Essay_Emslander

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Teilnehmende Beobachter
Fritz Emslander
„Unter der Photographie eines Menschen ist seine Geschichte wie unter einer Schneedecke
vergraben.“ Siegfried Kracauer, 19271
Die frühe Porträtfotografie gab den Menschen in seiner Oberflächenerscheinung wieder. Sie
tastete sein Gesicht ab wie eine Fassade, und sie tat dies in der Überzeugung, dass das
Äußere einen direkten Reflex des Inneren bilde. Das Gesicht galt Physiognomen als „Spiegel
der Seele“, Phrenologen vermaßen es als eine Art Landkarte des Geistes. Die unbefangene
Offenheit der Selbstdarstellung in den Studioporträts des 19. Jahrhunderts zeugt
gleichermaßen vom unerschütterlichen Selbstwertgefühl des damaligen Bürgertums wie von
dessen unerschüttertem Vertrauen in die Glaubwürdigkeit des Mediums Fotografie.2
Der magische Vorbehalt gegenüber dem Bildnis, die irrationale Furcht einer materiellen und
spirituellen Vereinnahmung durch den fotografischen Prozess, Nadars Befürchtung etwa,
dass jede fotografische Aufnahme, wenn sie an der Oberfläche des Körpers kratze, eines
der Häutchen ablöse, aus denen sich seine Physis schichte, wurde schon früh verdrängt und
in der Praxis des Ateliers sublimiert. Dem fortwährenden unterschwelligen Misstrauen
gegenüber dem kontrollierenden Blick des fotografischen Apparats begegnete das Atelier mit
einem „komplexen System von Verstellungen“.3 Mit der Kommerzialisierung der Fotografie
und der Entstehung einer regelrechten Porträtindustrie wurde das Atelier zur Bühne
fotografischer Inszenierungen. Auf dieser Bühne nahm der Fotografierte in seinem Habitus
die theatralischen Arrangements des Fotografen vorweg: Im Ritual der Pose fügte er sich in
einen Fundus von Requisiten ein,4 wobei die eingeübten Posen weniger im Sinne einer
aktiven Transformation des Subjekts denn als Schutzschild fungierten, hinter der sich die
Persönlichkeit verbarg.
Angesichts der verbreiteten Porträtproduktion der Ateliers erhält die Rede von der
„Oberflächlichkeit“ der Fotografie ganz neue Qualitäten. Der im Studio hervorgebrachte, mit
Bedeutung belegte und durch das Medium als „wahr“ bescheinigte Ausdruck einer Person
war nicht mehr und nicht weniger als eine „authentische Verstellung“, eine im Foto
aktualisierte, gesellschaftliche Rolle, hinter der die Charakteristik verschwand. Die
1
Siegfried Kracauer: Die Photographie [1927]. In: Ders.: Das Ornament der Masse. Frankfurt a. M.
1977, S. 26.
2 Vgl. Klaus Honnef (Hg.): Lichtbildnisse. Das Porträt in der Fotografie. Kat. Rheinisches
Landesmuseum Bonn. Köln 1982; dort bes. Sarah Kent: Porträtfotografie: Enthüllung oder
Verwandlung?, S. 418–437.
3 Vgl. Bernd Busch: Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie. München/Wien
1989, S. 307 ff., zit. 311.
4 Vgl. die materialreiche Einführung von Fritz Kempe: Atelier und Apparat des Photographen.
Einführung in die Photo-Studios des 19. Jahrhunderts. In: Honnef 1982 (s. Anm. 2), S. 26–40.
Atelierfotografie produzierte Identität in einer Art Laborsituation, als Resultat der komplexen
„fotografische[n] Synchronisation von gesellschaftlichen Idealbildern, tradierten
Konventionen, individueller Physiognomie, technischem Verfahren und künstlerischer
Ambition.“5 Sigmund Freuds grundsätzlicher Zweifel daran, dass mithilfe der Porträtfotografie
überhaupt tiefere Wahrheiten zu vermitteln seien, dürfte durch diese Form des
„Persönlichkeitstheaters“ (Bernd Busch) noch bekräftigt worden sein.6 Franz Kafka, Meister
der literarischen Seelenschau, moniert entsprechend die mangelnde psychologische Tiefe
des fotografischen Bildes: „Die Photographie fesselt den Blick an die Oberfläche. Damit
vernebelt sie gewöhnlich das verborgene Wesen, das nur wie ein Licht- und Schattenhauch
durch die Züge der Dinge hindurchschimmert. Dem kann man mit den schärfsten Linsen
allein nicht beikommen.“7 Vielleicht ließe sich mit Hilfe der Fotomechanik, mit schärferen
Linsen aber doch noch einiges machen?
Schärfe und Tiefe
Die Statik von Kulisse und Pose, das künstliche Stillhalten im Atelier, nimmt die Erstarrung
des Fotografierten im Bild, jenen fotografischen Zustand des Eingefroren-Seins, des TodSeins, vorweg.8 Unabhängig von ihren oben angedeuteten sozialen Funktionen war das
Verharren in einer Pose aber auch aus rein technischen Gründen zunächst unumgänglich.
Das Studio gewährleistete die nötige Konzentration sowie optimale Lichtbedingungen, um
Fotografierte und Hintergrund ruhig zu stellen. Bald setzten zwar die Bemühungen ein, aus
dem artifiziellen Stillstand des Ateliers auszubrechen, um das alltägliche Leben einzufangen.
Doch die frühe Fotografie mit ihren langen Belichtungszeiten erwies sich meist als zu
schwerfällig für „Momentaufnahmen“ auf den Straßen. William Henry Fox Talbot beschreibt
seine Enttäuschung: „Wenn wir aber in die Stadt gehen und versuchen, ein Bild der sich
bewegenden Menschenmenge zu machen, erleben wir einen Misserfolg, denn im Bruchteil
einer Sekunde verändern sie ihre Position ….“9 Bereits in den 1840er Jahren konnten erste
„Sekundenbilder“ aufgenommen werden. Dies war allerdings nur im schmalen Focusbereich
einer lichtstarken Porträtoptik möglich, welche aber in der Tiefe des umliegenden Raumes
keine zufrieden stellende Scharfzeichnung lieferte. Wollte der Fotograf die Bewegung nicht
mit den Mitteln einer in das Leben eingreifenden Inszenierung suspendieren, so blieb ihm
vorerst nur die Beschränkung auf relativ enge Bildausschnitte. Diese bedingten wiederum die
weitgehende Ausblendung des Umfeldes und teils auch die Fragmentierung des Körpers.
5
Busch 1989 (s. Anm. 3), S. 314.
Zu Ansätzen eines „psychoanalytischen Blicks“ in der Fotografie nach Freud vgl. Kent 1982 (s. Anm.
2).
7 Aus: Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka. Erinnerungen und Aufzeichnungen. Frankfurt a. M.
1951; zit. nach Susan Sontag: Über Fotografie. München 1978, S. 185.
