Konrad Peter Grossmann Narrative Therapie Einleitung In seiner Erzählung „Harun“ thematisiert Salman Rushdie die Einbettung menschlichen Daseins in Geschichten und Erzählungen. Seine Metaphorik eines „Meeres der Geschichtenströme“ lässt sich in einem Zwischenraum von Literatur und postmoderner Beratung/Therapie ansiedeln: „Der Zauber des Meeres (begann) seine Wirkung auf ihn auszuüben, denn als er tief ins Wasser blickte, sah er, dass es aus tausend - tausend - tausend - und einer verschiedenen Strömung bestand, jede von einer anderen Farbe, die sich ineinander verflochten und verschlangen wie eine flüssige Tapisserie von atemberaubender Vielfalt .... (Es) waren die Geschichtenströme, und jeder farbige Strang repräsentierte und enthielt eine einzelne Erzählung ..... Das Meer der Geschichtenströme (stellte) die größte Bibliothek des Universums dar. Und da die Geschichten hier in flüssiger Form aufbewahrt wurden, behielten sie die wundersame Fähigkeit, sich zu verändern, sich in neue Versionen ihrer selbst zu verwandeln, sich mit anderen Geschichten zu vereinen und dadurch zu wieder neuen Geschichten zu werden.“ (Rushdie, 1991, Seite 86). Menschliches Erleben, Sinngeben und Verhalten vollzieht sich innerhalb eines „Flusses des Erzählens“ (vgl. Grossmann, 2000) – einem mit dieser Grundannahme verbundenen narrativen Beratungs– und Therapieverständnis liegt zugrunde, dass Geschichten als bestimmender Rahmen der Aufrechterhaltung von Problemen gedacht werden. Sie bilden jenen Kontext, der bestimmt, wie wir Wirklichkeit wahrnehmen, interpunktieren, wie wir sie beschreiben, erklären und bewerten. Geschichten legen nahe, wie wir uns selbst, unsere Geschichte und unsere Lebenswelt verstehen. Sie sind bestimmender Hintergrund unseres Handelns und unseres Interagierens mit sozialen anderen wie auch mit uns selbst. Dieses Handeln und Interagieren prägt den Raum unserer Erfahrung – „wir erzeugen die Welt, in der wir leben, indem wir sie leben“ (Maturana, 1982, S. 269) -, womit sich der Kreis zu unserem Wahrnehmen und Bedeutungsgeben im Kontext der so erzeugten Wirklichkeit schließt. Narrative Therapie wurzelt historisch in der sog. „konstruktivistischen Wende“ der systemischen Therapie. Sie birgt in vielem Anklänge an grundlegende Prämissen klientenzentrierter Beratung. Von einem eigenständigen Paradigma „narrativer Therapie“ lässt sich ab Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts sprechen. Ihre theoretische Ausformulierung wie auch ihre pragmatische Eigenständigkeit ist eng mit Persönlichkeiten wie Michael White, David Epston, Peggy Penn, Kathy Weingarten, Carlos Sluzki, Karl Tomm, Jill Friedman, Gerald Monk und anderen verbunden. Die problemtheoretische Perspektive Aus narrativer Perspektive bestehen Probleme und Leidenszustände im Kontext „beherrschender“ problem-saturierter Erzählungen und Geschichten, die KlientInnen rund um spezifische (Lebens)Phänomene, rund um ihr eigenes Selbst als Person, rund um ihre Biographie und zentrale Beziehungen kreieren. Diese problem-saturierten Geschichten werden oftmals von Mitgliedern ihrer sozialen Lebenswelt - von Partnern, Verwandten und anderen nahestehenden bedeutsamen Personen - geteilt oder bestätigt, sodass sie nicht nur in einem „intrapersonalen“, sondern zugleich in einem sozialen Umlauf bleiben und sich im Lauf der Zeit mehr und mehr zu erhärten und zu bewahrheiten scheinen: sie gewinnen an Ausschließlichkeit, sie verfestigen sich zu gleichsam wahren und objektiven Beschreibungen subjektiver Erfahrung. Der Begriff der „Problem-Saturiertheit“ verweist auf den Defizitfokus dieser Erzählungen - im Blickpunkt sind Mängel, Schwächen, Fehler, mangelnde Kompetenzen der Person, sind Regelhaftigkeiten von Verhaltensweisen und Musterähnlichkeiten von Problemen. Diese beschreibenden und klassifizierenden Erzählungen sind in Erklärungen rund um Schwieriges eingebettet, die wiederum auf eigene Defizite oder Defizite