C. Dahinten 126088 Medizinsoziologie Exzerpt zum 01.07.13 Entgrenzung des Medizinischen Quelle: Wehling, Peter, Viehöver, Willy, Keller, Reiner, Lau, Christoph (2007): Zwischen Biologisierung der Sozialen und neuer Biosozialität: Dynamiken der biopolitischen Grenzüberschreitun, in: Berliner Journal für Soziologie, Heft 4, S. 547-567. Einleitung Beitrag beschäftigt sich mit der aktuellen Entwicklung im Feld der Biopolitik, die das Verhältnis von Medizin, Gesellschaft und Individuum grundlegend verändern kann. Biopolitik versteh man ein breites Spektrum von Entwicklungen, die Vorstellungshorizonte von Gesundheit und Krankheit, sowie von Natürlichkeit des menschlichen Körpers zu sprengen drohen (Bsp.: pharmakologische Beeinflussung zentraler Gehirnleitungen, verpflanzen von tierischen Organen in den menschlichen Körper und Utopie der genetischen Optimierung). Unterschiede zwischen Krankheit und Gesundheit oder Therapie und Optimierung werden unscharf und gesellschaftlich neu ausgehandelt. Entwicklungen werden kontrovers Diskutiert: einige sehen das „Ende der Welt“ gefolgt von einer posthumanen Zukunft, andere vermögen kaum neues erkennen Jenseits von Gesundheit und Krankheit? Neue biomedizinische Möglichkeiten machen und gegenwärtig zu „Zeugen einer globalen, irreversiblen Transformation legendärer Wesen […]“ Vorstellung von „Natürlichkeit“ und Naturgegebenheiten des menschlichen Körpers scheint Bedeutung als normativer Wert und als kulturelle Handlungsorientierung mehr und mehr einzubüßen Wahrnehmung von „Krankheit“ als Abweichung von einem natürlichen normalen Zustand bislang natürlich wahrgenommene körperliche Gegebenheiten (Alter, Aussehen, Gewicht), aber auch Verhaltensformen mit der Erweiterung des medizinischen Zugriffs in die Nähe therapiebedürftiger und therapierbarer „Defizite“ und „Störungen“ Hintergründe und Ursachen für Entgrenzungstendenzen: 1. ungekannte Möglichkeiten der Manipulation, Optimierung oder Transformation des menschlichen Körpers durch Gentechnik, Transplantationsmedizin, kosmetische Chirurgie 2. Reihe sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Faktoren, welche die Nutzung und (Weiter-) Entwicklung dieser technischen Möglichkeiten beeinflussen und in bestimmte Richtungen lenken 3. Marketingstrategien und Pharmakonzernen und anderen Gesundheitsdienstleistern als entscheidende Rolle Verstärkt werden Entgrenzungstendenzen dadurch, dass es für viel Zahl von Menschen normal geworden ist, das eigene Aussehen und Wohlbefinden, sowie körperliche und geistige Leistungsfähigkeit mit medizinischen Mitteln zu verbessern, auch wenn keine medizinische Notwendigkeit besteht Boom: Schönheitsoperationen, „Glückspillen“, Viagra „Lifestyle-Medizin“ C. Dahinten 126088 Medizinsoziologie Exzerpt zum 01.07.13 Verschwimmen der Unterschiede: Differenz zwischen „Heilung“ und „Verbesserung“ Spannungsverhältnis zwischen Therapie und Verbesserung geht es in erster Linie um eine Differenz zwischen kulturellen Erwartungshorizonten und Handlungsorientierungen Foucault sah notwendige Konsequenz kollektivistischer, staatlich organisierter Biopolitik. Gesundheit, Körperverbesserung, Optimierung des menschlichen Lebens sind mehr und mehr individualisiert, privatisiert und kommerzialisiert worden infolge der Diskreditierung einer solchen Politik Unterscheidungen wie Krankheit/Gesundheit und Heilung/Verbesserung werden unscharf, pluralisieren sich oder lösen sich komplett auf 4 Dynamiken der biopolitischen Entgrenzung 4 Formen der Entgrenzung : Ausweitung medizinischer Diagnostik Entgrenzung medizinischer Therapie Entzeitlichung von Krankheit Perfektionierung der menschlichen Natur Ausweitung medizinischer Diagnostik = gesellschaftliche Dynamik, in deren Verlauf körperliche, psychische und/oder mentale Phänomene, die zuvor nicht in medizinischer