Jochen Arnold, Hildesheim: Riskante Liturgien – Kirchliche Inszenierungen (zu Trauer und Gedenken) in einer religiös pluralen Öffentlichkeit 0. Vorbemerkung zur Situation Lacht mit den Lachenden! Weint mit den Weinenden! Die Aufforderung des Paulus an die christlichen Gemeinden ist eine Erwartung an das zutiefst Menschliche. Angesichts von Leid, das über Menschen kommt, das Erschrecken gemeinsam auszuhalten, das Entsetzen zum Ausdruck zu bringen und die Trauer zu teilen, sind grundlegende Ausdrucksformen menschlichen Miteinanders. Um dieser gemeinsamen Trauer Ausdruck zu geben, braucht es auch in Zeiten virtueller Beziehungen Möglichkeiten echter menschlicher Begegnung und dafür wiederum Orte und Formen öffentlicher Rituale, um dieser Gemeinschaft in Trauer Gestalt zu geben. Das ist das Thema Ihrer Tagung und – so vermute ich – auch ein Ziel Ihrer Arbeit überhaupt. Der Titel „Riskante Liturgien“ knüpft an eine Publikation aus dem Jahr 2011 an, die im Auftrag der Liturgischen Konferenz im dt.spr Raum von Kristian Fechtner und Thomas Klie herausgegeben worden ist. Das Wörtchen riskant wird dabei in einem Doppelsinn verwendet. Riskant ist sowohl das Gelingen der Feier als auch der Anlass um den es geht, ein Ereignis, das in eigentümlicher Weise das Risiko des Lebens aufzeigt (Terroranschlag, Amoklauf usw). Die Herausgeber schreiben mit Bezug auf Trauer um die Opfer der Duisburger Love-Parade: „Es hat sich eingebürgert, dass in Situationen, in denen das Gemeinwesen mit Ereignissen konfrontiert ist, die kollektiv bewegen und gemeinschaftlich als Unglück erlebt werden, besondere Gottesdienste stattfinden. […] Die kirchliche Feier deutet das Geschehen, indem sie die damit verbundenen Empfindungen im Modus von Liturgie und Predigt zur Darstellung bringt; sie richtet die Anwesenden […] auf diejenigen aus, um die es geht und gehen soll: Die Zusammenkunft gilt dem ‚Gedenken der Opfer‘… Zum anderen sind solche gottesdienstlichen Feiern in der Öffentlichkeit damit verbunden, dass staatliche Repräsentanten anwesend und beteiligt sind. Die kirchlich gestaltete Liturgie ist verwoben mit einer ‚öffentlichen‘ Liturgie“1, z.B. hieß es in Duisburg plakativ: „NRW trauert.“ Beides scheint mir auch in Ihrem Fall in den KZ-Gedenkstätten zuzutreffen. Ich möchte heute Morgen über drei Dinge mit Ihnen nachdenken, über Musik, Predigt und Liturgie. Ein besonderes Interesse hat der Kollege Mensing auf die Musik gelenkt, mich also auch als Kirchenmusiker angesprochen. Außerdem hat er mir aufgetragen, ich solle doch für dieses spannende Thema nicht nur den multireligiösen, sondern auch gleichsam den „areligiösen“ Kontext mitbedenken, also die Menschen in den Fokus rücken, die hier im Osten Deutschlands schon längst in der Mehrheit sind. Ich nenne sie im Folgenden Menschen ohne religiöse Bindung. 1. Orte und Akteure Um der gemeinsamen Trauer Ausdruck zu geben, braucht es auch in Zeiten virtueller Beziehungen Orte und Formen öffentlicher Rituale. Neben den eigentlichen Schauplätzen von Unfällen oder Katastrophen werden von vielen Menschen oft Kirchen als öffentliche Orte gemeinsamer Trauer gewählt. Ein Hinweis darauf, dass in Zeiten religiöser Vielfalt und schwindender kirchlicher Präsenz in vielen Lebenskontexten, die Kirchen, und hier vor allem die beiden Volkskirchen, als relevante Akteure bei der Gestaltung gemeinsamer, öffentlicher Trauerrituale angesehen werden (vgl. Winnenden). 1 Krisitian Fechtner/Thomas Klie (Hg), Riskante Liturgien, Stuttgart/Mainz 2011, 7f. 1 Manchmal sind es Orte, an denen der Schrecken selbst eine Wohnung bekommen hat, wie in den Konzentrationslagern. Oder Orte, an denen der Schrecken nur kurz eingekehrt ist wie an den Schulen in Erfurt oder Winnenden. Manchmal suchen Menschen auch andere Orte auf, gleichsam „neutrale“ Orte wie das Yankee-Stadion in New York, wo 2001 die Toten des 11. September unter dem Motto God bless America betrauert wurden. Hier waren nahezu alle Religionsgemeinschaften und Vertreter des öffentlichen Lebens (Bürgermeister Giordano u.a.) beteiligt. Damit treten Staat und Repräsentanten des betroffenen Gemeinwesens, der Kommune, einer Schule oder einer Körperschaft sowie andere Religionsgemeinschaften als Mitakteure neben die Kirchen. Gemeinsam stehen sie vor der Aufgabe, der Trauer unterschiedlicher Menschen, mit unterschiedlichen Graden der Betroffenheit, vor allem aber mit divergierenden weltanschaulichen Traditionen und Erwartungen gemeinschaftlichen Ausdruck zu geben. Damit sind wir bei unserer Aufgabe: Welche Formen kann die Beteiligung der evangelischen bzw. der katholischen Kirche an öffentlichen religiösen Trauer- und Gedenkfeiern annehmen, wenn sich dabei Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit zusammenfinden? 2. Beispiele riskanter Liturgien im religiös pluralen Kontext 2.1 Nächtliches Weihnachtslob in Erfurt Fragen wir nun, welche rituellen oder gar liturgischen Erfahrungen der Anrede an Menschen ohne feste religiöse Bindung bestehen. Schon seit etlichen Jahren bietet Bischof Reinhard Hauke2 in Erfurt am Valentinstag Segnungsgottesdienste für Liebende an, gestaltet Feiern der Lebenswende und lädt schon seit 1987 am Heiligen Abend Christen und Nichtchristen zu einem einfachen Wortgottesdienst in den Erfurter Dom ein. Ein „Erfolgsmodell“, bei dem Lieder und Instrumentalmusik eine wesentliche Rolle spielen: Ohne O du fröhliche und Stille Nacht wäre das Nächtliche Weihnachtslob nicht denkbar. Die Zielgruppe sind ca. 35-Jährige ohne christlichen bzw. kirchlichen Hintergrund. Die Veranstaltung sah am 24.12. 