Führhundausbildung – Hintergrundwissen Man mag es kaum glauben, aber im Training von Blindenführhunden werden immer noch veraltete und grobe Trainingsmethoden angewendet. Einige Führhundtrainer halten nach wie vor an traditionellen Lob-Strafe-Ausbildungsprinzipien fest. Schlagen, Schimpfen, Treten, Leinenrucke in unterschiedlichen Ausprägungen mit und ohne Stachelhalsbänder, ear-pinching (schmerzhaftes insOhr-kneifen) sind immer noch alltäglich. Warum ist das so? Begründung für die oft heftigen „Einwirkungen“ (so werden körperliche Strafen gern beschönigend genannt), ist häufig, dass ein Hund seinen Halter angeblich nur dann sicher und verlässlich vor Hindernissen/Gefahren schützt, wenn es ihn selbst schmerzt, sobald er Fehler macht. Die Trainingsmethoden werden also dadurch legitimiert, dass man ein höheres Ziel, nämlich den Schutz des Menschen, verfolge. Aber ist dem so? Trifft es tatsächlich zu, dass Führhundhalter sicherer unterwegs sind, wenn der Hund für Fehler nachdrücklich bestraft wird? Die Antwort heißt nein. Zunächst scheint das Ausbildungssystem verlockend: Der Hund macht eine negative Erfahrung, wenn er zum Beispiel zu dicht an einem Hindernis entlang geht. Die Bestrafung löst Meideverhalten aus. Das Ergebnis ist ein Hund, der aus eigenem Interesse Hindernisse großräumig umgeht. Aber, und das ist ein häufiges Problem, viele Hunde wählen im Zweifelsfall sehr große Umwege oder zum Beispiel eine Umgehung auf der Fahrbahn, obwohl ein enger, aber möglicher Durchgang vorhanden ist. Das erschwert den Führhundhaltern häufig die Orientierung oder ist sogar gefährlich. Was aber gebraucht wird, sind Hunde, die sehr präzise abschätzen können, was geht und was nicht mehr geht. Solche anspruchsvollen Unterscheidungsaufgaben lösen an sich schon bei Hunden Stress aus. Kommt jedoch die Angst dazu, für falsche Entscheidungen hart bestraft zu werden, wächst der Stress noch mehr. Unter Stress arbeiten die Teile des Gehirns nicht mehr effektiv, die für Unterscheidungsaufgaben gebraucht werden. Ergebnis: Gestresste Führhunde wollen einfach nur noch weg! Aber für Mobilität im komplexen Verkehr von heute braucht es Führhunde, die schwierige Verkehrssituationen als Herausforderung und nicht als Gefahr sehen. In der Erziehung von Freizeit- und Familienbegleithunden, in den modernen Hundesportarten und im Diensthundewesen von Zoll und Polizei sind die Ansätze des modernen Hundetrainings bereits fest verankert. Führhunde gelten in der Öffentlichkeit als faszinierende Wesen, die aufgrund ihrer Leistung und ihrer Verantwortung besonders gute Behandlung verdient haben. Tierschützer und Hundeliebhaber sind unangenehm berührt bis entsetzt, wenn sie beobachten, wie mit einem Führhund umgegangen wird, der einen Fehler macht, und wie die Hunde mit hängenden oder sogar geklemmten Ruten, angelegten Ohren, hechelnd und mit hektischem Blick versuchen, einen Ausweg zu finden und ihre Trainer zu beschwichtigen. Kurze Historie des Führhundtrainings: Die erste Führhundschule der Welt wurde 1916 in Oldenburg gegründet. Die ersten Blindenführhunde waren umgeschulte Sanitätshunde, die vorher auf den Schlachtfeldern des ersten Weltkriegs verwundete Soldaten gesucht hatten. Angesichts der Epoche und des militärischen Umfeldes wundert es nicht, dass die Hundeausbildung damals sehr autoritär und von militärischen Werten geprägt war. Auch während der Zeit zwischen den Kriegen war das Training bestimmt von „Zuckerbrot und Peitsche“ und die sogenannte Parforce-Dressur (parforce, franz. = mit Gewalt) war immer noch üblich. Praktisch sah das so aus, dass der Hund für falsches Verhalten solange körperlich hart bestraft wurde, bis er das tat, was der Trainer wollte. Eine erste wichtige Modernisierung ergab sich durch die Biologen Prof. Dr. Jakob von Üxküll, Emanuel Sarris und Heinz Brüll. Sie erkannten, dass der Hund systematisch lernen muss, beim Führen die Maße eines Menschen zu berücksichtigen. Ihnen war auch wichtig, dass der Hund lernt, selbstständig Auswege zu finden. Dazu erfanden sie einen Trainingswagen, auch „künstlicher Mensch“ oder „Üxküll´scher