8 Vgl. Craig Owens: Posieren [1992]. In: Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende
des fotografischen Zeitalters. Frankfurt a. M. 2003, S. 92–114.
9 William Henry Fox Talbot: The Pencil of Nature. London 1844–1846, Kommentar zu Taf. 14; zit.
nach Monika Faber: Die Momentfotografie erobert die Stadt 1840–1980. In: Dies., Klaus Albrecht
Schröder (Hg.): Das Auge und der Apparat: Die Fotosammlung der Albertina. Kat. Albertina, Wien
2003, S. 242–248, hier 242.
6
Die Forderung nach gleichmäßig scharfen Details in allen Raumschichten erfüllen erst im
späten 19. Jahrhundert eingeführte Objektive und Spezialkameras. Sie erlauben es, den
Raum der Straße in seiner Tiefe und Weite – als Ort des Flanierens und des Arbeitens, zu
Hause und in der Fremde – zu durchmessen. Die Apparate werden immer kleiner und
fördern die Praxis des auf Reisen oder in der Großstadt auf Pirsch gehenden
Schnappschuss-Fotografen, „dessen Kamera so leicht und rasch zu handhaben ist wie ein
Schmetterlingsnetz“.10 Der Fotograf wird zum Jäger. Die vormals gängige Zusammenarbeit
mit dem Porträtierten in langwierigen Sitzungen weicht zunehmend einer Strategie des „hitand-run“, was die Fotografie in ein moralisches Dilemma bringt: Ohne ihre Einwilligung, teils
ohne ihr Wissen werden Menschen ihrer Bilder beraubt. Die gegen diesen Tabubruch
abzuwiegende Beute ist die relative Unbefangenheit der Dargestellten und eine
überraschende, dem fotografischen Medium eigene Ästhetik, welche die herrschenden, an
der Malerei orientierten Bildkonventionen der Porträtfotografie sprengt.
Als Helen Levitt in den späten 1930er Jahren den Alltag in den Armenvierteln New Yorks als
ihr Thema entdeckt, behilft sie sich eines kleinen Tricks: Sie nähert sich den Menschen mit
Respekt und verwendet gleichzeitig einen Winkelsucher, um die Konfrontation mit dem
fotografischen Apparat, den Affront der plötzlich ausgelösten Aufnahme zu umgehen.11 Meist
scheint die Fotografin unbemerkt geblieben zu sein, nur flüchtig streift hin und wieder ein
Blick ihre Kamera. Das Leben erscheint für einen Moment angehalten: Eine schwarze Frau
geht rauchend über die Straße. Wir sehen ihre Füße nicht, doch dafür gerät das
architektonische Umfeld vermehrt in den Blick. Ein Junge wird mit seinem Rad wenige
Momente später das Feld des Kamerasuchers verlassen, das eine Frau mit Kind im
Hintergrund gerade erst betreten hat.
Die Fotografie ist tiefenscharf im technischen Verständnis des Begriffes: Die Schärfe ist
weitestgehend in die Tiefe des aufgenommenen Raumes ausgedehnt. Zugleich aber ist die
Tiefe des Raumes, in die der fotografische Blick ausgreift, auf die Frau als das zentrale Motiv
der Aufnahme ausgerichtet. Aus der unendlichen Ausdehnung des Raumes ist durch den
Ausschnitt eine begrenzte Strecke – augenfällig durch die Achse der Straße – als Umgebung
des zentralen Bildmotivs definiert. Was man als Helen Levitts untrügliches Gespür für die
„Magie des Augenblicks“ bezeichnete, manifestiert sich in einer Reihe von „gestaltende[n]
Adaptionen an die äußeren Bedingungen der Aufnahme“12: Die Wahl des Blickwinkels und
des Ausschnitts, Scharfstellung, Festlegung der Blende und Verschlusszeit ordnen die Fülle
des Sichtbaren. In der gewählten Konstruktion des tiefenscharfen Bildraumes rücken Nähe
und Ferne durch das im Bild Sichtbare zusammen. Angesichts der Vielzahl der in die Tiefe
gestaffelten, scharf verzeichneten Details kann die Wahrnehmung des Betrachters diese
visuellen Daten allerdings nur schrittweise entziffern. Sie muss sich – den Hinweisen des
10
Ben Maddow: Antlitz. Das Bild des Menschen in der Fotografie von den ersten Porträtfotos bis zur
Gegenwart. Köln 1979, S. 477.
11 Vgl. S. __ in diesem Katalog.
12 Busch 1989 (s. Anm. 3), S. 339.
Fotografen folgend – ihren Pfad durch den Bildraum suchen.13 Auf diesem Weg der Lektüre
entspinnt sich aus den Verknüpfungen von Menschen und Dingen in der Tiefe und Weite des
Raumes, aus ihrem räumlichen Dasein im Verhältnis zueinander und zu ihrer Umgebung,
ihrem Lebensumfeld, jene Erzählung der Fotografie, die mit dem Titel gebenden Begriff der
„Tiefenschärfe“ angedeutet werden soll: Eine Erzählung von Menschen auf den Straßen und
Plätzen ihrer Stadt, auf dem Weg zur oder bei der Arbeit, vor ihren Häusern und in ihren
Wohnungen. In dieser Erzählung „überlagern sich die Spur des Realen, die ‚Worte des
Lichts‘ (W.H.F. Talbot), und die Arbeit des Imaginären, die ‚Aufschlüsse‘ (O.W. Holmes) der
Lektüre“.14
Einblicke – die penetrante Kamera
Die Wege der Lektüre sind durch die der Annäherung des Fotografen an die dargestellten
Personen vorgezeichnet. Wie der Fotograf die Wirklichkeit dieser Menschen vermittelt, wie er
dem Betrachter ihre Lebensräume als mehr oder weniger bedeutende erschließt, hängt nicht
nur von seinem „Stilwillen“, sondern entscheidend auch von seinem Verhältnis zu diesen
Menschen und der daraus folgenden, beiderseits mehr oder weniger zugelassenen Dynamik
des fotografischen Prozesses ab. Je nachdem, ob die Aufnahmen Resultate eines abrupten,
flüchtigen Eindringens oder eines behutsamen, längerwierigen Eintauchens und
Austausches, vielleicht auch der (teilweisen) Assimilierung in den physischen und sozialen
Raum des Anderen darstellen, unterscheiden sich die durch sie gewährten Einblicke in
Ästhetik und Aussagegehalt.
