GEDÄCHTNIS Gedächtnis ist die Fähigkeit, Informationen zu speichern und später bei Bedarf wieder abzurufen. Ohne das Gedächtnis wäre unser Leben unvorstellbar. Unsere Erfahrungen hinterlassen Spuren der Erinnerung im Nervensystem, die uns helfen, den Alltag zu bewältigen und unser zukünftiges Verhalten besser an die Erfordernisse der Umwelt anzupassen. In jeder Sekunde prasseln unzählbar viele Sinneseindrücke auf uns ein. Wir sehen, riechen, hören und schmecken, wir schütteln Hände, reden mit Arbeitskollegen oder Freunden, reagieren mit Emotionen und beurteilen das Erlebte. Kurz: Wir machen ständig neue Erfahrungen und lernen Neues hinzu. Tatsächlich vergessen wir das meiste von dem, was wir erleben, schnell wieder. Und das ist auch gut so! Das Gehirn filtert die permanent eingehende Fülle an Informationen – und speichert vor allem jene, die für uns in Zukunft von Bedeutung sein könnten. Speicherung und Formen des Gedächtnisses Bevor ein Gedächtnisinhalt dauerhaft abgelegt ist, durchwandert er mehrere Stufen der Speicherung. Als Erstes kommt die Information in unser Ultrakurzzeitgedächtnis, eine Art Puffer, in dem alle Informationen, die unsere Sinne erreichen, zwischen 0,1 und 2 Sekunden gespeichert werden. Was das Ultrakurzzeitgedächtnis als wichtig, also merkenswert, erachtet, wird in das Kurzzeitgedächtnis gelassen. Das Kurzzeitgedächtnis ist ein auf sieben (± zwei) Einheiten begrenzter Speicher, die Speicherdauer liegt zwischen ein paar Sekunden bis Minuten. Jede neue Information ersetzt eine Vorhandene. Das erklärt auch, warum es so schwer ist, nach einer Ablenkung die Information wieder zu finden. Unser Kurzzeitgedächtnis ist durch äußere Einflüsse sehr leicht abzulenken. Wenn die Information oft wiederholt oder mit besonderen Emotionen verbunden wird, schafft sie den Weg ins Langzeitgedächtnis. Das Langzeitgedächtnis ist ein permanenter Wissensspeicher. Es speichert alle Eindrücke, Erfahrungen, Informationen, Emotionen, Fertigkeiten, Wörter, Daten und Fakten, die sich im Laufe unseres Lebens angesammelt haben. Es macht das Gesamtwissen einer Person aus. Im Gegensatz zum Kurzzeitgedächtnis ist seine Kapazität praktisch unbegrenzt. Informationen können im Langzeitgedächtnis von Minuten bis zu Jahren gespeichert werden oder sogar ein Leben lang. Gedächtnis und Lerntheorien | Seite 1 2014 Das Langzeitgedächtnis wird in zwei Hauptgruppen unterteilt: deklaratives Gedächtnis (episodisches und semantisches Gedächtnis) prozedurales Gedächtnis Im episodischen Gedächtnis speichern wir alltägliche Erlebnisse, wie das gestrige Mittagessen, woran wir uns eher kurz erinnern, und bedeutendere Erlebnisse, wie die Geburt des Kindes, Todesfälle, das erste Date, die Flitterwochen, etc. Im semantischen Gedächtnis speichern wir generelles Wissen, wie „die Hauptstadt von Frankreich heißt Paris“, „das Taj Mahal ist in Indien“ oder auch "den Satz des Pythagoras". Also alle Erinnerungen oder Bedeutungen von Wörtern und Begriffen, Formeln, Fakten usw. Im prozeduralen Gedächtnis werden Fertigkeiten, die automatisch, ohne Nachdenken eingesetzt werden können, abgelegt. Das sind vor allem motorische Fähigkeiten, wie das Gehen, Fahrradfahren, Rollschuhfahren, Schwimmen, Tanzen oder Skifahren. Erinnerung ist Netzwerk-Arbeit Doch was genau passiert in unserem Gehirn, wenn wir eine Erinnerung speichern? Ein wichtiger Mechanismus, um Informationen dauerhaft im Gehirn zu speichern, ist dessen Fähigkeit, schnell die Zahl und Stärke der Verbindungen zwischen dem riesigen NeuronenNetzwerk zu verändern. In unserem Netzwerk von Nervenzellen kann man sich die Bildung von Erinnerungen folgendermaßen vorstellen: Ein Erlebnis wird im Gehirn durch eine gleichzeitige Aktivierung bestimmter Neuronengruppen verankert. Dieses synchrone Feuern steigert die Tendenz der beteiligten Nervenzellen, auch künftig gemeinsam zu feuern. Je häufiger dies geschieht, desto fester und stabiler werden die synaptischen Verbindungen innerhalb dieses Neuronenverbands. Der Sitz des Gedächtnisses Tatsächlich gibt es keinen spezifischen Ort, an dem alle Erinnerungen abgelegt werden, wie in einem Schubladensystem. Es wird allgemein angenommen, dass unsere Gedächtnisinhalte (und deren Fragmente) weit über das Neuronennetz verteilt sind. Das hat den Vorteil, dass im Falle einer Verletzung nicht sofort alle Gedächtnisinhalte verloren gehen. Wie aber kommen wir nun wieder an unsere Erinnerungen heran? Geklärt ist bislang: Erinnerungen treten auf, wenn im Gehirn ein bestimmtes neuronales Aktivitätsmuster entsteht, das dem Aktivitätsmuster der