Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Kunstgeschichte Schule des Sehens, Deutsche und französische Malerei von 1780 bis 1880 im Vergleich 1800–1815 Deutschland, Gruppe 3, Quelle 1 Quellen zu Aufgabe Neubegründung der Kunst aus dem subjektiven, religiösen Gefühl: Philipp Otto Runge Quelle 1: Brief von Philipp Otto Runge an seinen Bruder Daniel 1802: Das Entstehen der Kunst Peter Betthausen (Hrsg.): Philipp Otto Runge. Briefe und Schriften, Berlin 19812, S. 71-77. Dresden, den 9. März 1802 Es hat mich immer ziemlich in Verlegenheit gesetzt, wenn Hartmann oder sonst jemand bei mir voraussetzten – oder wenigstens von ändern sagten: Der und der weiß eigentlich auch nicht recht, was die Kunst ist. [...] Ich suchte dann in so allgemeinen Sentenzen Licht zu erhalten wie z. B.: Ein Kunstwerk ist ewig oder: Ein Kunstwerk erfordert den ganzen Menschen und die Kunst die ganze Menschheit oder: Man soll sein Leben wie ein Kunstwerk betrachten und solche Sachen mehr, die mir alle auf einen Punkt zu deuten schienen, der doch noch erst ergründet werden müßte [...]. Nun ist es mir denn seit einiger Zeit ordentlich wie ein Licht in der Seele aufgegangen [...]. [...] [...] Ich saß vor meinem Bilde, und das, was ich zuerst darüber gedacht, wie es in mir entstanden, die Empfindungen, die in mir jedesmal beim Monde oder beim Untergange der Sonne aufsteigen, dieses Ahnen der Geister, die Zerstörung der Welt, das deutliche Bewußtsein alles dessen, was ich von jeher darüber empfunden hatte, gingen meiner Seele vorüber; mir wurde dieses feste Bewußtsein zur Ewigkeit: Gott kannst du hinter diesen goldnen Bergen nur ahnen, aber deiner selbst bist du gewiß, und was du in deiner ewigen Seele empfunden, das ist auch ewig – was du aus ihr geschöpft, das ist unvergänglich; hier muß die Kunst entspringen, wenn sie ewig sein soll. – Wie es nun weiter in mir ergangen, inwiefern ich aus diesen verworrenen Gefühlen mich herausgearbeitet und sie zu regulieren gesucht, das höre nun [...]. Wenn der Himmel über mir von unzähligen Sternen wimmelt, der Wind saust durch den weiten Raum, [...] über dem Walde rötet sich der Äther, und die Sonne erleuchtet die Welt; [...] ich werfe mich im Grase unter funkelnden Tautropfen hin, jedes Blatt und jeder Grashalm wimmelt von Leben, die Erde lebt und regt sich unter mir, alles tönet in einen Akkord zusammen, da jauchzet die Seele laut auf und fliegt umher in dem unermeßlichen Raum um mich, es ist [...] keine Zeit, kein Anfang und kein Ende, ich höre und fühle den lebendigen Odem Gottes [...]: hier ist das Höchste, was wir ahnen – Gott! Dieses tiefste Ahnen unsrer Seele, daß Gott über uns ist, daß wir sehen, wie alles entstanden, gewesen und vergangen ist, wie alles entsteht, gegenwärtig ist und vergeht um uns, und wie alles entstehen wird, sein wird und wieder vergehen wird [...]; diese lebendige Seele in uns, die von ihm ausgegangen ist und zu ihm kehren wird, die bestehen wird, wenn Himmel und Erde vergehen, das ist das gewisseste deutlichste Bewußtsein unsrer selbst und unsrer eignen Ewigkeit. [...] Diese Empfindung des Zusammenhanges des ganzen Universums mit uns; [...] die Liebe, die uns hält und trägt durch das Leben [...]: dies treibt und preßt uns in der Brust, uns mitzuteilen, wir halten die höchsten Punkte dieser Empfindungen fest, und so entstehen bestimmte Gedanken in uns. Wir drücken diese Gedanken