Besonders deutlich werden diese Unterschiede angesichts des Gebrauchs der Fotografie im
Kontext früher Orientreisen nach 1850. Der Italiener Carlo Naya und sein Assistent Otto
Schoefft reisten nach Ägypten, um für ihren Fotoband „Le Caire pittoresque” (1876) die
Einwohner im Ambiente der Stadt aufzunehmen. Ein reich verziertes, mehrfach geteiltes
Gitterfenster in „typisch orientalischem“ Stil bildet den exotischen Rahmen einer
vermeintlichen Alltagsszene. Die Tatsache aber, dass dieses Fenster nicht nur der hier
gezeigten Gruppe von Musikern und Tänzerinnen, sondern auch der Aufnahme eines
öffentlichen Schreibers als Hintergrund diente,15 lässt das Studioprinzip erkennen. Der
Fotograf, der mit Sammlungen von Exotika in seinem Atelier zu Hause die „große Welt“ zu
Gast hat, erweist sich nun als Arrangeur dieser Welt, die er nach den Kriterien des
Pittoresken ordnet und nach willkommenen Requisiten absucht. Kommerzielle Aufnahmen
wie diese, die den Bedarf nach vermeintlich unverfälschten Bilddokumenten, nach
authentischen Reisezeugnissen deckten, dienten vielmehr dazu, die Illusion des „Orients“ –
als Denkfigur des Westens – aufrecht zu erhalten.16 Nayas Gruppenbildnisse vor
In den Worten von Bernd Busch: „Sie muß die synchrone Gestalt der fotografischen Schärfe in den
diachronen Prozess der Wahrnehmung transformieren.“ Ebd., S. 344.
14 Ebd., S. 274.
15 Vgl. S. __ und Abb. S. __ in diesem Katalog.
16 Vgl. hierzu: Bodo von Dewitz: An den Süßen Ufern Asiens. Ägypten, Palästina, Osmanisches Reich.
Reiseziele des 19. Jahrhunderts in frühen Photographien. Kat. Römisch-Germanisches Museum, Köln
13
authentischer Kulisse belegen beispielhaft jene „unrealistische“, selektive Sichtweise, die
Christoph Hennig als charakteristisch für den Tourismus ausmachte: Dem Touristen ginge es
nur sehr begrenzt um eine Erkenntnis der Fremde, er suche vielmehr „die sinnliche
Erfahrung imaginärer Welten, die Realität der Fiktion.“17
Was es im Orient zu beweisen gab: „… seit den biblischen Zeiten ist alles stabil geblieben:
Sitten, Wohnungen, Kleider und Gebräuche. Alles ist Urzustand“ (Franz Wallner 1872). 18
Otto Schoefft und Carlo Naya bestätigen diese Außenperspektive des Touristen, ihr Blick
ruht auf Oberflächen, die für sie undurchdringlich bleiben – wie der Schleier der Frauen und
das dichte Stabwerk der Fenster. Bitten die beiden noch die Tänzerinnen zu sich nach
draußen, in den öffentlichen Raum der Straße, die für sie als Atelier unter freiem Himmel
fungiert, scheint Cecil Beaton ein halbes Jahrhundert später hingegen als Eingeweihter zu
arbeiten. Er hat die Schwelle überschritten, ist in das Interieur eines orientalischen Hauses
vorgedrungen. An einer Türe im Inneren hat sich eine Frau mit verschränkten Armen wie
eine Wächterfigur postiert. Unser voyeuristischer Blick aber dringt zusammen mit dem
Kamera-Auge bereits in jenes Innerste ein, in das ein Mann – er erscheint als Reflexion im
Spiegel rechts – noch eingelassen werden möchte. Die Szenerie mit ihren komplexen,
metaphorisch aufgeladenen Raumbezügen spielt bewusst mit den Stereotypen einer langen
malerischen Tradition des Orientalismus in der Nachfolge von Jean-Auguste-Dominique
Ingres, mit Assoziationen von Harem und Bordell. Der Titel bestätigt diese Assoziation mit
dem Hinweis auf den algerischen Stamm der „Ouled Nails“: Der laszive Tanz dieser Frauen
war berüchtigt. Dass man die „Ouled Nails“ aber in direkter Tradition der phönizischen
Tempelprostituierten sah, machte sie auf der imaginären Landkarte des Westens zu einer Art
Pendant des immer noch „biblischen“ Volkes am Nil.19
Die Überführung des Fremden ins Eigene in Form von fotografischen Trophäen wird von
Beaton allerdings im doppelten Sinne reflektiert und komplex gebrochen. Der Raum entfaltet
sich als bedeutungsträchtiges Arrangement in einer Fülle von Blickbeziehungen und unter
Einbeziehung des gespiegelten Raumausschnittes außerhalb des Sucherfeldes. So bezieht
Beatons planvolle Rauminszenierung ihre Spannung aus der Konfrontation mit dem im Bild
als alter ego des Betrachters figurierenden Freier. Neben Referenzen auf den Formenkanon
der Malerei ist es vor allem diese symbolisierende Organisation des Raumes, welche
Beatons Aufnahme von 1933 als dezidiert „künstlerisch“ im Gegensatz zu einem stärker
„realistisch-dokumentierenden“ Ansatz in der Fotografie charakterisiert, wie ihn etwa Helen
Levitt vertritt.
1988, S. 9–27; vgl. hierzu auch den Text zu den im vorderen Orient florierenden Geschäften des
Fotoateliers „Maison Bonfils“, S. __ in diesem Katalog.
17 Christoph Hennig: Reiselust. Touristen, Tourismus und Urlaubskultur. Frankfurt a. M. [1997] 1999,
S. 55.
18 Franz Wallner: Von fernen Ufern. Reiseskizzen aus Constantinopel, Ägypten und Sizilien. Berlin
1872, S. 51; zit. nach Dewitz 1988 (s. Anm. 16), S. 16.
19 Vgl. S. __ in diesem Katalog.
Die Jahre des Exils in Folge der nationalsozialistischen Machtergreifung in Europa führten
viele Fotografen zu einer intensivierten Auseinandersetzung mit den Menschen der Länder,
in denen sie vorübergehend Aufnahme fanden. Raoul Hausmann, 1933 bis 1936 auf Ibiza,
reflektiert in dokumentarischen Fotografien räumliche und soziale Strukturen als Indikatoren
auf das „Wesen“ der auf der Insel in einer patriarchalischen Agrargesellschaft lebenden
Menschen.20 Der Ungar Nicolás Muller flieht 1939 nach Tanger, wo er bis zu seiner
Übersiedlung nach Spanien im Jahr 1948 lebt und sich der marokkanischen Kultur mitunter
in sensibel beobachteten Straßenszenen annähert.21 In den Aufnahmen beider Fotografen ist
eine relative Nähe zu den dargestellten Menschen ersichtlich, eine Vertrautheit, die sich
qualitativ von den eher oberflächlichen Kontakten des Reisenden unterscheidet. Gleichzeitig
bleibt eine Distanz, eine Befremdung erhalten, die sich im Staunen äußert: in der
tendenziellen Verklärung der Exilwelten, der ländlichen Idylle der in festliche Trachten
gekleideten Frauen auf Ibiza wie der Exotik der verschleierten marokkanischen Mädchen am
Brunnen. Die Kehrseite dieser impliziten Verklärung ist das Bewusstsein der kulturellen
Differenz. Die Perspektive dieser Fotografien ist die des Gastes, dem es gelingt, aus einer
angedeuteten Innenperspektive das Andere ex negativo, d. h. im Unterschied zum Eigenen,
zu charakterisieren.
