Tsipras in der Zwickmühle Nach dem im Dissens beendeten Treffen der „Brüsseler Gruppe“ und der Rückkehr der griechischen Delegation nach Athen hat Ministerpräsident Alexis Tsipras mit einer Erklärung gegenüber der linken Tageszeitung Efimerida ton Syntaktion reagiert. Er weist darauf hin, dass die griechische Regierung nach wie vor bereit ist, in weiteren Verhandlungen die „nötigen Abstriche“ zu machen, um eine Einigung mit den „Institutionen“ der Gläubiger (EU, EZB und IWF) zu erreichen. Zugleich betont er, dass er zusätzlichen Belastungen gerade der ärmsten Schichten nicht zustimmen kann und zu einer „Unterwerfung“ seines Landes nicht bereit ist. Von Niels Kadritzke. Die Erklärung hat folgenden Wortlaut: „Das Bestehen der Institutionen auf neuen Einschnitten bei den Renten, nachdem diese fünf Jahre lang durch die Sparpolitik gefleddert wurden, kann man nur als bewusste politische Absicht deuten. Die griechische Regierung geht in die Verhandlungen mit einem Plan und mit fundierten Gegenvorschlägen. Wir werden geduldig warten, bis die Institutionen zu einer realistischen Haltung finden. Wenn allerdings einige Leute unseren aufrichtigen Wunsche nach einer Lösung, und die Schritte, die wir bereits zur Überbrückung der Differenzen gemacht haben, als Schwäche interpretieren, geben wir ihnen Folgendes zu bedenken: Auf unseren Schultern lastet nicht nur eine lange Geschichte von Kämpfen, wir tragen vielmehr auch die Würde eines Volkes, und zugleich die Hoffnung der Völker Europas. Diese Last ist so schwer, dass wir sie nicht abschütteln können. Das ist keine Frage ideologischer Unnachgiebigkeit. Es ist eine Frage der Demokratie. Wir haben nicht das Recht, die europäische Demokratie an dem Ort ihrer Geburt zu Grabe zu tragen.“ Diese Stellungnahme, deren spezifisches Pathos schwer zu übersetzen ist, wird von der Zeitung in einem Punkt näher interpretiert: Mit dem Verweis auf „idologisch unnachgiebige“ Positionen habe Tsipras auch die Opposition innerhalb der eigenen Partei im Auge. Dass die linke Opposition für die Regierung ein erhebliches Problem darstellt, hat Tassos Pappás in derselben Zeitung in seinem Kommentar vom letzten Samstag erläutert. Der erfahrene und geachtete Journalist, der die griechische Innenpolitik seit Jahren aus linker Perspektive kommentiert und ein entschiedener Befürworter der Syriza-Regierung ist, skizziert dabei das Dilemma, in dem sich Tsipras nicht nur gegenüber seinen „Partnern“, sondern auch gegenüber dem linken Flügel der Syriza befindet. Die wichtigsten Passagen seiner Einschätzung will ich im Folgenden dokumentieren. Pappás skizziert zunächst den Stand der Verhandlungen (vom letzten Samstag) und die Punkte, in denen die griechische Seite etwas herausgeholt hat (und die inzwischen wieder fraglich sind): 1 „Nach allem, was wir wissen, hat Tsipras erreicht, dass der Primärüberschuss (Haushaltsplus ohne Berücksichtigung des Schuldendienstes) kleiner sein darf als die Gläubiger von der Regierung Samaras-Venizelos gefordert haben, aber immer noch größer ist als ursprünglich von Griechenland vorgeschlagen (nämlich 0,8 Prozent des BIP, während die Gläubiger 1,0 Prozent fordern, NK.) Zudem hat er es geschafft, das Thema der „Tragfähigkeit“ der Schuldenlast auf den Verhandlungstisch kommt, ohne allerdings eine verbindliche Aussage über die Lösung des Problems durchzusetzen. Was die Themenfelder Rentensystem, Arbeitsbeziehungen und Mehrwertsteuer betrifft, so bleibt die Lage jedoch undurchsichtig. Die Regierung lehnt die Vorstellungen der Gläubiger ab, aber wenn der Fall bei den beteiligten Institutionen landet, wird man schwerlich eine gemeinsame Basis finden, weil der IWF keine Bereitschaft erkennen lässt, seine extremen Positionen aufzugeben.