4.4. Berlin im Erzählen der jungen Autorengeneration: Tim Staffel, Judith Hermann,Tanja Dückers, Julia Franck, Inka Parei, David Wagner, Wladimir Kaminer, Jochen Schmidt, Katharina Hacker, Antje Rávic Strubel et.al. Neu in der Debutantenliteratur sind, wie erwähnt, literarische Generationsbilder, die vorwiegend im Osten der Stadt angesiedelt sind. Die Portraits zeigen zum Teil eine drastische Stilisierung der subkulturellen Erlebniswerte dieser Orte für eine junge Generation, die vom Westen her den Ostteil der Stadt entdeckt. Vor allem der Prenzlauer Berg fungiert als Abenteuerspielplatz für eine entfesselte, zugleich emotional abgebrühte Jugend, wie sie Tanja Dückers in ihrem Roman Spielzone besonders spektakulär vorführt. In David Wagners Roman Meine nachtblaue Hose siedelt sich eine westdeutsche Studentin im Szenebezirk Friedrichshain an. Entgegen der Annahme, dass Judith Hermann mit Sommerhaus, später, die literarische (Wieder-)Entdeckung des Prenzlauer Berg, d.h. eine zukunftsträchtige West-Ost-Bewegung, einleitete1 (1993 zog sie von Neukölln zum Helmholzplatz um; 1998 erschienen die Erzählungen), ist es Tanja Dückers, die vielleicht noch früher begann, dort ihre Recherchen zu betreiben. 1994 fing sie an, Spielzone zu schreiben, ein Patchworkroman, der 1999 erschien. Tim Staffel setzte sich hingegen von diesem Trend zur literarischen Entdeckung der Szenebezirke Ostberlins in seinem 1999 erschienenen Roman Terrordrom frühzeitig ab. Schauplatz einer gewaltbereiten Jugendszene ist die Westberliner Subkultur mit ihrer türkischen Migrantenbevölkerung im Bezirk Kreuzberg. Dies bedeutete eine bewusste Abgrenzung des Autors von der modischen Entdeckung einer neuen Bohème im Ostteil der Stadt. Aber auch die Variationen der Berliner subkulturellen Schauplätze weisen deutlich darauf hin, dass die Stadtportraits sich zunächst auf den medialen Sensationswert Berliner Jugendkultur beziehen. Hierin liegt bereits der Grund für die mangelnde Kontinuität dieser Art von Stadttexten. So grenzt sich Tanja Dückers von der Festlegung auf das Image einer Berliner Szeneautorin ab. „Hätte ich geahnt - als ich 1994 anfing, ‚Spielzone‘ zu schreiben -, dass dieses als ironische Analyse verschrobener Stadtteile und ihrer Bewohner gedachte Buch plötzlich für marktstrategische Zwecke benutzt wird, hätte ich meine Kritik darin viel krasser 2 formuliert“. Auch Staffel äußert sich distanziert zu seinem Image als Berlinexperte: Ich habe ein Buch geschrieben, das spiegelt nicht das wunderschöne Berlin wider, wie es die Leute alle gern hätten, und jetzt bin ich der Autor, der den anderen Blick auf Berlin hat. Damit bin ich natürlich auch ein Teil des Marktes, und da sondere ich eben meinen Müll zu 3 Berlin ab - was ganz gut passt, weil Berlin auch Müll ist. Judith Hermanns Aussagen zu ihrer Entdeckung der neuen Subkultur Ost klingen hingegen vergleichsweise euphorisch. „Alles stand leer, alles war offen, Ruinen, Dächer, Keller, man zog einfach rum und feierte und hatte eine Zeitlang das Gefühl, man könne sich sein Leben tatsächlich gestalten.“ Die Entdeckung der neuen Stadträume nimmt sie als Zufallsgeschenk ihrer Biographie. „Berlin ist großartig, aber ich habe es mir nicht ausgesucht. Ich bin hier, weil ich 4 immer hier zufällig war.“ (...) Judith Hermann 1 Magenau. „Die neue Lust am Erzählen“. S. 30. 2 Boris Kerenski im Gespräch mit Tanja Dückers. „Leibhaftige Kotze und das Kaliber im Blumenstrauß“. Titel-Magazin für Literatur und Film. November 2000, http://www.titel-magazin.de/dueckers.htm. 3 „Am besten uncool. Ein Gespräch mit Tim Staffel“. Titel. Magazin für Literatur und Film. http//www.titelmagazin.de/staffel.htm. 4 Claudia Voigt. „Wo ist Berlin? Auch die Literatur der Hauptstadt ist eine Baustelle. Ein Besuch bei Berliner Schriftstellern“. kulturSPIEGEL 6/1999. 29.5.1999. Die wahren Innovationen in der Berlinliteratur fanden in einem anderen Sektor der jungen Literatur statt: in den mit realistischen Erzählmitteln ausgemalten Lebensstilen einer postmodernen neuen Generation. Damit komme ich zu Judith Hermanns Bestseller Sommerhaus, später. Aussagen in zahlreichen Interviews der Autorin, in denen sie u.a. recht ausführlich den nach dem großen Erfolg auftretenden Writer‘s Block kommentiert, lassen nachvollziehen, dass sie die melancholischen Seelenzustände ihrer eigenen Generation porträtiert. Berlin bildet nicht in allen Erzählungen des Bands der Hintergrund der Geschichten, aber doch in der Titelerzählung und den Erzählungen Sonja und Balifrau, wohl auch in Camera Obscura und Diesseits der Oder, wobei letztere Geschichte mit dem Motiv des weiteren Berliner Umlands verbunden ist. Hermann erfindet eine Berliner Lost Generation aus dem später nicht mehr wiederholbaren Moment einer Übergangserfahrung heraus, die sowohl stadtkulturell wie biographisch zu verstehen ist. Dankbar geht die Autorin darauf ein, was die Literaturkritik über das Erfolgsrezept ihres „Sounds“ schrieb. „Ich kann das nicht wiederholen. Ich kann nicht mal, wie es manche gesagt haben, den Abschied von der Jugend schreiben“. Zwei Jahre nach dem großen Erfolg gesteht sie: „Ich versuche, den Ton von damals zu treffen, aber er ist weg.“5 Die Erzählungen sind interessant als ein folgenreiches Phänomen auf dem deutschen Literaturmarkt. Das Buch setzte motivische und stilistische Maßstäbe für literarische Trends, vor allem in Hinblick auf einen gewissen Boom der Kurzgeschichte. Das Wichtigste ist, dass in den Berlinerzählungen aus Sommerhaus, später eine stimmige Verbindung aus zeitgenössischen Generationsbildern und der damals als neuartig empfundenen Stadtkultur der Berliner Spätbohème gelingt. Zwar sind die melancholischen Gefühlswelten von Hermanns Protagonisten, das Scheitern in ihrer Beziehungssuche und ihre Egomanie, ein psychologisches Drama, das die Figuren an unterschiedlichen Orten der Welt durchleben können. In Berlin kommt aber in zahlreichen Andeutungen ein Szeneverhalten hinzu, für das die Trendbezirke wie Mitte und Prenzlauer Berg besonders instruktiv ist. Hermann gelingt also eine treffende literarische Bebilderung dessen, was Siemons eine „Szene zweiter Ordnung“ nennt, eine „Szene ohne Grund“.6 Geht man davon aus, dass eine Reihe von Prosatexten der jungen Literatur auch die in der Publizistik in Form von Generationsbüchern florierenden Post-68er-Generationsbilder zum Ausgangspunkt nimmt7, so ist es eine bemerkenswerte Leistung Hermanns, einerseits die Psychologie der „Generation Golf“ stilsicher zu literarisieren und andererseits ein Portrait der postmodernen Spätbohème in Berlin in seiner Entleerung anzudeuten. (...) Von der Großstadtsoziologie Dückers‘ nun zurück zur Erfolgsautorin Judith Hermann. Das Geheimnis von Hermanns Erfolg ist es u.a., dass sie einen Moment von Jugendkultur in den Snapshots des Berliner Hedonismus und der emotionalen Kälte der Szene einfängt, sie diese Momente aber nur verhalten in einem topographisch genauen Stadtportrait andeutet. In der Titelgeschichte etwa wird Insiderwissen zu den neuesten Berliner Trends nur bruchstückweise eingestreut, z.B. in der Nennung von Orten wie dem Roten Salon und in Gesprächen, in denen von Wawerzineks letztem Absturz in der Volksbühne die Rede ist. Bis auf die Szene einer namen- und ortlosen Premierenfeier in Balifrau ist die Clique kaum in In-Locations anzutreffen. Stattdessen findet die Suche nach Reizen und Abenteuern in Ausflügen ins Berliner Umland statt, bei denen Drogen und Alkohol den notwendigen Kick geben. Eine makabre Todessehnsucht scheint eine Rolle zu spielen in einer Szene, bei der beim Eislaufen einer aus der Gruppe 5 Spiegel Reporter. Monatsmagazin für Reportage. Essay, Interview 10 (Oktober 2000). 6 Siemons. „Szenenwechsel“. S. 125 f. Vgl. Kap. 1.7. Anm. 63. 7 Siehe Florian Illies: „Selbst in Judith Hermanns Erzählband Sommerhaus, später, dessen Gestalten aus der Berliner Bohème eigentlich so gar nichts gemein haben mit den Generationsgenossen, die in Heidelberg und Bonn Jura studieren, wird deutlich, daß das Kreisen um sich selbst unsere wichtigste Antriebsfeder ist“. Illies. Generation Golf. S. 146. einbricht und ein hysterisches Lachen die anderen überfällt (Sommerhaus, später). Die Entdeckung des Umlands ist ein trendsetzendes Motiv in Hermanns Geschichten. Endstation Sehnsucht für eine reizüberflutete Clique ist das Sommerhaus in der Uckermark, ein Wunschort, der der Gruppe ein Zuhause geben könnte. Der Clou in der Titelgeschichte ist natürlich, dass auch dieser von dem Außenseiter Falck geträumte Gegenentwurf tragisch scheitert. Die Gegenwartsszenen werden, wie Hermann selbst sagt, in einer „tantenhaften“ Sprache eingefangen. Das Stichwort tantenhaft ließe sich übersetzen durch einen Hinweis auf Hermanns Ausrichtung an den Klassikern der Kurzgeschichte, u.a. die Kunst der Auslassung, was als der Lakonismus oder die „Ästhetik der Verarmung“ ihrer Schreibweise bezeichnet wurde. „Ich habe wirklich befürchtet, dass für die Alten manches, wie etwa Drogen und Massive Attack, unverständlich bleibt. Und bei den Jungen habe ich gedacht, es funktioniert nicht, weil es so tantenhaft erzählt ist, nicht szenig 8 genug.“ In Hermanns wohldosierter Mischung aus eingestreuten Schockmomenten des Szeneverhaltens und Kunstsprache werden die Geschichten attraktiv für eine breite Leserschaft. Da nun Judith Hermann nach fünfjähriger Pause mit dem Erzählband Nichts als Gespenster eine Fortsetzung der „Minitragödien unreifer Herzen“ (Radisch9) lieferte, ist es sinnvoll, die gewisse Monotonie ihrer Themen, aber auch das Erfolgsprinzip ihrer Kurzgeschichten weiter zu verfolgen. Die Unterschiede zwischen den beiden Bänden sind nicht unwichtig, um rückblickend nach der innovatorischen Bedeutung dieser Erzählkunst zu fragen. Auch der zweite Band wurde ein Bestseller, erfüllte und übertraf die Erwartungen an eine junge Autorin der Gegenwartsliteratur, die Geschichten erzählt, als ob es den Sturmlauf der Moderne nicht gegeben hätte. Wiederum stellt Hermann Einsichten in eine Lebensstilmoderne vor und erfüllt ihr Image als Expertin der Denk- und Empfindungsweisen ihrer Generation. Die literarische Entwicklung der Autorin zeigt, dass eine ursprünglich noch vorhandene Bereitschaft auch zu grotesken Einfällen einer zunehmenden Homogenisierung des Arsenals der Lebensprobleme ihrer Globetrotter gewichen ist. In dem Band Die Stadt nach der Mauer hatte die Autorin noch einen Staffels apokalyptischen Phantasien nicht unähnlichen Text beigesteuert, die Geschichte Regenviertel. Hier leben die späteren Szenegänger noch in einem Zustand der Anarchie, streunen wie Bettler durch einen Sperrbezirk, plündern und feiern - und leiden ein wenig auch an sich selbst. Der bekannte Hermann-Sound kündigt sich bereits an. Wir liefen langsam ins Viertel zurück. Wir sprachen wenig, und Heinze schien müde und erschöpft. Ich wußte, daß es Leute gab, die sich einfach an den Expreßzug hängten, und so das Viertel verließen, ich wollte ihn fragen, ob er jemals daran gedacht hatte, das Viertel zu verlassen, aber ich tat es nie. 10 Das soll nicht heißen, dass Hermann nicht später gut daran getan hat, die urbane Kulisse für ihr Hauptthema, die inneren Leiden ihrer Generation, nach realistischen Vorgaben zu gestalten, aber die Bereinigung von Elementen aus der Untergrundpoesie fällt auf. Im Blick auf die „Professionalisierung“ der jungen Literatur ist Hermann außerdem geradezu der Paradefall einer Autorin, die sich zuerst unter der Leitung des Starjournalisten Alexander Osang ausbilden ließ und schließlich mit Hilfe autodidaktischer Lektüren und nicht zuletzt der Anleitungen in der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin ihren Stil fand.11 8 Interview von Stefan Jäger mit Judith Hermann. Jetzt online - Literatur - Text. Goethe-Institut. http://www.goethe.de/z/jetzt/dejzus48/dejzus48.htm. 9 Radisch. „Berliner Jugendstil“. Vgl. Kap. 4.1. Anm. 13 10 11 Judith Hermann. „Regenviertel“. Die Stadt nach der Mauer. S. 209. Typisch für eine Berliner Schriftstellerkarriere ist auch die Förderung der Autorin durch Berliner Salons und Literaturagenturen. Die Berliner Salonière Karin Graf betreute sie; 1999 wurde sie von Britta Gansebohm im Podewil vorgestellt, Monika Maron hörte sie bei einer Lesung und machte den Fischer Verlag auf das junge Talent aufmerksam, und