3 Roma, Sinti und Jenische - Geschichte "Zigeunerpolitik" in Europa Die Ausgrenzung von Roma, Sinti und Jenischen mit fahrender Lebensweise beginnt in der Frühen Neuzeit mit der Herausbildung der Territorialstaaten. Abgesehen von Ländern wie Spanien oder Bulgarien lässt sich seit dem 19. Jahrhudert überall eine Politik der Assimilation mit den Mitteln der Repression, Ausgrenzung und scharfen sozialen Kontrolle einerseits, der Abwehr oder Vertreibung andererseits beobachten. Diese Politik wird nach der Jahrhundertwende sowohl in der Schweiz als auch in Frankreich und im Deutschen Reich verschärft. Fahrende werden erkennungsdienstlich erfasst, mit speziellen Papieren ausgestattet und anderen diskriminierenden Massnahmen ausgesetzt. Im Alltag ist die Abschiebung Praxis, in der Schweiz von 1906 bis 1972 gar oberste Maxime gegenüber ausländischen Fahrenden. Im nationalsozialistischen Deutschland sowie in den von den Nationalsozialisten eroberten oder abhängigen Staaten richtet sich die Verfolgung vor allem gegen Sinti und Roma und unabhängig davon, ob diese eine sesshafte oder fahrende Lebensweise pflegen. Die wissenschaftliche Grundlage für Praktiken von Zwangssterilisation bis Deportation nach Auschwitz liefert der an der rassenhygienischen Forschungsstelle amtierende Rassentheoretiker Robert Ritter (1901-1951), der die Roma, Sinti und Jenischen in "reinrassige Zigeuner", 28 verschiedene Arten von "Zigeunermischlingen" oder angepasste "Nichtzigeuner" einstuft und entsprechende Zwangsmassnahmen empfiehlt. Als besonders minderwertig gelten die "Zigeunermischlinge", da sich diese seiner Theorie nach mit "asozialen Nichtzigeunern" vermischt haben. Zuweilen wird von 500'000 oder mehr Roma und Sinti ausgegangen, die im nationalsozialistisch besetzten Europa dem Völkermord zum Opfer fallen, die genaue Zahl ist jedoch schwer bestimmbar. Robert Ritter unterhält in seinen wissenschaftlichen Untersuchungen regen Kontakt zur Schweiz und stützt sich auf frühere Studien eines Schweizer Arztes und Psychiaters, der gemeinhin als Grundfeste für die theoretische Begründung der Minderwertigkeit von "Zigeunern" angesehen wird: Es handelt sich dabei um Josef Jörger (1860-1933), Direktor der Bündner Psychiatrischen Klinik. Neben Robert Ritter beeinflussen Josef Jörgers Theorien auch Ärzte und Psychiater, die an namhaften psychiatrischen Kliniken der Schweiz eine Schlüsselposition innehaben (z.B. Eugen und Manfred Bleuler, Direktoren der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli in Zürich) und mit dem Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse der Pro Juventute kooperieren (z.B. Ausstellung von psychiatrischen Gutachten). Diese macht es sich zwischen 1926 und 1972 zum Ziel, mit Unterstützung des Bundes die fahrende Lebensweise zu zerstören (u.a. mit Kindswegnahmen). Ein weiterer Rassenhygieniker und Spezialist in Sachen "Zigeuner" ist der Schweizer Arzt und Psychiater Ernst Rüdin (1874-1952), 1925-1928 Direktor der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. Nahezu überall erfolgt zwischen 1960 und 1980 eine markante Zäsur und Richtungsänderung: Integration und Wahrung der kulturellen Traditionen der Minorität der Fahrenden. Seit 1998 sind die Schweizer Fahrenden als nationale Minderheit anerkannt. Literatur Huonker, Thomas; Ludi, Regula: Roma, Sinti und Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus, Zürich 2001. Meier, Thomas: Assimilation, Ausgrenzung, Anerkennung. Schweizerische Zigeunerpolitik im europäischen Kontext, in: Schär, Bernhard; Ziegler, Béatrice (Hg.): Antiziganismus in der Schweiz und in Europa. Geschichte, Kontinuitäten