“ Dann kommt Pappás zu der Frage, ob die Regierung eine Vereinbarung (einen „ehrenhaften“ Kompromiss vorausgesetzt) zu Hause „verkaufen“ kann. Seine Antwort lautet: „dem griechischen Publikum wahrscheinlich schon, aber bei der eigenen Partei wird es schwierig“. Hier seine Begründung: „In der Gesellschaft gibt es eine klare Mehrheit für eine Einigung um jeden Preis. Die meisten Bürger sind – unabhängig von ihrer Präferenz bei den Wahlen vom 25. Januar – von den endlosen Verhandlungen erschöpft, sind verzweifelt über das Fehlen von klaren Perspektiven, ganz wirr im Kopf von den sich ständig widersprechenden Informationen, zutiefst erschreckt über die Möglichkeit eines gefährlichen Abenteuers, falls wir mit den Verbündeten brechen, und enttäuscht darüber, dass das angestrebte Ziel einer raschen, beiden Seiten nützenden Vereinbarung nicht erreicht wurde. Deshalb wollen sie hier und jetzt eine Einigung – selbst wenn sie für das Land schlecht sein sollte. Natürlich werden sie später, wenn sich das Ergebnis in der Praxis als sehr belastend erweisen wird, über Tsipras und die Regierung zetern und sie steinigen wollen, aber das ist in der Politik nichts Neues. Jedenfalls könnte sich der Zorn ziemlich rasch wieder legen, wenn die Regierung ihr Arbeitstempo in anderen Bereichen beschleunigt und Veränderungen auf den Weg bringt, die den Leuten beweisen, dass sie sich von den Vorgängerregierungen unterscheidet. Ein Vorteil für die Regierung ist der Zustand, in dem sich die Opposition befindet. Die Nea Dimokratia und die Pasok müssen sich mit ihren alten Sünden herumschlagen, Potami (eine neue Zentrumspartei) sucht noch ihr Profil und lässt die Wähler ratlos, während die KKE den unzufriedenen Linken nur eine vorübergehende Zuflucht bieten kann. Anders als bei den Wählern stehen die Dinge in der Syriza. Innerhalb der Partei überwiegt allem Anschein nach die Auffassung, dass die Regierung sich auf keine Vereinbarung einlassen darf, die im Widerspruch zu den programmatischen Ankündigungen der Partei steht. 2 Die meisten Mitglieder der Syriza und eine erhebliche Anzahl ihrer Funktionsträger ziehen einen Bruch (in den Verhandlungen) vor. Auf derselben Wellenlänge liegen wichtige Minister, aber auch ein großer Teil der Syriza-Wähler, wie aus einer Umfrage des Instituts MARC für den Fernsehsender Alpha hervorgeht (nämlich 53 Prozent). Wir wissen allerdings nicht, was diejenigen, die nicht wollen, dass Tsipras einen Kompromiss schließt, unter Bruch tatsächlich verstehen. Bedeutet er für sie lediglich neue Wahlen und nicht mehr? Und was soll dann nach den Wahlen geschehen? Wenn die Syriza aus Neuwahlen gestärkt hervorgeht und eine eigene Mehrheit erringen kann, denken sie dann womöglich, dass die gezwungen sein werden, ihre Forderungen zu verwässern und sich dem Urteil des Volkes zu unterwerfen? Haben die Verfechter der Konfrontation einkalkuliert, dass das Ergebnis einer solchen Konfrontation – selbst bei einer großen Dominanz der Syriza im Parlament – der Ausstieg des Landes aus der Eurozone sein kann? Niemand ist in der Lage, diese Fragen heute mit Sicherheit zu beantworten. Kurz und gut: Alexis Tsipras ist der Ministerpräsident des Landes und ist verpflichtet, zuallererst die Meinung und die Stimmungen der Mehrheit der griechischen Bürger in Betracht zu ziehen. Er steht aber zugleich an der Spitze der Syriza und es kann nicht vernachlässigen, wie sich die Kräfteverhältnisse innerhalb seiner Partei und bei ihrem Wähleranhang entwickeln. Das ist ein schwieriges Dilemma. Aber hat er selbst nicht immer wieder gesagt, dass immer dann, wenn es schwierig wird, die Linke gefordert ist?