sicherheitsbestand angegriffen werden müsste. Durch diese Vorgehensweise können Planvorgaben ermittelt werden, die zu einer Vorgabe falscher Prioritäten führen oder zur Einplanung von Fertigungsaufträgen, die allein zur Auffüllung des Sicherheitsbestands dienen. Ein Rückgriff auf den Sicherheitsbestand zur Vermeidung von Planänderungen unterbleibt (Jensen S. 19f). Bedarfsrisiko ist neben Fehlern und Verzögerungen im Geschäftsprozess Bestellabwicklung eine wichtige abnehmerbedingte Ursache für Fehlmengen. Als wirkungsorientierte Instrumente zur Verringerung der Anfälligkeit gegenüber dem Bedarfsrisiko stehen der Disposition die Instrumente Sicherheitsbestände und – zeiten zur Verfügung. Zu ihrer Festlegung gelten die bereits im Abschnitt 4.2.2 erläuterten Überlegungen. Ursachenorientierte Instrumente zur Vermeidung des Bedarfsrisikos stehen dem Einkauf – in der klassischen Arbeitsteilung – nicht zur Verfügung. Jedoch kann der Einkauf Rahmenbedingungen herstellen, die kurzfristige Änderungen der Bedarfsmenge oder des Bedarfstermins besser bewältigen und damit das Risiko einer Fehlmenge oder die Gefahr eines Bestandsrisikos reduzieren. Hierzu sind die bereits in Abschnitt 4.2.2 erläuterten Instrumente der Lieferantenpolitik geeignet, die kurzfristige Beschaffungsmöglichkeiten sicherstellen durch multiple sourcing und local sourcing und die Vereinbarung eines Lieferabrufsystems mit Bandbreiten, das den Lieferanten grob über den zukünftigen Bedarf informiert und ihn verpflichtet, sich auf definierte Abweichungen des Abrufs vom geplanten Bedarf einzustellen. Abb.10 zeigt die Instrumente zur Bewältigung des Bedarfsrisikos nochmals im Überblick: Rollierende Planung Abstimmung in der Prozesskette Lagerorientierte Bereitstellung Programmorientierte Disposition Sicherheitsbestand Multiple und local sourcing Lieferabrufsysteme Bewältigung des Bedarfsrisikos Abb.10: Instrumente zur Bewältigung des Bedarfsrisikos 24 6 Qualitätsrisiko 6.1 Ausprägungen, Ursachen und Folgen des Qualitätsrisikos Entsprechend dem subjektiven Qualitätsbegriff liegt Qualität vor, wenn die Summe und das Niveau der Eigenschaften des gelieferten Produktes bzw. der erbrachten Dienstleistung den Vereinbarungen mit dem Kunden (hier in der Regel des internen Kunden Fertigung) oder den Erwartungen des Kunden entsprechen. Jede Abweichung von der vereinbarten oder erwarteten Leistung ist ein Fehler. Qualitätsrisiko ist die Gefahr, dass eine Lieferung insgesamt die benötigten Eigenschaften und Merkmale nicht aufweist (Chargenfertigung, flüssiges Material) oder fehlerhafte Stücke enthält. Hinsichtlich der Risikoursachen und der Risikofolgen können dabei 4 Ausprägungen der Qualitätsrisiko-Situation unterschieden werden: das gelieferte Material entspricht (teilweise) nicht der vereinbarten/geforderten Spezifikation; fehlerhafte Stücke passieren (teilweise) unerkannt die Qualitätsprüfung, das gelieferte Material entspricht (teilweise) nicht der vereinbarten/geforderten Spezifikation; fehlerhafte Stücke werden in der Qualitätsprüfung identifizierte, aussortiert und beanstandet, das gelieferte Material entspricht (teilweise) nicht der vereinbarten/geforderten Spezifikation, der Anteil fehlerhafter Stücke in der geprüften Stichprobe übersteigt die Annahmegrenze, die Lieferung wird insgesamt abgelehnt, das gelieferte Material entspricht der