Teilnehmende Beobachter Fritz Emslander „Unter der Photographie eines Menschen ist seine Geschichte wie unter einer Schneedecke vergraben.“ Siegfried Kracauer, 19271 Die frühe Porträtfotografie gab den Menschen in seiner Oberflächenerscheinung wieder. Sie tastete sein Gesicht ab wie eine Fassade, und sie tat dies in der Überzeugung, dass das Äußere einen direkten Reflex des Inneren bilde. Das Gesicht galt Physiognomen als „Spiegel der Seele“, Phrenologen vermaßen es als eine Art Landkarte des Geistes. Die unbefangene Offenheit der Selbstdarstellung in den Studioporträts des 19. Jahrhunderts zeugt gleichermaßen vom unerschütterlichen Selbstwertgefühl des damaligen Bürgertums wie von dessen unerschüttertem Vertrauen in die Glaubwürdigkeit des Mediums Fotografie.2 Der magische Vorbehalt gegenüber dem Bildnis, die irrationale Furcht einer materiellen und spirituellen Vereinnahmung durch den fotografischen Prozess, Nadars Befürchtung etwa, dass jede fotografische Aufnahme, wenn sie an der Oberfläche des Körpers kratze, eines der Häutchen ablöse, aus denen sich seine Physis schichte, wurde schon früh verdrängt und in der Praxis des Ateliers sublimiert. Dem fortwährenden unterschwelligen Misstrauen gegenüber dem kontrollierenden Blick des fotografischen Apparats begegnete das Atelier mit einem „komplexen System von Verstellungen“.3 Mit der Kommerzialisierung der Fotografie und der Entstehung einer regelrechten Porträtindustrie wurde das Atelier zur Bühne fotografischer Inszenierungen. Auf dieser Bühne nahm der Fotografierte in seinem Habitus die theatralischen Arrangements des Fotografen vorweg: Im Ritual der Pose fügte er sich in einen Fundus von Requisiten ein,4 wobei die eingeübten Posen weniger im Sinne einer aktiven Transformation des Subjekts denn als Schutzschild fungierten, hinter der sich die Persönlichkeit verbarg. Angesichts der verbreiteten Porträtproduktion der Ateliers erhält die Rede von der „Oberflächlichkeit“ der Fotografie ganz neue Qualitäten. Der im Studio hervorgebrachte, mit Bedeutung belegte und durch das Medium als „wahr“ bescheinigte Ausdruck einer Person war nicht mehr und nicht weniger als eine „authentische Verstellung“, eine im Foto aktualisierte, gesellschaftliche Rolle, hinter der die Charakteristik verschwand. Die 1 Siegfried Kracauer: Die Photographie [1927]. In: Ders.: Das Ornament der Masse. Frankfurt a. M. 1977, S. 26. 2 Vgl. Klaus Honnef (Hg.): Lichtbildnisse. Das Porträt in der Fotografie. Kat. Rheinisches Landesmuseum Bonn. Köln 1982; dort bes. Sarah Kent: Porträtfotografie: Enthüllung oder Verwandlung?, S. 418–437. 3 Vgl. Bernd Busch: Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie. München/Wien 1989, S. 307 ff., zit. 311. 4 Vgl. die materialreiche Einführung von Fritz Kempe: Atelier und Apparat des Photographen. Einführung in die Photo-Studios des 19. Jahrhunderts. In: Honnef 1982 (s. Anm. 2), S. 26–40. Atelierfotografie produzierte Identität in einer Art Laborsituation, als Resultat der komplexen „fotografische[n] Synchronisation von gesellschaftlichen Idealbildern, tradierten Konventionen, individueller Physiognomie, technischem Verfahren und künstlerischer Ambition.“5 Sigmund Freuds grundsätzlicher Zweifel daran, dass mithilfe der Porträtfotografie überhaupt tiefere Wahrheiten zu vermitteln seien, dürfte durch diese Form des „Persönlichkeitstheaters“ (Bernd Busch) noch bekräftigt worden sein.6 Franz Kafka, Meister der literarischen Seelenschau, moniert entsprechend die mangelnde psychologische Tiefe des fotografischen Bildes: „Die Photographie fesselt den Blick an die Oberfläche. Damit vernebelt sie gewöhnlich das verborgene Wesen, das nur wie ein Licht- und Schattenhauch durch die Züge der Dinge hindurchschimmert. Dem kann man mit den schärfsten Linsen allein nicht beikommen.“7 Vielleicht ließe sich mit Hilfe der Fotomechanik, mit schärferen Linsen aber doch noch einiges machen? Schärfe und Tiefe Die Statik von Kulisse und Pose, das künstliche Stillhalten im Atelier, nimmt die Erstarrung des Fotografierten im Bild, jenen fotografischen Zustand des Eingefroren-Seins, des TodSeins, vorweg.8 Unabhängig von ihren oben angedeuteten sozialen Funktionen war das Verharren in einer Pose aber auch aus rein technischen Gründen zunächst unumgänglich. Das Studio gewährleistete die nötige Konzentration sowie optimale Lichtbedingungen, um Fotografierte und Hintergrund ruhig zu stellen. Bald setzten zwar die Bemühungen ein, aus dem artifiziellen Stillstand des Ateliers auszubrechen, um das alltägliche Leben einzufangen. Doch die frühe Fotografie mit ihren langen Belichtungszeiten erwies sich meist als zu schwerfällig für „Momentaufnahmen“ auf den Straßen. William Henry Fox Talbot beschreibt seine Enttäuschung: „Wenn wir aber in die Stadt gehen und versuchen, ein Bild der sich bewegenden Menschenmenge zu machen, erleben wir einen Misserfolg, denn im Bruchteil einer Sekunde verändern sie ihre Position ….“9 Bereits in den 1840er Jahren konnten erste „Sekundenbilder“ aufgenommen werden. Dies war allerdings nur im schmalen Focusbereich einer lichtstarken Porträtoptik möglich, welche aber in der Tiefe des umliegenden Raumes keine zufrieden stellende Scharfzeichnung lieferte. Wollte der Fotograf die Bewegung nicht mit den Mitteln einer in das Leben eingreifenden Inszenierung suspendieren, so blieb ihm vorerst nur die Beschränkung auf relativ enge Bildausschnitte. Diese bedingten wiederum die weitgehende Ausblendung des Umfeldes und teils auch die Fragmentierung des Körpers. 5 Busch 1989 (s. Anm. 3), S. 314. Zu Ansätzen eines „psychoanalytischen Blicks“ in der Fotografie nach Freud vgl. Kent 1982 (s. Anm. 2). 7 Aus: Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka. Erinnerungen und Aufzeichnungen. Frankfurt a. M. 1951; zit. nach Susan Sontag: Über Fotografie. München 1978, S. 185. 