The other side of town … – frühe Straßenfotografie
Raoul Hausmanns Rede vom gerichteten Blick auf ein Gesicht oder eine Landschaft, mit
dem es gegenüber einem bloß „flüchtigen Hinschauen“ gelingen könne, „das wirkliche
Wesen zu ersehen“22, scheint immer noch von jener Zuversicht der frühen Reise- und
Dokumentarfotografie in die unterstellte Objektivität des neuen Mediums geprägt. Ein Pionier
des damit verbundenen Konzeptes eines anthropologischen Blicks in der Fotografie ist John
Thomson. Sieben Jahre lang reist der Schotte für die Londoner Royal Geographical Society
durch Asien, um schließlich 1873 seine mit eigenen Texten erläuterten fotografischen
„Illustrations of China and Its People“ zu publizieren. Bald nach seiner Rückkehr nach
England unternimmt er zusammen mit dem Journalisten Adolphe Smith das Projekt einer
soziologischen Studie, für die er seinen in China geschärften ethnologischen Blick nun auf
die Leute in den Armenvierteln von London richten will.23
„Mit Notizblock und Kamera“ ausgerüstet, suchen die beiden die Gassen und Hinterhöfe des
East Ends auf, um einfache Arbeiter, Plakataufkleber oder Straßenhändler, aber auch Bettler
und Obdachlose in ihrem „Kampf ums Dasein“ vorzustellen.24 Auch wenn sich die Publikation
„Street Life in London“ (1876–1877) in Anlehnung an frühere stadtethnografische Studien auf
20
Vgl. S.__ in diesem Katalog.
Vgl. S.__ in diesem Katalog.
22 Hausmann 1933, zit. nach Andreas Haus: Raoul Hausmann. Kamerafotografien 1927–1957.
München 1979, S. 45.
23 Vgl. S.__ in diesem Katalog.
24 Zit. nach Maddow 1979 (s. Anm. 10), S. 236.
21
die Schilderung allgemeiner Typen konzentriert (und sich damit teils noch in der Tradition
des Genrebilds bewegt, das die Dargestellten als Typen außerindividuell konnotiert25): Mit
derlei Vorläufern der sozial engagierten Dokumentarfotografie der 1920er und 1930er Jahre
drängen bereits jene „Anderen“ innerhalb der eigenen Gesellschaft, die Vertreter der
nichtbürgerlichen Sozietäten, in die ehemals rein bürgerliche Bastion der Porträtdarstellung
ein.
Mit der Entdeckung des Abseitigen und Ausgegrenzten, des Beiläufigen und Zufälligen, des
abstoßend-anziehenden Hässlichen und des anrührenden Unbedeutenden wird der Fotograf
zunehmend zum Touristen in seiner eigenen und fremder Leute Realität.26 Dem Vorwurf, aus
einer derart verstandenen Perspektive nur auf das Kuriose und Exotische abzuheben und
das Elend damit zu ästhetisieren, greift Thomson mit dem Hinweis auf die „Präzision der
Photographie“ vor: „Die unzweifelhafte Genauigkeit dieser Zeugnisse macht es uns möglich,
wahre Charaktere der armen Leute von London vorzustellen, und schützt uns vor dem
Vorwurf, wir hätten die individuellen Eigentümlichkeiten der äußeren Erscheinung
unterschätzt oder übertrieben.“27 In diesem Verständnis der Fotografie als Zeitdokument, das
klar, präzise und lesbar sein sollte, und zugleich in dem Bewusstsein, dass die Fotografie,
indem sie die dargestellten Menschen aus ihrem Raum und ihrer Zeit herauslöst, immer
kommentarbedürftig ist, legt Walker Evans über ein halbes Jahrhundert später seine
„American Photographs“ (1938) vor, das „erste Künstlerbuch in der Geschichte der
Fotografie“.28 Für dieses kritische Porträt der damaligen amerikanischen Gesellschaft wählt
Evans die Form eines Bildessays, über dessen Gestaltung er als auteur und éditeur volle
Kontrolle hat. Um den jeweiligen Bildgegenstand dem analytischen Blick des Betrachters
freizulegen, verzichtet Evans mit dem von ihm so benannten „dokumentierenden Stil“
bewusst auf eine vordergründig erkennbare künstlerische Handschrift.
Und doch geht es Walker Evans, wie die ab 1938 heimlich in der U-Bahn von New York
aufgenommenen „Subway Portraits“ zeigen,29 nicht um eine Doppelung der Wirklichkeit im
Abbild der Fotografie. Der ent-deckende Zugriff der spontanen Schnappschüsse auf den
großstädtischen Alltag sollte Unerwartetes offen legen. In der plötzlichen Exposition des
Alltäglichen wird die Wirklichkeit zum Tatort. Die 1938 gerade aus Frankreich in die USA
emigrierte Lisette Model sprach in diesem Zusammenhang vom „gewählten Augenblick“, der
die Wahrheit ins Bild setze: „Der Fotograf arbeitet schnell. Im Zeitraum einer Sekunde muss
25
Vgl. Honnef 1982 (s. Anm. 2), S. 571 f.
Susan Sontag nannte ihn einen Nachkommen des Flaneurs, „eine bewaffnete Spielart des
einsamen Wanderers“; vgl. Busch 1989 (s. Anm. 3), S. 325.
27 Aus dem Vorwort zu „Street Life in London“, zit. nach Beaumont Newhall: Geschichte der
Photographie [History of Photography, 5. Ausg. New York 1982] München 1998, S. 101.
28 Thomas Weski: Gegen Kratzen und Kritzeln auf der Platte. In: How you look at it. Fotografien des
20. Jahrhunderts. Kat. Sprengel Museum, Hannover, Städelsches Kunstinstitut u. Städtische Galerie,
Frankfurt a. M. 2000, S. 18–37, zit. S. 27; Vgl. auch Heinz-Norbert Jocks: Der Gebrauch der
Fotografie. Ein Versuch über die Fotografie. In: Kunstforum International, Bd. 171 (Juli-August 2004),
S. 37–79, hier S. 50–54.
29 Vgl. S. __ in diesem Katalog.
26
er sehen, auswählen und agieren. Der kleinformatige Apparat … ist ein Mittel, die Wahrheit,
die uns umgibt, aufzuspüren und zu enthüllen.“30 Model, eine Vorläuferin der amerikanischen
street photography der 1950er Jahre, gewinnt in ihrer Serie „Running Legs“ der hektischen
Betriebsamkeit des New Yorker Straßenlebens ungewöhnliche Perspektiven ab, welche die
Alltagswahrnehmung relativieren.31 Mit dem gleichen Impetus, wenn auch mit kühlerer
Handschrift und weniger spektakulären Kompositionen, lässt Evans „das Ungesagte,
Besondere auf der Folie des Bekannten“ erscheinen.32 Die ungestellte Momentfotografie,
jenes „Dynamit der Zehntelsekunden“ (Walter Benjamin)33 treibt aus dem Vertrautesten die
Züge des Fremdesten hervor. So werden Evans’ Alltagsaufnahmen seiner in sich gekehrten
Mitreisenden unwillkürlich zu psychologischen Porträts, in ihrer Vereinzelung offenbart sich
schlaglichtartig die großstädtische condition humaine.
