Vortrag des australischen Historikers Dr. Abraham

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Vortrag des australischen Historikers Dr. Abraham-Sprod über die
Hermann aus Wolmirstedt
jüdische Familie
13.01.2011, Aula Kurfürst-Joachim-Friedrich-Gymnasium Wolmirstedt
Der Holocaust, sechs Millionen ermordete Juden, eine unfassbare, vor allem unvorstellbare Zahl und
daher weitestgehend anonym – es geht über die Lippen, ohne begreifbar zu sein.
Deshalb ist beispielsweise die Aktion „Stolpersteine“ begrüßenswert, denn so wird die Anonymität
zerrissen, die Opfer bekommen Namen und Orte, was auch eine Wiedergutmachung im jüdischen
Sinne ist, denn Jude zu sein, bedeutet auch, der Vergangenheit, der Historizität aller Gegenwart eine
besondere Bedeutung beizumessen.
Seinen Vortrag hielt der australische Historiker Dr. Abraham-Sprod, selbst Kind von aus Deutschland
geflohenen Juden, auf Deutsch, kein fehlerfreies Deutsch, aber durchweg verständlich, immerhin die
Sprache der Mörder, auch in der Erinnerung der Familie Abraham-Sprod sind sicherlich eine Vielzahl
ermordeter Ahnen präsent. Aber nun stand er hier, in der Aula eines deutschen Gymnasiums, sprach
vor den Erben der Schuld und wollte letztlich vor Augen führen, welches Leid kriecherische
Anpassung, Feigheit, anmaßende Überheblichkeit auslösen können.
Im Mittelpunkt des Vortrages stand die junge Jüdin Inge-Ruth (geboren 1922 in Wolmirstedt), die als
Sechzehnjährige per Kindertransport in Australien gestrandet ist, denn bis in das Jahr 1938 und
darüber hinaus verfolgten die Nazis ihren Wahn eines judenfreien Deutschlands noch mit der
„humanen“ Lösung des Vertreibens. Aus dieser Sicht besaß die systematische Verschlechterung der
Lebensverhältnisse der jüdischen Bevölkerung durchaus System.
UND HIER BEGINNT LETZTLICH DIE SCHULD.
Bezeichnenderweise legte sich nach dem Krieg und der totale Niederlage ein Schleier des Vergessens
über diese Schuld, denn weil fast alle sich irgendwie mit den Machthabern arrangiert hatten, gab es
in der „Stunde Null“ kein verbreitetes Interesse für die Aufarbeitung des Geschehenen. Auch nicht in
der sowjetischen Besatzungszone, wo man die Abrechnung mit dem Faschismus in den Dienst der
Umgestaltung gestellt hat.
Die Familie Hermann ist zu Beginn dieses tragischen 20. Jahrhunderts in dem kleinen Ort
Wolmirstedt gelandet, wahrscheinlich vor dem Ersten Weltkrieg, sie führten ein Bekleidungsgeschäft,
was bedeutet, dass jeder Wolmirstedter mit der Familie Kontakt hatte, zumal die verkauften Waren
für ihre gute Qualität bekannt waren. Aber bezeichnenderweise nannte man das Geschäft im
„Volksmund“ als jenes vom „Juden Hermann“ und als man es 1935 nach den Nürnberger Gesetzen
„arisierte“, hat offensichtlich es keine Proteste, kein Mitgefühl mit den zu Unrecht Enteigneten
gegeben, im Gegenteil, die Lebenssituation der Familie scheint so unerträglich geworden zu sein,
dass sie es vorzog, nach Magdeburg in den Schutz der großen jüdischen Gemeinschaft überzusiedeln,
doch auch hier war sie natürlich dem Horror des Nationalsozialismus ausgesetzt.