2009 fast wie ein klassischer evangelischer Predigtgottesdienst aus: Vorspiel der Bläser (Intrade) - Gemeinsames Lied Es ist ein Ros entsprungen – Begrüßung durch den Bischof und Hinführung zur Feier – Lesung I (Lk 2,1-7) - Improvisationen zu einem Weihnachtslied durch Bläser/Orgel – Lesung II (Lk 2,8-14) – Orgelmusik – Lesung III (Lk 2,15-20) – Predigt des Bischofs – Gemeinsames Lied mit Orgel: Stille Nacht – Glockengeläut – Fürbitten und Vaterunser, Oration des Bischofs – Einladung zum guten Wunsch an den Nachbarn – Segen des Bischofs - Gemeinsames Lied O du fröhliche – Nachspiel der Orgel.3 Es fällt auf, dass Hauke dabei keineswegs auf theologische zentrale Inhalte verzichtet. Jesus Christus wird als der „menschgewordene Sohn Gottes“ prädiziert, Gott wird für das Geschenk seines Sohnes gedankt. Allerdings verzichtet der Bischof bewusst auf geprägte Formeln wie „Der Herr sei mit euch“ usw., die eine gewisse Übung der Gemeinde erwarten. 2.2. „Die Leben ehren die Toten“ - Anatomie München Gerhard Wastl, kath. Pastoralreferent, berichtet von einer Feier für den Anatomiekurs und Angehörige der Körperspender in München unter dem Motto: „Die Lebenden ehren die Toten“. In dieser Gedenkfeier werden u.a. persönliche Statements der Studierenden, aber auch des verantwortlichen Professors vorgetragen. Die evangelische Studierenden-Pastorin hält eine Ansprache, die von Sätzen 2 3 2 Reinhard Hauke, Herzlich eingeladen zum Fest des Glaubens… Projekte für Christen und Nicht-Christen, Leipzig 2009. Vgl. dazu Stefan Schatzler, Riten und Rituale der Postmoderne. Am Beispiel des Bistums Erfurt, Hamburg 2013, 36-43. des Mozart-Requiems umrahmt ist: Das Benedictus und Recordare werden musiziert und ein irischer Segen von J.E. Moore aufgeführt: May the road rise to meet You usw… Die Theologin setzt den Akzent auf Abschied und Neubeginn und die Chance des versöhnten Gedenkens. Am Ende steht der Satz an die Angehörigen: „Lassen Sie sich von dem, was die Studentinnen und Studenten sagen wollen, trösten. Dann gehen Sie befreit, versöhnt, gesegnet: im Frieden mit sich, mit den Toten, mit dem Leben.“ 4Als Nachspiel erklingt – man staunt – J.S. Bachs Choralsatz: Jesus bleibet meine Freude (BWV 147) – und dies nicht etwa nur instrumental, sondern auch mit vierstimmigem Gesang.5 In musikalischer Gestalt werden solche Formen demnach weniger trennend empfunden als rein sprachliche Äußerungen (vgl. das Beispiel Jesus bleibet meine Freude bei der Feier in der Anatomie). In gewisser Weise implizieren sie ästhetische Brechungen von Geltungsansprüchen. Diese Differenz gilt es im Blick auf den Dialog mit Menschen ohne feste religiöse Bindung zunächst positiv wahrzunehmen: Die Musik baut eine Brücke, macht Schwellen niedriger. 2.3 Sunday Assemblies – Gottesdienste von Atheisten für Atheisten Die Beispiele aus Erfurt und München ermutigen freilich dazu, den Reichtum traditioneller und aktueller christlicher Liturgie und Musik zu nützen, denn vielfach ist bei Nichtglaubenden wenig konkrete Erfahrung oder Praxis vorhanden. Dass dies nicht immer so ist, zeigt ein Blick nach England: "Sunday Assembly" heißt die Veranstaltung, wie sie Sanderson Jones zusammen mit Pippa Evans seit Anfang 2013 in London organisiert: Schon an den ersten Sonntagen kamen Hunderte Menschen. Zu Beginn – wen mag das noch überraschen – erklingt Musik: Musik zum Mitmachen und Mitsingen. Mit einem Fuß stampft Jones auf den Boden und nimmt den Takt der Band auf, die hinter ihm den Refrain anstimmt: „Celebrate good times, come on!" Beim Disco-Hit aus den Achtzigern singen fast alle mit und eröffnen so gemeinsam diese Feier von Atheisten für Atheisten. Dabei betont Jones selbst, wie sehr er christliche Gottesdienste immer genossen habe: das Singen, die Geschichten und die Gemeinschaft, die dort entstehe. „Aber ich dachte mir: Wenn ich in meinen Schuhen einen Stein finde, schmeiß ich ja auch nicht die Schuhe weg, sondern den Stein", erklärt er. „Also flog bei unserer Assembly einfach Gott raus.“ Und der frühere Priester Hugh Rayment-Pickard bekundete unlängst in der Church Times, der führenden britischen Kirchenzeitung: Die Sunday Assembly „ist viel näher an authentischer Religion als die verknöcherten Gottesdienste in vielen Kirchen“. 2.4. Öffentliche Trauer 2.4.1 Amoklauf Winnenden (2009) – ökumenische Trauer Im ökumenischen Trauergottesdienst nach dem Amoklauf von Winnenden 2009 – gefeiert in der evangelischen Pauluskirche unter Beteiligung zweier Bischöfe und unter Mitwirkung der Gächinger Kantorei unter Helmuth Rilling – erklangen Sätze aus der Bachkantate Aus der Tiefen (BWV 131), die Sinfonia aus Ich hatte viel Bekümmernis (BWV 21) und ein Christe, du Lamm Gottes aus BWV 23 sowie evangelische Kirchenlieder von Martin Luther (Aus tiefer Not, EG 299) und Paul Gerhardt (O Haupt voll Blut und Wunden, EG 85) sowie das Lied Bewahre uns Gott (EG 171).6 Sehr traditionell und 4 Vgl. Gunda Brüske, Offene Türen: Feiern mit Menschen auf der Suche nach Gott, Freiburg i.d. Schweiz 2010, 77-88, hier: 87. 5 Vgl. a.a.O.88. 6 Nach aktueller Terminologie (vgl. Mit Anderen feiern, 28-30 ) würde man dieses Modell unter der Rubrik „Liturgische Gastfreundschaft“ einordnen. 3 auch auf ein eher hochkulturelles Milieu ausgerichtet. Gleichwohl würdig und gewichtig…. Eine Wertschätzung der Angehörigen und der Opfer. 