Führwagen“ genannt, in den der Hund eingeschnallt wurde. Dieser Wagen hatte die Maße eines Menschen und im Training zog der Hund den Wagen stellvertretend für einen Menschen. Wenn der Hund nun zu dicht an ein Hindernis kam, wurde der Wagen durch das Hindernis ruckartig gestoppt, was dem Hund einen schmerzhaften Ruck verpasste und seine Vorwärtsbewegung stoppte. Auf diese Art bekam der Hund für falsches Verhalten unmittelbar eine Strafe und verknüpfte die Strafe mit der Situation und nicht mit seinem Trainer. Aber auch dieser Trainingsansatz beruht darauf, falsches Verhalten zu bestrafen. Und dieses Grundkonzept findet nach wie vor im Führhundtraining Anwendung: Beispiel 1: Höhenhindernis Ein Höhenhindernis ist ein Hindernis, unter dem ein Hund hindurchpasst, ein Mensch aber nicht (beispielsweise eine Schranke oder ein tief hängender Ast). Beim Erziehen mit Strafe wird das Beachten eines Höhenhindernisses so trainiert, dass der Hund zunächst auf das Hindernis aufmerksam gemacht wird, damit er lernt, auch potentielle Hindernisse über ihm zu erkennen. Wenn der Trainer dann den Eindruck hat, dass der Hund das verstanden hat, kommt der nächste Lernschritt: Um sicher zu stellen, dass der Hund zukünftig trotz Ablenkungen an Höhenhindernissen immer korrekt reagiert, wird es „abgesichert“. Dazu lässt man den Hund unter einer Latte durchführen, die dann auf ihn fällt, spätestens wenn der Halter die Latte berührt. Das erschreckt den Hund oder tut ihm sogar weh. In der Folge soll der Hund im eigenen Interesse auf Höhenhindernisse achten und ihnen ausweichen. Dies ist zumindest der erwünschte Effekt. Aber leider funktioniert das nicht so zuverlässig, wie es sich anhört. Denn der Trainer möchte zwar, dass der Hund Höhenhindernisse für gefährlich hält und deshalb tunlichst daran vorbei führt, aber was der Hund schlussendlich verknüpft, entzieht sich der menschlichen Kontrolle. Bei gestellten Höhenhindernissen sind es oft die Aufstellstangen rechts und links, die sich dem Hund einprägen. Wenn das passiert, wundert sich der blinde Halter später, warum der Hund unruhig, angespannt und offensichtlich gestresst ist, wenn er durch seitlich begrenzte Baustellenabsperrungen führen soll. Hintergrund für das Unbehagen des Hundes ist, dass er fürchtet, bestraft zu werden, weil er das ja an solchen Stangen erlebt hat. Zweite Krux ist, dass der Hund durch die Erfahrung der fallenden Latte zwar Angst bekommt und Meideverhalten zeigt, aber damit noch nicht entschieden ist, welche Meidestrategie er wählt: Flüchten, Kämpfen, Erstarren und Übersprungsverhalten sind die üblichen Reaktionen. Erwünscht ist jedoch ein moderates Ausweichen oder Stehenbleiben vor dem Hindernis. Kopfloses Flüchten, aggressive Reaktionen oder Übersprungshandlungen sind hingegen ungünstig. Beispiel 2 Abgrundverweigerung Ein anderes Beispiel ist die sogenannte Abgrundverweigerung: Der Führhund muss lernen, aktiv von einem Abgrund (Bahnsteigkante, ungesicherte Baugrube etc.) weg zu führen oder in sicherem Abstand davor zu halten und nicht näher heran zu gehen. Trainiert wird die Verweigerung immer noch so, dass der Hund geschickt und subtil so gedrückt oder geschubst wird, dass er selbst über die Kante rutscht und dann mehr oder weniger hilflos und panisch im Geschirr oder an der Leine über dem Abgrund taumelt und strampelt. Das verursacht bei ihm große Angst (bei wem nicht?) und in der Folge vermeidet er, sich einer Abgrundkante zu nähern. Auch hier gibt es unerwünschte Nebenwirkungen: Sensible und defensive Hunde entwickeln nach dem negativen Erlebnis oft große Angst und sehr ausgeprägtes Meideverhalten. Führhundhalter beklagen dann oft, dass ihre Hunde nicht gern oder überhaupt nicht auf Bahnsteige gehen oder dass sie verweigern, am Seitenrand über eine Brücke zu gehen. Das ist aber bei Brücken, die von Autos befahren werden, für das Gespann objektiv betrachtet deutlich ungefährlicher als die Mitte der Brücke, also die Fahrbahn, zu benutzen. Das wiederum ist aber aus Sicht des Hundes die sicherste Variante. Wie geht´s besser? Erkenntnisse aus Lernpsychologie und Verhaltensbiologie