Metropolen – Existenzen
Das in einigen Großprojekten der sozialdokumentarischen Fotografie in den Vereinigten
Staaten verfolgte Ziel, die soziale Realität Amerikas – auch in ihren Schattenseiten – an
Einzelfällen anschaulich zu machen, förderte eine fotografische Haltung, die Walker Evans
als „documentary in style“ bezeichnete. Seine Kollegin Dorothea Lange, die wie er seit 1935
im Auftrag der Regierung arbeitete, spitzt diesen Ansatz programmatisch auf „drei
Erwägungen“ zu: „Erstens – Hände weg! Was ich photographiere, das belästige ich nicht, ich
pfusche nicht hinein und arrangiere nichts. Zweitens – Raumsinn. Was ich photographiere,
versuche ich stets als Teil seiner Umgebung darzustellen, als etwas, das Wurzeln hat.
Drittens – Zeitsinn. Bei allem was ich photographiere, versuche ich auch zu zeigen, dass es
eine bestimmte Stellung in der Vergangenheit oder der Gegenwart einnimmt.“34 In diversen
Fotokampagnen für die so genannte Farm Security Administration35 folgen Lange und Evans
diesem Programm.36 Sie klammern sich als Fotografen weitestgehend aus, zeigen in ihren
Aufnahmen das Alltagsleben der ländlichen Bevölkerung in unterschiedlichen
amerikanischen Bundesstaaten. Pachtbauern und Landarbeiter erscheinen als „Teile“ ihrer
„Umgebung“ und als Zeugen ihrer Zeit – ausgesetzt den verheerenden Folgen der
wirtschaftlichen Depression der 1930er Jahre. Wie diese Bilder die schicksalhafte
„Verwurzelung“ der amerikanischen Farmer und Kleinstädter mit dem Land, das sie
bewohnen und bearbeiten, darlegen, so zeigt der Engländer Nigel Henderson ab 1945 die
30
Zit. nach: Lisette Model: Fotografien 1934–1960. Kat. Kunsthalle Wien 2000, S. 46; vgl. Faber 1982
(s. Anm. 9), S. 246 f.
31 Vgl. S.__ in diesem Katalog.
32 Weski 2000 (s. Anm. 28), S. 30.
33 Zit. nach Busch 1989 (s. Anm. 3), S. 360.
34 Daniel Dixon: Dorothea Lange. Modern Photography, Bd. 16 (Dez. 1952), S. 68–77, 138–141; zit.
nach Newhall 1998 (s. Anm. 27), S. 247.
35 Zu den Projekten der so genannten Farm Security Administration: Christine Heiß: Amerika in der
Depressionszeit. In: Walker Evans – Amerika. Kat. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München
1990, S. 13–22.
36 In Folge der Instrumentalisierung der sozialdokumentarischen Fotografie dieser Zeit für politische
Zwecke wurde die Integrität dieses Ansatzes allerdings teils auch demontiert; vgl. hierzu: Honnef 1982
(s. Anm. 2), S. 484; Maddow 1979 (s. Anm. 10), S. 316, 320, 323.
starke Identifikation einfacher, teils verarmter Arbeiter im Londoner East End mit ihrem
Viertel.37 Auch Hendersons Aufnahmen im Rahmen der 1937 gegründeten Initiative „Mass
Observation“ entstehen vor der Folie einer prekären sozialen und wirtschaftlichen Lage, in
der scheinbar nur die Krönungsfeierlichkeiten für Königin Elizabeth II. 1953 den
monarchietreuen Engländern etwas Aufhellung bringen. Doch spricht aus dem Umgang der
gezeigten Leute miteinander eine gewisse Verbindlichkeit, die dem East End den
bescheidenen Charme einer Kleinstadt mitten in der britischen Metropole verleiht.
Gegenüber diesen sozial engagierten Schilderungen des menschlichen Umfeldes der
Dargestellten – den zahlreichen Hinweisen auf die Verhältnisse der Menschen
untereinander, sei es innerhalb der Familien, innerhalb und zwischen den Generationen,
oder unter Nachbarn – steht, wie wir bereits gesehen haben, eine großstädtische Fotografie,
die den Einzelnen in der Masse der Stadt untergehen lässt (Lisette Models „Runnings Legs“)
oder aber ihn isoliert. Walker Evans beschränkt im Falle seiner „Subway Portraits“ die
Umgebung auf knappe Angaben des kargen Interieurs der Waggons. Er schneidet die
Porträtierten regelrecht aus ihrem Alltag heraus, um die Anonymität dieses Transitraumes zu
unterstreichen. Eine Reihe in Paris in den 1920er bis 1950er Jahren tätiger und in der
Ausstellung vertretener Fotografen wählte zur Darstellung großstädtischer Vereinzelung
mitunter eine konträre Bildstrategie: Das Umfeld im Bild figurierender Einzelpersonen
transportiert dort eine Fülle von Details, es wird zum eigentlichen Informationsträger,
wohingegen die Menschen selbst uns den Rücken zukehren oder – bedingt durch Belichtung
und Blickpunkt – als verschattete Gestalten erscheinen, als bloße Silhouetten ihrer selbst.
Im Gegenlicht entzieht Heinrich Hauser das Antlitz einer Französin, die auf regennasser
Straße eine Litfaßsäule passiert, dem forschenden Blick, der sich stattdessen den
angeklebten Plakaten und der umliegenden Architektur zuwendet.38 Eine Frau mit Kind
entfernt sich auf einem leeren Platz, und wir sehen den beiden durch das Fenster eines
Billard-Cafés nach. Auch hier regnet es – ein von Willy Ronis festgehaltener Eindruck von
der Flüchtigkeit des Stadtlebens („Rue Henri Chevreau, Ménilmontant“, 1947).39 Während
William Klein in seiner gleichmäßig ausgeleuchteten Aufnahme Passanten in Tokyo zeigt
und die Filmplakate hinter ihnen als zusätzliche Ebene der Charakterisierung einführt („Les
liaisons dangereuses, Tokyo“, 1961)40, verlegt Otto Steinert den Schwerpunkt konsequent
auf eine Plakatwand im Hintergrund, die zum eigentlichen Protagonisten seiner Aufnahme
wird. Die vordergründige männliche Figur ist auf eine verhuschte Gestalt reduziert, die ihren
Kopf von uns ab- und den Plakaten zuwendet: Von dort geht der Titel gebende „Appell“
aus.41
37
Vgl. S. __ in diesem Katalog.
Die Fotografie wurde bislang auch Else Thalemann zugeschrieben; vgl. S. __ in diesem Katalog.