“ James Dean und der Poker um Griechenland In den Verhandlungen zwischen Griechenland und der „Brüsseler Gruppe“ bleiben die beiden Kontrahenten auf ihrem Kollisionskurs. Wenn sich die Finanzminister der Eurozone am Donnerstag treffen, könnte es zum Frontalzusammenstoß kommen. Man kann zwar davon ausgehen, dass beide Seiten darauf aus sind, dies zu vermeiden – eine Prognose, wie die jüngste Zuspitzung der Krise ausgehen wird, ist jedoch nahezu unmöglich. Die Verhandlungsstrategie beider Seiten wird nämlich offensichtlich von der Spieltheorie bestimmt. Die Troika und Griechenland spielen das Chicken Game (auf deutsch: „Feiglingsspiel“) und sind mittlerweile in ihren eigenen spieltheoretischen Strategien derart gefangen, dass eine Katastrophe keineswegs mehr auszuschließen ist. Oder ist das genau die Strategie, mit der beide Seiten das Spiel gewinnen wollen? Von Jens Berger. Wenn Sie jemals den Filmklassiker „… denn sie wissen nicht, was sie tun“ (orig.: „Rebel Without a Cause“ gesehen haben sollten, können Sie sich sicherlich an die wohl berühmteste Szene des Films erinnern: James Dean und sein Kontrahent rasen in gestohlenen Autos auf den Rand einer Klippe zu. Wer zuerst aus dem Wagen springt, ist bei dieser Mutprobe der Feigling. Im Film gewinnt James Dean, weil sein Kontrahent mit dem Jackenärmel am Türgriff hängen bleibt und so in den Tod stürzt. Die Mutprobe hat er damit jedoch verloren. Was in Nicolas Rays Film von 1955 in den Kinos gezeigt wurde, ist eine Variante der Spieltheorie, die wenige Jahre zuvor zunächst die Wissenschaft eroberte und während des Kalten Krieges zur nuklearen Globalstrategie der beiden Supermächte werden sollte. 3 Beim klassischen „Chicken Game“ fahren die beiden Autos nicht auf eine Klippe sondern aufeinander zu. Wer zuerst den Kollisionskurs verlässt, hat verloren. Lenken beide Seiten nicht ein, kommt es zum Frontalzusammenstoß, bei dem beide Seiten verlieren. Es gibt sogar mathematische Formeln, wie beispielsweise das „NashGleichgewicht“, die den Spielern (Fahrern) den idealen Punkt nennen sollen, an dem sie das Lenkrad herumreißen sollten. Diese Modelle haben jedoch ihre Grenzen. Immer wenn in der großen Politik das „Chicken Game“ gespielt wird, geht es vor allem um Psychologie. Die wichtigste Währung in diesem Spiel ist dabei die Glaubwürdigkeit. Als sich Amerikaner und Russen während der Kubakrise gegenüberstanden, gehörte es zur amerikanischen Strategie, keinen Zweifel daran zuzulassen, dass man voll und ganz bereit war, einen globalen Atomkrieg zu starten, wenn die Russen nicht einlenken sollten. In der Spieltheorie wird diese Strategie als „Brinkmanship“ bezeichnet. Im Grunde passten Amerikaner und Russen während des gesamten Kalten Krieges ihre Politik der Spieltheorie an. Hier ging es jedoch nicht um eine Mutprobe rund um den Zusammenstoß zweier aufeinander zu fahrender Autos, sondern um den Fortbestand der Menschheit. So groß ist der Einsatz beim Poker um die Rückzahlung der griechischen Staatsschulden zwar nicht. Auch bei diesem „Spiel“ steht jedoch für Europa und Griechenland sehr viel auf dem Spiel. Und auch dieses „Spiel“ ist im Rahmen der Spieltheorie ein „Chicken Game“, bei dem es vor allem um Psychologie geht. Beide Seiten pokern darauf, dass der Gegner kurz vor dem Frontalzusammenstoß das Lenkrad herumreißt. Wie bei jedem „Chicken Game“ besteht jedoch auch die Gefahr, dass keine der Parteien