vereinbarten Spezifikation, das gelieferte Material ist jedoch nicht bedarfsgerecht, da die Spezifikation ungeeignet, fehlerhaft oder unvollständig ist. Diese Unterscheidung der Qualitätsrisiko-Situationen zeigt bereits, dass Qualitätsrisiko durch die Störquellen Lieferant und Abnehmer verursacht werden kann. Der Abnehmer verursacht ein Qualitätsrisiko durch eine fehlerhafte, missverständliche oder unvollständige Spezifikation. Der Lieferant verursacht eine Qualitätsstörung, wenn er ein fehlerhaftes Produkt herstellt und für die Auslieferung freigibt oder wenn es auf dem Transportweg beschädigt wird. Ursachen für eine fehlerhafte Herstellung können in der Fertigung oder auf dem Beschaffungsmarkt des Lieferanten begründet sein. Einer fehlerhafte Materiallieferung hat häufig Auswirkungen auf die gesamte Prozesskette: Fehlmengensituation wegen fehlerhaften Materials: Wird das fehlerhafte Material in der Qualitätsprüfung entdeckt und zurückgewiesen, steht unter Umständen nicht genügend Material zur Verfügung, um den geplanten Fertigungsauftrag starten zu können. Opportunitätskosten wegen fehlerhaften Materials: Wird das fehlerhafte Material für die Fertigung freigegeben, entsteht unter Umständen in der Fertigung Ausschuss, 25 der Opportunitätskosten in Form von verschwendetem Material, Mitarbeiter- und Anlagenkapazität verursacht. Lieferverzögerung gegenüber dem internen Kunden: Der Ausschuss gefährdet unter Umständen die Termineinhaltung gegenüber nachfolgenden Fertigungsstufen, wo materialbedingte Stillstandskosten oder Umplanungskosten entstehen. Lieferverzögerung gegenüber dem externen Kunden: Kann die interne Terminverzögerung nicht in den nachfolgenden Fertigungsstufen oder im Versand kompensiert werden, wird der mit dem Kunden vereinbarte Liefertermin nicht eingehalten. Auf dem Absatzmarkt entstehen Image-, Auftrags- und/oder Kundenverluste und eventuell Pönale. Fehlerhaftes Absatzprodukt: Wird unbemerkt ein fehlerhaftes Absatzprodukt hergestellt und ausgeliefert, entstehen Image- und eventuell Kundenverluste, dem Unternehmen drohen Gewährleistungsansprüche und Schadensersatzansprüche aus dem neuen Produkthaftungsgesetz und/oder der deliktischen Produkthaftung. Der Schaden, der durch fehlerhaftes, d.h. nicht qualitätsgerechtes Material in der Prozesskette verursacht wird, wird mit dem Begriff Fehlerkosten oder Fehlleistungsaufwand belegt. Ursachen und Wirkungen des Qualitätsrisikos sind in Abb.11 nochmals im Überblick dargestellt. 26 Störquelle Lieferant Störquelle Abnehmer Fehlerhafte Fehlerhaftes Spezifikation Herstellung Vormaterial Transportschaden missverständlich Spezifikation unvollständig Spezifikation fehlerhaft Materiallieferung(teilweise)fehlerhaft Fehlerhaftes Material freigegeben Fehlerhaftes Material beanstandet Ausschuss fehlerhaftes Enderzeugnis Administrativer Aufwand Fehlerhafte Lieferung abgelehnt Fehlmengensituation 27 Lieferzuverlässigkeit Qualitätszuverlässigkeit Kapazitätsauslastung Prozesskosten Abb.11 Ursache-Wirkungs-Diagramm für Qualitätsrisiko 28 6.2 Bewältigung des Qualitätsrisikos Reaktionen auf ein aktuelles Qualitätsproblem müssen in der Praxis unter Abwägung der Fehler- und der Fehlmengenkosten entschieden werden. Ist die Abweichung von der vereinbarten Spezifikation wesentlich, hat der Abnehmer die Möglichkeit, die Lieferung abzulehnen und eine Ersatzlieferung