39 Vgl. S. __ in diesem Katalog.
40 Vgl. S. __ in diesem Katalog.
41 Vgl. S. __ in diesem Katalog.
38
In diesen Pariser Stadtimpressionen werden die Menschen zuerst und fast ausschließlich
durch ihr Umfeld charakterisiert, sie werden indirekt durch ihre Situation, ihre räumliche
Existenz in der Stadt beschrieben. Anstatt ihnen zu begegnen, mit ihrer Physiognomie
konfrontiert zu werden, sieht der Betrachter durch sie hindurch und nimmt vielleicht auch
ihren Blick auf die Straßen und Plätze der Stadt an: auf eine Metropole der Widersprüche,
zwischen bürgerlicher Repräsentationsarchitektur und tristen Nutzbauten, dem nostalgisch
wirkenden Café im Arbeiterviertel und den offenen Kriegswunden der Abrisshäuser. Die
Aufnahmen sind atmosphärische Verdichtungen, die in der Zeit kurz nach dem Zweiten
Weltkrieg und im Klima des französischen Existenzialismus Züge einer Spurensuche nach
der wieder zu findenden Identität einer Stadt und ihrer Bewohner annehmen. Ronis und
Steinert wählen hierfür auffällige Perspektiven, starke Untersichten, suggestive Durchblicke.
Die Suche nach ungewöhnlichen, persönlichen Beobachtungs- und Erzählweisen unter
Ausweitung des formalen und technischen Repertoires entfernt ihre Fotografien vom
nüchtern-kühlen Stil einer dokumentierenden Fotografie à la Evans – Otto Steinert
propagierte diesen neuen Ansatz im Deutschland der Nachkriegszeit unter dem Stichwort
der „subjektiven Fotografie“. Der „Raumsinn“ (Dorothea Lange), der sich in diesen
Aufnahmen ausdrückt, zielt auf mehr als auf eine objektivierende Berücksichtigung
zusätzlicher Details aus der Umgebung der Porträtierten. Vielmehr geht es um eine
künstlerisch angeleitete Sensibilisierung für subtile Inszenierungen des Raumes und der
Beziehungen der Personen in ihm und zu ihm, Konstellationen, die der Fotograf im
„gewählten Augenblick“ (Lisette Model) findet, ohne zu arrangieren. Brassaï, Pate dieser
subjektivierten Perspektive in Frankreich, beteuerte 1961 im Rückblick, er habe eine Zeit
lang „verzweifelt versucht, dem, was ich gesehen habe, nichts hinzuzufügen, nichts von mir
selbst in die Bilder hineinzubringen“. Doch der Versuch, sich der Tradition des kunstvollen
Arrangements, der Inszenierung der Natur zu entziehen, scheitert: „… je mehr Mühe ich mir
gab, umso spontaner war die Reaktion des Publikums: ‚Das ist ja ein Photo von Brassai‘.“42
Through a looking glass … – Spiegelwelten
In den späten 1960er Jahren versteht es der Engländer Tony Ray-Jones, die
Freizeitaktivitäten seiner Landsleute, jenen „English Way of Life“, in Momentaufnahmen so
treffend festzuhalten, dass seine Bilder wie arrangierte tableaux vivants wirken.
„Photography can be a mirror and reflect life as it is”, so Ray-Jones, „but I also think that
perhaps it is possible to walk like Alice, through a looking glass, and find another kind of
world within the camera”.43 Diese andere Seite, die Absurditäten des Alltags, das Schrullige
und Skurrile im Vertrauten legen Ray-Jones’ Fotografien offen. Wie in einer verkehrten Welt
picknickt da die exzentrische Upperclass mitten auf der Kuhweide, während die Arbeiter ihre
42
Zit nach Jean-Claude Chamboredon: Mechanische, unkultivierte Kunst. In: Pierre Bourdieu u. a.:
Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Frankfurt a. M. 1983, S. 185–
202, hier S. 186.
43
Zit. nach Richard Ehrlich: Tony Ray-Jones. Manchester 1990, o. S. (Umschlag).
Decke vor den künstlichen Kulissen eines Freizeitparks ausgebreitet haben.44 Ray-Jones
bettet die Handlungen meist in klassentypische Kontexte ein, mit denen die Dargestellten
sich offensichtlich identifizieren, in denen sie sich selbstsicher bewegen.
Selbstbewusst, vielleicht auch in der Zweisamkeit ein wenig selbstvergessen, dreht ein
älteres Paar beim Tanztee seine Runden und kümmert sich nicht darum, dass die anderen
Gäste noch nicht oder nicht mehr da sind. Wie die junge Tänzerin im Londoner In-Club
Marquee, dem Ort legendärer Stones-Konzerte in einer Aufnahme von Yves Bresson45, ist
das tanzende britische Paar ganz auf die Musik konzentriert. Während die junge Frau mit
geschlossenen Augen den Blickkontakt mit anderen Tänzern wie mit dem Betrachter
unterbindet und signalisiert, „ganz Ohr“ zu sein, hat Ray-Jones die beiden Alten durch den
Blickpunkt von der Empore herab distanziert und lässt sie von der Musik getragen
erscheinen. In der Tiefe des Bildes erscheinen Pianist und Schlagzeuger auf einer Bühne,
der Gitarrist einer Band steht in der Enge des Marquees leicht erhöht gleich hinter der
Tänzerin. Wir wissen, dass die Musiker in dem jeweiligen Moment nicht nur ortstypische
Staffage sind, dass sie vielmehr eine treibende Kraft darstellen, welche die Tänzer äußerlich
und innerlich bewegt.
Tony Ray-Jones thematisiert die Selbstinszenierung der ebenso klassen- wie
traditionsbewussten Engländer anhand fotografischer Entdeckungen aus dem britischen
Alltag. Auf der Suche nach der Wahrheit von Klischees über den englischen
Nationalcharakter und gleichzeitig nach Mitteln für dessen ironische Zuspitzung, wählt Karen
Knorr eine andere Bildstrategie: Sie überhöht den Alltag in geradezu emblematischen
Sinnbildern. Eine offensichtlich arrangierte Gesprächsrunde sitzt im Herrenclub am Kamin –
eine Fotografie aus Karen Knorrs Serie „Gentlemen“ (1981–1983).46 Über dem Kamin hängt
ein Gemälde, das man auch für einen Spiegel halten könnte. Es zeigt eine fast identische,
aber historische Szene und offenbart damit die reale Szene im Vordergrund als Teil einer
Spiegelwelt: die rückwärts gewandte Welt einer Gesellschaftsgruppe, die sich nicht nur durch
ihre Vergangenheit definiert, sondern so weit es geht auch in dieser lebt. Mit beißender
Ironie, die sich in fiktiven Zitaten als Bildunterschriften Bahn bricht, entblößt Knorr die
Selbstinszenierung der Bewohner des Londoner Nobelviertels Belgravia als
Selbsttäuschung. In ihren Bildern entwirft sie Stereotypen, die bei aller Distanz und
Überzeichnung der Realität dennoch sehr nahe kommen. Mit den Worten Karen Knorrs:
„Fotografie ist eine Fiktion, die man konstruiert, um einem Standpunkt Ausdruck zu
verleihen.“47
Doch auch in der vermeintlich banalen Schnappschussästhetik privater Erinnerungsbilder
lassen sich unbequem-kritische Standpunkte beziehen und vertreten, wie William Eggleston
44
Vgl. S. __ in diesem Katalog.