das Lenkrad herumreißt und es zum Frontalzusammenstoß kommt. Und auch in anderen Punkten weisen die Verhandlungen eine frappierende Ähnlichkeit zur Spieltheorie auf. Ein elementarer Bestandteil des spieltheoretischen „Chicken Game“ ist es, den Gegner glauben zu machen, man selbst sei für den Frontalzusammenstoß bereit. Beim klassischen „Chicken Game“ ist beispielsweise das Verbinden der Augen oder das Verriegeln der Autotüren eine denkbare Strategie. Eine weitere Strategie ist es, dem Gegner den Eindruck zu vermitteln, man handele irrational. Bei „Chicken Game“ wäre dies beispielsweise das echte oder vorgetäuschte Betrinken vor der Fahrt, das dem Gegner davon überzeugen soll, zuerst einzulenken, da er denkt, sein Gegenüber sei nicht dazu in der Lage, rational zu entscheiden. Auch dies wurde im Kalten Krieg bereits ausprobiert, als Nixon im Vietnamkrieg den Anschein erweckte, nicht mehr Herr seiner Sinne zu sein. Nixons Strategie, die im übrigen gescheitert ist, ging als „Madman-Theory“ (deutsch: Theorie vom Verrückten) in die Geschichte der Spieltheorie ein. Viele dieser Elemente lassen sich auch im aktuellen Euro-Poker zwischen Griechenland und der Troika wiederfinden. Ist der IWF beispielsweise wirklich nicht (mehr) kompromissbereit oder hat Frau Lagarde damit die Fahrertür des TroikaWagens verriegelt, um den Griechen zu signalisieren, es sei besser, das Lenkrad herumzureißen? Sind Berlin und Brüssel wirklich für einen „Grexit“ bereit oder ist dies „Brinkmanship“, die strategische Drohung, im Zweifel gemeinsam in den Abgrund zu gehen? Und einige Äußerungen von deutschen Politikern aus der zweiten Reihe erinnern tatsächlich an die „Madman-Theory“, die den Griechen den Eindruck vermitteln soll, man habe es mit Verrückten zu tun, die nicht rational entscheiden können, wann sie das Lenkrad herumreißen. Vor allem die „Brüsseler Gruppe“ macht öffentlich den Eindruck, sie sei zu Allem entschlossen. Aber auch das gehört natürlich zur spieltheoretischen Strategie. 4 Alexis Tsipras und die „Gang“ um Wolfgang Schäuble fahren also, um im ursprünglichen Beispiel zu bleiben, frontal aufeinander zu und hoffen, dass der jeweilige Gegenspieler im letzten Moment das Lenkrad herumreißt. Dieses „Spiel“ ist jedoch für alle Seiten brandgefährlich und von außen ist es unmöglich zu sagen, wer hier blufft und wer wirklich zu allem bereit ist. Wenn beiden Seiten zu allem bereit sind, verlieren beide Seiten beim „Chicken Game“. Der Frontalcrash könnte bereits am Donnerstag stattfinden. Ein in diesem Kontext sicher interessanter Randaspekt: Die Spieltheorie ist das Spezialgebiet des Ökonomen Yanis Varoufakis. Aber das ist natürlich nur ein weiterer Parameter in der Gleichung des momentan stattfinden „Spiels“. Es reicht! – Die Grexit-Kampagne der Bild-Zeitung „Frau Bundeskanzlerin, diese Rede wollen wir von Ihnen hören“ unter dieser Überschrift veröffentlichte die Bild-Zeitung gestern einen Entwurf einer Regierungserklärung für Angela Merkel. Bild schreibt der Kanzlerin darin vor, was sie sagen müsste. Die klare Botschaft an die griechische Regierung lautet: „Es reicht!“. In diesem Beitrag finden sich geballt die Behauptungen, Halbwahrheiten und Lügen mit der die Bild-Zeitung seit Jahren gegen „die Griechen“ und zuletzt vor allem gegen die neue griechische Regierung hetzte. Wir haben Niels Kadritzke gebeten, diese Behauptungen einmal unter die Lupe zu nehmen. 