2003-04-02_Grossmann.. - la:sf Lehranstalt für systemische

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Konrad Peter Grossmann
Narrative Therapie
Einleitung
In seiner Erzählung „Harun“ thematisiert Salman Rushdie die Einbettung menschlichen Daseins in
Geschichten und Erzählungen. Seine Metaphorik eines „Meeres der Geschichtenströme“ lässt sich in
einem Zwischenraum von Literatur und postmoderner Beratung/Therapie ansiedeln:
„Der Zauber des Meeres (begann) seine Wirkung auf ihn auszuüben, denn als er tief ins Wasser blickte,
sah er, dass es aus tausend - tausend - tausend - und einer verschiedenen Strömung bestand, jede von
einer anderen Farbe, die sich ineinander verflochten und verschlangen wie eine flüssige Tapisserie von
atemberaubender Vielfalt .... (Es) waren die Geschichtenströme, und jeder farbige Strang repräsentierte
und enthielt eine einzelne Erzählung ..... Das Meer der Geschichtenströme (stellte) die größte Bibliothek
des Universums dar. Und da die Geschichten hier in flüssiger Form aufbewahrt wurden, behielten sie die
wundersame Fähigkeit, sich zu verändern, sich in neue Versionen ihrer selbst zu verwandeln, sich mit
anderen Geschichten zu vereinen und dadurch zu wieder neuen Geschichten zu werden.“ (Rushdie,
1991, Seite 86).
Menschliches Erleben, Sinngeben und Verhalten vollzieht sich innerhalb eines „Flusses des Erzählens“
(vgl. Grossmann, 2000) – einem mit dieser Grundannahme verbundenen narrativen Beratungs– und
Therapieverständnis liegt zugrunde, dass Geschichten als bestimmender Rahmen der Aufrechterhaltung
von Problemen gedacht werden.
Sie bilden jenen Kontext, der bestimmt, wie wir Wirklichkeit wahrnehmen, interpunktieren, wie wir sie
beschreiben, erklären und bewerten. Geschichten legen nahe, wie wir uns selbst, unsere Geschichte und
unsere Lebenswelt verstehen. Sie sind bestimmender Hintergrund unseres Handelns und unseres
Interagierens mit sozialen anderen wie auch mit uns selbst. Dieses Handeln und Interagieren prägt den
Raum unserer Erfahrung – „wir erzeugen die Welt, in der wir leben, indem wir sie leben“ (Maturana, 1982,
S. 269) -, womit sich der Kreis zu unserem Wahrnehmen und Bedeutungsgeben im Kontext der so
erzeugten Wirklichkeit schließt.
Narrative Therapie wurzelt historisch in der sog. „konstruktivistischen Wende“ der systemischen Therapie.
Sie birgt in vielem Anklänge an grundlegende Prämissen klientenzentrierter Beratung. Von einem
eigenständigen Paradigma „narrativer Therapie“ lässt sich ab Mitte der 80er Jahre des letzten
Jahrhunderts sprechen. Ihre theoretische Ausformulierung wie auch ihre pragmatische Eigenständigkeit
ist eng mit Persönlichkeiten wie Michael White, David Epston, Peggy Penn, Kathy Weingarten, Carlos
Sluzki, Karl Tomm, Jill Friedman, Gerald Monk und anderen verbunden.
Die problemtheoretische Perspektive
Aus narrativer Perspektive bestehen Probleme und Leidenszustände im Kontext „beherrschender“
problem-saturierter Erzählungen und Geschichten, die KlientInnen rund um spezifische (Lebens)Phänomene, rund um ihr eigenes Selbst als Person, rund um ihre Biographie und zentrale Beziehungen
kreieren.
Diese problem-saturierten Geschichten werden oftmals von Mitgliedern ihrer sozialen Lebenswelt - von
Partnern, Verwandten und anderen nahestehenden bedeutsamen Personen - geteilt oder bestätigt,
sodass sie nicht nur in einem „intrapersonalen“, sondern zugleich in einem sozialen Umlauf bleiben und
sich im Lauf der Zeit mehr und mehr zu erhärten und zu bewahrheiten scheinen: sie gewinnen an
Ausschließlichkeit, sie verfestigen sich zu gleichsam wahren und objektiven Beschreibungen subjektiver
Erfahrung.
Der Begriff der „Problem-Saturiertheit“ verweist auf den Defizitfokus dieser Erzählungen - im Blickpunkt
sind Mängel, Schwächen, Fehler, mangelnde Kompetenzen der Person, sind Regelhaftigkeiten von
Verhaltensweisen und Musterähnlichkeiten von Problemen. Diese beschreibenden und klassifizierenden
Erzählungen sind in Erklärungen rund um Schwieriges eingebettet, die wiederum auf eigene Defizite oder
Defizite wichtiger sozialer anderer zurückverweisen.