aus in Worten, Tönen oder Bildern und erregen so in der Brust des Menschen neben uns dieselbige Empfindung. Die Wahrheit der Empfindung ergreift alle, alle fühlen sich mit in diesem Zusammenhang, alle loben den einigen Gott, die ihn empfinden; und so entsteht die Religion. – Wir setzen diese Worte, Töne oder Bilder in Zusammenhang mit unserm innigsten Gefühl, unsrer Ahnung von Gott und der Gewißheit 1 Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Kunstgeschichte Schule des Sehens, Deutsche und französische Malerei von 1780 bis 1880 im Vergleich 1800–1815 Deutschland, Gruppe 3, Quelle 1 unsrer eignen Ewigkeit durch die Empfindung des Zusammenhanges des Ganzen, das ist: wir reihen diese Empfindungen an die bedeutendsten und lebendigsten Wesen um uns und stellen, indem wir die charakteristischen, das heißt: die mit den Empfindungen übereinstimmenden Züge dieser Wesen festhalten, Symbole unsrer Gedanken über große Kräfte der Welt dar, das sind die Bilder von Gott oder von den Göttern. Je mehr die Menschen sich und ihr Gefühl rein erhalten, und es erheben, desto bestimmter werden diese Symbole von Gottes Kräften, desto höher empfinden sie die große allmächtige Kraft. Sie drängen alle die unendlich verschiedenen Naturkräfte in ein Wesen zusammen; sie suchen in einem Bilde alles zugleich zu konzentrieren und so ein Bild des Unendlichen darzustellen. [...] Diese Symbole wenden wir an, wenn wir große Begebenheiten, schöne Gedanken über die Natur und die lieblichen oder fürchterlichen Empfindungen unsrer Seele über Begebenheiten oder den innern Zusammenhang unseres Gefühls andern klar verständlich machen wollen. Wir suchen nach einer Begebenheit, die charakteristisch zu unsrer Empfindung, die wir ausdrücken wollen, stimmt, und wenn wir sie gefunden, haben wir den Gegenstand der Kunst gewählt. Indem wir diesen Gegenstand nun an unsre Empfindung reihen, stellen wir jene Symbole der Naturkräfte oder der Empfindungen in uns so gegeneinander, daß sie charakteristisch für sich, den Gegenstand und unsre Empfindung wirken: das ist die Komposition. [...] So wie wir die Formen der Wesen, aus denen unsre Symbole genommen, deutlicher und zusammenhängender empfinden, leiten wir auch die Umrisse und Darstellung derselben charakteristischer aus ihrer Grundexistenz, aus unsrer Empfindung und aus der Konsistenz des Natursubjekts her. Wir [...] stellen jeden Gegenstand des Ganzen genau nach der Natur und übereinstimmend mit der Komposition, der Wirkung der einzelnen Handlung für sich und der Handlung des ganzen Werks auf, lassen sie nach der Perspektive kleiner oder größer werden [...], und das ist die Zeichnung. Wie wir die Farben des Himmels und der Erde betrachten, die Veränderungen der Farben bei Affekten und Empfindungen an den Menschen, [...] und in der Harmonie, selbst insoferne gewisse Farben symbolisch geworden sind, so geben wir jedem Gegenstande der Komposition harmonisch mit der ersten tiefsten Empfindung und den Symbolen und Gegenständen für sich, jedem seine Farbe, und das ist die Farbengebung. Diese verringern oder erhöhen wir in Hinsicht ihrer Reinheit, je nachdem ein jeder Gegenstand näher oder ferner erscheinen soll oder nachdem der Luftraum zwischen dem Gegenstande und dem Auge größer oder kleiner ist: das ist die Haltung. Wir beobachten sowohl die Konsistenz eines jeden Gegenstandes in seiner Farbe von innen als auch die Wirkung