erneuerten in den vergangenen 20 Jahren das Hundetraining grundlegend. Zahlreiche lernbiologische und lernpsychologische Tests haben bereits in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gezeigt, dass Hunde weitaus besser, schneller und nachhaltiger lernen, wenn der Fokus darauf liegt, den Hund für erwünschtes Verhalten zu belohnen. Der Grund: Man kann viel besser klar definierbares Verhalten trainieren, als zu trainieren, was der Hund nicht tun soll. Es ist viel einfacher, dem Hund zu vermitteln „halte an jeder Bordsteinkante“, als ihm beizubringen “Du darfst Bordsteinkanten nicht überlaufen“. Eine aus mehreren Kriterien bestehende Aufgabe muss dafür in kleine Lernschritte zerlegt werden. Das nennt man Verhaltensformung (englisch: shaping). Die Lernschritte müssen so klein sein, dass der Hund es quasi nur richtig machen kann. Je häufiger der Hund richtiges Verhalten wiederholt und dafür eine Belohnung erhält, umso stabiler werden die neuronalen Verknüpfungen in seinem Gehirn und umso fester und zuverlässiger in der Folge das Verhalten. Modernes Training ist also allein schon deshalb tierfreundlicher, weil der Fokus nicht auf der Bestrafung von Fehlern, sondern auf das Belohnen des richtigen Verhaltens gerichtet ist. Durch die zahlreichen Wiederholungen des gewünschten Verhaltens wird dann die große Zuverlässigkeit erreicht, die von Führhunden erwartet wird. Man nennt das auch „Verhaltensmasse aufbauen“. Ein weiterer Vorteil modernen, belohnungsorientierten Trainings ist, dass die Hunde (und im Übrigen auch die Trainer) weniger gestresst sind. Belohnungen und Erfolgserlebnisse stärken. Frustrationen, körperliche und andere Strafen machen unsicher, ängstlich und lösen Stress aus. Stress ist zunächst nicht schlimm. Stress gehört zum Leben und sichert das Überleben. Milder Stress fördert sogar die Leistungsfähigkeit, Konzentration und Gedächtnisbildung. Länger anhaltender, sich wiederholender Stress oder sehr starke Stressreaktionen sorgen jedoch durch die entsprechende Ausschüttung von Stresshormonen dafür, dass Lernen und Gedächtnis blockiert werden. Analogie zum Menschen: Es ist eine Binsenweisheit, dass für Lernen eine entspannte Atmosphäre geschaffen werden muss, Lernfortschritte durch Belohnungen beschleunigt werden und dass nur Übung den Meister macht. Beim althergebrachten, traditionellen Führhundtraining wird das Lernergebnis gesucht, indem der Führhund in Ausbildung in Situationen gebracht wird, die schiefgehen müssen, um ihn dann zu bestrafen und ihm sein „Fehlverhalten“ zu verleiden. Zum Vergleich: Wer würde die Ansicht vertreten, dass Fahrschüler besonders sichere Autofahrer werden, wenn sie am Ende ihrer Fahrstunden einen provozierten „Beinahe-Unfall“ haben, der sie in Todesangst versetzt? Ergebnis einer solchen Fahrschulausbildung wäre dann bestimmt, dass nach diesem Erlebnis viele Fahrschüler lieber auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen, um sich der Angst vor einer Wiederholung des Erlebten und dem damit verbundenen Stress nicht erneut auszusetzen. Genauso geht es vielen mit Hilfe von Gewalt erzogenen Führhunden: Sie vermeiden bestimmte Orte, Situationen, Umweltmuster oder sogar das Anziehen des Führgeschirres und sind erst wieder fröhlich und entspannt, wenn sie außerhalb der Führarbeit ein ganz normaler Hund sein dürfen. Links und Quellen: International Guide Dog Federation: Zusammenfassung Lernverhalten Terrace, H S (1963): Errorless Transfer Of A Discrimination Across Two Continua. Journal of Experimental Analysis of Behaviour 6, 223-232. Winkler, Sabine: So lernt mein Hund, Kosmos, Stuttgart 2013 Gansloßer, Udo & Kitchenham, Kate: Forschung trifft Hund, Kosmos, Stuttgart 2012. Hallgren, Anders: Stress, Angst und Aggression bei Hunden, Cadmos 2011. Lindsay, Steven R.: Handbook of applied dog behavior and training. Volume One: Adaptation and Learning. Iowa State University Press, Ames 2000. O’Heare, James: Canine Neuropsychology For Dog Behavior Counselors and Trainers, 3rd Edition, ebook edition, Dog Psych, Ottawa Canada 2003. Spitzer, Manfred: Lernen, Spektrum 2002.