zu beanspruchen, eine Preisminderung zu verlangen oder vom Vertrag zurückzutreten (Gewährleistungsansprüche). Die richtige Reaktion muss im Einzelfall auf die situativen Gegebenheiten abgestimmt werden. Der Entscheidungsträger muss daher prüfen, ob die Möglichkeit einer Freigabe für die Fertigung mit der Auflage einer Nacharbeit oder einer verschärften In-Prozess-Kontrolle besteht. Analog der Reaktion auf eine akute Fehlmengensituation sind die Bedingungen eines Deckungskaufs zu prüfen. Zur Vermeidung des Qualitätsrisikos stehen dem Abnehmer die folgenden ursachenorientierten Instrumente zur Verfügung: Zur Beeinflussung der Häufigkeit bzw. der Gefahr fehlerhafter Lieferungen kann der Einkauf in Zusammenarbeit mit den Funktionsträgern in der Entwicklung eine unmissverständliche, vollständige und durch Fehlertabellen und –klassen ergänzte Spezifikation erstellen und mit dem Lieferanten verbindlich vereinbaren. Eine intensive Untersuchung der Leistungsmerkmale des Lieferanten vor der ersten Auftragserteilung (Lieferantenzulassung), eine Musterprüfung und Auswertungen der laufenden Lieferantenbewertung geben Aufschluss über die Qualitätsfähigkeit und – zuverlässigkeit des Lieferanten. (Vgl. Melzer-Ridinger 1995 S. 75 ff). Um die Anfälligkeit gegenüber fehlerhaften Materials zu reduzieren, stehen dem Abnehmer die folgenden wirkungsorientierten Instrumente zur Verfügung: Der Abnehmer versucht, mittels einer Qualitätsprüfung der gelieferten Materialien, fehlerhafte Lieferungen bzw. Stücke zu erkennen und auszusondern oder nachzuarbeiten. Gestaltungsfelder der Qualitätsprüfung sind der Stichprobenumfang und die Annahmegrenze (AQL), das Prüfverfahren, die Prüfmerkmale und die Kompetenz sowie Leistungsbereitschaft des Prüfpersonals. Je genauer und intensiver die Qualitätsprüfung durchgeführt wird, um so geringer wird die Gefahr, fehlerhaftes Material für die Fertigung freizugeben. Allerdings wächst gleichzeitig die Gefahr einer Fehlmenge, wenn große Teile einer Lieferung beanstandet werden oder die gesamte Lieferung zurückgewiesen wird. Daher sollte auch die Möglichkeit genutzt werden, fehlerhaftes Material für die Fertigung freizugeben mit der Auflage, das Material nachzuarbeiten oder in den nachfolgenden Fertigungsstufen intensive Prüfungen vorzunehmen. Sicherheitsbestände, Kapazitätspuffer und die Berücksichtigung von Sicherheitszeiten in den Plan-Durchlaufzeiten und –Beschaffungszeiten sind geeignet, eine Fortpflanzung der Fehlerfolgen in der Prozesskette zu vermeiden. Geeignete vertragliche Vereinbarungen schaffen die Voraussetzung, um Fehlleistungskosten teilweise auf den Lieferanten abwälzen zu können. 29 Die Rechtslage nach BGB und HGB bietet bei einer fehlerhaften Lieferung– wenn der Abnehmer nicht entsprechende vertragliche Vereinbarungen geschlossen hat – nur unbefriedigende Ansprüche auf Gewährleistung und Schadensersatz: Gewährleistungsansprüche kann der Abnehmer nur dann durchsetzen, wenn er seiner Prüf- und Rügepflicht ordnungsgemäß nachgekommen ist und wenn die gelieferten Produktmerkmale wesentlich von den vereinbarten abweichen. Schadensersatz für dem Abnehmer entstehende internen und externen Fehlerkosten kann nur dann durchgesetzt werden, wenn dem Lieferanten schuldhaftes Verhalten vorzuwerfen ist oder wenn eine Zusicherung von Eigenschaften vorliegt. Der Abnehmer sollte daher