Vgl. S. __ in diesem Katalog.
46 Vgl. S. __ u. Abb. S.__ in diesem Katalog.
47 Vgl. Kent 1982 (s. Anm. 2), S. 432, aus einem Gespräch mit der Autorin.
45
mit seinen frühen Farbfotografien zeigt. Aus einer subversiven Froschperspektive („Ohne
Titel (Memphis, Tricycle)”, 1969–1970) erscheint ein Dreirad wie ein Aufbäumen gegen den
tristen Konformismus der amerikanischen Kleinstadt.48 Was für Karen Knorr die englischen
Aristokraten und Snobs sind, ist für Eggleston die Mittelschicht der Südstaaten mit ihrem aus
ungebrochenem amerikanischen Pioniergeist gespeisten Fortschrittsoptimismus. Ein
wesentlicher Unterschied besteht aber darin, dass Eggleston selbst ein Kind dieses
Südstaatenmilieus ist. Wie die Seiten eines kollektiven Tagebuches halten seine alltäglichen
fotografischen Fundstücke seiner Heimat den Spiegel vor.
Home Stories
Über drei Jahre hinweg fotografiert Robert Adams das Leben in den Vorstädten nördlich von
Denver/Colorado: Er begleitet Familien mit Kindern beim Einkaufen, beim Picknick im Park.
Wie in Egglestons Aufnahmen birgt die vorgeführte, scheinbare Normalität aber unvermutete
Abgründe, der Frieden an der Oberfläche ist trügerisch. Die Serie von 74 Fotografien
erscheint unter dem Titel „Our Lives and Our Children (Near the ‚Rocky Flats Nuclear
Weapons Plant’)”49 zusammen mit einer Publikation, welche die einerseits verharmlosten,
andererseits verdrängten Gefahren einer in der Nähe gelegenen Atomwaffenfabrik in aller
Deutlichkeit aufweist. Dem informierten Blick „enthüllen“ die Fotografien „in den Gesichtern
der Kinder, der Eltern und Großeltern eine Kontinuität der Sorge und Hoffnung“ angesichts
der ständigen Bedrohung ihrer Gesundheit und ihres Lebens.
Als zivilisationskritische Reportage gelesen, fordert Adams‘ Bildessay den Betrachter zur
Anteilnahme und die Politik dazu auf, ihre Verantwortung ernst zu nehmen. Wie auch in
anderen Fotoserien formuliert Adams am Beispiel der Umgebung seines Wohnortes Denver
ein verändertes Umweltbewusstsein. Er verbindet topographische und soziale Schilderungen
und einen für die damalige Fotografie neuartigen, ökologischen Aufklärungsimpuls mit
autobiografischen Zügen. Zählte Adams sich auch zu den so genannten New
Topographics50, einer Reihe von Fotografen, die sich bewusst gegen einen allzu subjektiven
Stil in der Fotografie ihrer Zeit abgrenzten, so bezieht er doch den persönlichen Standpunkt
eines Beteiligten bzw. Betroffenen.
Adams‘ fotografischer Ansatz der Auseinandersetzung mit seiner Heimat ist der eines
teilnehmenden Beobachters und ist darin dem von Chris Killip bei seinen Fotografien auf der
Isle of Man51 oder dem von Jean-Louis Schoellkopf in seiner Langzeitstudie im Arbeitermilieu
der Industriestadt Saint-Étienne vergleichbar. Die Methode der teilnehmenden Beobachtung
wurde bereits Mitte der 1920er Jahre an der soziologischen Fakultät der Universität von
48
Vgl. S. __ u. Abb. S.__ in diesem Katalog.
Vgl. S. __ in diesem Katalog.
50 Nach dem Titel einer Ausstellung im George Eastman House Rochester 1975; vgl. hier zu Weski
2000 (s. Anm. 28), S. 34–36.
51 Vgl. S. __ in diesem Katalog.
49
Chicago eingeführt und prägte den Ansatz der dokumentierenden Fotokampagnen im
Auftrag der Farm Security Administration.52 1922 hatte sie Bronislaw Malinowski in der
Einleitung seines Südsee-Tagebuchs als neues Programm für eine empirische Wissenschaft
entwickelt. Um auch das Alltagsleben einer „fremden Kultur" in all seinen Facetten zu
erfassen, sei es für den Ethnographen gelegentlich nötig „to put aside the camera, notebook
and pencil and to join … in what is going on".53 Diese Methode des partiellen Eintauchens in
ein beobachtetes Milieu, die eine kritische Reflektion der eigenen Rolle miteinschließt,
eignen sich Fotografen in den 1970er Jahren verstärkt wieder an, um ihre Bilder mit tiefer
gehenden Einblicken in die Lebenssituation und Mentalität, in die Gedanken- und
Gefühlswelt der dargestellten Menschen anzureichern. Im Gegensatz zum Südsee-Forscher
Malinowski tun sie dies aber an ihren eigenen – gegenwärtigen oder früheren – Wohnorten.
Wie John Thomson, der als Pionier den ethnografischen Blick in die heimische
Straßenfotografie eingebracht hat, allerdings mit geschärftem kritischen Bewusstsein für die
Grenzen des Mediums und für die eigene Rolle im fotografischen Prozess, führen diese
Fotografen den Betrachter an ihnen vertraute und ihnen trauende Menschen heran. In einem
Prozess der Annäherung, mit dem schrittweisen Aufbau persönlicher Beziehungen zu den
Porträtierten, gewinnen sie in ihrer Fotografie eine Innenperspektive, die sich in einem
Spektrum von nüchtern dargelegter, intimer Kenntnis (Schoellkopf) über persönliche
Ergriffenheit bei gleichzeitig gewahrter Distanz (Adams) bis zu bekenntnishaften Zeugnissen
privater Verstrickungen (Nan Goldin) manifestiert.
Dem latenten Drama in Adams’ „Our Lives…“ steht in Larry Clarks 1971 veröffentlichtem
Album „Tulsa“ eine explizit vor den Augen des Betrachters ausgelebte Tragödie gegenüber.