wichtiger sozialer anderer zurückverweisen. So entspinnt sich eine Erzähldynamik, die Furman und Ahola mit dem Code der „Problemsprache“ umschreiben (vgl. Furman & Ahola, 1995). Die lösungstheoretische Perspektive Unsere Sprache reicht nie an die Komplexität unserer Erfahrung heran: die Wirklichkeit, in der wir leben und von der wir selbst Teil sind, ist ungleich reichhaltiger als es unsere Sprache, als es unsere Geschichten rund um diese Wirklichkeit erfassen können. Die epistemologische Axiomatik narrativer Therapie, die an Immanuel Kant, Ludwig Wittgenstein und Gregory Bateson anschließt, verweist darauf, dass dominierende problem-saturierte Erzählungen nur eine mögliche Version unter mehreren anderen darstellen, wie wir rund um Schwieriges, rund um unser eigenes Selbst, rund um unsere Beziehungen zu wichtigen sozialen anderen erzählen können. Dass dieses problem-saturierte Erzählen eine vorrangige Stellung einnimmt, hängt nicht damit zusammen, dass es subjektive Wirklichkeit vollständiger oder wahrheitsgemäßer abzubilden vermag als anderes Erzählen. Seine Vorrangstellung leitet sich vielmehr aus der Tatsache ab, dass diesem Erzählen im Rahmen sozialer und familiärer Diskursprozesse diese Vorrangstellung eingeräumt wird - dass es einen Erzählstil, eine Erzählperspektive verwirklicht, welche in der Regel nahtlos an dominante herkunftsfamiliäre Erzähltraditionen ebenso wie an dominante gesellschaftliche Diskurse innerhalb der sozialen Lebenswelt anschließt. Diese Einbettung schränkt die Möglichkeit ein, dass wir rund um unsere Wirklichkeit anstelle einer Erzählung der Pathologie, des Versagens, der Wiederholung eine Geschichte der zuweilen gelingenden Ausnahmen und Variationen, die sich in Unterschieden und in Abweichungen von „Problemen“ äußern, favorisieren. Geschichten, so die narrative Prämisse, bilden Wirklichkeit nicht ab, sondern konstituieren diese. Wie und wovon wir erzählen, ist nicht Abbild der Wirklichkeit rund um uns, sondern Ausdruck einer Wahl oder Entscheidung, die wir treffen. Diese „Wahl“ anderen Erzählens ist freilich eine, die nicht beliebig ist und oft nur mühsam errungen werden kann. Welche Implikationen birgt ein Erzählen rund um unser Selbst, rund um Schwieriges, das einer „Lösungssprache“ folgt? Zum einen geht ein anderes Erzählen mit einem subjektiv anderen Erleben und anderer Befindlichkeit einher, mit einer Verwandlung unseres Selbstverständnisses und unseres Verständnisses wesentlicher sozialer Beziehungen. Es verwirklicht ein „Neu-Schreiben von Lebensgeschichten“ (vgl. O´ Hanlon Hudson, 1991). Zum anderen eröffnet dieses „alternative Erzählen“ Zugänge zu alternativen Handlungen und Interaktionen. Es ermöglicht alternative Lösungsansätze rund um Schwieriges und eine Nutzung von Ressourcen im Kontext von Lösungsentwicklungen, die bislang unbeachtet blieben. Therapieprozess Therapieprozessuale Konzepte narrativer Therapie gründen im Verständnis therapeutischer bzw. beraterischer Dialoge als „Übergangsrituale“ (vgl. White, 1997). Therapie wird hierbei als dreiphasiger Prozess gedacht, der sich in chronologischen Sequenzen ausfaltet. In der ersten Phase zielt der therapeutische Dialog darauf ab, dass KlientInnen Abstand zur dominanten Geschichte rund um Schwieriges, zu dominanten Bedeutungsgebungen und Erzählformen entwickeln. In diesem Zusammenhang ist die Möglichkeit des sog. „Externalisierens von Problemen“ bzw. die Identifikation und Beschreibung „problemdeterminierender Stimmen“ bedeutsam. In der zweiten Phase erfolgt eine Erkundung von Ausnahmen und Widerstandsleistungen gegen dominierende Probleme und Erzählungen. Mit Hilfe einer Fokussierung des sog. „Abwesenden aber Impliziten“ werden alternative Erzählmöglichkeiten (wieder) eingeführt. Narrative Therapie spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „Archäologie der Hoffnung“. In der dritten Phase des Dialogs geht es um eine Verankerung und Verdichtung