8 Vgl. Craig Owens: Posieren [1992]. In: Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Frankfurt a. M. 2003, S. 92–114. 9 William Henry Fox Talbot: The Pencil of Nature. London 1844–1846, Kommentar zu Taf. 14; zit. nach Monika Faber: Die Momentfotografie erobert die Stadt 1840–1980. In: Dies., Klaus Albrecht Schröder (Hg.): Das Auge und der Apparat: Die Fotosammlung der Albertina. Kat. Albertina, Wien 2003, S. 242–248, hier 242. 6 Die Forderung nach gleichmäßig scharfen Details in allen Raumschichten erfüllen erst im späten 19. Jahrhundert eingeführte Objektive und Spezialkameras. Sie erlauben es, den Raum der Straße in seiner Tiefe und Weite – als Ort des Flanierens und des Arbeitens, zu Hause und in der Fremde – zu durchmessen. Die Apparate werden immer kleiner und fördern die Praxis des auf Reisen oder in der Großstadt auf Pirsch gehenden Schnappschuss-Fotografen, „dessen Kamera so leicht und rasch zu handhaben ist wie ein Schmetterlingsnetz“.10 Der Fotograf wird zum Jäger. Die vormals gängige Zusammenarbeit mit dem Porträtierten in langwierigen Sitzungen weicht zunehmend einer Strategie des „hitand-run“, was die Fotografie in ein moralisches Dilemma bringt: Ohne ihre Einwilligung, teils ohne ihr Wissen werden Menschen ihrer Bilder beraubt. Die gegen diesen Tabubruch abzuwiegende Beute ist die relative Unbefangenheit der Dargestellten und eine überraschende, dem fotografischen Medium eigene Ästhetik, welche die herrschenden, an der Malerei orientierten Bildkonventionen der Porträtfotografie sprengt. Als Helen Levitt in den späten 1930er Jahren den Alltag in den Armenvierteln New Yorks als ihr Thema entdeckt, behilft sie sich eines kleinen Tricks: Sie nähert sich den Menschen mit Respekt und verwendet gleichzeitig einen Winkelsucher, um die Konfrontation mit dem fotografischen Apparat, den Affront der plötzlich ausgelösten Aufnahme zu umgehen.11 Meist scheint die Fotografin unbemerkt geblieben zu sein, nur flüchtig streift hin und wieder ein Blick ihre Kamera. Das Leben erscheint für einen Moment angehalten: Eine schwarze Frau geht rauchend über die Straße. Wir sehen ihre Füße nicht, doch dafür gerät das architektonische Umfeld vermehrt in den Blick. Ein Junge wird mit seinem Rad wenige Momente später das Feld des Kamerasuchers verlassen, das eine Frau mit Kind im Hintergrund gerade erst betreten hat. Die Fotografie ist tiefenscharf im technischen Verständnis des Begriffes: Die Schärfe ist weitestgehend in die Tiefe des aufgenommenen Raumes ausgedehnt. Zugleich aber ist die Tiefe des Raumes, in die der fotografische Blick ausgreift, auf die Frau als das zentrale Motiv der Aufnahme ausgerichtet. Aus der unendlichen Ausdehnung des Raumes ist durch den Ausschnitt eine begrenzte Strecke – augenfällig durch die Achse der Straße – als Umgebung des zentralen Bildmotivs definiert. Was man als Helen Levitts untrügliches Gespür für die „Magie des Augenblicks“ bezeichnete, manifestiert sich in einer Reihe von „gestaltende[n] Adaptionen an die äußeren Bedingungen der Aufnahme“12: Die Wahl des Blickwinkels und des Ausschnitts, Scharfstellung, Festlegung der Blende und Verschlusszeit ordnen die Fülle des Sichtbaren. In der gewählten Konstruktion des tiefenscharfen Bildraumes rücken Nähe und Ferne durch das im Bild Sichtbare zusammen. Angesichts der Vielzahl der in die Tiefe gestaffelten, scharf verzeichneten Details kann die Wahrnehmung des Betrachters diese visuellen Daten allerdings nur schrittweise entziffern. Sie muss sich – den Hinweisen des 10 Ben Maddow: Antlitz. Das Bild des Menschen in der Fotografie von den ersten Porträtfotos bis zur Gegenwart. Köln 1979, S. 477. 11 Vgl. S. __ in diesem Katalog. 12 Busch 1989 (s. Anm. 3), S. 339. Fotografen folgend – ihren Pfad durch den Bildraum suchen.13 Auf diesem Weg der Lektüre entspinnt sich aus den Verknüpfungen von Menschen und Dingen in der Tiefe und Weite des Raumes, aus ihrem räumlichen Dasein im Verhältnis zueinander und zu ihrer Umgebung, ihrem Lebensumfeld, jene Erzählung der Fotografie, die mit dem Titel gebenden Begriff der „Tiefenschärfe“ angedeutet werden soll: Eine Erzählung von Menschen auf den Straßen und Plätzen ihrer Stadt, auf dem Weg zur oder bei der Arbeit, vor ihren Häusern und in ihren Wohnungen. In dieser Erzählung „überlagern sich die Spur des Realen, die ‚Worte des Lichts‘ (W.H.F. Talbot), und die Arbeit des Imaginären, die ‚Aufschlüsse‘ (O.W. Holmes) der Lektüre“.14 Einblicke – die penetrante Kamera Die Wege der Lektüre sind durch die der Annäherung des Fotografen an die dargestellten Personen vorgezeichnet. Wie der Fotograf die Wirklichkeit dieser Menschen vermittelt, wie er dem Betrachter ihre Lebensräume als mehr oder weniger bedeutende erschließt, hängt nicht nur von seinem „Stilwillen“, sondern entscheidend auch von seinem Verhältnis zu diesen Menschen und der daraus folgenden, beiderseits mehr oder weniger zugelassenen Dynamik des fotografischen Prozesses ab. Je nachdem, ob die Aufnahmen Resultate eines abrupten, flüchtigen Eindringens oder eines behutsamen, längerwierigen Eintauchens und Austausches, vielleicht auch der (teilweisen) Assimilierung in den physischen und sozialen Raum des Anderen darstellen, unterscheiden sich die durch sie gewährten Einblicke in Ästhetik und Aussagegehalt. Besonders deutlich werden diese Unterschiede angesichts des Gebrauchs der Fotografie im Kontext früher Orientreisen nach 1850. Der Italiener Carlo Naya und sein Assistent Otto Schoefft reisten nach Ägypten, um für ihren Fotoband „Le Caire pittoresque” (1876) die Einwohner im Ambiente der Stadt aufzunehmen. Ein reich verziertes, mehrfach geteiltes Gitterfenster in „typisch orientalischem“ Stil bildet den exotischen Rahmen einer vermeintlichen Alltagsszene. Die Tatsache aber, dass dieses Fenster nicht nur der hier gezeigten Gruppe von Musikern und Tänzerinnen, sondern auch der Aufnahme eines öffentlichen Schreibers als Hintergrund diente,15 lässt das Studioprinzip erkennen. Der Fotograf, der mit Sammlungen von Exotika in seinem Atelier zu Hause die „große Welt“ zu Gast hat, erweist sich nun als Arrangeur dieser Welt, die er nach den Kriterien des Pittoresken ordnet und nach willkommenen Requisiten absucht. Kommerzielle Aufnahmen wie diese, die den Bedarf nach vermeintlich unverfälschten Bilddokumenten, nach authentischen Reisezeugnissen deckten, dienten vielmehr dazu, die Illusion des „Orients“ – als Denkfigur des Westens – aufrecht zu erhalten.16 Nayas Gruppenbildnisse vor In den Worten von Bernd Busch: „Sie muß die synchrone Gestalt der fotografischen Schärfe in den diachronen Prozess der Wahrnehmung transformieren.