2.4.2. Nine Eleven 2001 – Trauerfeier am 23.9. in New York Eine neue Dimension gewann das Thema schon einige Jahre zuvor. Weltweit live im Fernsehen übertragen wurde die Trauerfeier A prayer for America am 23. September 2001 aus dem Yankee-Stadium in New York anlässlich des Terroranschlags vom 11. September. Dabei entwickelte sich der Typ einer „multireligiösen Feier“, allerdings ohne dezidierte Beteiligung der Areligiösen. Dieses Feld wurde Christen, Juden, Muslimen und Sikhs überlassen. Die Feier „folgte einer komplexen liturgischen Dramaturgie. Es wurden Reden gehalten […], es wurde (in verschiedenen Sprachen) gebetet, es wurde gesungen, populäre Stars traten auf, lokale Chöre, es gab Solo-Lieder und Lieder zum Mitsingen.“7. Der Hauptteil der multireligiösen Feier wurde durch klar identifizierbare Wort- und Musikbeiträge verschiedener Glaubensgemeinschaften in der folgenden Reihenfolge gestaltet: Jüdische Glaubensgemeinschaft, römisch-katholische Kirche, Glaubensgemeinschaft der Sikhs, Muslime, andere christliche Glaubensgemeinschaften (evangelische und orthodoxe Kirchen). Die Musik war neben Gebeten, Lesungen und Ansprachen das vierte Strukturelement. Sie hatte folgende Facetten: „Es handelt sich einerseits um kurze Signale (die Glocke – zweimal – und das Schofar), andererseits um längere musikalische Stücke, die im Gesamtgeschehen großes emotionales und inhaltliches Gewicht haben: die Nationalhymne, religiös getönte Pop-Songs, Spirituals, Gospels, ‚We shall overcome‘ – ausgeführt von Laienchören und bekannten Stars. Die musikalischen Beiträge markieren Übergänge und Zäsuren.“8 Mehr noch als die Ansprachen war die Musik geeignet, Gefühle der Trauer auszudrücken und den Zusammenhalt der Feiernden zu stärken, sie diente primär der „Expression und Affirmation“. 3. TYPOLOGIE DER FEIERFORMEN (vgl. Mit anderen Feiern, 2006) Typus der Feier Situationen und Orte Merkmale und Probleme 1 Liturgische Gastfreundschaft (Schul-)Gottesdienste in Kirchen oder Schulen, evtl. auch Gebete in Moscheen oder Synagogen (mit christlichen Gästen) Klare Unterscheidung von Gastgebern und Gästen. 7 Die „Gäste“ werden als solche begrüßt, treten aber meist nicht als „Akteure“ auf. Vgl. Peter Cornehl, “A prayer for America”. Der interreligiöse Trauergottesdienst in New York als Beispiel für “Civil Religion” nach dem 11. September, in: Musik und Kirche 3/2004, 146-156, hier: 147. 8 A.a.O., 149 4 Typus der Feier Situationen und Orte Merkmale und Probleme 2 Multireligiöse Feier (Nebeneinander beten) Einschulung oder Schulentlassung, Gebet für den Frieden oder anlässlich von Katastrophen; Gemeinsamkeiten und Differenzen des Glaubens werden deutlich. Ausführende lassen ihre religiöse Zugehörigkeit, z.B. durch die Kleidung, erkennen. Für die öffentliche Wahrnehmung sind solche Differenzierungen wichtig, damit nicht der Eindruck des gemeinsamen Gebetes zu einem Gott entsteht. Problem: Bei Liedern und Segenshandlungen gibt es nur wenige Entsprechungen auf muslimischer Seite. „Neutrale“ öffentliche Orte (Aula, Rathaus, Stadion, Stadthalle etc.), evtl. auch Kirchen oder Moscheen 3 Interreligiöse Feier (Gemeinsamkeiten suchen, mit denselben Worten beten) Ein bestimmter öffentlicher oder privater Anlass (z.B. eine christlichmuslimische Trauung oder Feier eines Übergangs) Gemeinsamkeiten in der Rede von Gott, beim Beten und Singen werden gesucht, Differenzen bewusst ausgeklammert. „Neutrale“ öffentliche Orte (Aula, Problem: Es kann der Eindruck einer Rathaus, Stadion etc.), Kirchen oder "gemeinsamen Religion" entstehen. Moscheen Es besteht die Gefahr der Vereinnahmung und der Verletzung religiöser Gefühle. 4 Feier für alle mit religiösen Elementen Öffentliche Anlässe (Einschulung, Schulentlassung, Einweihungen, Unglücksfälle, Valentinstag) an „öffentlichen Orten“ wie Schule, Rathaus, Gemeindehalle, evtl. auch in Kirchen Feier mit unterschiedlichen Texten oder Symbolen zu Grundfragen des Lebens. Menschen ohne besondere Religionszugehörigkeit (Areligiöse oder Ausgetretene) werden in ihrem Lebensgefühl (z.B. Glück, Trauer) und ihren Fragen (Sinn, Weltverantwortung, Umgang mit dem Tod) ernst genommen. 4. Gestaltungsoptionen in neuer Konstellation (vgl. Soldatenbegräbnisse, EKD, unveröff.) 4.1. Gottesdienst mit „liturgischer Gastfreundschaft“ Modell G1: Christlicher Gottesdienst mit Anwesenheit von Vertretern oder Angehörigen anderer Religionen und/oder von nichtreligiösen Menschen Es wird ein christlicher (z.B. ökumenischer) Gottesdienst gefeiert, an dem auch Angehörige oder offizielle Vertreter anderer Religionen und/oder nichtreligiöse Menschen teilnehmen. Bei der Gestaltung 5 wird ein gemeinsames religiöses Bekennen vermieden, weil man die religiösen Traditionen der anderen Religionen oder der areligiösen Hintergrund respektvoll beachtet. Modell G2: Christlicher Gottesdienst mit Beteiligung von Vertretern oder Angehörigen anderer Religionen und/oder von nichtreligiösen Menschen an nicht-liturgischen Teilen Es wird ein christlicher Gottesdienst gefeiert, bei dem Angehörige oder Vertreter anderer Religionen und/oder Menschen ohne religiöse Bindung bei nicht-liturgischen Elementen mitwirken, z.B. bei der Begrüßung bzw. durch ein Grußwort oder die Formulierung des biographischen Gedenkens. Es können Texte oder Musik aus der kulturellen/religiösen Tradition der Gäste aufgenommen werden. Modell G3: Christlicher Gottesdienst mit Beteiligung von Vertretern anderer Religionen und/oder von nichtreligiösen Menschen an liturgischen Stationen Es wird ein christlicher Gottesdienst gefeiert, bei dem Vertreter anderer Religionen und/oder nichtreligiöse Menschen einzelne liturgische Stücke übernehmen, indem sie z.B. eine Lesung oder ein Gebet oder eine liturgische Station mitgestalten, etwa durch Nennung von Gebetsbitten. Es können Texte oder Musik aus der religiösen oder weltanschaulichen Tradition der Gäste aufgenommen werden. 