Termini wahrgenommen wurde (Bsp.: ADHS). Es kommt zu einem „explodierenden“ Einsatz von Ritalin/ Medikinet zur Behandlung bei Kindern und Jugendlichen Medikalisierung könnte als „normale“ Dimension gesellschaftlicher Rationalisierung und Modernisierung erscheinen Aber: Vielmehr wird das, was bis dahin als medizinisch unauffällig angesehen wurde, nunmehr als behandlungsbedürtig definiert. Entgrenzung von Therapie =den sich sukzessive ausweitenden Einsatz medizinischer Behandlungstechniken über professionelle definierte und begrenzte Krankheitsdiagnosen hinaus An Stelle von „Heilung“ bzw. „Wiederherstellung“ tritt die Verbesserung des „gesunden“ menschlichen Körpers (Bsp.: Schönheitschirurgie früher nach Unfallverletzung, heute als Korrektur) Von Besonderem Interesse sind bei der Entgrenzung medizinischer Therapie: Massenmediale Inszenierung und Popularisierung solcher Praktiken „Kulturelle“ Unterschiede in der Nutzung der kosmetischen Chirurgie im Ländervergleich Andeutende Tendenz, wonach die „Korrektur“ des körperlichen Aussehens auch an Bedeutung auf dem Arbeitsmarkt werden könnte. bei gesunden Personen werden teilweise schmerzhafte und riskante chirurgische Eingriffe vorgenommen C. Dahinten 126088 Medizinsoziologie Exzerpt zum 01.07.13 Auch die Nutzung von pharmazeutischen Mitteln zur Beeinflussung von wichtigen Gedächtnisleistungen könnten zukünftig einer Dynamik der Entgrenzung von Therapie folgen Entzeitlichung von Krankheit = zunehmende Ablösung des Krankheitsbegriffs von zeitlich manifesten Symptomen sowie die Verlagerung auf bestimmte Indizien und Risikofaktoren Die gesellschaftlich folgenreichste Ausprägung gegenwärtig im Zusammenhang mit den neuen Möglichkeiten der prädiktiven Gendiagnostik genetischen Besonderheiten einer Person/Gruppe = Identifiziert Gefahr der Einteilung von neuen Personen- Kategorien neuartige soz. Diskriminierungen(?) Perfektionierung und Transformation der menschlichen Natur Verbesserung des menschlichen Körpers, Verlangsamung/ „Abschaffung“ des Alterns mit genetischen Mitteln Besonderheiten der Dynamik der Perfektionierung der menschlichen Natur o Entsprechende medizinische Techniken und Praktiken nur ansatzweise verfügbar o Höherer Legitimationsdruck als die 3 anderen Dynamiken, insofern sie den Handlungshorizont der Heilung und Wiederherstellung bewusst überschreiten o ANTI- AGING – MEDIZIN Prävention von altersbedingten Erkrankungen Prävention und Behandlung von altersbedingten körperlichen und mentalen Einschränkungen Verlangsamung/Überwindung des Alterns / Utopie der Unsterblichkeit Gemeinsamkeiten und Unterschiede Einzelnen Dynamiken heben sich voneinander ab Wichtigsten Unterschiede: jeweilige gesellschaftliche Rolle, Legitimation und Konstellation der verschiedene Akteure Entgrenzung der mediz. Therapie besonders prägnant in kosmetischer Chirurgie stark von Medien vorangetrieben Entgrenzung der Krankheit: biowissenschaftliche Grundlagenforschung treibende Kraft Entzeitlichung von Krankheit: „Recht auf Nichtwissen“ Ausweitung medizinischer Diagnostik: Bsp. ADHS verdeutlicht Tendenz innerhalb der Medizin und diverse Marketingstrategien der Pharmaunternehmen C. Dahinten 126088 Medizinsoziologie Exzerpt zum 01.07.13 Meinung zum Text Stars, Sternchen und Prominente leben uns in Filmen und Musikvideos täglich extravagante, utopische Schönheitsideale vor. – Size Zero, Faltenfrei, Silikon… Der chirurgische Eingriff ist für viele das letzte Mittel um sich selbst und anderen zu gefallen. Die Gesellschaft setzt diese Ideale voraus, ansonsten könne n Mobbing oder Ausgrenzung als Sanktionen folgen, da man „nicht“ dazugehört. Es scheint, als solle der Mensch perfekt und makellos sein. Auch wenn es um einen Job geht, werden Tattoos und Piercings nicht (gern) angesehen, da sie nicht der allgemeinen Ästhetik entsprechen.