1. Behauptung „Fünf Jahre lang haben wir dafür gearbeitet, dafür gerungen, dass Griechenland Teil der Euro-Familie bleibt. Fünf Jahre haben wir dafür gekämpft, Griechenland vor der Staatspleite zu retten. Dafür hat Deutschland allein 87 Milliarden direkte Garantien und NotenbankKredite bereitgestellt. Wir sind bis an die Grenzen des Leistbaren gegangen und manchmal auch darüber hinaus.“ Niels Kadritzke: Das ist schon zum Auftakt eine wunderbare Pointe: Die Redaktion der Zeitung, die unserer Bundeskanzlerin das Bekenntnis in den Mund legt, fünf Jahre lang für den Verbleib Griechenlands in der „EuroFamilie“ gekämpft zu haben, tut seit fünf Jahren nichts anderes, als ihren Lesern einzureden, dass dieses Land in der Eurozone nichts zu suchen hat. Zu Beginn der Krise schickte BILD einen Reporter los, der auf Athens Straßen versuchte, den Passanten alte Drachmen-Scheinen aufzudrängen und damit auf den Grexit einzustimmen (zu seiner Enttäuschung wollten die Leute von der Drachme nichts wissen). Es folgte eine Kaskade von Berichten, angeblichen Reportagen, Aufrufen an Bundestagsabgeordnete, die stets das eine Ziel hatten: den Rausschmiss Griechenlands aus der Eurozone zu propagieren. 5 Der gestern publizierten Grexit-Rede, mit der sich die Redaktion als Ghostwriter für die Kanzlerin anbietet, ging ein Coup der besonderen Art voraus: Im März interviewte BILD den Chefideologen der Grexit-Fraktion innerhalb der Syriza, Kostas Lapavitsas. Der in England ausgebildete und heute im Athener Parlament sitzende Ökonom wurde zur gezielten Desinformation der Leser als „einer der wichtigsten Berater von Alexis Tsipras“ vorgestellt. In Wirklichkeit ist Lapavitsas, der die „Linke Plattform“ innerhalb der Syriza repräsentiert, der entschiedenste innerparteiliche Widersacher von Tspipras und Varoufakis in der Grexit/Drachmen-Frage. Was man natürlich auch in der BILD-Redaktion weiß. „Bis an die Grenzen des Leistbaren?“ Wenn heute laut Umfragen eine deutliche Mehrheit der Bundesbürger für den Grexit ist, muss man diese Umfrage-Zahlen auch als Belohnung für die publizistische-propagandistische Leistung des deutschen Zentralorgans der Grexit-Betreiber sehen. Aber was erzählen die angemaßten MerkelGhostwriter ihren Lesern. Sehen wir etwas genauer hin: Es fängt gleich mit einer faustdicken Desinformation an: dass Deutschland in selbstloser Solidarität mit Griechenland „bis an die Grenzen des Leistbaren“ gegangen sei, „und manchmal auch darüber hinaus“. „Grenze des Leistbaren“? Lassen wir an dieser Stelle mal beiseite, an welche Grenzen des Leistbaren sich heute, im sechsten Jahr der Krise und der „Rettungsprogramme“, die große Mehrheit der Griechen befindet (die Zahlen sprechen für sich: eine um mehr als 25 Prozent geschrumpftes Wirtschaft; eine Arbeitslosenquote, die immer noch bei 26 Prozent liegt und im letzten Quartal wieder leicht angestiegen ist; fast eine Million Langzeitarbeitslose ohne jedes Einkommen; zwei Millionen Menschen ohne jegliche Krankenversicherung). Hier geht es um den Teil der deutschen „Leistungsbilanz“, die BILD seinen Lesern vorenthält: um die „geldwerten Vorteile“, die Deutschland aus der griechischen Katastrophe erzielen konnte. 1. Deutschland zahlt seit Beginn der Eurokrise einmalig niedrige Zinsen für seine eigenen Staatspapiere: die 10-Jahres-Bundesanleihen finanzieren einen Teil unserer Staatsausgaben praktisch durch zinslose Kredite. Die Ersparnis der öffentlichen Hand seit 2010 wird auf 60 bis 80 Milliarden Euro geschätzt. Die Null-Verschuldung des deutschen Staates ist also teilweise ein Resultat der großzügigen Rettungsprogramme. 