4.2. Multireligiöse Feier Modell M1: Multireligiöse Feier mit in sich abgeschlossenen Teilen, die jeweils von einer Religion oder Weltanschauung verantwortet und nacheinander gefeiert werden Hier folgen die eigenständigen, in sich abgeschlossenen (gottesdienstlichen) Formate der beteiligten Religionen oder Weltanschauungen aufeinander, z.B. ein islamisches Totengebet auf eine christliche Trauerandacht, auf die dann ein Format folgt, das spezifisch die nichtreligiösen Menschen anspricht, z.B. die Verlesung eines philosophischen Textes mit anschließender Schweigeminute. Dieses Modell erfordert weniger Absprachen im Vorfeld als das folgende Modell, es ist leichter umzusetzen und setzt nicht voraus, dass die Akteure an multireligiöse Feiern gewöhnt sind. Es genügt, dass sie den Ablauf kennen, dass sie bereit sind, sich darauf einzulassen, dass ein Vertreter der anderen Religion nach oder vor ihnen betet. Modell M2: Multireligiöse Feier mit verschränkten oder mehrfachen Elementen Beim zweiten Modell wechseln sich die Religionsgemeinschaften oder Weltanschauungen bei der verantwortlichen Gestaltung der einzelnen Stationen einer Trauerfeier ab. So folgt z.B. auf das christliche Eingangsgebet eine muslimische Lesung oder es werden mehrere Eingangsgebete und anschließend mehrere Lesungen jeweils in unterschiedlicher Tradition nacheinander gesprochen. Nicht vorgesehen sind gemeinsam gestaltete Elemente wie z.B. gemeinsame Gebete. Dies wären Charakteristika einer interreligiösen Feier. 5. Musik als Herzensmacht und Brücke 5.1. Brücke zwischen Immanenz und Transzendenz „Wer weiß nicht um eigene Ergriffenheit beim Hören von Musik, erinnert sich nicht an emotionale Tiefe, vielleicht gar Tränen? Wie kein anderes Medium vermag Musik neue Empfindungen auszulö6 sen und Stimmungen längst vergangener Momente wiederzuschenken. Kein anderes Medium vermag Hingabe zu erzeugen wie sie, vermag im sinnlichen Erleben eine ‚Verzauberung der Welt’ aufscheinen zu lassen, die sogar dem ‚religiös Unmusikalischen’ Transzendenzen beschert.“9 F. Hartenstein behauptet damit, dass Menschen auf musikalische Impulse spirituell ansprechbar seien. Das schlichte Aushalten von Tönen, das Spielen mit Obertönen, ja schon die bloße Wahrnehmung von Naturklängen kann Staunen und Begeisterung, zumindest aber emotionale Berührung auslösen. Man kann dies übrigens sogar messen. Wenn Sie eine Gänsehaut haben, dann steigt der Hautwiderstand, ein Indiz des Ergriffenseins, das bei fast allen Menschen nachzuweisen ist. So what? Was können wir daraus folgern? Selbst Atheisten könnte die Tatsache, dass Musik in vielen Religionen eine Rolle spielt bzw. dass religiöse Fragen beim Musikhören und Musizieren auftreten, zumindest nachdenklich stimmen. Festzuhalten wäre dann immerhin: Musik erweist sich in unterschiedlichen Kontexten als religiös produktive Kunstform. Sie hält die Sehnsucht nach dem ganz anderen wach. Martin Schulz, Präsident des EUParlaments, hat jüngst (2014) bekannt: „Es gibt eine Ausnahme, die für mich beweisen könnte, dass es doch einen Gott gibt: die Musik. Sie entsteht aus Materiellem, ist aber weder sichtbar noch greifbar. Aber sie existiert. Wenn es etwas Göttliches gibt, dann ist es für mich die Musik.“ Ich will Ihnen jetzt gar keine neue Art von Gottesbeweis unterjubeln, aber damit immerhin festhalten, dass möglicherweise auch bekennende Atheisten hier eine offene Flanke zur transzendenten Welt oder zu einer anderen Sphäre artikulieren. Vielleicht können Sie ja mit Julian Barnes sagen: „Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn!“10 Christen reklamieren in diesem Zusammenhang, dass die zentralen Merkmale Leiblichkeit, Affektivität und Zeitgebundenheit nicht nur für die Praxis von Musik, sondern auch für ihren Glauben konstitutiv sind11. Kirchen sind seit Jahrhunderten daher Räume, in denen nicht nur die Verkündigung des Wortes und die Feier der Sakramente, nicht nur Gebet und Bekenntnisse, sondern auch Musik ihren Ort hat. Für Evangelische und Katholische gehört sie unaufgebbar zur Liturgie dazu. Da sind die Glocken vorab, der Klang der Orgel oder anderer Instrumente noch jenseits aller Sprache, aber auch wortgezeugte Musik, die ebenso schlichte wie klare Gregorianik, das Kirchenlied/Choral und die poetisch-musikalischen Kunstformen von Motette, Kantate, Anthem usw. Warum Singen – die Verbindung von Sprache und Klang – so wichtig sind, ließe sich vielfach aufzeigen. Kinder, die singen, entwickeln bessere soziale und sprachliche Kompetenz, Menschen, die regelmäßig im Chor singen, werden durch Glückshormone beschenkt und angefeuert...: Rose Ausländer dichtet passend: Singen Den Freudengesang eines Traumes Den Trauergesang unserer Zeit Das helle Du bist Das finstre Gedröhn und Gerassel der Maschinen Wir müssen wach sein 9 Friedhelm Hartenstein, „Wach auf, Harfe und Leier, ich will wecken das Morgenrot“ (Psalm 57,9) – Musikstrumente als Medien des Gotteskontakts im Alten Orient und im Alten Testament, in: Geiger, Michaela u.a.: Musik, Tanz und Gott, Stuttgart 2007, 101-127, hier: 102. Die Rede vom „religiös Unmusikalischen“ ist eine Anspielung auf Jürgen Habermas, der sie wiederum von Max Weber entlehnt hat. 10 Julian Barnes, Nichts was man fürchten müsste, Köln 2010. 11 Vgl. Christoph Schwöbel, Glaube und Musik, Gedanken zur Idee einer Theologie der Musik, in: Der eine Gott und die Vielfalt der Klänge. Sakrale Musik der drei monotheistischen Religionen, hg. v. Michael Gassmann, Stuttgart 2013, 195. 