schließlich ereignete sich der Durchbruch Hermanns in der Besprechung ihres Debüts im Literarischen Quartett , wo die Kritiker Marcel Reich-Ranicki und Hellmuth Karasek die neue Autorin enthusiastisch lobten. Siehe Keine Angst vor großen Gefühlen. Die neuen Schriftstellerinnen. Hg. Wiebke Eden. edition ebersbach: Berlin, 2001. Kap. „Judith Hermann. „Eine Geschichte nimmt mich an die Hand“, S. 33-43. Eher zögernd hat die Autorin schließlich das Geheimnis ihres wichtigsten Vorbilds gelüftet, der vor allem für die Stilentwicklung in Sommerhaus, später relevant ist. Nebst anderen klassischen Erzählern wie Katherine Mansfield, Marie Luise Kaschnitz und Truman Capote ist es 12 Raymond Carver. Hermanns Stil ist ausschweifender und lyrischer als Carvers Lakonismus, doch teilt sie mit dem Vorbild die Kunst der Auslassung „under the broken and unsettled surface of things“, die Momente von Trauer, Versagen und sprachloser Sehnsucht hervortreten zu 13 lassen. Unübersehbar ist, dass der ‚Carverismus‘ ein inhaltlicher und stilistischer Fixpunkt von Hermanns Erzählens ist. Er ist letztlich dafür verantwortlich, dass es in ihrer Prosa eine Reihe von Selbstläufern in ihrem elegischen Tonfall gibt, die leicht zu parodieren sind.14 Im Allgemeinen aber sind die Dialoge von einer frappierenden Schlichtheit. Der Hauptsatzstil hat Prinzip und stellt das Dilemma der Kommunikationsunfähigkeit der jungen Generation dar. In Gesten und körpersprachlichen Signalen sprechen die Figuren aus, was sie verschweigen. Nicht überraschenderweise sind dies, wie in der Titelgeschichte besonders gut nachzuvollziehen, ihre wahren Wünsche und Begehrungen. In Hermanns Schreiben sind unterschiedliche Ausformungen des ‚Carverismus‘ zu erkennen und damit der Art und Weise, wie die von Hermann beeinflusste Internationalisierung des jungen deutschen Erzählens ihren Lauf nahm. In dem Erzählband Sommerhaus später wird das Carversche Sehnsuchtsmotiv knapper und noch ökonomischer behandelt als in den Erzählungen Nichts als Gespenster. Nicht nur sind die Erzählungen des zweiten Bands länger, komplexer und elaborierter. Radisch stellt mit Recht im Blick auf den späteren Band fest: „In Sommerhaus, später wurde die blaue Blume eines unverwechselbaren Erlebnisses noch hinter jeder Straßenecke vermutet [...] Jetzt vollziehen alle nur noch die Gesten einer Sehnsucht, die sie selbst nicht mehr 15 glauben.“ In Sommerhaus, später zeigt die Kürze der Geschichten, der nie fehlende Hintergrund einer Lebenskrise und auch die Ausrichtung am vieldeutigen, entlarvenden Höhe- und Schlusspunkt den Einfluss des Vorbilds deutlich an. Zu erinnern ist aber an die unvergleichlich radikalere Darstellung von Lebenskrisen im kunstvollen Dialogstil Carvers, wo das Reden aus dem Takt gerät, wie z.B. in der Titelerzählung des Bands Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden. Bei Carver sind überhaupt die Sinnkrisen bedrohlicher, untergründiger und komplexer motiviert. Es ist kaum zu erwarten, dass die junge Autorin zu den hellsichtigen psychologischen Analysen des Leidens des amerikanischen Mittelstands durch den Großmeister der Kurzgeschichte vorstößt. Ein letztlich human ausgerichtetes Erzählkonzept gibt es bei Carver in den Schilderungen der Momente, in denen verdrängte Gefühle den Panzer von Smalltalk und auch die Gewöhnung an die Einsamkeit durchbrechen. Jedoch zeigt die Rezeption Carvers in der neueren deutschen Gegenwartsliteratur, etwa bei den Autoren Ingo Schulze und Ralf Rothmann, dass die Melancholie der Carverschen Alltagstragödien zur Deutung sozialer deutscher Realität eingesetzt wird, am deutlichsten bei Schulze, der Carvers Stilprinzipien für die Darstellung des Überrolltseins der ehemaligen DDR-Bevölkerung durch die westliche Kultur in seinem Roman Simple Storys verwendet. Schulze sagte: „Innerhalb kürzester Zeit hatten D-Mark und Bundesrepublik aus dem Osten Deutschlands ein Land gemacht, das demjenigen Carvers 12 Siehe das am 4. März 1999 geführte Gespräch von Harris Dajic und Volkmar v. Pechstaedt mit der Autorin in Göttinger Zeitschrift für neue Literatur. Als Autoren, die sie wesentlich beeinflusst haben, nennt Hermann Raymond Carver und Thomas Manns Erzählungen. http//: www. Hainholz.de/wortlaut/jhinverv.htm. Allerdings sagt sie auch, dass sie sich mit Carver erst nach dem Abschluss der Geschichten beschäftigt habe. Ihr „Versuch“ über Carver allerdings enthüllt die Zentralität des Vorbilds. Siehe: Hermann. „On Carver. Ein Versuch“. Raymond Carver. Kathedrale. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Helmut Frielinghaus. Berlin: Berlin Verlag, 2001. S. 9-16. 13 Hermann. „On Carver“. 14 Siehe Jochen Schmidt. Triumphgemüse. Vgl. Anm. 48. Schmidt parodiert hier Hermanns Stil: „Ich rieche schon die Rosenblüten im Titel, Nebelschwaden, ein leiser herbstlicher Wind, der die Blätter rascheln macht, und ein Mädchen geht in drei Schals gewickelt über einen Friedhof und fragt sich, ob die Ameisen im Winter frieren.“(S. 69). 15 Radisch. „Berliner Jugendstil“. 16 ähnlicher war als dem seiner eigenen Vergangenheit.“ Solche Einsichten in den Zusammenhang zwischen literarischen Mitteln und kritischem Zeitgemälde fehlen bei Hermann. Der ungleich artifiziellere Kunstgriff in Schulzes Simple Storys, der nach dem Vorbild von Altmans Shortcuts die Lebenswege seiner Figuren verschachtelt, ist der Grund, warum es zu der Auffassung kam, dass die neuere deutsche Zeitprosa in Schulzes melancholischer Provinzstudie der Nachwendezeit so viel besser gelungen sei als Hermanns Stilisierung des Weltschmerzes der Berliner Hedonisten. Dem Hohelied der neueren deutschen ‚Provinzliteratur‘ nach dem Erfolg der Simple Storys und einer hieraus abgeleiteten Abwertung der Berliner Impulse für die deutsche Gegenwartsliteratur ist allerdings die Vielfalt der Berlintexte des Zeitraums entgegenzustellen. Die nun weiter zu besichtigenden innovativen Elemente in den Großstadttexten der jungen Berliner Autoren und Autorinnen bestätigen dies. (....) Wladimir Kaminer Es gibt nun Gründe, die skurrilen Berlintexte Wladimir Kaminers aus diesen Variationen der Selbstbilder der jungen literarischen Ostberliner