“ Ebd., S. 344. 14 Ebd., S. 274. 15 Vgl. S. __ und Abb. S. __ in diesem Katalog. 16 Vgl. hierzu: Bodo von Dewitz: An den Süßen Ufern Asiens. Ägypten, Palästina, Osmanisches Reich. Reiseziele des 19. Jahrhunderts in frühen Photographien. Kat. Römisch-Germanisches Museum, Köln 13 authentischer Kulisse belegen beispielhaft jene „unrealistische“, selektive Sichtweise, die Christoph Hennig als charakteristisch für den Tourismus ausmachte: Dem Touristen ginge es nur sehr begrenzt um eine Erkenntnis der Fremde, er suche vielmehr „die sinnliche Erfahrung imaginärer Welten, die Realität der Fiktion.“17 Was es im Orient zu beweisen gab: „… seit den biblischen Zeiten ist alles stabil geblieben: Sitten, Wohnungen, Kleider und Gebräuche. Alles ist Urzustand“ (Franz Wallner 1872). 18 Otto Schoefft und Carlo Naya bestätigen diese Außenperspektive des Touristen, ihr Blick ruht auf Oberflächen, die für sie undurchdringlich bleiben – wie der Schleier der Frauen und das dichte Stabwerk der Fenster. Bitten die beiden noch die Tänzerinnen zu sich nach draußen, in den öffentlichen Raum der Straße, die für sie als Atelier unter freiem Himmel fungiert, scheint Cecil Beaton ein halbes Jahrhundert später hingegen als Eingeweihter zu arbeiten. Er hat die Schwelle überschritten, ist in das Interieur eines orientalischen Hauses vorgedrungen. An einer Türe im Inneren hat sich eine Frau mit verschränkten Armen wie eine Wächterfigur postiert. Unser voyeuristischer Blick aber dringt zusammen mit dem Kamera-Auge bereits in jenes Innerste ein, in das ein Mann – er erscheint als Reflexion im Spiegel rechts – noch eingelassen werden möchte. Die Szenerie mit ihren komplexen, metaphorisch aufgeladenen Raumbezügen spielt bewusst mit den Stereotypen einer langen malerischen Tradition des Orientalismus in der Nachfolge von Jean-Auguste-Dominique Ingres, mit Assoziationen von Harem und Bordell. Der Titel bestätigt diese Assoziation mit dem Hinweis auf den algerischen Stamm der „Ouled Nails“: Der laszive Tanz dieser Frauen war berüchtigt. Dass man die „Ouled Nails“ aber in direkter Tradition der phönizischen Tempelprostituierten sah, machte sie auf der imaginären Landkarte des Westens zu einer Art Pendant des immer noch „biblischen“ Volkes am Nil.19 Die Überführung des Fremden ins Eigene in Form von fotografischen Trophäen wird von Beaton allerdings im doppelten Sinne reflektiert und komplex gebrochen. Der Raum entfaltet sich als bedeutungsträchtiges Arrangement in einer Fülle von Blickbeziehungen und unter Einbeziehung des gespiegelten Raumausschnittes außerhalb des Sucherfeldes. So bezieht Beatons planvolle Rauminszenierung ihre Spannung aus der Konfrontation mit dem im Bild als alter ego des Betrachters figurierenden Freier. Neben Referenzen auf den Formenkanon der Malerei ist es vor allem diese symbolisierende Organisation des Raumes, welche Beatons Aufnahme von 1933 als dezidiert „künstlerisch“ im Gegensatz zu einem stärker „realistisch-dokumentierenden“ Ansatz in der Fotografie charakterisiert, wie ihn etwa Helen Levitt vertritt. 1988, S. 9–27; vgl. hierzu auch den Text zu den im vorderen Orient florierenden Geschäften des Fotoateliers „Maison Bonfils“, S. __ in diesem Katalog. 17 Christoph Hennig: Reiselust. Touristen, Tourismus und Urlaubskultur. Frankfurt a. M. [1997] 1999, S. 55. 18 Franz Wallner: Von fernen Ufern. Reiseskizzen aus Constantinopel, Ägypten und Sizilien. Berlin 1872, S. 51; zit. nach Dewitz 1988 (s. Anm. 16), S. 16. 19 Vgl. S. __ in diesem Katalog. Die Jahre des Exils in Folge der nationalsozialistischen Machtergreifung in Europa führten viele Fotografen zu einer intensivierten Auseinandersetzung mit den Menschen der Länder, in denen sie vorübergehend Aufnahme fanden. Raoul Hausmann, 1933 bis 1936 auf Ibiza, reflektiert in dokumentarischen Fotografien räumliche und soziale Strukturen als Indikatoren auf das „Wesen“ der auf der Insel in einer patriarchalischen Agrargesellschaft lebenden Menschen.20 Der Ungar Nicolás Muller flieht 1939 nach Tanger, wo er bis zu seiner Übersiedlung nach Spanien im Jahr 1948 lebt und sich der marokkanischen Kultur mitunter in sensibel beobachteten Straßenszenen annähert.21 In den Aufnahmen beider Fotografen ist eine relative Nähe zu den dargestellten Menschen ersichtlich, eine Vertrautheit, die sich qualitativ von den eher oberflächlichen Kontakten des Reisenden unterscheidet. Gleichzeitig bleibt eine Distanz, eine Befremdung erhalten, die sich im Staunen äußert: in der tendenziellen Verklärung der Exilwelten, der ländlichen Idylle der in festliche Trachten gekleideten Frauen auf Ibiza wie der Exotik der verschleierten marokkanischen Mädchen am Brunnen. Die Kehrseite dieser impliziten Verklärung ist das Bewusstsein der kulturellen Differenz. Die Perspektive dieser Fotografien ist die des Gastes, dem es gelingt, aus einer angedeuteten Innenperspektive das Andere ex negativo, d. h. im Unterschied zum Eigenen, zu charakterisieren. The other side of town … – frühe Straßenfotografie Raoul Hausmanns