7 Unsre Stimme wach halten Um singen zu können. Ein ruhiger atmender Morgen. 5.2.Funktionen von Musik und Gesang in einem Trauer-Ritual Christen können den Schatz ihrer Lieder und ihrer Musik auch im „areligiösen Kontext“ rituell einbringen. Ich denke an folgende Funktionen: a) Musik führt auf gemeinsame Stille bzw. auf Formen der Meditation hin. Instrumentalmusik ist zunächst fast ganz deutungsoffen. Allerdings ist zu bedenken, dass biographische Anknüpfungen an bekannte Literaturstücke möglich sind. b) Der Einsatz der Orgel stellt den Effekt einer kirchlichen Assoziation her. Orgelmusik kann Abstoßungseffekte haben, aber auch Vertrautheit und Begeisterung auslösen. Demgegenüber sind Klavier oder andere Instrumente bedeutungsoffener. c) Musik kann als atmosphärisches Medium an eine aktuelle Situation anknüpfen, die durch Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Leid und Glück usw., gerahmt oder unterlegt (!) wird. d) In einem gemeinsam gesungenen Lied können Gefühle artikuliert, aber auch eine Klage an Gott gerichtet werden (z.B. Wie sollen wir es fassen). e) Im gemeinsamen Singen wird Solidarität, vielleicht sogar Geborgenheit erfahren. f) Ein wesentliches Motiv für das Lebensgefühl vieler Menschen ist das Gefühl der Dankbarkeit. M.G. Schneiders Danke-Lied (EG 334) hat das religiöse Lebensgefühl einer Epoche getroffen und wird bis heute von vielen Menschen gerne gesungen. Dankbarkeit kann auch ohne expliziten Gottesbezug artikuliert werden. g) Lieder können politische oder religiöse Bekenntnisse sein, die das Verbindende einer Gruppe oder Gemeinschaft zur Sprache bringen: Mit Atheisten könnte es ein Bekenntnis zur Menschenwürde oder zur Bewahrung der Natur oder zum Einsatz für den Frieden sein. h) Lieder können Geschichten erzählen: von Menschen, vom Leben, von Gott bzw. von einer Welt ohne Gott. Zahlreiche Spirituals sind schlicht Nacherzählungen von Bibelgeschichten, z.B. Didn’t my Lord deliver Daniel; Joshua fit the battle of Jericho u.a. Für kirchenfremde Menschen oder Atheisten sind solche Geschichten sicher zunächst wenig vertraut, müssen aber auch nicht fremder wirken als die Story eines Films oder eines Märchens. i) Konkrete Bitten, z.B. als Segensbitten (EG 170; 171), sind bei einem Schulanfang ebenso denkbar wie bei einem Friedensgebet (vgl. auch EG 416). Hier stellt sich die Frage nach dem Gegenüber. Wer wird angeredet? Ein offenes Du? Der/die Ewige? Der Dreieinige? j) Auch ein musikalischer Segenszuspruch kann (z.B. durch einen Chor vorgetragen) musikalisch daherkommen (z.B. Irischer Segen, vgl. Anatomie München). Manchmal singen Menschen auch ganz unbefangen mit, weil es sich ja um „gute Wünsche handelt“. k) Vorgetragene Fürbitten für Menschen oder Lebewesen in Not könnten mit gesungenen Rufen unterstrichen werden (vgl. EG 178.9.11.12). 8 5.3. Musik bei rituellen Feiern mit Angehörigen anderer Religionen Fragen wir daher, was bei der Vorbereitung einer multireligiösen Feier zu bedenken sein könnte:12 „In der Vorbereitung ist zu klären, was religiöse Musik in der christlichen und der jeweils anderen Religion leisten kann, was jeweils als Musik gilt und was nicht.13 Sämtliche musikalischen Anteile der Feier sollten vorher kommuniziert werden. Dabei werden Gemeinsamkeiten entdeckt wie z.B. die Kantillation in Judentum, Christentum, Islam oder Gesänge in mystischen Traditionen wie Lieder von Gerhard Tersteegen oder Ilaih-Gesänge, d. h. religiöse Lieder mit Lobpreis auf Allah und den Propheten Mohammed, […] etwa vergleichbar unseren geistlichen Volksliedern, jedoch ohne gottesdienstlichen Rang und Charakter. Aber auch in der Musik gibt es Trennendes. In Moscheen werden weder Instrumente verwendet, noch gibt es ein Singen der Gemeinde.“ Vielleicht genügt ja die anthropologische Einsicht: „Da, wo gefeiert wird, stellt sich Musik ein. Darum ist sie auch ein wichtiges Gestaltungselement einer religiösen Feier. Einzelheiten wie gemeinsames Singen oder (liturgischer) Tanz können verabredet werden. Die Ausdrucksformen der Musik sind jeweils kulturell bedingt und müssen darum vorher geklärt werden.“14 An dieser Stelle wird deutlich, dass Musik wie Essen und Trinken, Lieben und Gedenken zum menschlichen Leben auch insofern elementar dazugehört, als sie die Unterbrechungen des Alltags im Fest gestaltet und feiert. 6. Lieder als Anknüpfungspunkte religiöser Weltdeutung Welche Themen gibt es, die Christen und Nichtchristen verbinden und die gleichsam offen sind für eine gemeinsame Welt- und Selbstdeutung? Zunächst einmal liegt es auf der Hand, an die geläufigen großen Lebensfragen zu denken: Leid und Glück, Schuld und Versöhnung, Liebe und Hass, Zusammenleben in der Familie, Miteinander der Generationen und Kulturen, Arbeit und Beruf. Besonders sind es Themen des ersten Glaubensartikels wie „Schöpfung, Fürbitte, Weltverantwortung, Nächstenliebe einen großen Raum ein. Es ist gewiss kein Zufall, dass Lieder wie Lasst uns den Weg der Gerechtigkeit gehen (oder we shall overcome) z.B. in der Friedensbewegung eine zentrale Rolle gespielt haben. Die Montagsgebete in der Leipziger Nikolaikirche wurden dagegen stets mit dem Pfingstchoral O komm, du Geist der Wahrheit (EG 136) eröffnet. 6.1. Staunen über die Natur Naturlieder haben eine lange Tradition. Uralt ist das Schöpfungslob, das in den Psalmen oder auch in alten ägyptischen oder babylonischen Hymnen angestimmt wird. Pars pro toto sei Matthias Claudius Lied Der Mond ist aufgegangen erwähnt. Str. 3 formuliert eine mahnende Anrede an Skeptiker, die bis heute Skeptiker herausfordert: Seht ihr den Mond dort stehen? 