Szene herauszunehmen. Der Alltagsrealismus Kaminers enthält kohärente Züge einer Stadtpoetik, die ebenfalls dem Bohèmeleben am Prenzlauer Berg entnommen sind. Dies verdankt sich dem Blick des russischen Emigranten auf seine Wahlheimat, generell aber auf die bizarren Konfigurationen des multiethnischen Berlins, das der Neuberliner nach seiner Ankunft im Jahre 1990 kennen lernt. Es ist erstaunlich, wie Kaminer aus dem Erfahrungsschatz dieser Anekdoten den Sprung zu einem Preisträger der deutschen Literatur geschafft hat, d.h. zu Auszeichnungen, die ihm wegen seines fremden Blicks auf deutsche Zustände zuteil wurden. Für das Genre der Stadtliteratur erfindet Kaminer absurde Szenen und Bilder, die sich von der unterhaltsamen Untergrundliteratur, zu der er selbst gehört, zunächst abheben. Die Tradition russischer surrealer Übersteigerung in der Gesellschaftsanalyse, die in der postsowjetischen Prosa wie z.B. in Pelewins Roman Generation P zu sehen ist, mag der Grund dafür sein, warum sich bei Kaminer eine ungewöhnliche Mischung aus Humoreske und surrealer Verfremdung entwickelte. Dies ist sowohl in einigen Geschichten des Erstlings Russendisco (2000), mehr noch aber im Band Schönhauser Allee (2001) nachzuvollziehen. Gewiss ist im Debütband auch der kurze Text Russendisco enthalten, der als literarisches Dokument für den Sturm auf die im Kaffee Burger stattfindenden Partys zu verstehen ist. Nebst russischen Emigrantengeschichten und Kaminers Rückblicken auf seine Übersiedlung nach Deutschland zeichnet sich der Debütband durch witzig formulierte Beobachtungen der neuen Heimat aus. In der Geschichte Die Mücken sind anderswo erscheint Berlin aus der Perspektive des leiderprobten Russen wie ein Kurort. Der auswärtige Beobachter fasst das Paradox Berlins folgendermaßen zusammen: „Natürlich hat Berlin auch Makel, die Nazis [...]. Dafür ist es hier mückenfrei.“17 Von den Einblicken in die Erlebnisse russischer Emigranten, die dem Ort Berlin ein schillerndes metropolitanes Flair verpassen, abgesehen, sind Kaminers auf Lacheffekte abgestellte Texte nicht sehr unterschieden von den anderen unterhaltsamen Geschichten, die in der allsonntäglichen Leseveranstaltung im Kaffee Burger Heim und Welt vorgetragen werden. Vielleicht ist sein Sprachwitz nur noch einen Grad besser. Die Geschichten in dem Band Schönhauser Allee sind jedoch konzentriert auf das Motiv eines besonders merkwürdigen Stadtlebens in einem Arbeiterbezirk, in dem sich Emigranten wie Kaminer selbst angesiedelt haben. Das Leben auf der Schönhauser Allee gleicht oft einem Film, einer Gegenwartsfiktion mit großen Produktionskosten und unzähligen Statisten. Kaum geht man aus dem Haus, schon steckt man in einer aufregenden Episode: die Flugzeuge, Straßenbahnen, Züge, Autos und Radfahrer sorgen für große Turbulenzen und verschaffen einem so die Illusion ewiger 16 Ingo Schulze. „Endstation Sehnsucht“. Raymond Carver, Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden. Aus dem Amerikanischen von Helmut Frielinghaus. Berlin: Berlin Verlag, 2000. S. 9-16. 17 Wladimir Kaminer. Russendisko. Goldmann: München, 2000. S. 84. Bewegung. Alles dreht sich um dich. Auch viele Liebesgeschichten, die sich in unserer Gegend abspielen, haben inzwischen etwas Cinematographisches an sich. zum Beispiel die von Erik und Larissa. 18 Übertreibung ist das Prinzip der Alltagsszenen, die Kaminer zum Beispiel in den Erlebnissen in seiner eigenen Wohnung in einem Berliner Mietshaus schildert, das von einem alten Junggesellen, Vietnamesen, einer islamischen Familie und einer lässigen Junggesellin bewohnt wird. Die Geräuschkulisse, die z.B. durch die „moderne islamische Familie direkt unter uns“ geliefert wird, stellt eine der Merkwürdigkeiten des Berliner Stadtlebens dar. „Am Nachmittag wird so etwas Ähnliches wie Fußball gespielt. Mit vielen Toren. Ab 20.00 Uhr ist Rennen angesagt. Eine Runde - eine Stunde.“ (S. 24). Kaminer gelingen aber auch scharfe Beobachtungen der Umbrüche der kapitalistischen Mechanismen in der Schönhauser Allee. Die Einzelhändler widersetzen sich heroisch dem Einzug von Großkonzernen und sorgen für den Bestand einer exotischen TrashKonsummeile mit immer wieder neu öffnenden und schließenden Geschäften. Literarisch bemerkenswert ist allerdings Kaminers Fähigkeit, dies Milieu surreal zu verfremden. So steigen „berühmte Persönlichkeiten“ wie Charles Bukowski aus einem Auto, weiterhin erscheint auch Elvis Presley in den Alltagsgestalten der Stadt, und der Autor imaginiert aus einer Ansammlung von Bettlern einen Kongress von Wissenschaftlern und historischen Persönlichkeiten, Albert Einstein, Niels Bohr und Friedrich Engels mit seiner „verlebten Braut“. Allerdings sieht nur der Schreibende diese verrückte Ansammlung: „Das nichts ahnende Publikum läuft an der Bank vorbei, das gemeine Volk interessiert sich so gut wie gar nicht für Relativitätstheorien, eher für Konsumtheorien.“ (S. 53)19 Das Phänomen des Kultautors Kaminer, so sei abschließend gesagt, speist sich mit Sicherheit nicht aus der literarischen Qualität der grotesk verfremdenden Großtadttexte, eine Technik, die der Autor zweifellos souverän beherrscht. Was insgesamt die Innovationen des Genres wie auch die Proklamationen einer neuartigen „Untergrundliteratur“ angeht, so profitieren sie doch allzu sehr von den Strategien der Imagestifung im Kulturbetrieb der Stadt, die sich auch in den gelungeneren Texten Kaminers niederschlagen. Deren primärer Unterhaltungswert ist auch in Kaminers Berlingeschichten nicht zu übersehen. Dies trennt ihn schließlich von der avantgardistischen Surrealistik Moskauer Stadttexte des Bands Traumbuch 20 Stadt, mit denen der Autor in Verbindung gebracht werden könnte. (...) Inka Parei Vom „Berliner Untergrund“ wieder zurück zu den Ansätzen eines neuen realistischen Erzählens bei den jungen Berliner Autoren und Autorinnen. Inka Pareis Roman Die Schattenboxerin21 wurde nicht nur als ein „starkes Debüt“22 gefeiert, sondern auch als eine Neuerfindung des Großstadtromans.23 Die Schattenboxerin ist, wie Katharina Döbler feststellt, ein 18 Wladimir Kaminer. Schönhauser Allee. Wilhelm Goldmann Verlag: München, 2001. S. 18. 