Eine Zeitlang versuchte man in der Gemeinde den Anschein eines normalen Lebens zu wahren, wir
sahen ein Foto, auf dem Mädchen vor einem Handballspiel zu sehen waren, eine deutsch-jüdische
Mannschaft, zu der auch Inge-Ruth gehörte, spielte gegen eine Mannschaft, die sich aus Mädchen
osteuropäischer Einwanderer zusammensetzte, doch letztlich blieb die Vorstellung, man könne trotz
des staatlichen Antisemitismus ein halbwegs normales Leben führen, eine Illusion, denn die
Solidarität der Menschen aus Magdeburg für ihre ausgegrenzten Mitbürger blieb weitestgehend aus,
lediglich vom Mut Einzelner wird berichtet, so von einer Schulfreundin von Inge-Ruth, welche die
Familie in ihrer höchsten Not mit Lebensmitteln versorgt, ungeachtet der Gefahr, als „Judenfreundin“
beschimpft zu werden. Diese „Gerechten“ gab es viel zu wenige und ihr Tun erschütterte selbst jene,
denen ihre Hilfe galt, so hatte Inge-Ruth dem Historiker erzählt, wie ihre Mutter in Tränen
ausgebrochen war, als jene Freundin sie auf der Straße freundlich begrüßen wollte, denn die alte
Jüdin musste die junge Deutsche wegstoßen, zu groß war die Gefahr, dass das Mädchen in große
Schwierigkeiten geriet, wenn man ihre Freundlichkeit beobachtete.
Ist dieses finstere Kapitel der Stadtgeschichte aufgearbeitet worden? Wer hat von der Vertreibung
des Juden Herrmann profitiert, beispielsweise das Geschäft übernommen? Hat es Artikel in der
Lokalpresse oder Jubelveranstaltungen über das judenfreie Wolmirstedt gegeben? Sind die Scheiben
des Geschäftes während des Judenboykotts beschmiert worden?
Wie überall in Deutschland hat sich eine graue Decke des Schweigens über diese Zeit gelegt.
Ähnliches lässt sich auch über Magdeburg feststellen. In seinem Vortrag betonte der Historiker, dass
er, der sich an der Universität Sydney auf die Geschichte der Juden in Magdeburg spezialisiert hat,
die Behandlung der jüdischen Bevölkerung in der einst als Hochburg der Sozialdemokraten, als „rotes
Magdeburg“ bezeichneten Stadt als besonders schlimm einschätze, eine der schlimmsten in ganz
Deutschland. Dafür spreche auch die Tatsache, dass von der Gemeinde kaum Zeugnisse übrig
geblieben sind, die Synagoge, eine der schönsten in ganz Deutschland, wurde komplett vernichtet,
von den Gegenständen, den Dokumenten oder anderen Spuren, mit Ausnahme des Friedhofs und
des ehemaligen Altersheims, ist nichts geblieben. Deshalb gab es ein Aufhorchen, zumindest bei
jenen, die sich wie wir für die Synagoge interessiert haben, als auf die Leinwand ein Foto geworfen
wurde, das Inge-Ruth zum Abschied aus der Gemeinde anlässlich ihrer Emigration erhalten hat, es
zeigt den Innenraum der Magdeburger Synagoge, der in seiner prächtigen Gestaltung eine Ahnung
zulässt, wie ansehnlich das Gotteshaus gewesen war.
Das Schicksal der Familie Hermann spiegelt sehr viel von den tragischen Geschehnissen während der
faschistischen Herrschaft in Deutschland wider.
In Magdeburg versuchte die Familie, sich einzurichten. Aus der Schürzenfabrik, welche Otto
Herrmann hier führte, wurde der Jude von seinem Partner Jäger herausgedrängt (was ein Thema der
Aufarbeitung sein sollte), in einer einfachen Wohnung in der Großen Klosterstraße fanden sie
Unterkunft, in der Nähe befand sich das ihnen verbliebene Wollgeschäft.