alternativen Erzählens und alternativer Lösungsstrategien, wobei sozialen anderen bzw. der Person des Therapeuten/der Therapeutin eine wesentliche Funktion der „Zeugenschaft“ rund um verändertes Erzählen zukommt. Methodik Innerhalb narrativer Therapie/ Beratung nehmen „erzählende Interventionsformen“ eine Schlüsselstellung als Zugänge zu und Verwirklichung von Problem-Lösungs-Übergängen ein. In diesem Zusammenhang wird eine Vielzahl von Frageformen und kommentierenden Möglichkeiten ebenso genützt wie eigentliche narrative Medien. Hierzu zählen vor allem das Geschichtenerzählen, der Gebrauch metaphorischer Sprache, die Verwendung von Briefen und Dokumenten wie auch die Nutzung narrativer Mikromethoden u.a.. Therapeutische Beziehung Seitens narrativer BeraterInnen und TherapeutInnen wird die Kooperation von KlientIn und TherapeutIn mit dem Begriff der „Co-Autorenschaft“ umschrieben: KlientIn und TherapeutIn kooperieren im Versuch, reichhaltigere Geschichten rund um die Person und Beziehungen von KlientInnen zu kreieren, die mit reichhaltigeren Möglichkeiten, Schwieriges zu lösen, einhergehen. Abschluss Narrative Therapie birgt, wie jedes andere therapeutische Modell, ihre Grenzen. Legt man an sie Maßstäbe therapeutischer Evaluationsforschung an, so erweist sie sich weder als effektiver, nützlicher oder nachhaltiger; sie birgt keinen größeren „Wahrheitsgehalt“ als andere Therapie– und Beratungsformen, umso mehr, als sie Fragen der „Wahrheit“ bzw. der „Entsprechung zwischen subjektiver und objektiver Realität“ für unentscheidbar erachtet. Was an narrativer Praxis und Theorie berührt und herausfordert, ist ihr kohärenter theoretischer Entwurf; ist der enge Bezug zwischen therapeutischer/ beraterischer Pragmatik und Theorie; ist zuweilen die Schönheit ihrer Sprache; ist diese besondere Mischung aus Vertrautem - ihre Prämisse der Klientenzentriertheit, ihre Fragepraxis, die an deShazer anschließt - und Fremdem bzw. Verstörendem, das sich u.a. in ihrer problemexternalisierenden Grammatik und ihrer konsequenten Verneinung defizitorientierter Beschreibungen und Erklärungen offenbart. In Salman Rushdies Erzählung „Harun“ entspinnt sich gegen Ende hin ein Dialog zwischen dem Protagonisten Harun und dem Walross, einem seiner Wegbegleiter. „Happy-ends kommen in Geschichten genau wie im Leben viel seltener vor, als die Menschen sich das vorstellen. Man könnte fast sagen, sie sind die Ausnahme und nicht die Regel.“ „Dann habe ich also doch recht gehabt“, gab Harun zurück, „und das war´s“. „Aber eben weil Happy-ends immer so selten sind“, fuhr das Walross gelassen fort, „haben wir gelernt, sie künstlich herzustellen. Mit einfachen Worten: Wir können sie erfinden.“ (Rushdie, 1991, Seite 155). Vielleicht hat Harun Unrecht. Vielleicht birgt „wirkliches“ Leben“ eine Vielzahl von kleinen und größeren „Happy-ends“, die wir aufgrund unseres dominanten Blickwinkels nicht wahrnehmen und nutzen. Dann wäre unser beraterisches Erfinden von Happy-ends kein Erfinden, sondern ein Auffinden oder ein Wiederfinden, das uns Wirklichkeit neu verstehen und beantworten lässt. Literatur: Furman B, Ahola T (1995) Die Zukunft ist ein Land, das niemandem gehört. Klett – Cotta, Stuttgart Grossmann KP (2002) Therapeutische Dialoge mit Paaren. Facultas, Wien Grossmann KP (2000) Der Fluss des Erzählens. Narrative Formen der Therapie. C. Auer, Heidelberg. Maturana H (1982) Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Vieweg, Paderborn O` Hanlon Hudson P, Hudson O`Hanlon W (1992) Rewriting love stories. W. Norton, New York Rushdie S (1991) Harun und das Meer der Geschichten. Droemer, München White M (1997) Narratives of Therapists`Lives. Dulwich Center Publications, Adelaide DR. KONRAD P. GROSSMANN ist Psychotherapeut für systemische Familientherapie in freier Praxis, Lehrtherapeut, Lehrsupervisor, Buchautor. Erschienen sind u.a. „Der Fluss des Erzählens“, „Therapeutische Dialoge mit Paaren“