Rede vom gerichteten Blick auf ein Gesicht oder eine Landschaft, mit dem es gegenüber einem bloß „flüchtigen Hinschauen“ gelingen könne, „das wirkliche Wesen zu ersehen“22, scheint immer noch von jener Zuversicht der frühen Reise- und Dokumentarfotografie in die unterstellte Objektivität des neuen Mediums geprägt. Ein Pionier des damit verbundenen Konzeptes eines anthropologischen Blicks in der Fotografie ist John Thomson. Sieben Jahre lang reist der Schotte für die Londoner Royal Geographical Society durch Asien, um schließlich 1873 seine mit eigenen Texten erläuterten fotografischen „Illustrations of China and Its People“ zu publizieren. Bald nach seiner Rückkehr nach England unternimmt er zusammen mit dem Journalisten Adolphe Smith das Projekt einer soziologischen Studie, für die er seinen in China geschärften ethnologischen Blick nun auf die Leute in den Armenvierteln von London richten will.23 „Mit Notizblock und Kamera“ ausgerüstet, suchen die beiden die Gassen und Hinterhöfe des East Ends auf, um einfache Arbeiter, Plakataufkleber oder Straßenhändler, aber auch Bettler und Obdachlose in ihrem „Kampf ums Dasein“ vorzustellen.24 Auch wenn sich die Publikation „Street Life in London“ (1876–1877) in Anlehnung an frühere stadtethnografische Studien auf 20 Vgl. S.__ in diesem Katalog. Vgl. S.__ in diesem Katalog. 22 Hausmann 1933, zit. nach Andreas Haus: Raoul Hausmann. Kamerafotografien 1927–1957. München 1979, S. 45. 23 Vgl. S.__ in diesem Katalog. 24 Zit. nach Maddow 1979 (s. Anm. 10), S. 236. 21 die Schilderung allgemeiner Typen konzentriert (und sich damit teils noch in der Tradition des Genrebilds bewegt, das die Dargestellten als Typen außerindividuell konnotiert25): Mit derlei Vorläufern der sozial engagierten Dokumentarfotografie der 1920er und 1930er Jahre drängen bereits jene „Anderen“ innerhalb der eigenen Gesellschaft, die Vertreter der nichtbürgerlichen Sozietäten, in die ehemals rein bürgerliche Bastion der Porträtdarstellung ein. Mit der Entdeckung des Abseitigen und Ausgegrenzten, des Beiläufigen und Zufälligen, des abstoßend-anziehenden Hässlichen und des anrührenden Unbedeutenden wird der Fotograf zunehmend zum Touristen in seiner eigenen und fremder Leute Realität.26 Dem Vorwurf, aus einer derart verstandenen Perspektive nur auf das Kuriose und Exotische abzuheben und das Elend damit zu ästhetisieren, greift Thomson mit dem Hinweis auf die „Präzision der Photographie“ vor: „Die unzweifelhafte Genauigkeit dieser Zeugnisse macht es uns möglich, wahre Charaktere der armen Leute von London vorzustellen, und schützt uns vor dem Vorwurf, wir hätten die individuellen Eigentümlichkeiten der äußeren Erscheinung unterschätzt oder übertrieben.“27 In diesem Verständnis der Fotografie als Zeitdokument, das klar, präzise und lesbar sein sollte, und zugleich in dem Bewusstsein, dass die Fotografie, indem sie die dargestellten Menschen aus ihrem Raum und ihrer Zeit herauslöst, immer kommentarbedürftig ist, legt Walker Evans über ein halbes Jahrhundert später seine „American Photographs“ (1938) vor, das „erste Künstlerbuch in der Geschichte der Fotografie“.28 Für dieses kritische Porträt der damaligen amerikanischen Gesellschaft wählt Evans die Form eines Bildessays, über dessen Gestaltung er als auteur und éditeur volle Kontrolle hat. Um den jeweiligen Bildgegenstand dem analytischen Blick des Betrachters freizulegen, verzichtet Evans mit dem von ihm so benannten „dokumentierenden Stil“ bewusst auf eine vordergründig erkennbare künstlerische Handschrift. Und doch geht es Walker Evans, wie die ab 1938 heimlich in der U-Bahn von New York aufgenommenen „Subway Portraits“ zeigen,29 nicht um eine Doppelung der Wirklichkeit im Abbild der Fotografie. Der ent-deckende Zugriff der spontanen Schnappschüsse auf den großstädtischen Alltag sollte Unerwartetes offen legen. In der plötzlichen Exposition des Alltäglichen wird die Wirklichkeit zum Tatort. Die 1938 gerade aus Frankreich in die USA emigrierte Lisette Model sprach in diesem Zusammenhang vom „gewählten Augenblick“, der die Wahrheit ins Bild setze: „Der Fotograf arbeitet schnell. Im Zeitraum einer Sekunde muss 25 Vgl. Honnef 1982 (s. Anm. 2), S. 571 f. Susan Sontag nannte ihn einen Nachkommen des Flaneurs, „eine bewaffnete Spielart des einsamen Wanderers“; vgl. Busch 1989 (s. Anm. 3), S. 325. 27 Aus dem Vorwort zu „Street Life in London“, zit. nach Beaumont Newhall: Geschichte der Photographie [History of Photography, 5. Ausg. New York 1982] München 1998, S. 101. 28 Thomas Weski: Gegen Kratzen und Kritzeln auf der Platte. In: How you look at it. Fotografien des 20. Jahrhunderts. Kat. Sprengel Museum, Hannover, Städelsches Kunstinstitut u. Städtische Galerie, Frankfurt a. M. 2000, S. 18–37, zit. S. 27; Vgl. auch Heinz-Norbert Jocks: Der Gebrauch der Fotografie. Ein Versuch über die Fotografie. In: Kunstforum International, Bd. 171 (Juli-August 2004), S. 37–79, hier S. 50–54. 29 Vgl. S. __ in diesem Katalog. 26 er sehen, auswählen und agieren. Der kleinformatige Apparat … ist ein Mittel, die Wahrheit, die uns umgibt, aufzuspüren und zu enthüllen.