Das Leben der jüdischen Bevölkerung in den ersten Jahren des Faschismus offenbart ein
verhängnisvolles Missverständnis – viele jüdische Deutsche maßen die neuen Herren nach alten
Maßstäben, schlechte Zeiten hatte es für die jüdischen Gemeinden seit Jahrhunderten gegeben,
vorübergehende Phasen des Leidens, die vorüber gingen. Auch das Leben nach 1933 ging trotz aller
Drangsale weiter, die Ausgrenzung versuchte man zu kompensieren, indem man sich selbst
organisierte, eine jüdische Parallelwelt schuf.
Der Alltag wurde jedoch immer komplizierter. In Inge-Ruths Erinnerungen haben sich vor allem die
Drangsalierungen in der Schule eingebrannt. Kinder sind letztlich Spiegel ihrer Erziehung und sie
ließen die antijüdischen Einstellungen der Eltern an den jüdischen Mitschülern aus. Hinzu kamen die
Lehrer, welche die Bezeichnung Pädagogen nicht verdienten. Sicherlich ist es nicht richtig gewesen,
alle Lehrer pauschal als Diener der Nazis zu verurteilen, wie es nach dem Krieg in der Sowjetischen
Besatzungszone geschehen ist (doch nur, um Lehrer zu schulen, welche die Indoktrinierung der
Sowjets weitergaben), aber Menschen weiter zu beschäftigen, die Inhumanität nicht nur vermittelt,
sondern auch praktiziert haben, wie es in den Westzonen massenhaft geschehen ist, stellt ein Erbe
dar, dessen Folgen wenig erforscht, aber weitreichend ist.
Dr. Abraham-Sprod beschränkte sich in seinem Vortrag auf zwei kleine traurige Anekdoten, um den
Alltag jüdischer Schüler zu beschreiben: Einmal kam ein jüdisches Mädchen eifrig zu einem Lehrer,
um ihm mitzuteilen, dass sie an einem Klassenausflug teilnehmen dürfe, woraufhin ihr der Lehrer
barsch beschied, dass ihre Teilnahme nicht erwünscht sei, da sie Jüdin ist. Eine Szene wie diese mag
auch in Lehrern ungute Erinnerungen hervorrufen, die sich dem DDR-Regime angepasst hatten (und
die dies heute natürlich verdrängt haben, was leicht ist, da niemand danach fragt), aber wenn man
die richtige Antwort eines jüdischen Schülers diskreditiert, indem man die Klasse maßregelt, weshalb
niemand von ihnen vor dem Minderwertigen auf die Lösung gekommen sei, ist die Grenze zur
Mittäterschaft überschritten.
In Aufarbeitung des DDR-Alltags sind die Lehrer hinsichtlich ihrer Mitarbeit bei der Staatssicherheit
überprüft worden, aber damit endete die Aufarbeitung schon. Der Blick auf die Vergangenheit bleibt
also ein individueller, jeder muss für sich die Frage beantworten, inwieweit er sich für das Regime auf
Kosten der Schüler hat vereinnahmen lassen. Der Grauschleier ist auch hier allgegenwärtig.
Letztlich wurde für Inge-Ruth die Situation unerträglich, so dass sie es wahrscheinlich als Erlösung
empfand, nicht mehr die Schule besuchen zu müssen. Mit 14 Jahren beantragt sie die Ausreise,
nimmt den bürokratischen Aufwand auf sich, hofft dabei aber, dass dies nur der letzte Ausweg ist.
Die Politik der Nazis bestand damals noch darin, die Juden zu vertreiben, soweit die sich die Ausreise
leisten konnten. 1937 wurde von der Familie ein Transport nach Brasilien für Inge-Ruth abgelehnt, da
die Entfernung unzumutbar schien, doch ein knappes Jahr später war man bereit, jedwede
Gelegenheit zu ergreifen, selbst wenn sie Australien hieß.
Ein sechszehnjähriges Mädchen verlässt seine Familie, sie ist allein und weiß nicht, ob sie ihre Lieben
je wiedersieht. Auf langen Schiffsreisen gelangt sie erst nach England und dann nach Australien.