und Reflexionen, Zürich 2014, S. 59-76. Holler, Martin: Zum Völkermord an sowjetischen Roma unter nationalsozialistischer Herrschaft, in: Schär, Bernhard; Ziegler, Béatrice (Hg.): Antiziganismus in der Schweiz und in Europa. Geschichte, Kontinuitäten und Reflexionen, Zürich 2014, S.39-58. Historisches Lexikon der Schweiz (www.hls-dhs-dss.ch). Zentrum für Demokratie Aarau 01.01.2015 3 Roma, Sinti und Jenische - Geschichte Schweizer "Zigeunerpolitik" Die drei Phasen ~1850 Die Gründung des Schweizerischen Bundesstaates 1848 markiert in Bezug auf die Schweizer Politik gegenüber der nichtsesshaften Bevölkerung eine Zäsur. Einheimische Fahrende werden systematisch erfasst und eingebürgert (vgl. das Bundesgesetz zur Heimatlosigkeit von 1850), gleichzeitig wird die fahrende Lebensweise bekämpft (vgl. die Gewerbescheinregelungen oder das Verbot, schulpflichtige Kinder mitzuführen). ~1920 1906 verhängt der Bundesrat ein allgemeines Einreiseverbot für ausländische "Zigeuner", das sogar zur Zeit des nationalsozialistischen Deutschland praktiziert und erst 1972 aufgehoben wird. Im Landesinnern werden - unterstützt durch wissenschaftliche Theorien der Rassenhygiene (vgl. den Schweizer Arzt und Psychiater Josef Jörger) - sozialpolitische Massnahmen gegen Jenische (ob fahrend oder sesshaft) angewendet (z.B. Wegnahme und Fremdplatzierung von Kindern durch das Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse der Stiftung pro Juventute zwischen 1926-1973, Internierung in Zwangsarbeitslager und Strafanstalten, Eheverbote , Zwangssterilisation von Frauen). Von 1926 bis 1973 werden mit Hilfe der Behörden über 600 Kinder ihren jenischen Eltern weggenommen und fremdplatziert, um sie zu sesshaften und brauchbaren Gliedern der Gesellschaft umzuerziehen. Einheimischen Fahrenden wird nach Ausreise oft die Wiederkehr in die Schweiz verweigert. ~1970 1972 wird die Arbeit des Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse der Stiftung pro Juventute öffentlich kritisiert und ein Jahr später - 1973 - eingestellt. Auslöser dafür ist eine Artikelserie des Journalisten Hans Caprez im Schweizerischen Beobachter, die über die Tätigkeit des "Hilfswerks" informiert. Die Jenischen schliessen sich in Organisationen zusammen und setzen sich für ihre Anliegen ein. 1986 entschuldigt sich der Bundespräsident Alphons Egli für die jahrzehntelange finanzielle Unterstützung des Hilfswerks durch den Bund. Er veranlasst, dass eine Aktenkommission eingesetzt wird, die den Zugang der Betroffenen zu den über sie angelegten Akten regelt. Ferner werden die betroffenen Personen finanziell entschädigt (mit einem Betrag zwischen 200020000 CHF). Seit 1998 sind die Schweizer Fahrenden als nationale Minderheit und das Jenische als Sondersprache anerkannt. 1997 wird die Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende ins Leben gerufen; zu ihren Kernaufgaben gehört die Schaffung von mehr Stand- und Durchgangsplätzen. 2003 tritt das nationale Reisendengewerbegesetz in Kraft. Seither können Berufe wie Hausieren oder Wanderhandwerk mit einer einzigen Bewilligung in der ganzen Schweiz fünf Jahre lang ausgeübt werden. Literatur Meier, Thomas: Assimilation, Ausgrenzung, Anerkennung. Schweizerische Zigeunerpolitik im europäischen Kontext, in: Schär, Bernhard; Ziegler, Béatrice (Hg.): Antiziganismus in der Schweiz und in Europa. Geschichte, Kontinuitäten und Reflexionen, Zürich 2014, S. 59-76. Huonker, Thomas; Ludi, Regula: Roma, Sinti und Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus, Zürich 2001. Historisches Lexikon der Schweiz (www.hls-dhs-dss.ch). Zentrum für Demokratie Aarau 01.01.2015