2. Der Exportweltmeister Deutschland profitiert ganz besonders stark vom Fall des Euro-Preises, der eine unmittelbare Folge der Krise des europäischen Südens ist. 3. Den vielleicht bedeutendsten Kollateralnutzen hat die deutsche Volkswirtschaft dank des Imports junger, gut qualifizierter Arbeitskräfte aus den Krisenländern, die in ihrer Heimat keine Perspektive haben. Fachkräfte fehlen (z.B. Mediziner); das bedeutet einen Transfer von wertvollem Knowhow, ohne dass unsere Gesellschaft für die entsprechende Ausbildung gezahlt hätte. 6 Und diese Liste der Krisengewinne ist längst noch nicht vollständig. Richtig ist, und das hat eine deutsche Regierung ihren Bürgern auch zu erklären, dass ein Schuldenschnitt – auch in Form verminderter Zinsen und längerer Rückzahlungsfristen für die Griechenland-Kredite aus dem bail-outProgamm – erstmals auch den deutschen Steuerzahler belasten würden (wenn auch weit weniger als die nackten Zahlen besagen). Aber hier wäre eine Rechnung aufzumachen, die BILD seinen Lesern verschweigt: auf jedem Fall würden diese deutschen „Krisenverluste“ deutlich unter den bislang erzielten Krisengewinnen liegen. 2. Behauptung: Nach der BILD-Merkel hält die neue griechische Regierung nicht, was sie verspricht: „Weder wurden Betriebe privatisiert, noch wurde ein funktionierendes Steuersystem in Gang gesetzt“. Niels Kadritzke: Zu dieser Behauptung sind zwei Anmerkungen fällig: Zum einen wird der neuen Regierung der Wortbruch ihrer VorgängerRegierungen in die Schuhe geschoben, die in der Tat das Steuersystem nicht oder nur zögerlich reformiert und nur wenig gegen die Steuerhinterziehung getan haben. Zwar hätte auch die Regierung Tsipras in den ersten Monaten ihrer Amtszeit mehr tun können (und ohne eine Vereinbarung mit den Gläubiger-Institutionen abzuwarten), aber ihr Interesse am Kampf gegen die Steuersünder ist deutlicher ausgeprägter als das der abgewählten Regierung Samaras. Allerdings hat sie einige sehr problematische gesetzliche Regelungen erlassen, die auf eine allzu milde Amnestie von Steuersündern gleichkommen. Dieses falsche Signal an die Steuersünder ist allerdings zum Teil auf den Druck zurückzuführen, den die Gläubiger ausüben: Um den verarmten Schichten weitere soziale Einschnitte zu ersparen, will die Regierung Tsipras möglichst schnell die ausstehende Steuerschulden eintreiben. Damit gewinnt das Ziel der Haushaltssanierung eine fatale Priorität auf Kosten langfristig tragfähiger Lösungen. Die zweite Anmerkung betrifft die Privatisierungen. Auch hier ist schon die alte Regierung weit hinter den gesteckten bzw. auferlegten Zielen zurückgeblieben, weil diese schlicht illusionär waren. Die wenigen bislang durchgezogenen Privatisierungen (die lediglich etwas über 3 Milliarden Euro in die Staatskasse brachten) liefen eher auf einen billigen Ausverkauf hinaus, weil nur Krisentiefstpreise erzielt werden konnten. Zudem hat der Staat, etwa beim (Aus)Verkauf der staatlichen Lotto-Gesellschaft, auf sehr viel höhere laufende Staatseinnahmen verzichtet. Angesichts dieser negativen Erfahrungen verhält sich die Regierung Tsipras völlig rational. Sie lehnt Privatisierungen nicht grundsätzlich ab, besteht aber auf zwei Bedingungen: o o 7 die öffentliche Hand soll einen Mindestanteil an dem privatisierten Unternehmen behalten, um bei der Geschäftspolitik mitreden zu können, die privaten Käufer sollen verbindlich auf Investitionen verpflichtet werden, die einen Beitrag zur Erholung der Wirtschaft leisten können. Behauptung „Griechenlands Schuldenpolitik ist unsolidarisch. Ein Beispiel: Um zu sparen, hat Italien die Frührente für Mütter abgeschafft. Nur in Griechenland gibt es sie noch. Alle müssen dafür zahlen, auch Italien. Aber es kann doch nicht sein, dass wir in Europa sparen und reformieren – und nur Griechenland macht weiter, als wäre nichts geschehen! Und dann das Renteneintrittsalter: Wer 56 Jahre alt ist und im öffentlichen Dienst in Griechenland arbeitet, der kann vorzeitig in Rente gehen. Zahlen für diese Sozialmaßnahmen muss der Rest der EU!