Glücklicherweise ist eine weiteres Mädchen dabei, das ihr Schicksal teilt, eine entfernt bekannte
jüdische Familie wird sich ein wenig um sie gekümmert haben, aber all das dürfte nur ein
bescheidener Trost in ihrer Einsamkeit gewesen sein. Hinzu kam sicherlich noch die paradoxe
Situation, dass man die jüdischen Flüchtlinge offenbar nicht als solche empfangen hat, sondern in
ihnen verhasste Deutsche sah, darauf wies jedenfalls der australische Historiker hin, was insofern
glaubhaft sein muss, da sein familiärer Hintergrund ihn sicherlich mit entsprechenden Informationen
versehen hat.
Über den weiteren Weg Inge-Ruths in Australien wurde in diesem Vortrag nicht informiert, das war
nicht das Thema. Immerhin verwies Dr. Abrahams-Sprod auf die starke Persönlichkeit dieser Frau, die
ihr Schicksal offensichtlich erfolgreich in die Hand genommen, eine Familie gegründet und bis 2008
gelebt hat, ohne allerdings jemals wieder nach Deutschland zurückzukehren, in das Land, aus
welchem die Mörder kamen, die ihre Familie auslöschten.
Denn ihre zurückgebliebene Familie wurde Opfer des Holocausts. Eine besondere Tragik bestand
darin, dass Otto Hermanns die Ausreise genehmigt worden war, nachdem man ihn 1938 nach der
Reichspogromnacht einige Wochen ins KZ Buchenwald verschleppt hatte , seine Frau Regine jedoch
diese Erlaubnis nicht erhielt. Ohne seine Frau wollte Otto sich jedoch nicht in Sicherheit bringen.
Im Jahr 1942 war der wahnwitzige Mordplan der Nazis ausgereift und in der berüchtigten
Wannseekonferenz organisatorisch besprochen worden. Offensichtlich hatte das Verhalten der
deutschen Bevölkerung den Nazis gezeigt, dass sie kaum mit Protesten gegen den Massenmord zu
rechnen hatten, im Gegenteil, ganz offensichtlich vertrauten sie auch auf die Mittäterschaft von
Tausenden.
Auch das Schicksal der Familie Hermann war damit entschieden. Im Oktober 1942 wurde das Ehepaar
in das KZ Theresienstadt in der Nähe von Prag deportiert, wo sich auch die über 80jährige Mutter
und eine Schwester von Otto Hermann befanden. Wenn man in solcher Situation überhaupt von
Glück sprechen darf, dann davon, dass das Lager in Theresienstadt eine Art
Vorzeigekonzentrationslager gewesen ist, in welchem sogar das Rote Kreuz agieren konnte.
Diesem Umstand ist eine für Historiker außergewöhnliche Quellenlage, was die Familie Hermann
betrifft, zu verdanken. Einer weitere Schwester Otto Hermanns, Betty Caspari, war die Flucht nach
Schweden gelungen und mit ihr tauschten die Eingesperrten relativ regelmäßig Nachrichten aus,
erhielten ab und an sogar Pakete. Diese Karten geben einen einmaligen Einblick in das Bemühen
dieser gedemütigten Menschen, in dieser menschenunwürdigen Situation ihre Würde zu bewahren.
Leider überlebte die Familie nicht. Nach zwei Jahren im KZ wurden sie 1944 mit den letzten
Transporten nach Auschwitz gebracht und dort ermordet, 1944, als der Krieg für Deutschland längst
verloren war und doch fanden sich zu wenige, um dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten, ein Makel, der
wahrscheinlich nie zu tilgen sein wird.
Wenigstens leistet man heute das Erinnern, in Magdeburg existiert heute in der Großen
Klosterstraße ein „Stolperstein“, der an die jüdische Familie Hermann erinnert.
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