So entspinnt sich eine Erzähldynamik, die Furman und Ahola mit dem Code der „Problemsprache“
umschreiben (vgl. Furman & Ahola, 1995).
Die lösungstheoretische Perspektive
Unsere Sprache reicht nie an die Komplexität unserer Erfahrung heran: die Wirklichkeit, in der wir leben
und von der wir selbst Teil sind, ist ungleich reichhaltiger als es unsere Sprache, als es unsere
Geschichten rund um diese Wirklichkeit erfassen können.
Die epistemologische Axiomatik narrativer Therapie, die an Immanuel Kant, Ludwig Wittgenstein und
Gregory Bateson anschließt, verweist darauf, dass dominierende problem-saturierte Erzählungen nur eine
mögliche Version unter mehreren anderen darstellen, wie wir rund um Schwieriges, rund um unser
eigenes Selbst, rund um unsere Beziehungen zu wichtigen sozialen anderen erzählen können.
Dass dieses problem-saturierte Erzählen eine vorrangige Stellung einnimmt, hängt nicht damit
zusammen, dass es subjektive Wirklichkeit vollständiger oder wahrheitsgemäßer abzubilden vermag als
anderes Erzählen.
Seine Vorrangstellung leitet sich vielmehr aus der Tatsache ab, dass diesem Erzählen im Rahmen
sozialer und familiärer Diskursprozesse diese Vorrangstellung eingeräumt wird - dass es einen Erzählstil,
eine Erzählperspektive verwirklicht, welche in der Regel nahtlos an dominante herkunftsfamiliäre
Erzähltraditionen ebenso wie an dominante gesellschaftliche Diskurse innerhalb der sozialen Lebenswelt
anschließt.
Diese Einbettung schränkt die Möglichkeit ein, dass wir rund um unsere Wirklichkeit anstelle einer
Erzählung der Pathologie, des Versagens, der Wiederholung eine Geschichte der zuweilen gelingenden
Ausnahmen und Variationen, die sich in Unterschieden und in Abweichungen von „Problemen“ äußern,
favorisieren.
Geschichten, so die narrative Prämisse, bilden Wirklichkeit nicht ab, sondern konstituieren diese. Wie und
wovon wir erzählen, ist nicht Abbild der Wirklichkeit rund um uns, sondern Ausdruck einer Wahl oder
Entscheidung, die wir treffen. Diese „Wahl“ anderen Erzählens ist freilich eine, die nicht beliebig ist und oft
nur mühsam errungen werden kann.
Welche Implikationen birgt ein Erzählen rund um unser Selbst, rund um Schwieriges, das einer
„Lösungssprache“ folgt?
Zum einen geht ein anderes Erzählen mit einem subjektiv anderen Erleben und anderer Befindlichkeit
einher, mit einer Verwandlung unseres Selbstverständnisses und unseres Verständnisses wesentlicher
sozialer Beziehungen. Es verwirklicht ein „Neu-Schreiben von Lebensgeschichten“ (vgl. O´ Hanlon
Hudson, 1991).
Zum anderen eröffnet dieses „alternative Erzählen“ Zugänge zu alternativen Handlungen und
Interaktionen. Es ermöglicht alternative Lösungsansätze rund um Schwieriges und eine Nutzung von
Ressourcen im Kontext von Lösungsentwicklungen, die bislang unbeachtet blieben.
Therapieprozess
Therapieprozessuale Konzepte narrativer Therapie gründen im Verständnis therapeutischer bzw.
beraterischer Dialoge als „Übergangsrituale“ (vgl. White, 1997).
Therapie wird hierbei als dreiphasiger Prozess gedacht, der sich in chronologischen Sequenzen ausfaltet.
In der ersten Phase zielt der therapeutische Dialog darauf ab, dass KlientInnen Abstand zur dominanten
Geschichte rund um Schwieriges, zu dominanten Bedeutungsgebungen und Erzählformen entwickeln. In
diesem Zusammenhang ist die Möglichkeit des sog. „Externalisierens von Problemen“ bzw. die
Identifikation und Beschreibung „problemdeterminierender Stimmen“ bedeutsam.
In der zweiten Phase erfolgt eine Erkundung von Ausnahmen und Widerstandsleistungen gegen
dominierende Probleme und Erzählungen. Mit Hilfe einer Fokussierung des sog. „Abwesenden aber
Impliziten“ werden alternative Erzählmöglichkeiten (wieder) eingeführt. Narrative Therapie spricht in
diesem Zusammenhang auch von einer „Archäologie der Hoffnung“.