“ Niels Kadritzke: Griechenlands Schuldenpolitik war in der Tat unsolidarisch, weil sie die Lasten der Krise fundamental ungerecht verteilt. Beleg dafür ist, dass sich die Ungleichheit in der Krise noch weiter verschärft hat. Aber das meint die BILD-Kanzlerin nicht. Sie spielt vielmehr „die Griechen“ gegen „die Italiener“ und andere Südländer aus. Was schon deshalb demagogisch ist, weil kein Land der Eurozone eine auch nur annähernde vergleichbare Reduktion der Masseneinkommen (um 35 bis 40 Prozent) aufweist wie Griechenland. Wobei die Einbußen am verfügbaren Einkommen noch höher liegen, weil die steuerliche Belastung selbst der ärmsten Schichten erheblich angestiegen ist. Dies gilt auch für die Rentenbezüge, die im Durchschnitt so niedrig liegen, dass fast 45 Prozent aller Rentner inzwischen als „armutsgefährdet“ einzustufen sind, weil ihr verfügbares Einkommen weniger als 60 Prozent der Medianeinkommen beträgt. Dennoch will BILD die „unsolidarischen“ Griechen wieder einmal mit Verweis auf das Rentensystem „überführen“. Die Ebene ist allerdings nicht ungeschickt gewählt: Kein Mensch kann bezweifeln, dass das griechische Rentensystem vor der Krise einer der Ursachen für die hohen Defizite war, die in den Sozialkassen und damit im Staatshaushalt aufgelaufen sind. Das weiß heute nicht zuletzt die Regierung Tsipras, die erkannt hat, dass der hohe Anteil von Frühverrentungen im öffentlichen Sektor der entscheidende Faktor ist, die das Rentensystem an den Abgrund gebracht hat. Aber nach klassischer Bild-Methode sind die pauschalen Behauptungen im Detail falsch und im Ganzen irreführend.[*] Unsinn ist vor allem die Behauptung, dass „der Rest der EU“ für griechische „Sozialmaßnahmen“ zahlen muss. Im Gegenteil: für die noch bestehenden Ungerechtigkeiten – vor allem im Hinblick auf Frührenten – zahlen allein die Ärmsten der armen Griechen, weil das Sozialsystem zum Beispiel keinerlei Vorsorge für Langzeitarbeitslose kennt, deren einzige Überlebenshilfe häufig die Rente des Ehepartners oder gar der Eltern oder Großeltern darstellt. Nun aber zu den Detail der Merkel-Rede von Bild: Die pauschale Rede von einer „Frührente für Mütter“ ist grob irreführend. Es gab und gibt sie nur für Mütter, die beim Eintritt ins (vorgezogene) Rentenalter 8 noch schulpflichtige Kinder haben. Für die überwiegende Mehrheit der weiblichen Erwerbstätigen trifft dieses Kriterium nicht zu, weil ihre Kinder beim Erreichen des Rentenalters bereits erwachsen sind. Vor der Krise konnten öffentliche Bedienstete tatsächlich mit 56 Jahren in Frührente gehen; diese niedrige Grenze wird aber schrittweise erhöht, bis sie (in zehn Jahren) bei 62 Jahren liegen soll, während das reguläre Rentenalter auf 67 Jahre angehoben wird. Gerade in diesem Punkt hat die neue griechische Regierung eingesehen, dass das alte System nicht mehr finanzierbar ist. Aber sie hat auch kapiert, dass die von der Troika geforderte zügige „Verschlankung“ des öffentlichen Dienstes, die seit 2009 über eine Welle von Anträgen auf Frührenten erfolgte, die Rentenkassen an den Rand des Abgrunds geführt hat. Genau diese Erfahrung ist der Grund dafür, dass es in einem wichtigen Detail – trotz der Übereinstimmung in der Grundsatzfrage – gewichtige Differenz zwischen Athen und den „Institutionen“ der alten Troika gibt. Letztere, und vor