Barmherzigkeit gegenüber Demenzkranken Geh hin! – Einen demenzkranken Menschen besuchen Die Mutter von Frau Mair war eine lebensfrohe und temperamentvolle Frau. Sie engagierte sich in der Seniorenarbeit und war jeden Sonntag in der Kirche. Eines Tages blieb ihr Platz leer – für immer. Die Ursache war eine fortschreitende Demenz. Eines Tages besuchte sie ein guter Bekannter aus der Pfarre. Er gestand anschließend dem Sohn von Frau Mair: „Ich bin ganz erstaunt über sie. Sie hat alles verstanden. Seit Sommer habe ich schon überlegt: Soll ich sie besuchen oder soll ich nicht?“ Phantasien über den Zustand Demenz und die eigene Hilflosigkeit ließen ihn zaudern, hinzugehen. Der ehemalige Bischof von Erfurt, Joachim Wanke, hat die Werke der Barmherzigkeit in unsere heutige Zeit übersetzt; eines davon lautet: „Jemanden besuchen“. Dabei muss ich nicht in Kommunikation perfekt geschult sein. Wer seine eigene Hilflosigkeit als „hilfloser Helfer“ annimmt, kann mit Gottes Gnade in der Begegnung mit einem Demenzkranken etwas Wunderbares erleben. Also: Trau dich, geh hin, wage die Begegnung! Die Angst vor Demenz – Berührung als Balsam für die Seele „Demenz kommt mir teilweise vor wie Aids.“ – So sagte kürzlich ein Arbeitskollege in einem Gespräch. Für viele Menschen ist Demenz ein Schreckgespenst, vor dem man sich hüten muss. Sie reagieren mit panischer Angst, als sei Demenz ansteckend, wenn man mit ihr in Berührung kommt. Freiwillige Mitarbeiter/innen in Alten- und Pflegeheimen erleben immer wieder in der Begegnung mit demenzkranken Menschen zärtliche Berührungen und Umarmungen. Menschen mit Demenz brauchen die Berührung. Eine zärtliche Berührung ist Balsam für ihre Seele – auch für die eigene. Papst Franziskus meint: „Wir dürfen keine Angst haben… vor Zärtlichkeit.“ Denn auch Gott hat keine Angst vor Zärtlichkeit uns gegenüber. Demenzkranke in die Mitte stellen Für an Demenz erkrankte Menschen – und für ihre pflegenden Angehörigen – reduziert sich mit dem Fortschreiten der Erkrankung die Teilnahme am öffentlichen Leben immer mehr. Sie werden irgendwann unsichtbar. Der Mensch lebt davon, dass er am Miteinanderleben anderer teilnimmt, dazu gehört und gesehen (d.h. wahrgenommen) wird. Der ehemalige Bischof von Erfurt, Joachim Wanke, hat als ein Werk der Barmherzigkeit für heute formuliert: „Dem anderen sagen: Du gehörst dazu!“ Demenzkranke und ihre Angehörigen in die Mitte zu stellen, sie in unsere Gesellschaft, in unsere Pfarre, in unser alltägliches Leben hereinholen, sie zur Richtschnur unseres Fühlens, Denkens und Handelns machen – wenn wir dies täten, was würde geschehen? Vergesslichkeit – „Das Herz wird nicht dement.“ Eine 90-jährige Frau in einem Alten- und Pflegeheim hat immer wieder zu mir gesagt: „Lieber schlimmer als dümmer.“ „Den Verstand zu verlieren“, zu „verblöden“, sprich Demenz zu bekommen und vergesslich zu werden wäre für sie schlimmer gewesen als jede andere, schmerzvolle Erkrankung. Sind Demenzkranke wirklich dumm? Gewiss, sie werden Vieles vergessen. Vermutlich werden sie eines Tages nicht mehr wissen, welche Zeit wir haben, wo sie sich befinden, wer ihre Kinder oder wer sie selbst sind… Demenzkranke sind nicht dumm. Sie spüren, wie jemand zu ihnen ist, ob aufrichtig oder falsch, ob liebevoll oder lieblos. Das werden sie nicht vergessen. „Das Herz wird nicht dement.“ (Udo Baer) Die emotionale Intelligenz bleibt erhalten, bisweilen tritt sie stärker hervor als in früheren, sog. gesunden Tagen. Vergessen wir nicht die Bildung unseres Herzens! Demenzkranke erinnern uns bisweilen daran. Gefühle zeigen – Von Demenzkranken lernen Menschen mit Demenz zeigen ihre Gefühle in kreatürlicher Unbefangenheit. Sie lügen nicht. Auch wenn für Außenstehende manchmal nicht nachvollziehbar ist, worauf sie reagieren, machen ihre Gefühlsreaktionen Sinn. Gewöhnlich sind wir Menschen in unserer Gesellschaft so trainiert, dass wir unsere Gefühle höchstens im intimen, privaten Bereich zeigen. Ansonsten heißt es, sachlich sein. Doch die Erfahrung und wissenschaftliche Erkenntnisse belegen deutlich, dass die Gefühle vorrangig vor unserer Verstandestätigkeit auftreten und uns in unserem Denken und Handeln wesentlicher bestimmen als wir meinen und uns manchmal lieb ist. Menschen mit Demenz können uns helfen, aufrichtig mit unseren und ihren Gefühlen umzugehen. Sich in sie einzufühlen und mit ihnen mitzufühlen lässt uns ihnen nahe sein und hilft, sie, zumindest stückweise, zu verstehen. Und in dieser Schule des Herzens lernen wir auch unsere eigenen Gefühle besser wahrzunehmen und sie aufrichtig zu leben. Dezember 2015 Rudolf Wiesmann