12 Gütersloh, 2006, hg. von der Liturgischen Konferenz. Die Publikation dokumentiert die Ergebnisse eines Ausschusses der Liturgischen Konferenz, die religiöse Feiern mit verschiedenen Religionsgemeinschaften unter diversen Vorzeichen (z.B. Liturgische Gastfreundschaft, multireligiöse Feier u.a.) in den Blick nimmt, aber auch Optionen für Agnostiker oder Atheisten bedenkt. 13 Erstaunlicherweise gelten im Islam die Rufe des Muezzins ebenso wenig als Musik wie Pilgergesänge auf dem Weg nach Mekka oder die Koranrezitation in der Moschee, vgl. Eckhard Neubauer/Veronica Doubleday, Art. Islamic religious music, in: New Grove Dictionary of Music and Musicians, 599-610. Vgl. Auch Lorenz Welker, Gesang und Liturgie – Musik und Religion. Historische und kulturwissenschaftliche Überlegungen, in: Wolfgang W. Müller (Hg.), Musikalische und theologische Etüden, Zürich 2012, 11-46. 14 Mit Anderen feiern, vgl. Anm. 32, 75. 9 Er ist nur halb zu sehen, und ist doch rund und schön. So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht seh’n. 6.2. „Ehrfurcht vor dem Leben“ – die Heiligkeit der Erde (Schöpfung) Eine gute Anknüpfung bietet m.E. Albert Schweitzers Rede von der „Ehrfurcht vor dem Leben“. Dazu passt eine alte indianische Hymne, die sich zur Ehrfurcht und Bewahrung der Schöpfung bekennt. Stefan Vesper hat dazu schon 1978 einen Kanon verfasst, der auf zahlreichen Kirchentagen und in der Friedensbewegung gesungen wurde: Jeder Teil dieser Erde ist meinem Volk heilig. 6.3. Klage in großer Trauer Ein bewegendes Lied der letzten Jahre stammt von Eugen Eckert, einem Pfarrer und Dichter aus Frankfurt. Er schrieb es zum Tod einer jungen Frau aus seiner Gemeinde: „ 1.Wie sollen wir es fassen, was nicht zu fassen ist? Es fällt schwer, loszulassen – Und doch bleibt keine Frist. Wir hätten so viel Fragen, wir brauchten doch noch Zeit. Wohin mit unserm Klagen Und unsrer Traurigkeit? […] 2.Das Leben ist verflogen, der Tod trat ein mit Macht… 3. Viel schneller als wir ahnten, zerriss des Himmels Blau. Durchkreuzt ist, was wir planten. Die Welt scheint kalt und grau. Was sein wird? Wer kann’s sagen? O Gott, das Fragen quält. Hilfst du das Leid zu tragen? Hast du Trost, der jetzt zählt? 4. Lass uns Gott nicht versinken, der Schmerz ist übergroß. Dort, wo wir stolpern, hinken, halt uns und lass nicht los. Lass uns darauf vertrauen, dass du das Leben birgst. Hilf uns, auf dich zu bauen, auf Segen, den du wirkst. 10 6.4.Trost im Dunkel Im Lied Stimme, die Stein zerbricht, das von Jürgen Henkys aus dem Norwegischen ins Deutsche übertragen wurde, wird zunächst nicht Gott, sondern der Mensch angeredet und eine ganz besondere Grenzerfahrung skizziert: Stimme, die Stein zerbricht, ist mir im Finstern nah, Stimme, die leise spricht: Hab keine Angst, ich bin da. Trotz erlebter Gefahr, trotz Angst und Dunkel, gibt es etwas, was mich trägt. In den folgenden Strophen wird daraus allmählich so etwas wie Gewissheit. In Str. 3 heißt es: Bringt mir, wo ich auch sei, Botschaft des Neubeginns, nimmt mir die Furcht macht frei, Stimme, die dein ist: Ich bin’s. Hier wendet sich das Lied zur Antwort. Christen und Juden mögen darin einen Reflex auf die Zusage dessen entdecken, der von sich sagt: Ich bin, der ich bin. Sie wissen um seine Worte (vgl. Str. 1), die Felsen zerbrechen und doch auch trösten können und schenken diesem Du ihr Vertrauen. Die Pointe bringt dann freilich Str. 4. Der suchende, in die Welt geworfene Mensch ist nicht mehr allein, sondern weiß sich trotz aller Bedrohung getragen, von dem unendlichen Du, das immer bei mir ist: Ist es dann wieder leer, teilen die Leere wir. Seh dich nicht, hör nichts mehr, und bin gewiss, du bist hier. Transzendenzerfahrungen können nicht festgehalten werden und bleiben doch fest im Gedächtnis. Ein Lied wie dieses hält solche Erfahrungen als göttliche Erfahrung offen /für möglich… „Ersungen“ wird hier eine Gewissheit der Geborgenheit, Trost im Dunkel durch eine ruhige behutsam meditativ schwingende Melodie in d-Moll (6/8-Takt) über 4x2 Takte, die in der Mitte ihren Hochpunkt erreicht. 6.5 Liebe statt Hass: Wo Menschen sich vergessen Die stärkste Macht zwischen Himmel und Erde, die noch größer ist als der Tod, ist die Liebe (vgl. Hld 8,6). Von ihr ist einem Lied von Thomas Laubach (T) und Christoph Lehmann (M) die Rede, das auch Menschen ohne kirchlichen Hintergrund anspricht. Worum geht es? Menschen vergessen sich und verlassen alte Wege, sie bedenken die Liebe und verschenken sich, sie verbünden sich und überwinden den Hass. Im Refrain entsteht dann ein großes Bild: Da berühren sich Himmel und Erde, dass Frieden werde unter uns. Lehmanns Melodie steigt im Refrain zweimal gleichsam himmelwärts nach oben und unterstreicht den „Frieden unter uns“ durch eine emphatische Triole. Ein leidenschaftliches Plädoyer für die Liebe – auch unter den Völkern, auch für Atheisten!?. 