des hellem oder schwächern Lichts auf denselben, so wie den Schatten, auch die Wirkung der beleuchteten nebenstehenden Gegenstände auf ihn: das ist das Kolorit. Wir suchen durch die Reflexe und die Wirkungen von einem Gegenstande auf den andern und die Farben desselben Übergänge zu finden, beobachten alle Farben gleichstimmig mit der Wirkung der Luft und der Tageszeit, die stattfindet, suchen diesen Ton, den letzten Anklang der Empfindung, von Grund aus zu beobachten, und das ist der Ton – und das Ende. So ist denn die Kunst das schönste Bestreben, wenn sie von dem ausgeht, was allen angehört, und eines ist mit dem. Ich will hier also die Erfordernisse eines Kunstwerks, wie sie, nicht allein in Hinsicht der Wichtigkeit, sondern auch in Hinsicht, wie sie ausgebildet werden sollen, aufeinander folgen, noch einmal hersetzen: 1) Unsre Ahnung von Gott; 2) die Empfindung unsrer selbst im Zusammenhange mit dem Ganzen, und aus diesen beiden: 3) die Religion und die Kunst; das ist, unsre höchsten Empfindungen durch Worte, Töne oder Bilder auszudrücken; 2 Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Kunstgeschichte Schule des Sehens, Deutsche und französische Malerei von 1780 bis 1880 im Vergleich 1800–1815 Deutschland, Gruppe 3, Quelle 1 und da sucht denn die bildende Kunst zuerst: 4) den Gegenstand; dann 5) die Komposition, 6) die Zeichnung, 7) die Farbengebung, 8) die Haltung, 9) das Kolorit, 10) den Ton. Nach meiner Meinung kann schlechterdings kein Kunstwerk entstehen, wenn der Künstler nicht von diesen ersten Momenten ausgegangen ist, auch ist kein Kunstwerk anders ewig: denn die Ewigkeit eines Kunstwerks ist doch nur der Zusammenhang mit der Seele des Künstlers, und durch den ist es ein Bild des ewigen Ursprungs seiner Seele. Ein Kunstwerk, was aus diesen ersten Momenten entspringt und in seiner Vollendung auch nur die Komposition erreicht, ist mehr wert als jede Künstelei, die bloß von der Komposition, ohne das Vorhergehende, angefangen, und wenn sie auch bis zum Ton völlig durchgeführt ist, und es ist klar, daß ohne das erste die übrigen Teile bis zum Ton gewiß nicht in den Zusammenhang und die Reinheit können gebracht werden. In dieser Folge kann also die Kunst nur wieder erstehen; hier aus dem innern Kern des Menschen muß sie entspringen, sonst bleibt sie Spielerei; hier entstand sie bei Raffael, Michelangelo Buonarotti und Guido und mehreren. Nachher, sagt man, ist die Kunst gefallen; was ist das anders, als daß der Geist entwichen war? – Annibale Caracci usw. fingen nur noch bei der Komposition an und Mengs bei der Zeichnung; unsre jetzt lärmmachenden Leute sind nur noch beim Ton. [...] Die ganze Stufenfolge ist ja auch im menschlichen Leben so, und »selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen«. Und was soll nun herauskommen bei all dem Schnickschnack in Weimar, wo sie unklug durch die bloßen Zeichen etwas wieder hervorrufen wollen, was schon dagewesen? Ist denn das jemals wieder entstanden? Ich glaube schwerlich, daß so etwas Schönes, wie der höchste Punkt der historischen Kunst war, wieder entstehen wird, bis alle verderblichen neueren Kunstwerke einmal zugrunde gegangen sind, es müßte denn auf einem ganz neuen Wege geschehen, und dieser liegt auch schon ziemlich klar da, und vielleicht käme bald die Zeit, wo eine recht schöne Kunst wiedererstehen könnte, das ist in der Landschaft. [...] [...] 3