19 Weitere Beispiele von Kaminers Beschreibung der nicht nur russischen, sondern auch multikulturellen Lebensweisen in Berlin, namentlich des Prenzlauer Bergs, nennt Sabine Fischer-Kania in dem Artikel „Berlin, von Moskau und anderswo betrachtet. Stadtwahrnehmungen in Wladimir Kaminers Russendisko und Schönhauser Allee.“ „Weltfabrik Berlin“. Eine Metropole als Sujet der Literatur und Landeskunde. Hg. Matthias Harder und Almut Hille. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2006. S. 257-272. 20 Siehe Traumbuch Stadt. New York - Berlin – Moskau. Zu den Moskauer Beiträgen vgl. Kap. 3.6. Anm. 25. 21 Inka Parei. Die Schattenboxerin. Roman. Schöffling & Co., 1999. 22 Ursula März. „Hell und Dunkel in Berlin. Noch ein Fräuleinwunder: Inka Pareis wohlkalkuliertes Debüt „Die Schattenboxerin“. Frankfurter Rundschau, 24.11.1999. 23 Kolja Mensing. „Bröckelnde Kulissen, zerfranste Territorien. In ihrem Debüt ‚Die Schattenboxerin‘ fängt Inka Parei schon mal an, den Stadtroman neu zu erfinden“. Die tageszeitung, 13./14.11.1999. Berlinroman bzw. einer der Versuche, aus dem „ominösen Metropolenbegriff“ eine neuartige Fiktionalisierung hervorzubringen. Der Roman „zeigt die Stadt von der destruktiven und armseligen Seite, und er tut es gründlich.“24 Das Debüt Pareis ist aber auch in erster Linie ein Exempel, wie eine junge Autorin die formalen Möglichkeiten des neuen Erzählens für sich entdeckt. Ähnliche Kategorien wie die, die für Hermanns und Francks Erzählen gebraucht wurden, stehen parat. Die Kunst der Auslassung und der Verknappung läuft bei Parei auf eine Spannungsästhetik hinaus, die die rätselhaften Momente der Handlung unterstützt. Kühles Observieren, Andeutungen, Zeitsprünge, die erzählerische Distanz zu den Figuren, und dies gar auch in der Ich-Perspektive - es geht immer auch um stilistische Kriterien, die für die junge Autorin eine wichtige Rolle spielen. Auch in Pareis Berlinroman möchte ich die Merkmale der Debütantenliteratur herausstellen, d.h. deren Lust an der Innovation, der Erprobung neuer Mittel, um gewohnte Erzählmuster zu durchbrechen. Erklärende Reflexionen politischer und zeitgeschichtlicher Art zu Erfahrungen, die man in der Stadt machen kann, bleiben im Allgemeinen aus. Weiterhin deutet sich bei Parei, wenn auch in weniger ausgeprägtem Maße als bei anderen jungen Vertretern der Berlinliteratur, ein Generationsbild der Spätneunziger an. Die IchErzählerin hat postromantische Züge der Selbstbezogenheit, eine wortwörtlich, d.h. mit Hilfe asiatischer Kampftechniken erworbene Schlagfertigkeit und Abhärtung. Aber auch die Tatsache, dass die weibliche Figur einer intimen Beziehung eher kühl und misstrauisch begegnet, ist weniger ein Beitrag zum Portrait der Beziehungslosigkeit der spätneunziger Jugendbilder. Das liegt daran, dass diese Eigenschaften im Plot begründet sind. Sie haben ihren Grund in einem Vergewaltigungstrauma in der Vergangenheit der Protagonistin, das sie zum Abbruch jeglicher sozialen Kontakte und in den Rückzug in ein Abrisshaus in Berlin-Mitte gedrängt hatte. So erfindet Parei eine tragische, unter dem Druck großer Spannung stehende, aber auch wehrhafte und rational vorgehende weibliche Einzelgängergestalt. In Pareis Roman soll sich der Leser ganz auf die psychologischen Konflikte der Protagonistin konzentrieren. Die weibliche Gestalt ist eine internationalistisch inspirierte Kunstfigur in einer beziehungsreichen Berliner Kulisse. Sie ist nicht für die Reflexion deutscher Geschichte und deutscher Vergangenheitsbewältigung zuständig, auch wenn die Brüche der Stadtgeschichte an einigen Stellen mit den Emotionen und Erinnerungen der Protagonistin in Verbindung gebracht werden. Dies sollte vorweg angemerkt werden, um auch die Einordnungen des Romans durch Hanna Siebenpfeiffer und Doerte Bischoff ins rechte Licht zu rücken, die Pareis Berlinroman als einen besonderen Höhepunkt in der Stadtdarstellung entdeckt haben. Eine „Topographie des 25 Seelischen“ (Siebenpfeiffer) gelingt Parei in der Darstellung Berlins zweifellos, und zwar durch die Einarbeitung von Traum- und Symbolisierungstechniken, in denen die Stadttopographie für das Thema des Selbstverlusts und der panischen Abkapselung gegen die Umwelt gebraucht wird. Fraglich ist allerdings, ob dies Etikett für weitere Beispiele von Berlinliteratur verwandt werden kann, wie in den Überblicksdarstellungen des Aufsatzes behauptet wird. Ähnliches gilt für Bischoffs Einordnung von Pareis Roman in Prinzipien der Stadtmetaphorisierung als Körper und Wunde im Zusammenhang mit von den Erzählintentionen her gänzlich unterschiedlichen Romanen wie Nootebooms Allerseelen und Hettches NOX26. Parei als Vertreterin der jungen, 24 Katharina Döbler. „Dreck, viel Dreck. Stadtbild mit Mensch - Inka Parei versucht sich an einem Berliner Roman“. Die Zeit, 11.11.1999. 25 Siebenpfeiffer. „Topographie des Seelischen“. Die Vergleiche von Beispielen von Berlinliteratur, neben Parei auch Schramm, Staffel, Monoudis etc., in dem Überblicksartikel vernachlässigen allzu sehr die unterschiedlichen Ausgangspositionen des jeweiligen Schreibens über Berlin. Vgl. Kap. 2.1. Anm. 35. 26 Bischoff. „Berlin Cuts“. Hier geht es um den Topos des „Stadtkörpers“ mit seinen „Verletzungen“ und den hieraus entspringenden Assoziationsbereichen von Gewalt in der Berlinliteratur. Diese sind aber abhängig von der geschichtsphilosophischen Aufladung der Narbensymbolik bei Nooteboom bzw. einem entsprechenden Sinnbildcharakter, den Berlin für Nooteboom unter den Städten der Welt einnimmt, bzw. von den polemischen Intentionen Hettches, die die deutsche Vereinigungsrhetorik brechen wollen. Bischoffs Lesart bezieht sich auf die Imagination der Stadt in Pareis Roman, wie sie in Darstellungen der Körpermetaphorik in neuerer Berlinliteratur zu beobachten ist, also in Figuren‚ die „in ihrer eigenen Körperlichkeit von einer Dynamik der Verletzung und Zerteilung ergriffen werden“. Damit sollen sie gar internationalistisch orientierten Schriftstellergeneration schreibt gemäß den Inspirationen eines psychologischen Dramas und den Anleihen an die Kriminalliteratur. Die neuen Stilmittel werden aber in