6.6 Solidarität und Teilen: Brich mit den Hungrigen dein Brot (EG 420) 1. Brich mit den Hungrigen dein Brot, (a) 11 sprich mit den Sprachlosen ein Wort (b) sing mit den Traurigen ein Lied, (c) teil mit den Einsamen dein Haus. (d) 2. Such mit den Fertigen ein Ziel, (e) brich mit den Hungrigen dein Brot, (a) usw. 6.7 Dankbarkeit, Freude In einem offenen Du klingt die Freude und Dankbarkeit für Schöpfung und Musik an, die Melodie stammt aus Brasilien. Ich sing dir mein Lied, in ihm klingt mein Leben, die Töne den Klang, hast du mir gegeben, von Wachsen und Werden, von Himmel und Erde, ich sing dir mein Lied. Ich sing dir mein Lied, ursprünglich aus Brasilien, übersetzt von Fritz Baltruweit, verzichtet im Gegensatz zum portugiesischen Original gänzlich auf eine konkrete Gottesanrede. Sprachlich-poetisch haben wir ein gesungenes (Lob)gebet vor uns. Gott wird darin – ohne Festlegung auf männliche oder weibliche Attribute – als offenes Du angesprochen: als Hüter des Lebens, Quelle des Lebens, Wunder des Lebens, Freundin des Lebens, Zukunft des Lebens. Wichtig scheint mir der Ausdruck eigener Identität mit autonomer Selbstdeutung: „Im Lied klingt mein Leben“. Es hat Töne und Klänge, Rhythmus und Schwung. Ob die substanziellen theologischen Aussagen, dass Gott uns in seine Geschichte hineinnimmt, seine Nähe heilmacht, dass er verbindet trotz Streit und Verletzung usw., für Atheisten o.W. nachvollziehbar sind, wäre zu prüfen. Exemplarisch soll hier Str. 1 stehen: 6.8 Hoffnung auf Versöhnung/ politisches Engagement: We shall overcome15 We Shall Overcome gilt als einer der frühesten (geistlichen) Protestsongs und war ein Schlüsselsong der US-Bürgerrechtsbewegung. An seiner Wirkungsgeschichte lässt sich wie an keinem anderen Lied im 20.Jh. die politische Wirkung geistlicher Gesänge ablesen. Der Text des Gospels geht auf Charles A. Tindley (1903) zurück, der zunächst den Titel I‘ll overcome some Day wählte. Streikende Tabakarbeiter hatten die alte Hymne der Baptisten I'll Be All Right in We will overcome umgetextet, Horton hatte diesen Text in eines ihrer Highlander Songbooks aufgenommen.16 Berühmt wurde der Song im August 1963, als Joan Baez ihn vor 300 000 Zuhörern auf dem Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit mit Martin Luther-King sang, aber auch auf dem Woodstock-Festival aufführte. Später fand der Song den Weg nach Südafrika, wo er in den Jahren der Anti-Apartheidsbewegung gesungen wurde. In der Friedensbewegung der 1980er Jahre war das Lied sehr populär und taucht seither in etlichen christlichen Liederbüchern auf. Bruce Springsteen spielte den Song am 22. Juli 2012 beim Utøya Memorial Concert in Oslo und widmete ihn den Angehörigen der Opfer des Amoklaufs in Norwegen . Die ruhig schreitende einfache Melodie bricht bei den Worten some day nach oben aus, ein Verweis auf den ganz anderen Tag, der immer noch aussteht. Dadurch wird in der Musik die Spannung von 15 16 Durch Hohes und Tiefes, München 2009, 371, vgl. EG Württ. 652. Beide in siebenstrophiger Fassung. Die erste Zusammenfassung beider Songs ist für den 1. Mai 1945 nachgewiesen Es war der People's Songs Bulletin, eine Veröffentlichung der People's Songs, einer Organisation, der Pete Seeger als Direktor vorstand. Der Song erschien mit einer Einführung von Zilphia Horton. 12 Schon-Jetzt und Noch-Nicht wachgehalten. Nach der einzigen Strophe mit Gottesbezug (Str. 2: Th’Lord will bring us trough) wird aus dem some day ein today: We are not afraid, today. So ermutigt das Lied zum Weiterleben und –hoffen hier und jetzt. Hoffnungsbilder und Visionen einer Welt, in der Menschen gemeinsam Hand in Hand gehen, bewegen bis heute. Sie nehmen dieser Welt den Schrecken der Gewalt und machen mutig zum Widerstand. Ein Lied, in dem sich Christen und Atheisten im Einsatz für den Frieden die Hände reichen. 7 Religiöse Vokalmusik 7.1. Ein Bekenntnis zum einen Gott im Angesicht des Mordens – Arnold Schönberg, Ein Überlebender aus Warschau Durch Musik kann das Gedenken an Schreckensherrschaft und Faschismus wach gehalten bzw. Brücken des Friedens gebaut werden. Peter Bubmann schreibt dazu: „Wenn Menschen Musik schaffen oder hören, kann dies als Ausdruck von Frieden erfahren werden: als Frieden mit sich selbst, in der Gesellschaft, in der Natur oder mit Gott. Musikalische Erfahrungen werden so zum Gleichnis des inneren, gesellschaftlichen oder himmlischen Friedens.“17 Ein Beispiel dazu stammt von dem großen Meister der sog. Zweiten Wiener Schule, Arnold Schönberg. Auf der Titelseite des Autographs seines op. 46 Ein Überlebender aus Warschau notierte er: „This text is based partly upon reports which I have received directly or indirectly. A. Sch.“ Das klingt nach einer Dokumentation, nicht nach religiöser Musik. Und doch ist sie es zutiefst. Hier wird gegen in aufrüttelnder Anrede das Verbrechen angesungen… Doch der Reihe nach: Wie sehr Schönberg die Schilderungen der Verbrechen aus dem Warschauer Ghetto und den KZs aufwühlten, mag man an der Tatsache erkennen, dass er die Komposition innerhalb von weniger als drei Wochen im August 1947 beendete. Schönberg, der immer noch deutsch dachte und schrieb, lässt seinen Erzähler in englischer Sprache vortragen, so als sei die deutsche Sprache durch das Verbrechen zutiefst verunreinigt worden. Nur dort, wo der brutale Feldwebel auftritt, bleibt das Deutsche - gleichsam als Monument der Gewalt und der Schande – stehen (vgl. „stillgestanden, abzählen“ usw.). Am Ende steht dann das vom Männerchor gesungene Glaubensbekenntnis aus Dtn 6,4-7, das Sch‘ma Israel. Ich gebe Auszüge aus dem Libretto Schönbergs in deutscher Übersetzung wieder: „Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Ich muss die Zeit bewusstlos gewesen sein. – Ich erinnere mich nur an den großartigen Moment, an dem alle – wie einstudiert – anfingen, das alte Gebet zu singen, das sie viele Jahre vernachlässigt hatten – das vergessene Glaubensbekenntnis. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich in den Untergrund gekommen bin…. Der Tag begann wie üblich: Wecken, als es noch dunkel war. Raus! Ob man noch schlief oder ob man vor Sorgen die ganze Nacht nicht geschlafen hatte. […] Wir alle, die am Boden lagen und nicht aufstehen konnten, wurden dann auf den Kopf geschlagen… Ich muss bewusstlos gewesen sein. Das nächste, was ich wahrnahm, war ein Soldat, der sagte: ‚Die sind alle tot‘, worauf der Feldwebel befahl, uns alle wegzuschaffen. Dann hörte ich den Feldwebel brüllen: „Abzählen!