Gedächtnisbildung ähnelt. Dies kann zum einen über äußere Reize geschehen. Der Duft eines Apfelbaums erinnert uns z.B. an den heimischen Garten unserer Kindheit. Studien zeigten auch, dass Stimmungen, Gerüche oder Orte, an denen man etwas gelernt hat, das Abrufen von Gedächtnisinhalten erleichtert. Wie genau jedoch bewusstes Abrufen von Erinnerungen geschieht, ist noch nicht bis ins Detail geklärt. Was man dann wahrnimmt, ist allerdings nie völlig identisch mit dem Originalerlebnis. Denn wie die persönliche Erfahrung zeigt und die Hirnforschung bestätigt, werden Erinnerungen Gedächtnis und Lerntheorien | Seite 2 2014 bei jedem Aufruf verändert. Mitunter so sehr, dass sie kaum noch etwas mit dem tatsächlichen Geschehen zu tun haben. Transfer Gedächtnishemmungen hindern uns daran, Informationen richtig zu verarbeiten. Dies geschieht durch negativen Transfer, d. h. durch störende Einflüsse, die den Speicherungsbzw. Erinnerungsprozess negativ beeinflussen. Starke Gefühle, Ähnlichkeit oder zeitliche Nähe von zu lernenden Inhalten können solche Störfaktoren sein. Von positivem Transfer spricht man, wenn sich Vorwissen positiv auf neue Aufgaben auswirkt. LERNEN UND LERNTHEORIEN Wir verändern uns ständig nicht nur durch die Aneignung von Wissen sondern auch durch die bewusste und unbewusste Aneignung von Einstellungen und Verhaltensweisen. Lerntheorien liefern Erklärungsmodelle, wie und unter welchen Umständen dies geschieht. Die klassische Konditionierung: Der Begriff der Konditionierung basiert auf den weltberühmt gewordenen Experimenten des russischen Physiologen Pawlow. Gedächtnis und Lerntheorien | Seite 3 2014 Pawlow zeigte in seinen Experimenten Hunden Futter, worauf sie (natürlicherweise) mit verstärktem Speichelfluss (einem biologischen Reflex - unbedingten Reflex) reagierten. Wurde nun den Hunden gleichzeitig mit dem Futter ein Glockenton geboten (ein neutraler Reiz, der nicht von selbst eine biologische Reaktion auslöst), so zeigte sich nach mehrmaligen Versuchen, dass die Hunde schon beim Ertönen der Glocke allein - ohne dass ihnen das Futter gezeigt wurde - den biologischen Reflex des Speichelflusses produzierten. Sie hatten sich daran gewöhnt, dass das Ertönen der Glocke bedeutete: Das Futter ist da! Der ursprünglich neutrale Reiz (Glockenton) wurde durch die Koppelung an den biologischen Reiz (Futter) zu einem so genannten konditionierten Reiz. Diesen Vorgang nennt man Konditionierung: Es wird kein neues Verhalten gelernt, sondern auf künstliche (neutrale) Reize mit angeborenem Verhalten reagiert. Wurde der konditionierte Reiz längere Zeit hindurch allein, ohne biologischen Reiz, dargeboten, so erlosch auch der konditionierte Reflex (Löschung). Klassisch konditionieren kann man alle Reaktionen, die nicht dem Willen unterliegen; besondere Bedeutung hat die klassische Konditionierung in der Verhaltenstherapie, bei der Behandlung psychosomatischer Krankheiten und in der Werbung. Lernen am Erfolg (operante Konditionierung) nach Skinner Hier werden auftretende Verhaltensweisen durch Erfolg (angenehme Konsequenz) gelernt bzw. Misserfolg (unangenehme Konsequenz) verlernt. Versuch: Ratte 1 bekam Futter, wenn sie den Hebel betätigte, Ratte 2 konnte durch das Betätigen des Hebels Strom abschalten, der durch das Bodengitter (siehe Grafik) floss und Ratte 3 erhielt einen Stromschlag, wenn sie den Hebel betätigte. Nach mehreren Versuchen betätigten Ratte 1 und Ratte 2 immer wieder den Hebel, während Ratte 3 den Hebel nicht mehr betätigte. Die Ratten hatten gelernt, Verhalten mit positiven Konsequenzen (Futter bekommen, Strom abschalten) zu wiederholen und negative Konsequenzen (Stromschlag) zu vermeiden. Skinner nannte diesen Lerneffekt: 'Lernen durch Verstärkung' oder auch 'Lernen am Erfolg'. Gedächtnis und Lerntheorien | Seite 4 2014 Lernen durch Beobachtung (soziales Lernen) nach Albert Bandura Ein Großteil unseres Lernens erfolgt durch die Beobachtung von Personen, und zwar durch deren Imitation. Dieses "soziale Lernen" findet überall dort statt, wo eine andere Person als Vorbild auftritt. Vor allem jene Personen wirken als Modellpersonen, deren Verhalten günstige Konsequenzen hervorbringt. Das soziale Lernen spielt eine wesentliche Rolle bei der Sozialisation, durch die ein Kind lernt, sein Verhalten und seine Einstellungen dem allgemeinen Wertsystem seiner Kultur anzupassen. Beim sozialen Lernen ist es gleichgültig, ob die Modelle nun "echt" und körperlich anwesend sind oder "symbolisch" durch Bücher, Filme oder Fernsehen vermittelt auftreten. Gedächtnis und Lerntheorien | Seite 5 2014