“30 Model, eine Vorläuferin der amerikanischen street photography der 1950er Jahre, gewinnt in ihrer Serie „Running Legs“ der hektischen Betriebsamkeit des New Yorker Straßenlebens ungewöhnliche Perspektiven ab, welche die Alltagswahrnehmung relativieren.31 Mit dem gleichen Impetus, wenn auch mit kühlerer Handschrift und weniger spektakulären Kompositionen, lässt Evans „das Ungesagte, Besondere auf der Folie des Bekannten“ erscheinen.32 Die ungestellte Momentfotografie, jenes „Dynamit der Zehntelsekunden“ (Walter Benjamin)33 treibt aus dem Vertrautesten die Züge des Fremdesten hervor. So werden Evans’ Alltagsaufnahmen seiner in sich gekehrten Mitreisenden unwillkürlich zu psychologischen Porträts, in ihrer Vereinzelung offenbart sich schlaglichtartig die großstädtische condition humaine. Metropolen – Existenzen Das in einigen Großprojekten der sozialdokumentarischen Fotografie in den Vereinigten Staaten verfolgte Ziel, die soziale Realität Amerikas – auch in ihren Schattenseiten – an Einzelfällen anschaulich zu machen, förderte eine fotografische Haltung, die Walker Evans als „documentary in style“ bezeichnete. Seine Kollegin Dorothea Lange, die wie er seit 1935 im Auftrag der Regierung arbeitete, spitzt diesen Ansatz programmatisch auf „drei Erwägungen“ zu: „Erstens – Hände weg! Was ich photographiere, das belästige ich nicht, ich pfusche nicht hinein und arrangiere nichts. Zweitens – Raumsinn. Was ich photographiere, versuche ich stets als Teil seiner Umgebung darzustellen, als etwas, das Wurzeln hat. Drittens – Zeitsinn. Bei allem was ich photographiere, versuche ich auch zu zeigen, dass es eine bestimmte Stellung in der Vergangenheit oder der Gegenwart einnimmt.“34 In diversen Fotokampagnen für die so genannte Farm Security Administration35 folgen Lange und Evans diesem Programm.36 Sie klammern sich als Fotografen weitestgehend aus, zeigen in ihren Aufnahmen das Alltagsleben der ländlichen Bevölkerung in unterschiedlichen amerikanischen Bundesstaaten. Pachtbauern und Landarbeiter erscheinen als „Teile“ ihrer „Umgebung“ und als Zeugen ihrer Zeit – ausgesetzt den verheerenden Folgen der wirtschaftlichen Depression der 1930er Jahre. Wie diese Bilder die schicksalhafte „Verwurzelung“ der amerikanischen Farmer und Kleinstädter mit dem Land, das sie bewohnen und bearbeiten, darlegen, so zeigt der Engländer Nigel Henderson ab 1945 die 30 Zit. nach: Lisette Model: Fotografien 1934–1960. Kat. Kunsthalle Wien 2000, S. 46; vgl. Faber 1982 (s. Anm. 9), S. 246 f. 31 Vgl. S.__ in diesem Katalog. 32 Weski 2000 (s. Anm. 28), S. 30. 33 Zit. nach Busch 1989 (s. Anm. 3), S. 360. 34 Daniel Dixon: Dorothea Lange. Modern Photography, Bd. 16 (Dez. 1952), S. 68–77, 138–141; zit. nach Newhall 1998 (s. Anm. 27), S. 247. 35 Zu den Projekten der so genannten Farm Security Administration: Christine Heiß: Amerika in der Depressionszeit. In: Walker Evans – Amerika. Kat. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München 1990, S. 13–22. 36 In Folge der Instrumentalisierung der sozialdokumentarischen Fotografie dieser Zeit für politische Zwecke wurde die Integrität dieses Ansatzes allerdings teils auch demontiert; vgl. hierzu: Honnef 1982 (s. Anm. 2), S. 484; Maddow 1979 (s. Anm. 10), S. 316, 320, 323. starke Identifikation einfacher, teils verarmter Arbeiter im Londoner East End mit ihrem Viertel.37 Auch Hendersons Aufnahmen im Rahmen der 1937 gegründeten Initiative „Mass Observation“ entstehen vor der Folie einer prekären sozialen und wirtschaftlichen Lage, in der scheinbar nur die Krönungsfeierlichkeiten für Königin Elizabeth II. 1953 den monarchietreuen Engländern etwas Aufhellung bringen. Doch spricht aus dem Umgang der gezeigten Leute miteinander eine gewisse Verbindlichkeit, die dem East End den bescheidenen Charme einer Kleinstadt mitten in der britischen Metropole verleiht. Gegenüber diesen sozial engagierten Schilderungen des menschlichen Umfeldes der Dargestellten – den zahlreichen Hinweisen auf die Verhältnisse der Menschen untereinander, sei es innerhalb der Familien, innerhalb und zwischen den Generationen, oder unter Nachbarn – steht, wie wir bereits gesehen haben, eine großstädtische Fotografie, die den Einzelnen in der Masse der Stadt untergehen lässt (Lisette Models „Runnings Legs“) oder aber ihn isoliert. Walker Evans beschränkt im Falle seiner „Subway Portraits“ die Umgebung auf knappe Angaben des kargen Interieurs der Waggons. Er schneidet die Porträtierten regelrecht aus ihrem Alltag heraus, um die Anonymität dieses Transitraumes zu unterstreichen. Eine Reihe in Paris in den 1920er bis 1950er Jahren tätiger und in der Ausstellung vertretener Fotografen wählte zur Darstellung großstädtischer Vereinzelung mitunter eine konträre Bildstrategie: Das Umfeld im Bild figurierender Einzelpersonen transportiert dort eine Fülle von Details, es wird zum eigentlichen Informationsträger, wohingegen die Menschen selbst uns den Rücken zukehren oder – bedingt durch Belichtung und Blickpunkt – als verschattete Gestalten erscheinen, als bloße Silhouetten ihrer selbst. Im Gegenlicht entzieht Heinrich Hauser das Antlitz einer Französin, die auf regennasser Straße eine Litfaßsäule passiert, dem forschenden Blick, der sich stattdessen den angeklebten Plakaten und der umliegenden Architektur zuwendet.38 Eine Frau mit Kind entfernt sich auf einem leeren Platz, und wir sehen den beiden durch das Fenster eines Billard-Cafés nach. Auch hier regnet es – ein von Willy Ronis festgehaltener Eindruck von der Flüchtigkeit des Stadtlebens („Rue Henri Chevreau, Ménilmontant“, 1947).39 Während William Klein in seiner gleichmäßig ausgeleuchteten Aufnahme Passanten in Tokyo zeigt und die Filmplakate hinter ihnen als zusätzliche Ebene der Charakterisierung einführt („Les liaisons dangereuses, Tokyo“, 1961)40, verlegt Otto Steinert den Schwerpunkt konsequent auf eine Plakatwand im Hintergrund, die zum eigentlichen Protagonisten seiner Aufnahme wird. Die vordergründige männliche Figur ist auf eine verhuschte Gestalt reduziert, die ihren Kopf von uns ab- und den Plakaten zuwendet: Von dort geht der Titel gebende „Appell“ aus.41 37 Vgl. S. __ in diesem Katalog. Die Fotografie wurde bislang auch Else Thalemann zugeschrieben; vgl. S. __ in diesem Katalog. 39 Vgl. S. __ in diesem Katalog. 40 Vgl. S. __ in diesem Katalog. 41 Vgl. S. __ in diesem Katalog. 