ungewöhnlich gelungener Weise eingesetzt, so dass die gewonnene Unbefangenheit im Erzählen im Debütroman Pareis etwas hervorbrachte, was in der Geschichte der neueren Berlinliteratur ungewöhnlich ist und auch ohne Nachahmung blieb: Die Annäherung an einen atmosphärisch dichten Stadtroman und weiterhin eine eigenwillige Metaphorisierung der Stadt als feindliche, verwilderte Gefahrenzone. Am Anfang des Romans Schattenboxerin steht, wie in Paul Austers New-York-Trilogie, ein Palimpsest, der Knotenpunkt, von dem mehrere verwirrende Geschichten ausgehen. Eine Nachbarin, die einzige Mitbewohnerin der Ich-Erzählerin in einem vor dem Abbruch stehenden Miethaus, verschwindet. Sie heißt „Dunkel“ und ist, wie die Namenssymbolik unschwer nachvollziehen lässt, die andere Seite der Figur namens „Hell“, mit der sie die Wohnetage mit Außentoilette teilt. Ein gut erzogener junger Mann mit einem Rucksack voller Geld und einer Pistole taucht auf, kein professioneller Räuber, aber ein auf der Suche nach dem leiblichen Vater sich befindender Mann. Schnell ist die einsame Frau in seine Geschichte verstrickt, hilft ihm auch auf eigene Rechnung und mit eigenen Plänen. Von den kurzen Tagen einer Komplizenschaft, in der sich auch eine brüchige temporäre Liebesgeschichte entwickelt, handelt der Roman. Parei nutzt die in den neuen Stadträumen der historischen Mitte Berlins angelegten Möglichkeiten für die Figur, sich eine neue Identität, und sei es auch eine beschädigte, zuzulegen. Der damals im Umbruch befindliche Stadtteil Mitte ist eine nahe liegende Option für das Imaginieren einer anonymen, maskenhaften Identität. Während diese Stadträume von der Szene erobert werden, sind sie zumindest zeitweilig wirkliche Orte des Marginalen und des Außenseitertums. Dies Motiv konnte Parei immerhin noch unbefangen benutzen, bevor die Mietshausruine in Mitte eine allzu sinnfällige Kulisse für ein letztes städtisches Abenteuer wurde, wie z.B. in Normann Ohlers‘ Roman Mitte.27 Bei Parei hat das Mietshaus in Mitte selbst keine Geschichte, abgesehen von kurzen einführenden Beschreibungen, in denen die letzten Mieter des Abrisshauses vorgestellt werden. Es sind Alte, Künstler und Verzweifelte. Hier hält die IchErzählerin im letzten Sommer vor dem Abriss Stellung - ohne Müllabfuhr, Elektrizitäts- oder Wasserversorgung. Der verwahrloste Ort ist zunächst ein Symptom für ein anfänglich noch verborgen gehaltenes psychologisches Drama. Er kennzeichnet eine Extremsituation, in der sich die Ich-Erzählerin in ihrem Rückzug in eine städtische Höhle befindet. Die Beschreibung des verfallenen Wohnorts erfolgt in einer Art Protokoll der Dinge, die in den Blick der Ich-Erzählerin geraten. Die „Nüchternheit der polizeilichen 28 Dingbeschreibung“ ist nun kein stilistischer Selbstzweck. Unschwer ist bereits im Romanbeginn zu erkennen, dass die Gattungsvorlage des Kriminalromans zur Suggestion des Unheimlichen und Gefährlichen führt. Es dürfte beides zusammenkommen: Pareis Stilexperimente mit einer objektiven, mit einer wie durch die Kameralinse aufgenommenen Unmittelbarkeit der Umgebung, und die Spannungserzeugung, die sich aus dem bald sich herauskristallisierenden Motiv ergibt, nämlich Ungelöstes der Vergangenheit aufzuhellen. Auslöser ist eben nicht nur das Verschwinden der Nachbarin. Dieser Erzählfaden hängt mit dem Auftauchen des ‚Bankräubers‘ März zusammen und führt letztlich auch zur Spur des Vergewaltigers. Dass März darüber hinaus in der fremden Stadt seinen Vater sucht und ein Foto der Wegweiser zu dessen Bleibe in den Berliner Randbezirken wird, gibt Anlass zu einer detektivischen Besichtigung der Stadt. Die Schattenboxerin lässt eine Reihe von literarischen Bezügen erkennen, die auch von der Kritik aufgespürt wurden. Charakterisiert wurde der Roman als „eine elegante Detektivgeschichte nach die Problematik der postmodernen Stadt aufgreifen, wie sie in Richard Sennetts kritischer Analyse der Leugnungen des abweichenden Körpers im öffentlichen Raum erscheinen. Vgl. Kap. 2.1., Anm. 36. Zu Sennett in meiner Studie siehe Kap. 1.3. Anm. 5. 27 Vgl. Kap. 3.5. Übrigens zeigt auch der schon betrachtete Roman Die freien Frauen von Irina Liebmann, dass der Schauplatz des Mietshauses im Berliner Zentrum auch in späteren Phasen der Modernisierung und Kommerzialisierung der Gegend in einer subtilen Ästhetik der erinnerten Stadt seine poetischen Möglichkeiten behält. 28 Thomas Wirth. „Das Einbohren der Finger ins Nervengeflecht. Inka Pareis starkes Debüt“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.9.1999. 29 der Art Paul Austers“ ; des Weiteren wurden seine Bezüge zu den Entdeckern des städtischen Untergrunds Eugène Sue und Edgar Allan Poe hervorgehoben.30 Weniger positiv bewertet Ijoma Mangold die möglichen literarischen und filmischen Vorbilder Pareis und ihre Stilisierung Berlins als „Potemkinsche Phantomstadt“ und „Metropole als Asphaltdschungel“. Zutreffend sieht Mangold Anspielungen an den „hart gesottenen Film noir“ und eine „Philip-MarloweAbgeklärtheit“31, dies vor allem in einigen Höhepunkten der sich auf Action-Szenen zuspitzenden Handlung. Mangolds Vermutung, dass Parei absichtlich Klischees bedient, ist jedoch zu widersprechen. Es ist nämlich bemerkenswert, dass von einem Plündern von Gattungsvorlagen bei Parei kaum die Rede sein kann.32 Stattdessen ist festzustellen, dass Parei ihre Geschichte mit allem Ernst verfolgt und dies anscheinend ohne thematische Vorlagen. Im Unterschied zu anderen Debütanten sind die Vorbilder und Inspirationen aus autodidaktischen Lektüren bei Parei nicht direkt zu belegen, was aber nicht bedeuten muss, dass sie nicht doch Techniken der lakonischen Verknappung nach vorhandenen Mustern eingearbeitet hat. Sie selbst sagt: „Mit der ‚Schattenboxerin‘ habe ich das Schreiben eigentlich erst gelernt. Den Text habe ich sehr langsam geschrieben, ihn mir Stück für Stück erarbeitet.“33 Sie ergänzt, dass das Buch nicht vordergründig ein Berlin-Roman (ist). Mir ist es in erster Linie um die Hauptpersonen des Geschehens gegangen, die Frau mit dem Namen Hell, und ihren psychischen Zustand. Hells Stadtwahrnehmung ist eine sehr spezielle und geprägt von ihrem Schockzustand nach einer Vergewaltigung. Die Stadt dient insofern als Material für die Geschichte dieser Frau und nicht umgekehrt. 