In der dritten Phase des Dialogs geht es um eine Verankerung und Verdichtung alternativen Erzählens
und alternativer Lösungsstrategien, wobei sozialen anderen bzw. der Person des Therapeuten/der
Therapeutin eine wesentliche Funktion der „Zeugenschaft“ rund um verändertes Erzählen zukommt.
Methodik
Innerhalb narrativer Therapie/ Beratung nehmen „erzählende Interventionsformen“ eine Schlüsselstellung
als Zugänge zu und Verwirklichung von Problem-Lösungs-Übergängen ein. In diesem Zusammenhang
wird eine Vielzahl von Frageformen und kommentierenden Möglichkeiten ebenso genützt wie eigentliche
narrative Medien. Hierzu zählen vor allem das Geschichtenerzählen, der Gebrauch metaphorischer
Sprache, die Verwendung von Briefen und Dokumenten wie auch die Nutzung narrativer Mikromethoden
u.a..
Therapeutische Beziehung
Seitens narrativer BeraterInnen und TherapeutInnen wird die Kooperation von KlientIn und TherapeutIn
mit dem Begriff der „Co-Autorenschaft“ umschrieben: KlientIn und TherapeutIn kooperieren im Versuch,
reichhaltigere Geschichten rund um die Person und Beziehungen von KlientInnen zu kreieren, die mit
reichhaltigeren Möglichkeiten, Schwieriges zu lösen, einhergehen.
Abschluss
Narrative Therapie birgt, wie jedes andere therapeutische Modell, ihre Grenzen.
Legt man an sie Maßstäbe therapeutischer Evaluationsforschung an, so erweist sie sich weder als
effektiver, nützlicher oder nachhaltiger; sie birgt keinen größeren „Wahrheitsgehalt“ als andere Therapie–
und Beratungsformen, umso mehr, als sie Fragen der „Wahrheit“ bzw. der „Entsprechung zwischen
subjektiver und objektiver Realität“ für unentscheidbar erachtet.
Was an narrativer Praxis und Theorie berührt und herausfordert, ist ihr kohärenter theoretischer Entwurf;
ist der enge Bezug zwischen therapeutischer/ beraterischer Pragmatik und Theorie; ist zuweilen die
Schönheit ihrer Sprache; ist diese besondere Mischung aus Vertrautem - ihre Prämisse der
Klientenzentriertheit, ihre Fragepraxis, die an deShazer anschließt - und Fremdem bzw. Verstörendem,
das sich u.a. in ihrer problemexternalisierenden Grammatik und ihrer konsequenten Verneinung
defizitorientierter Beschreibungen und Erklärungen offenbart.
In Salman Rushdies Erzählung „Harun“ entspinnt sich gegen Ende hin ein Dialog zwischen dem
Protagonisten Harun und dem Walross, einem seiner Wegbegleiter.
„Happy-ends kommen in Geschichten genau wie im Leben viel seltener vor, als die Menschen sich das
vorstellen. Man könnte fast sagen, sie sind die Ausnahme und nicht die Regel.“
„Dann habe ich also doch recht gehabt“, gab Harun zurück, „und das war´s“.
„Aber eben weil Happy-ends immer so selten sind“, fuhr das Walross gelassen fort, „haben wir gelernt, sie
künstlich herzustellen. Mit einfachen Worten: Wir können sie erfinden.“ (Rushdie, 1991, Seite 155).
Vielleicht hat Harun Unrecht. Vielleicht birgt „wirkliches“ Leben“ eine Vielzahl von kleinen und größeren
„Happy-ends“, die wir aufgrund unseres dominanten Blickwinkels nicht wahrnehmen und nutzen.
Dann wäre unser beraterisches Erfinden von Happy-ends kein Erfinden, sondern ein Auffinden oder ein
Wiederfinden, das uns Wirklichkeit neu verstehen und beantworten lässt.
Literatur:
Furman B, Ahola T (1995) Die Zukunft ist ein Land, das niemandem gehört. Klett – Cotta, Stuttgart
Grossmann KP (2002) Therapeutische Dialoge mit Paaren. Facultas, Wien
Grossmann KP (2000) Der Fluss des Erzählens. Narrative Formen der Therapie. C. Auer, Heidelberg.
Maturana H (1982) Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Vieweg, Paderborn
O` Hanlon Hudson P, Hudson O`Hanlon W (1992) Rewriting love stories. W. Norton, New York
Rushdie S (1991) Harun und das Meer der Geschichten. Droemer, München
White M (1997) Narratives of Therapists`Lives. Dulwich Center Publications, Adelaide
DR. KONRAD P. GROSSMANN ist Psychotherapeut für systemische Familientherapie in freier Praxis,
Lehrtherapeut, Lehrsupervisor, Buchautor. Erschienen sind u.a. „Der Fluss des Erzählens“,
„Therapeutische Dialoge mit Paaren“
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