38 In diesen Pariser Stadtimpressionen werden die Menschen zuerst und fast ausschließlich durch ihr Umfeld charakterisiert, sie werden indirekt durch ihre Situation, ihre räumliche Existenz in der Stadt beschrieben. Anstatt ihnen zu begegnen, mit ihrer Physiognomie konfrontiert zu werden, sieht der Betrachter durch sie hindurch und nimmt vielleicht auch ihren Blick auf die Straßen und Plätze der Stadt an: auf eine Metropole der Widersprüche, zwischen bürgerlicher Repräsentationsarchitektur und tristen Nutzbauten, dem nostalgisch wirkenden Café im Arbeiterviertel und den offenen Kriegswunden der Abrisshäuser. Die Aufnahmen sind atmosphärische Verdichtungen, die in der Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg und im Klima des französischen Existenzialismus Züge einer Spurensuche nach der wieder zu findenden Identität einer Stadt und ihrer Bewohner annehmen. Ronis und Steinert wählen hierfür auffällige Perspektiven, starke Untersichten, suggestive Durchblicke. Die Suche nach ungewöhnlichen, persönlichen Beobachtungs- und Erzählweisen unter Ausweitung des formalen und technischen Repertoires entfernt ihre Fotografien vom nüchtern-kühlen Stil einer dokumentierenden Fotografie à la Evans – Otto Steinert propagierte diesen neuen Ansatz im Deutschland der Nachkriegszeit unter dem Stichwort der „subjektiven Fotografie“. Der „Raumsinn“ (Dorothea Lange), der sich in diesen Aufnahmen ausdrückt, zielt auf mehr als auf eine objektivierende Berücksichtigung zusätzlicher Details aus der Umgebung der Porträtierten. Vielmehr geht es um eine künstlerisch angeleitete Sensibilisierung für subtile Inszenierungen des Raumes und der Beziehungen der Personen in ihm und zu ihm, Konstellationen, die der Fotograf im „gewählten Augenblick“ (Lisette Model) findet, ohne zu arrangieren. Brassaï, Pate dieser subjektivierten Perspektive in Frankreich, beteuerte 1961 im Rückblick, er habe eine Zeit lang „verzweifelt versucht, dem, was ich gesehen habe, nichts hinzuzufügen, nichts von mir selbst in die Bilder hineinzubringen“. Doch der Versuch, sich der Tradition des kunstvollen Arrangements, der Inszenierung der Natur zu entziehen, scheitert: „… je mehr Mühe ich mir gab, umso spontaner war die Reaktion des Publikums: ‚Das ist ja ein Photo von Brassai‘.“42 Through a looking glass … – Spiegelwelten In den späten 1960er Jahren versteht es der Engländer Tony Ray-Jones, die Freizeitaktivitäten seiner Landsleute, jenen „English Way of Life“, in Momentaufnahmen so treffend festzuhalten, dass seine Bilder wie arrangierte tableaux vivants wirken. „Photography can be a mirror and reflect life as it is”, so Ray-Jones, „but I also think that perhaps it is possible to walk like Alice, through a looking glass, and find another kind of world within the camera”.43 Diese andere Seite, die Absurditäten des Alltags, das Schrullige und Skurrile im Vertrauten legen Ray-Jones’ Fotografien offen. Wie in einer verkehrten Welt picknickt da die exzentrische Upperclass mitten auf der Kuhweide, während die Arbeiter ihre 42 Zit nach Jean-Claude Chamboredon: Mechanische, unkultivierte Kunst. In: Pierre Bourdieu u. a.: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Frankfurt a. M. 1983, S. 185– 202, hier S. 186. 43 Zit. nach Richard Ehrlich: Tony Ray-Jones. Manchester 1990, o. S. (Umschlag). Decke vor den künstlichen Kulissen eines Freizeitparks ausgebreitet haben.44 Ray-Jones bettet die Handlungen meist in klassentypische Kontexte ein, mit denen die Dargestellten sich offensichtlich identifizieren, in denen sie sich selbstsicher bewegen. Selbstbewusst, vielleicht auch in der Zweisamkeit ein wenig selbstvergessen, dreht ein älteres Paar beim Tanztee seine Runden und kümmert sich nicht darum, dass die anderen Gäste noch nicht oder nicht mehr da sind. Wie die junge Tänzerin im Londoner In-Club Marquee, dem Ort legendärer Stones-Konzerte in einer Aufnahme von Yves Bresson45, ist das tanzende britische Paar ganz auf die Musik konzentriert. Während die junge Frau mit geschlossenen Augen den Blickkontakt mit anderen Tänzern wie mit dem Betrachter unterbindet und signalisiert, „ganz Ohr“ zu sein, hat Ray-Jones die beiden Alten durch den Blickpunkt von der Empore herab distanziert und lässt sie von der Musik getragen erscheinen. In der Tiefe des Bildes erscheinen Pianist und Schlagzeuger auf einer Bühne, der Gitarrist einer Band steht in der Enge des Marquees leicht erhöht gleich hinter der Tänzerin. Wir wissen, dass die Musiker in dem jeweiligen Moment nicht nur ortstypische Staffage sind, dass sie vielmehr eine treibende Kraft darstellen, welche die Tänzer äußerlich und innerlich bewegt. Tony Ray-Jones thematisiert die Selbstinszenierung der ebenso klassen- wie traditionsbewussten Engländer anhand fotografischer Entdeckungen aus dem britischen Alltag. Auf der Suche nach der Wahrheit von Klischees über den englischen Nationalcharakter und gleichzeitig nach Mitteln für dessen ironische Zuspitzung, wählt Karen Knorr eine andere Bildstrategie: Sie überhöht den Alltag in geradezu emblematischen Sinnbildern. Eine offensichtlich arrangierte Gesprächsrunde sitzt im Herrenclub am Kamin – eine Fotografie aus Karen Knorrs Serie „Gentlemen“ (1981–1983).46 Über dem Kamin hängt ein Gemälde, das man auch für einen Spiegel halten könnte. Es zeigt eine fast identische, aber historische Szene und offenbart damit die reale Szene im Vordergrund als Teil einer Spiegelwelt: die rückwärts gewandte Welt einer Gesellschaftsgruppe, die sich nicht nur durch ihre Vergangenheit definiert, sondern so weit es geht auch in dieser lebt. Mit beißender Ironie, die sich in fiktiven Zitaten als Bildunterschriften Bahn bricht, entblößt Knorr die Selbstinszenierung der Bewohner des Londoner Nobelviertels Belgravia als Selbsttäuschung. In ihren Bildern entwirft sie Stereotypen, die bei aller Distanz und Überzeichnung der Realität dennoch sehr nahe kommen. Mit den Worten Karen Knorrs: „Fotografie ist eine Fiktion, die man konstruiert, um einem Standpunkt Ausdruck zu verleihen.