34 Nach diesen Aussagen erübrigen sich die Überlegungen zu einer Stilisierung oder Metaphorisierung der Stadtlandschaft, die außerhalb der psychologischen Motivierung liegt. Auf einigen Ebenen des Romans wird Berlin zur Erinnerungslandschaft, und zwar an Orten wie dem Schauplatz der Vergewaltigung. Dessen Datum stellt übrigens, wie auch andere Stellen im Roman, einen Verweis auf Zäsuren der Stadtgeschichte her. Die Demonstration am 1. Mai 1989 in Kreuzberg ist der letzte Zeitpunkt, zu dem die Ich-Erzählerin an der alternativen Stadtkultur des alten Westens teilnimmt. Die Vergewaltigung ereignet sich in einer Bauhütte auf einem verlassenen Gleisgelände am alten Görlitzer Bahnhof. Dies westliche Vorwendeberlin ist in Erinnerungen präsent. Ich bin wieder im alten, jetzt völlig unwirklichen Leben an der westlichen Achse der Stadt. Noch kenne ich nichts anderes. Noch fehlt mir der Eindruck, dass dies Leben eine Täuschung war, riskant und sorglos. Es ist ein heißer Tag, zu heiß für den Frühlings. Kreuzbergs Straßen rund um den Görlitzer Bahnhof flirren vor Hitze und Sand. Der Sand weht von den Bahnhofsresten herüber, einer verwahrlosten, mit Gleispaaren durchsetzten Freifläche. Gekappt durch die Mauer hat der Schienenstrang seit Jahrzehnten seinen Sinn verloren, befindet sich im Rückfall zu Wüste und Steppe. (S. 15) 29 Mensing. „Bröckelnde Kulissen, zerfranste Territorien“. 30 Ursula März findet sich an Beckett, Kafka oder Bernhard erinnert, und zwar durch das Motiv der städtischen Höhlenbewohner. 31 Ijoma Mangold. „Der Feind sitzt beim Sektfrühstück. Inka Parei kämpft gegen literarische Stadtsanierung: Nirgends ist das Leben abgebrühter als im Berlin-Roman“. Berliner Zeitung, 25./26.9.1999, S. 9. 32 Thomas Wirths enthusiastische Einordnung des Romans als „langer Weg zum Gattungsabschied“ kann deswegen nicht nachvollzogen werden, da Parei kaum nach erkennbaren Gattungsvorlagen oder gar an der Auflösung derselben arbeitet. 33 Interview mit Inka Parei, „Überwindung eines Traumas“. Buch & Media, Börsenblatt, 2/7.1.2000, S. 13. Es ist übrigens seltsam, dass Bischoff („Berlin Cuts“) in ihrer Deutung des Romans daran zweifelt, dass die im Roman vorgestellte Episode der Vergewaltigung sich wirklich ereignet habe. Die Vergewaltigungsszene im Roman ist jedoch eindeutig. Parei. Die Schattenboxerin. S. 62 f.). 34 Ibid. Das Motiv der städtischen Wildnis kommt mehrfach im Roman vor. In erster Linie sind diese Orte Fixpunkte der Handlung, die die Vorgeschichte der Stadtnomadin enthüllen, nachdem sie nach ihrer Vergewaltigung alle Verbindungen zu ihrer bürgerlichen Existenz gekappt hat. Zuerst verkriecht sie sich in eine Neuköllner Wohnung nahe der Mauer, aus der sie vom Tumult der Mauerfallereignisse vertrieben wird. Diese Passagen des Romans sind übrigens diejenigen, die die Erinnerungsebene der Schattenboxerin mit den Wendedarstellungen in der Berlinliteratur in Verbindung bringen. An die Abschottung von den Mediennachrichten bei gleichzeitigem Registrieren der Anzeichen der „sanften Revolution“ des Ostens in Woelks Rückspiel erinnert die Darstellung dieser ersten städtischen Höhle in Pareis Roman. Ein überaltertes Fernsehgerät liefert zerstückte, verwischte Informationen über die Zeitgeschichte, die sich außerhalb der Wohnung ereignet, die aber kaum ins Bewusstsein der Ich-Erzählerin dringt. Die Unterschiede der beiden Romane liegen aber klar auf der Hand. Medienkritische Ausgangspunkte in den Passagen von Rückspiel, in denen sich der Ich-Erzähler in seine Schreibklausur kurz vor dem Mauerfall begibt, bewirken ausgiebige Identitäts- und Geschichtsreflexionen, wovon bei Parei nicht die Rede sein kann. Am Schluss führt die Suche der Protagonistin nach dem Vergewaltiger zu einem Waldgebiet im Berliner Norden. Bedrohliche, verwahrloste Orte in der Stadt finden sich auch immer wieder in der Peripherie Berlins, in Treptow, Schöneweide und Lübars. Zweifellos existiert ein selektives Bild der Stadt in Pareis Roman, das Metropolenassoziationen nach der Vorlage des Film noir vorzuführen scheint. Die Schauplätze in verkommenen Stadtgebieten folgen aber Motiven des Handlungsstrangs. Die Vatersuche von März, die einem Foto einer „merkwürdig halbierten Straßenseite“ folgt, führt zu Orten, die an Tarkowskis Alptraumgegenden erinnern. Die Feindlichkeit des heruntergekommenen Milieus inmitten eines Industriegeländes im Berliner Osten bereitet auf die Abweisung vor, die März von seinem Vater erwartet. „Es ist die, die ich auf dem Foto gesehen habe. In den letzten Jahrzehnten scheint sich hier kaum etwas verändert zu haben [...] Viele Häuser stehen leer. Die Fenster sind mit gekreuzten Balken vernagelt, die Eingänge zugemauert.“ (S. 135) Es ist nicht zu übersehen, dass Parei die paradoxen Stadteindrücke aus Verfall, Stagnation und an manchen Stellen auch unwirklichen Epiphanien der Stadterneuerung zur Untermalung der Verstörtheit ihrer Protagonistin und weiterhin als ein klassisches kriminalistisches internationalistisches Großstadtmotiv die Spurensuche anhand eines Fotos verwendet. Es gibt aber auch Stadtbeschreibungen, die weniger strikt aus dem Romangeschehen heraus motiviert sind, z.B. diese: An manchen Tagen laufe ich durch die Stadt, in der ich geboren bin, wie eine Fremde, zum Beispiel neulich, da gerate ich in den Bahnhof Friedrichstraße. Ich bin auf der Suche nach einer S-Bahn, die mich zur Bornholmer Straße bringt, und unfähig, inmitten aufgerissener und wieder zusammengeflickter Architektur, die sich gegenseitig ausschließenden Gesellschaftssystemen entsprungen ist, ein Schild zu lesen oder den Ausgang zu finden. Ich bin gefangen in einem Dschungel aus Symbolen und Beschriftungen, deren Botschaften verfrüht oder veraltet sind. Sie beziehen sich auf Gebäudeteile, die nicht mehr existieren, wie der aufdringlich zackige und gleichzeitig gequetscht wirkende Schriftzug Intershop. Oder auf solche, die noch nicht vorhanden sind, wie der Aufkleber mit dem Fahrstuhl, der mich zu einem offenen Schacht führt, notdürftig