“ Sie fingen langsam und unregelmäßig an: eins, zwei, drei… „In einer Minute will ich wissen, wie viele ich zur Gaskammer abliefere! Abzählen!“ Sie fingen wieder an… und ganz plötzlich mitten drin, begannen sie das Sch’ma Israel zu singen: Höre Israel: Adonai ist unser Gott, Adonai ist einzig. Du sollst Adonai, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Vermögen. Es seien dies die Worte, die ich 17 Peter Bubmann, Musikalische Friedenserziehung, in ders.: Musik – Religion – Kirche, Leipzig 2009, 89-96, hier: 90. 13 dir heute befehle, in deinem ganzen Herzen: Schärfe sie deinen Kindern ein und sprich zu ihnen, wenn du zuhause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich hinlegst oder dich erhebst. Den Feldwebel, Handlanger und doch Subjekt einer kühl und brutal funktionierenden Maschinerie des Schreckens, interessiert nur noch eines: Wie viele er heute in die Verbrennungsöfen geschafft hat oder noch schaffen wird. Aber dann im sinnlosen Prügeln, in der banalen, menschenverachtenden Ausübung von Gewalt wendet sich das Blatt. Die hilflosen Gestalten besinnen sich, stehen auf und singen. Gemeinsam singen sie ihr uraltes Bekenntnis: Höre Israel. Diesem Hörereignis kann sich kaum jemand entziehen. Die rational kühl konzipierte Zwölftonmusik des Meisters gewinnt in eine gleichsam eschatologische Dramatik und prophetische Aktualität. Das Höre Israel wird zu einer Anrede: zu einem Höre, Welt: „Höre, Welt, und lass dir dies für immer gesagt sein: Tu das nie wieder! Kehre um zu Gott, wo immer du auch bist! Kehre um zum Menschen und sag all das auch deinen Kindern und Enkeln.“ Religiöse Musik kann ein Beitrag zur Gestaltung des Friedens und zum mahnenden Gedenken an das unaussprechliche Leid des Holocaust und anderer Pogrome sein. 7.2.Trost der mütterlichen Stimme – Brahms, Deutsches Requiem (Satz 5) Johannes Brahms‘ „Requiem“ – 1869 uraufgeführt – ist ein überaus persönliches Werk, das eher für den Konzertsaal als die Kirche geschaffen wurde. Durchlebte Trauer steht im Hintergrund: der Tod des Freundes Robert Schumann (1856) und der Mutter des Komponisten (1865) wird verarbeitet. Clara Schumann nannte es daher „ein wahrlich menschliches Requiem“, war es doch das schonungslos Menschliche, was Brahms an der Bibel so fasziniert hat. Dies verhindert nicht, dass traditionelle Momente christlich-liturgischer Trauermusik wie Zitate aufklingen: die Posaune des Jüngsten Gerichts etwa im sechsten Satz oder - wenn auch gebrochen- Traditionen von Totentanz und Trauermarsch im zweiten Satz. Nach einer ersten Aufführung in Bremen 1868 nahm sich der Komponist das Werk nochmals vor uns schrieb einen weiteren Satz für Sopransolo, Chor und Orchester. Er verbindet darin drei selbst ausgewählte Bibelworte mit folgendem Wortlaut: Ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen. (Joh 16,22) Sehet mich an; ich habe eine kleine Zeit Mühe und Arbeit gehabt, und habe großen Trost funden. (Sirach 51,35) Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. (Jes 66,13) In berückender Weise führt Brahms die Traurigkeit in tröstlicher Zwiesprache zwischen Sopran-Solo und Chor zur Freude, ausgehend vom vertraut-intimen Bild „wie einen seine Mutter tröstet“. Trost wird somit nicht abstrakt am Text entlang komponiert. In Musik gesetzt wird vielmehr der Vorgang des Tröstens selbst. Man meint die mütterliche Stimme Gottes selbst zu hören, wenn es auf dem Höhepunkt des Satzes in dialogische Gesten zwischen Chor und Solo heißt: „Ich will euch wiedersehen“. Brahms‘ Musik tut, was der biblische Text sagt. Sie verströmt – zunächst noch gebrochen durch die Seufzer des Schmerzes und die Sehnsucht nach dem verlorenen Menschen – unendlichen Trost. Am Ende beruhigt sich die Musik, der sehnsüchtig rufende Chor kommt zur Ruhe: durch ständiges 14 Nachbuchstabieren, Nachsingen, Nachspüren stellt sich - obwohl der Text erst für die Zukunft Trost verheißt – in der Gegenwart so etwas wie Gewissheit und Geborgenheit ein. Es wäre aufregend, den Vorgang musikalischen Tröstens (unabhängig von Brahms) auch neurologisch zu reflektieren. Vielfach geschieht durch das Hören einer als angenehm ruhig, aber auch nicht statisch wirkenden Musik eine Stressreduktion und Beruhigung des Blutdrucks, die sich z.B. bei depressiven oder traumatisierten Patienten rasch positiv auswirkt. Berühmte Beispiele sind die Air von Bach oder „das Largo“ von Händel. 8. Summa In einer religiös pluralen Gesellschaft Rituale zu Trauer und Gedenken und darüber hinaus zu gestalten, ist eine Herausforderung und eine Chance für die Kirchen bzw. für Menschen, die sich mit Gott verbunden wissen. Der Schatz biblischer Texte, christlicher Liturgien und Lieder ist fast unermesslich. Ein Schatz der Klage und des Trostes, aber auch der Bitte, des Danks und der visionären Hoffnung. Es gilt situativ, rituelle Formen weiterzuentwickeln und Menschen unterschiedlicher Prägung zu begleiten bzw. mit ihnen gemeinsam auf den Weg zu machen. Wir können Gefühle der Trauer ausdrücken und eigene bzw. gemeinsame (kolletkive) Schuld (auch stellvertretend) bekennen. Wir können Trost spenden und im Angesicht von Tod und Schrecken die Hoffnung des christlichen Glaubens formulieren. Wir können mit Menschen nach Formen des Gebetes suchen und gemeinsam singen. Wir tun unseren Zeitgenossen damit einen wichtigen Dienst und geben Gott die Ehre. 15