“47 Doch auch in der vermeintlich banalen Schnappschussästhetik privater Erinnerungsbilder lassen sich unbequem-kritische Standpunkte beziehen und vertreten, wie William Eggleston 44 Vgl. S. __ in diesem Katalog. Vgl. S. __ in diesem Katalog. 46 Vgl. S. __ u. Abb. S.__ in diesem Katalog. 47 Vgl. Kent 1982 (s. Anm. 2), S. 432, aus einem Gespräch mit der Autorin. 45 mit seinen frühen Farbfotografien zeigt. Aus einer subversiven Froschperspektive („Ohne Titel (Memphis, Tricycle)”, 1969–1970) erscheint ein Dreirad wie ein Aufbäumen gegen den tristen Konformismus der amerikanischen Kleinstadt.48 Was für Karen Knorr die englischen Aristokraten und Snobs sind, ist für Eggleston die Mittelschicht der Südstaaten mit ihrem aus ungebrochenem amerikanischen Pioniergeist gespeisten Fortschrittsoptimismus. Ein wesentlicher Unterschied besteht aber darin, dass Eggleston selbst ein Kind dieses Südstaatenmilieus ist. Wie die Seiten eines kollektiven Tagebuches halten seine alltäglichen fotografischen Fundstücke seiner Heimat den Spiegel vor. Home Stories Über drei Jahre hinweg fotografiert Robert Adams das Leben in den Vorstädten nördlich von Denver/Colorado: Er begleitet Familien mit Kindern beim Einkaufen, beim Picknick im Park. Wie in Egglestons Aufnahmen birgt die vorgeführte, scheinbare Normalität aber unvermutete Abgründe, der Frieden an der Oberfläche ist trügerisch. Die Serie von 74 Fotografien erscheint unter dem Titel „Our Lives and Our Children (Near the ‚Rocky Flats Nuclear Weapons Plant’)”49 zusammen mit einer Publikation, welche die einerseits verharmlosten, andererseits verdrängten Gefahren einer in der Nähe gelegenen Atomwaffenfabrik in aller Deutlichkeit aufweist. Dem informierten Blick „enthüllen“ die Fotografien „in den Gesichtern der Kinder, der Eltern und Großeltern eine Kontinuität der Sorge und Hoffnung“ angesichts der ständigen Bedrohung ihrer Gesundheit und ihres Lebens. Als zivilisationskritische Reportage gelesen, fordert Adams‘ Bildessay den Betrachter zur Anteilnahme und die Politik dazu auf, ihre Verantwortung ernst zu nehmen. Wie auch in anderen Fotoserien formuliert Adams am Beispiel der Umgebung seines Wohnortes Denver ein verändertes Umweltbewusstsein. Er verbindet topographische und soziale Schilderungen und einen für die damalige Fotografie neuartigen, ökologischen Aufklärungsimpuls mit autobiografischen Zügen. Zählte Adams sich auch zu den so genannten New Topographics50, einer Reihe von Fotografen, die sich bewusst gegen einen allzu subjektiven Stil in der Fotografie ihrer Zeit abgrenzten, so bezieht er doch den persönlichen Standpunkt eines Beteiligten bzw. Betroffenen. Adams‘ fotografischer Ansatz der Auseinandersetzung mit seiner Heimat ist der eines teilnehmenden Beobachters und ist darin dem von Chris Killip bei seinen Fotografien auf der Isle of Man51 oder dem von Jean-Louis Schoellkopf in seiner Langzeitstudie im Arbeitermilieu der Industriestadt Saint-Étienne vergleichbar. Die Methode der teilnehmenden Beobachtung wurde bereits Mitte der 1920er Jahre an der soziologischen Fakultät der Universität von 48 Vgl. S. __ u. Abb. S.__ in diesem Katalog. Vgl. S. __ in diesem Katalog. 50 Nach dem Titel einer Ausstellung im George Eastman House Rochester 1975; vgl. hier zu Weski 2000 (s. Anm. 28), S. 34–36. 51 Vgl. S. __ in diesem Katalog. 49 Chicago eingeführt und prägte den Ansatz der dokumentierenden Fotokampagnen im Auftrag der Farm Security Administration.52 1922 hatte sie Bronislaw Malinowski in der Einleitung seines Südsee-Tagebuchs als neues Programm für eine empirische Wissenschaft entwickelt. Um auch das Alltagsleben einer „fremden Kultur" in all seinen Facetten zu erfassen, sei es für den Ethnographen gelegentlich nötig „to put aside the camera, notebook and pencil and to join … in what is going on".53 Diese Methode des partiellen Eintauchens in ein beobachtetes Milieu, die eine kritische Reflektion der eigenen Rolle miteinschließt, eignen sich Fotografen in den 1970er Jahren verstärkt wieder an, um ihre Bilder mit tiefer gehenden Einblicken in die Lebenssituation und Mentalität, in die Gedanken- und Gefühlswelt der dargestellten Menschen anzureichern. Im Gegensatz zum Südsee-Forscher Malinowski tun sie dies aber an ihren eigenen – gegenwärtigen oder früheren – Wohnorten. Wie John Thomson, der als Pionier den ethnografischen Blick in die heimische Straßenfotografie eingebracht hat, allerdings mit geschärftem kritischen Bewusstsein für die Grenzen des Mediums und für die eigene Rolle im fotografischen Prozess, führen diese Fotografen den Betrachter an ihnen vertraute und ihnen trauende Menschen heran. In einem Prozess der Annäherung, mit dem schrittweisen Aufbau persönlicher Beziehungen zu den Porträtierten, gewinnen sie in ihrer Fotografie eine Innenperspektive, die sich in einem Spektrum von nüchtern dargelegter, intimer Kenntnis (Schoellkopf) über persönliche Ergriffenheit bei gleichzeitig gewahrter Distanz (Adams) bis zu bekenntnishaften Zeugnissen privater Verstrickungen (Nan Goldin) manifestiert. Dem latenten Drama in Adams’ „Our Lives…“ steht in Larry Clarks 1971 veröffentlichtem Album „Tulsa“ eine explizit vor den Augen des Betrachters ausgelebte Tragödie gegenüber. Die zehnteilige Serie ist nach dem Geburtsort des Fotografen benannt und liefert einen schockierenden Bericht über eine Gruppe von Jugendlichen, über exzessiven Drogenkonsum und Gewaltbereitschaft, wie man sie in den Vorstadtghettos einer Großstadt, nicht aber in dem durch Ölfunde reich gewordenen Städtchen Tulsa in Oklahoma erwarten würde.54 Diese schmerzliche Chronik des Scheiterns des Amerikanischen Traums besticht durch Larry Clarks schonungslosen Blick und die unbefangene Art, wie dieser seitens der Jugendlichen in Momenten des Ausgeliefert-Seins und der Aggression, der Verzweiflung und