abgeriegelt mit rotweiß gestreiftem Baustellenplastikband. Nach langem Irrlauf verlasse ich den Ort, aufgerieben an zueinander unpassenden Kachel, Boden- und Rolltreppenarten. (S. 76) Bischoff interpretiert diese Stelle als „Konfrontation mit den Folgen historischer und gegenwärtiger Zerteilung und Zerstörung des städtischen Lebensraums, d.h. also in Hinblick auf die Geschichte Berlins im 20. Jahrhundert. Sie verweist auf „das existentielle Unbehaustsein und orientierungslose Umherirren, aber auch die Versuche „weiblicher Selbstermächtigung und der Aneignung des städtischen Raums durch die ihn durchquerende Frau.35 Die Selbstheilungsversuche und die Auseinandersetzungen der Ich-Figur mit ihrer Vergangenheit sind im Verlauf der Romanhandlung nachzuvollziehen. Kann aber auf eine Metaphorisierung des 35 Bischoff. „Berlin Cuts“. S. 129. Stadtraums geschlossen werden, die gar an Berliner Geschichtslektüren und modernistische Visionen des „geschundenen Körpers der Stadt“ anzuschließen vermag? Schon die Annahme, dass die Schattenboxerin Stadtgeschichte zu mehr gebraucht als zum Hintergrund für die dramatisch vorgeführten Umschlagpunkte der Lebensgeschichte – das Ende der Indianeridylle im westlichen Kreuzberg im Jahr 1989, der Einbruch der Wende in einer Phase der Kommunikations- und Orientierungslosigkeit der Heldin - ist kaum vertretbar. Die obige Stelle, die das gegenwärtige Stadtlabyrinth mit seinen Erinnerungsspuren zur Selbstbefragung der eigenen Daseinsweise evoziert, ist eine Ausnahme in den Stadtbildern des Romans und enthält auch keine Reflexionen zum Sinnbildcharakter der Berliner Stadteindrücke. Selbst wenn auf diese en passant hingedeutet wird, so handelt es sich um Bestandteile von Mythos Berlin und des Bilds der fragmentierten Stadt. Die Gefahr der Überinterpretation von Motiven in der neueren Berlinliteratur ist groß, vor allem aber in Hinblick auf die Erzählexperimente der jungen Autorengeneration. Parei geht es vorrangig um ein erzählerisches Erproben der Darstellung der im Unbewussten aufbewahrten Stadtbilder. Ihre Grenzsituationen lebt die Ich-Erzählerin in Traumbildern aus. Im Traum befindet sie sich im Berliner Stadtplan und spürt den Bedrohungen nach, mit denen die verdrängte Erinnerung sie einzuholen sucht und soghaft zu den Orten ihres Traumas zieht. Zunächst befindet sie sich „im Zentrum, ungefähr zwischen N12 und T7, und dieses Zentrum löst sich langsam auf.“ (S. 106) Die Vertreibung der Ich-Figur aus der zentralen Position in die Peripherie und die weiteren Bewegungen auf dem Stadtplan spiegeln die Erinnerungsspuren und Erinnerungsorte der Romanhandlung, wenn auch hier – im „Rutschen“ durch den Stadtplan noch weitere Stadtviertel ins Visier kommen. Am schlimmsten aber ist es um die Gegend rund um das nördliche Neukölln bestellt, denn dort ist ein Loch. [...] Langsam rutsche ich mit bis aufs äußerste in Fluchtrichtung geneigtem Hals auf meinem Bauch über den abgeschürften Hochglanz in Richtung Moritzplatz. Über die Reste von Wohnblöcken, Feuerwehrstationen, Kirchkreuzen und Parkplatzsymbolen, vorbei an Taxiständen, blau umrandeten Toilettenhäuschen, dem Doppelwellensymbol der Schwimmbäder und den an Haltestellen knotenartig verdickten Linien der Busstrecken. Am Fraenkelufer bleibe ich mit einem Zipfel meiner Kleidung an der kammartigen Schraffur einer Postzustellgrenze hängen. Es gelingt mir, mich mit einem Schwung wieder loszureißen und zum Kanal zu rollen, wo ich erschöpft auf den Wiesen einer mit Punktsymbolen gekennzeichneten Parkanlage liegenbleibe. Ich blicke zurück und sehe einen auf mich zulaufenden Riß, der meinem Weg gefolgt ist und mich fast erreicht hat. Vor mir ist jetzt nur noch das Wasser. Im Wasser, denke ich mir, werde ich leichter sein. Der Riß kann mir dann nichts mehr anhaben. Kopfüber, mit durchgedrückten Knien, tauche ich in ein Blau, das sich nicht naß anfühlt, eine schönwetterhimmelfarbene Druckschicht, die mich nach Osten trägt. (S. 106 f.). Die Andeutung des Fluchtorts im Berliner Osten am Ende der Traumreise durch die Stadt macht die psychologische Konstruktion der Stadtbilder deutlich. Aus den erzählpsychologischen Prämissen des Debüts ist erkennbar, dass Parei die größtmögliche Intensität in der Vorführung der emotionalen Verfassung der Protagonistin in ihrem Gebanntsein an städtische Räume anstrebt. Die traumatisierte Verfassung der Figur lässt sie in gleichsam symbiotischer Weise mit ihrer Umwelt existieren. Wie die Traumsequenz zeigt, sind es unbewusste Fluchtreflexe, die sie durch die städtische Topographie treiben. In den bildhaften Umsetzungen dieser Ausnahmesituation wie auch in den detailhaften Registrierungen wildnishafter Stadtimpressionen im gesamten Roman handelt es sich um Ausgestaltungen von Erzählkonventionen, in denen die Übereinstimmung von Psychogramm und Stadtbeschreibung gesucht wird. Es ist diese Stringenz der Beschreibung, die die Autorin zu einer Stadtpoetik vorstoßen lässt, in denen den Phantasien über das Städtische viel Raum gegeben wird. Allerdings lässt sich fragen, ob dies intuitive Entdecken von rätselhaft anmutenden literarischen Stadtimaginationen in einem Debuttext auf die Umsetzung von anspruchsvollen theoretischen Prämissen von Stadtliteratur, namentlich das Konzept von De Certeaus mythischen Raumpraktiken, schließen lässt. In der obigen Passage mag Pareis literarische Phantasie auf die von Abweichung und Andersheit in Gang gesetzte Odyssee durch die Stadt und weiterhin auf die problematische „Bewohnbarkeit“ der Stadt erinnern. Die Traumsequenz führt zu den Orten, die De Certeau als „haunté“ oder 36 „verwunschen“ bezeichnet. In dem Erzählexperiment der jungen Autorin ist jedoch nachzuvollziehen, dass solche Traumreisen durch die Stadt mit Bedacht konstruiert sind. Es gibt daher keine literarische Vieldeutigkeit in Pareis Traumsequenz außerhalb der anvisierten Assoziationsstränge, die insgesamt auf den Plot zurückverweisen. Somit lassen sich auch Pareis beeindruckende Stadtbeschreibungen aus den Professionalisierungsbestrebungen der jungen Autoren und Autorinnen herleiten. 36 De Certeau. „Gehen in der Stadt“. S. 203. Vgl. Kap. 2.1. Anm. 69.