durch entsprechende vertragliche Vereinbarungen versuchen Bedingungen zu schaffen, in denen insb. die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen erleichtert wird: Klauseln, in denen sich der Lieferant verpflichtet, bestimmte Materialien oder Materialien bestimmter Güte einzusetzen, bestimmte Fertigungs- und Prüfverfahren anzuwenden, bestimmte Vorlieferanten zu beschäftigen, erweitern die Schadensersatzansprüche des Abnehmers gegenüber dem Lieferanten, wenn dieser fehlerhaft liefert und die vereinbarten Qualitätsmanagementmaßnahmen nicht durchgeführt hat. In diesem Fall ist der Lieferant wegen positiver Vertragsverletzung schadensersatzpflichtig. Auch eine "Zusicherung von Eigenschaften" verschafft dem Abnehmer eine wesentlich günstigere Anspruchsgrundlage, wenn eine Lieferung fehlerhaft ist: der Lieferant ist gemäß §§ 463, 635 BGB zum Schadenersatz verpflichtet, er muss den Abnehmer so stellen, als sei der Schadensfall nicht eingetreten. Der Abnehmer ist demnach bei seinen Ansprüchen nicht auf Neulieferung, Wandlung oder Minderung beschränkt. Der Abnehmer muss bei zugesicherten Eigenschaften nicht darüber streiten, ob ein Mangel "erheblich" ist oder nicht: weist die Ware die "zugesicherten Eigenschaften" nicht auf, kommt es für die Gewährleistungsansprüche nicht darauf an, ob die Ware für den bestimmten Gebraucht noch geeignet ist oder nicht. Der Anspruch auf Schadensersatz besteht unabhängig von einem Verschulden des Lieferanten ( Vgl. Zwilling,C. S. 20f) In jedem Falle beschränkt sich der Schadensersatz jedoch auf nachweisbaren durch fehlerhaftes Material entstandenen Aufwand. Opportunitätskosten des Imageschadens, durch Umsatz- und Kundenverluste können nicht eingefordert werden. Die genannten Instrumente lassen sich häufig nicht nur einer Strategie zuordnen. So hat die Vereinbarung einer Vertragsklausel, die dem Abnehmer Schadensersatzansprüche bei fehlerhaften Lieferungen verschafft, einerseits passiven und wirkungsorientierten Charakter, da die Vereinbarung zu einer Überwälzung der Fehlerkosten auf den verursachenden Lieferanten führt, andererseits veranlasst die Drohung von Schadenersatzforderungen den Lieferanten, systematische Qualitätsverbesserung seiner Prozesse und Produkte zu forcieren und ist insoweit auch der aktiven ursachenorientierten Risikostrategie zuzuordnen. 30 In Abb. 12 sind die Instrumente zur Bewältigung des Qualitätsrisikos nochmals gegenübergestellt. 31 Ziel: __________________________________ Schadensbegrenzung bei fehlerhafter Lieferung Wirkungsweise __________________________________ _ Instrumente __________________________________ _ Wirkungsorientiert Freigabe mit Auflagen Deckungskauf Ersatzlieferung Preisminderung Ursachenorientiert Lieferantenauswahl Lieferantenbewertung Vertragsgestaltung Wirkungsorientiert Qualitätsprüfung Sicherheitsbestand Kapazitätspuffer Sicherheitszeit Wirkungsorientiert Individuelle Vereinbarung von Qualitätsmanagement-MaßNahmen Zusicherung von Eigenschaften Vermeidung des Qualitätsrisikos Reduzierung der Anfälligkeit Risikofolgenüberwälzung Abb.12: Instrumente zur Bewältigung des Qualitätsrisikos 33 Abb.1: Risikoarten in der Beschaffung Abb.2: Merkmale der Risikostrategien in der Beschaffung Abb.3: Ursachen für Fehlmengensituationen in der Verantwortung des Lieferanten Abb.4: Verursacher von Fehlmengenrisiko Abb.5: Instrumente des Einkaufs zur Bewältigung von Fehlmengensituation Abb.6: Checkliste Aktivitäten in aktuellen Fehlmengensituationen Abb.7: Instrumente der Disposition zur Bewältigung einer Fehlmengensituation Abb.8: Vertragsklausel zur Erweiterung der gesetzlichen Schadensersatzansprüche bei Lieferverzug Abb.9: Rollierende Planung zur Bewältigung des Bedarfsrisikos Abb.10: Instrumente zur Bewältigung des Bedarfsrisikos Abb.11: Ursache-Wirkungs-Diagramm für Qualitätsrisiko Abb.12: Instrumente zur Bewältigung des Qualitätsrisikos 34 Literatur: Frei, R. Jensen, T. Götte, H., Gallasch, A.: Grunwald, H.: Klamroth,S., Walter, R.: Kromschneider, B. Lee, H.L., Padmanabhan,V., Whang,S.: Löhr, R.: Melzer-Ridinger, R.: Melzer-Ridinger, R.: Melzer-Ridinger,R.: Schneeweiß, CH.: Simon, D.: Tempelmeier, H.: Entstörungsmanagement in Unternehmen der chemischen Industrie. Berlin 1998 Planungsstabilität in der Material-Logistik. Heidelberg 1996 Qualitätsregelkreise. In: Wiendahl, H.-P. (Hrsg.): Erfolgsfaktor Logistikqualität. Vorgehen, Methoden und Werkzeuge zur Verbesserung der Logistikleistung. Berlin u.a. 1996 S. 68-82 Vorteilhafte Verträge im Einkauf. 3. Aufl. Freiburg 1991 Rechtskunde für Kaufleute. Frankfurt 1991 Risk Management und Qualitätsmanagement . In: Bläsing, J.P. (Hrsg.) Quality management: Produktion auf Weltniveau. München 1989 Der Peitscheneffekt in der Absatzkette. Harvard Business Manager (1997) 19. Jg. 4. Quartal S. 78-87 Ohne Gewähr – Einige Anmerkungen zur Haftung und Gewährleistung des Lieferanten. Beschaffung Aktuell Heft 9 1999 S. 58-61 Materialwirtschaft und Einkauf. Grundlagen Band 1. 2. Auflage. München Wien 1991 Qualitätsmanagement: Qualitätssicherung und –verbesserung als Aufgabe der Beschaffung . München 1995 Vom Preisvergleich zum unternehmensübergreifenden Kostenmanagement. Beschaffung Aktuell Heft 2 1998 S. 31-33 Zur Bewältigung von Unsicherheiten in der Produktionsplanung und –steuerung. In: Lücke, W. (Hrsg.) Betriebswirtschaftliche Steuerungs- und Kontrollprobleme. Wiesbaden 1988 S. 285-302 Fertigungsregelung durch zielgrößenorientierte Planung und logistisches Störungsmanagement. Diss. TU München 1994 Material-Logistik: Grundlagen der 35 Vahrenkamp, R.: Wildemann, H.: Wildemann, H.: Zäpfel,G., Piekarz,B.: Zwilling,C. Bedarfs- und Losgrößenplanung in PPSSystemen. 2. Aufl. Berlin u.a. 1992 Logistikmanagement 3. Aufl. München 1998 Entstörmanagement als PPS-Funktion. 2. Aufl. München 1995 Logistik Prozeßmanagement. München 1997 Supply Chain Controlling: Interaktive und dynamische Regelung der Material- und Warenflüsse. Wien 1996 Abgrenzung zwischen Spezifikation und Zusicherung. Beschaffung Aktuell Heft 11 1992 S. 20f Angaben zur Autorin Prof. Dr. Ruth Melzer-Ridinger, geb. 1956, studierte und promovierte an der Universität Mannheim Betriebswirtschaftslehre. Seit 1988 lehrt sie an der Berufsakademie Mannheim (Staatliche Studienakademie) im Fachbereich Industrie Materialwirtschaft und Logistik. Forschungsschwerpunkte: Operatives Produktionsmanagement mit Software-Unterstützung, Übertragung und Anwendung von Überzeugungen und Instrumenten des total quality managements auf die Einkaufspraxis, systematisches und umfassendes Kostenmanagement im Einkauf. Bankverbindung: Landesbank Baden-Württemberg Mannheim Kontonr. 83952 BLZ 67050000 Dr. Melzer-Ridinger ist umsatzsteuerpflichtig 36