des intimen Miteinanders offen erwidert wird. Der Tabubruch besteht in der – auch an den Betrachter gerichteten – Suggestion von Komplizenschaft mit diesen jungen Menschen, denen der Fotograf Verständnis entgegenbringt, anstatt sie als Drogenjunkies und Waffennarren moralisch abzustempeln. Das Einfühlungsvermögen, mit dem Clark ihnen begegnet, weist auf die radikal subjektive Perspektive voraus, mit der Nan Goldin das Leben ihrer Freunde und ihrer Familie in einem fotografischem Œuvre, das den vertraulichen Charakter eines visuellen Tagebuches hat, aufzeichnen wird.55 Auch Larry Clark ist involviert, 52 Vgl. Heiß 1990 (s. Anm. 35), S. 14; Kent 1982 (s. Anm. 2), S. 423. Bronislaw Malinowski: Argonauts of the Western Pacific: an account of native enterprise and adventure in the archipelagoes of Melanesian New Guinea. London 1922, S. 20 f. 54 Vgl. S. __ in diesem Katalog. 55 Vgl. S. __ in diesem Katalog. 53 wenn nicht direkt, so doch durch die Erfahrungen seiner eigenen Jugend, die er in der gleichen Stadt und in ganz ähnlichen Verhältnissen verbrachte. Über seine eigene Biografie hat er Anteil an der schwierigen Situation der Jugendlichen und wird offensichtlich als Insider akzeptiert. Die Vertrauensbasis, die sich hier als entscheidender Faktor eines annähernd „authentischen“ Porträts einer Gruppe erweist, musste sich Jean-Louis Schoellkopf für sein großes Projekt einer Dokumentation der Auswirkungen des historischen, geographischen und soziologischen Wandels der Stadt Saint-Étienne auf ihre Bewohner erst noch schaffen.56 Er zog in das ehemalige Industriezentrum der Region Rhône-Alpes, um zu untersuchen, ob sich dort mit dem Schwinden der äußeren Spuren der Industrialisierung auch das Leben der die Stadt prägenden Arbeiterklasse von Grund auf ändere. In mehreren, meist längerwierigen Einzelprojekten sucht der Fotograf den intensiven Austausch mit den Bewohnern der Stadt, er trifft sie an ihrem Arbeitsplatz und an den Stätten ihrer Freizeit. Ein Jahr lang nimmt er 1982–1983 am Vereinsleben eines im Arbeitermilieu angesiedelten Boxclubs teil, wo er sich behutsam einmischt – er boxt mit, ist Fan, vielleicht auch ein wenig Sozialarbeiter, er fotografiert und zeigt in seinen Fotografien exemplarisch, wie sich die Suchbewegung, in der sich die Stadt am „Ende ihrer Geschichte“ (Schoellkopf)57 befinde, mitunter in positive Energien umsetzen lässt. Während sich Ito Josué in seiner Dokumentation der Architektur und des Lebens in Le Corbusiers Trabantenstadt Firminy vert bei Saint-Étienne auf den Außenraum und die halb öffentlichen Gemeinschaftsräume der Wohnanlagen konzentriert,58 besucht Schoellkopf 1991 die Bewohner der streng rationalistisch durchgeplanten „Wohnmaschinen“ (Le Corbusier) in ihrem Zuhause, um zu sehen, wie man innerhalb dieses architektonischen Rasters leben kann. Wie Jean-Louis Garnells Polyptichon von der „Veranda“ einer privaten Wohnung59 gleicht auch Jean-Louis Schoellkopfs Fotoserie „Firminy, L’unité d’habitation Le Corbusier“ im Prinzip einer Versuchsanordnung. Während sich dort auf der Veranda wie im Zeitraffer das Leben einer Familie in einer Fülle von wechselnden Details aufschließt, zeigt Schoellkopf in acht verschiedenen Wohnungen den immer gleichen innenarchitektonischen Rahmen, dessen Charakter aber jedes Mal mit den jeweils in ihm dargestellten Bewohnern wechselt. Die Identifikation der Bewohner mit ihrer häuslichen Umgebung, mit dem durch sie geprägten und zugleich sie prägenden Raum, war auch Thema der 1989–1991 entstandenen Serie der „Salons“. In ihr wendet sich Schoellkopf der Bourgeoisie von SaintÉtienne zu, die mit dem Verschwinden der Industriearbeiterschicht ebenfalls ihr Profil zu verlieren scheint. Wie in Patrick Faigenbaums Familienporträts aus den verblichenen Palästen des römischen Adels60 oder Thomas Struths etwa gleichzeitigen Porträtfotografien 56 Vgl. S. __ in diesem Katalog. In die Tiefe dieser Geschichte weisen die Aufnahmen von Félix Thiollier zurück; vgl. S. __ in diesem Katalog. 58 Vgl. S. __ in diesem Katalog. 59 Vgl. S. __ in diesem Katalog. 60 Vgl. S. __ in diesem Katalog. 57 aus Edinburgh, wo der deutsche Fotograf Reservate einer bürgerlichen Konzeption des Subjekts aufspürt,61 verharren die Dargestellten im natürlichen Licht ihrer Wohnungen, inmitten ihrer Möbel und persönlichen Dinge und in selbst gewählten Posen vor dem mit langen Belichtungszeiten operierenden Fotografen. Der fotografischen „Sitzung“ sind bei den drei Fotografen lange Vorgespräche vorausgegangen, die zu einem mitunter freundschaftlichen Kontakt geführt haben. Diese Bewegung auf die Porträtierten zu, dieses Vortasten in die materielle und ideelle Welt der Dargestellten unterscheidet den Ansatz von Schoellkopf oder Struth wie auch den enthüllenden Ansatz der sozial engagierten Straßenfotografie kategorial von dem des Atelierfotografen, der die Menschen zu sich ins Studio bittet, um sie in die vorbereitete, stereotype Kulisse seiner künstlichen Welt zu assimilieren. Ebenso deutlich hebt die Einlassung der ersteren mit ihrem Gegenüber ihre Porträts von den Abziehbildern der Paparazzi ab, in deren Oberflächlichkeit sich das Subjekt als Opfer eines vielseitigen medialen Anpassungsdrucks verflüchtigt. Den Prozess der Annäherung leitet ein Interesse am Anderen, dem ein grundsätzlich verschiedenes, vielleicht etwas altmodisches Menschenbild zugrunde liegt: der Glaube an das Individuum. Die intensive Auseinandersetzung mit dem fotografischen Gegenüber, die (An)Teilnahme an dessen Leben, kulminiert in jenen „magischen Augenblicken“, in denen in der gegenseitigen Nähe die Persönlichkeit der Porträtierten präsent ist: Für einen Moment wird die Schneedecke über den Bildern von Menschen transparent und wir können in die darunter liegenden Tiefenschichten blicken. 61 Vgl. S. __ in diesem Katalog.