Die zehnteilige Serie ist nach dem Geburtsort des Fotografen benannt und liefert einen
schockierenden Bericht über eine Gruppe von Jugendlichen, über exzessiven
Drogenkonsum und Gewaltbereitschaft, wie man sie in den Vorstadtghettos einer Großstadt,
nicht aber in dem durch Ölfunde reich gewordenen Städtchen Tulsa in Oklahoma erwarten
würde.54 Diese schmerzliche Chronik des Scheiterns des Amerikanischen Traums besticht
durch Larry Clarks schonungslosen Blick und die unbefangene Art, wie dieser seitens der
Jugendlichen in Momenten des Ausgeliefert-Seins und der Aggression, der Verzweiflung und
des intimen Miteinanders offen erwidert wird. Der Tabubruch besteht in der – auch an den
Betrachter gerichteten – Suggestion von Komplizenschaft mit diesen jungen Menschen,
denen der Fotograf Verständnis entgegenbringt, anstatt sie als Drogenjunkies und
Waffennarren moralisch abzustempeln. Das Einfühlungsvermögen, mit dem Clark ihnen
begegnet, weist auf die radikal subjektive Perspektive voraus, mit der Nan Goldin das Leben
ihrer Freunde und ihrer Familie in einem fotografischem Œuvre, das den vertraulichen
Charakter eines visuellen Tagebuches hat, aufzeichnen wird.55 Auch Larry Clark ist involviert,
52
Vgl. Heiß 1990 (s. Anm. 35), S. 14; Kent 1982 (s. Anm. 2), S. 423.
Bronislaw Malinowski: Argonauts of the Western Pacific: an account of native enterprise and
adventure in the archipelagoes of Melanesian New Guinea. London 1922, S. 20 f.
54 Vgl. S. __ in diesem Katalog.
55 Vgl. S. __ in diesem Katalog.
53
wenn nicht direkt, so doch durch die Erfahrungen seiner eigenen Jugend, die er in der
gleichen Stadt und in ganz ähnlichen Verhältnissen verbrachte. Über seine eigene Biografie
hat er Anteil an der schwierigen Situation der Jugendlichen und wird offensichtlich als Insider
akzeptiert.
Die Vertrauensbasis, die sich hier als entscheidender Faktor eines annähernd
„authentischen“ Porträts einer Gruppe erweist, musste sich Jean-Louis Schoellkopf für sein
großes Projekt einer Dokumentation der Auswirkungen des historischen, geographischen
und soziologischen Wandels der Stadt Saint-Étienne auf ihre Bewohner erst noch schaffen.56
Er zog in das ehemalige Industriezentrum der Region Rhône-Alpes, um zu untersuchen, ob
sich dort mit dem Schwinden der äußeren Spuren der Industrialisierung auch das Leben der
die Stadt prägenden Arbeiterklasse von Grund auf ändere. In mehreren, meist
längerwierigen Einzelprojekten sucht der Fotograf den intensiven Austausch mit den
Bewohnern der Stadt, er trifft sie an ihrem Arbeitsplatz und an den Stätten ihrer Freizeit. Ein
Jahr lang nimmt er 1982–1983 am Vereinsleben eines im Arbeitermilieu angesiedelten
Boxclubs teil, wo er sich behutsam einmischt – er boxt mit, ist Fan, vielleicht auch ein wenig
Sozialarbeiter, er fotografiert und zeigt in seinen Fotografien exemplarisch, wie sich die
Suchbewegung, in der sich die Stadt am „Ende ihrer Geschichte“ (Schoellkopf)57 befinde,
mitunter in positive Energien umsetzen lässt.
Während sich Ito Josué in seiner Dokumentation der Architektur und des Lebens in Le
Corbusiers Trabantenstadt Firminy vert bei Saint-Étienne auf den Außenraum und die halb
öffentlichen Gemeinschaftsräume der Wohnanlagen konzentriert,58 besucht Schoellkopf
1991 die Bewohner der streng rationalistisch durchgeplanten „Wohnmaschinen“ (Le
Corbusier) in ihrem Zuhause, um zu sehen, wie man innerhalb dieses architektonischen
Rasters leben kann. Wie Jean-Louis Garnells Polyptichon von der „Veranda“ einer privaten
Wohnung59 gleicht auch Jean-Louis Schoellkopfs Fotoserie „Firminy, L’unité d’habitation Le
Corbusier“ im Prinzip einer Versuchsanordnung. Während sich dort auf der Veranda wie im
Zeitraffer das Leben einer Familie in einer Fülle von wechselnden Details aufschließt, zeigt
Schoellkopf in acht verschiedenen Wohnungen den immer gleichen innenarchitektonischen
Rahmen, dessen Charakter aber jedes Mal mit den jeweils in ihm dargestellten Bewohnern
wechselt. Die Identifikation der Bewohner mit ihrer häuslichen Umgebung, mit dem durch sie
geprägten und zugleich sie prägenden Raum, war auch Thema der 1989–1991
entstandenen Serie der „Salons“. In ihr wendet sich Schoellkopf der Bourgeoisie von SaintÉtienne zu, die mit dem Verschwinden der Industriearbeiterschicht ebenfalls ihr Profil zu
verlieren scheint. Wie in Patrick Faigenbaums Familienporträts aus den verblichenen
Palästen des römischen Adels60 oder Thomas Struths etwa gleichzeitigen Porträtfotografien
56
Vgl. S. __ in diesem Katalog.
In die Tiefe dieser Geschichte weisen die Aufnahmen von Félix Thiollier zurück; vgl. S. __ in diesem
Katalog.
58 Vgl. S. __ in diesem Katalog.
59 Vgl. S. __ in diesem Katalog.
60 Vgl. S. __ in diesem Katalog.
57
aus Edinburgh, wo der deutsche Fotograf Reservate einer bürgerlichen Konzeption des
Subjekts aufspürt,61 verharren die Dargestellten im natürlichen Licht ihrer Wohnungen,
inmitten ihrer Möbel und persönlichen Dinge und in selbst gewählten Posen vor dem mit
langen Belichtungszeiten operierenden Fotografen. Der fotografischen „Sitzung“ sind bei den
drei Fotografen lange Vorgespräche vorausgegangen, die zu einem mitunter
freundschaftlichen Kontakt geführt haben.
Diese Bewegung auf die Porträtierten zu, dieses Vortasten in die materielle und ideelle Welt
der Dargestellten unterscheidet den Ansatz von Schoellkopf oder Struth wie auch den
enthüllenden Ansatz der sozial engagierten Straßenfotografie kategorial von dem des
Atelierfotografen, der die Menschen zu sich ins Studio bittet, um sie in die vorbereitete,
stereotype Kulisse seiner künstlichen Welt zu assimilieren. Ebenso deutlich hebt die
Einlassung der ersteren mit ihrem Gegenüber ihre Porträts von den Abziehbildern der
Paparazzi ab, in deren Oberflächlichkeit sich das Subjekt als Opfer eines vielseitigen
medialen Anpassungsdrucks verflüchtigt. Den Prozess der Annäherung leitet ein Interesse
am Anderen, dem ein grundsätzlich verschiedenes, vielleicht etwas altmodisches
Menschenbild zugrunde liegt: der Glaube an das Individuum. Die intensive
Auseinandersetzung mit dem fotografischen Gegenüber, die (An)Teilnahme an dessen
Leben, kulminiert in jenen „magischen Augenblicken“, in denen in der gegenseitigen Nähe
die Persönlichkeit der Porträtierten präsent ist: Für einen Moment wird die Schneedecke
über den Bildern von Menschen transparent und wir können in die darunter liegenden
Tiefenschichten blicken.
61
Vgl. S. __ in diesem Katalog.
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