allem der IWF, wollen die Griechen zwingen, die Altersgrenze für Frühverrentung sofort (also spätestens Anfang 2016) und mit einem Schlag auf 62 Jahre anzuheben. Das aber hätte zur Folge, dass in den kommenden Wochen und Monaten Zehntausende Bedienstete des öffentlichen Sektors (öffentlicher Dienst wie öffentliche Unternehmen, aber auch halbstaatliche Banken) noch schnell nach den alten Bedingungen ihre Frührente beantragen würden. Das würde die Kassen schlagartig überlasten und unverzüglich in den Bankrott stürzen, den eine mittel- und langfristige Reform ja gerade abwenden soll. Dies ist ein klassisches Beispiel für irrationale und kontraproduktive Forderungen der Gläubiger. Und die Regierung Tsipras hat in der Sache völlig Recht, wenn sie ein so wichtiges strukturelles Problem wie die langfristige Sanierung der Kassen auf eine spätere Verhandlungsphase verschieben will. Behauptung: „Griechenlands politische Führung ist dabei, dem Ansehen der Europäischen Union viel Schaden zuzufügen. Wir müssen aufpassen, dass die Bürger sich nicht von Europa abwenden. Sigmar Gabriel hat ausgesprochen, was viele denken: „Wir werden nicht die überzogenen Wahlversprechen einer zum Teil kommunistischen Regierung durch die deutschen Arbeitnehmer und ihre Familien bezahlen lassen.“ Der nationale Weg, den Griechenland geht, bedeutet in letzter Konsequenz, dass es nicht mehr Teil der Euro-Familie sein will und auch nicht mehr bleiben kann. Meine Damen und Herren; Griechenland gilt wegen seiner Geschichte zu Recht als Wiege Europas. Und auch mit dem Austritt aus dem Euro-Raum bleibt das Land ein wichtiges Mitglied der Europäischen Union. Geben wir Griechenland die Zeit, sich selbst zu erneuern. 9 Für seine Menschen und für Europa.“ Damit ist der Gipfel der Demagogie erreicht: Die Bundesregierung, repräsentiert durch desinformierte und desinformierende Bild-Redakteure, kennt die Interessen der griechischen Bevölkerung besser als diese selbst. Wenn sich ein Boulevard-Blatt zum Sprachrohr der deutschen Bevölkerungsmehrheit macht, die die Griechen aus dem Euroraum verstoßen will, darf man sich nicht groß wundern. Aber wenn es sich als Anwalt der armen Griechen aufspielt, macht das nur noch sprachlos. BILD klärt also nicht nur die deutsche Gesellschaft auf, sondern auch die griechische, die noch gar nicht kapiert hat, dass sie „nicht mehr Teil der EuroFamilie sein will“. Obwohl regelmäßig drei von vier Griechen (nach der neusten Umfrage knapp 70 Prozent) unbedingt in der Eurozone bleiben wollen. Aber auf ein Detail muss hier noch verwiesen werden: auf die Tatsache, dass sich das Springer-Blatt bei dem zynischen Plädoyer für den Rausschmiss Griechenlands bei Vizekanzler Gabriel bedienen kann. Damit wird offenbar, dass die Führung der Sozialdemokratie, verzweifelt über ihre eigenen Umfragewerte, auf dem Niveau der rechtspopulistischen Propaganda angekommen ist: Die „deutschen Arbeitnehmer und ihre Familien“ wollen nicht für „überzogene“ Wahlversprechen von Kommunisten zahlen? Dieser Bezug auf „die Kommunsten“ ist von hochgradiger Ironie. Es ist zwar richtig, dass es innerhalb der Syriza bekennende Kommunisten (aller Schattierungen) gibt, die auch innerhalb der Parteigremien und in der Parlamentsfraktion ziemlich stark repräsentiert sind. Aber das Bemerkenswerte liegt hier darin, dass Gabriel und die BILD-Redaktion dabei sind, die Erwartungen und Hoffnungen des linken Syriza-Flügels zu erfüllen, der ganz offen für den Grexit eintritt. Kostas Lapavitsas durfte also seine Botschaft über die BILD-Zeitung transportieren. Er und die Grexit-Fraktion innerhalb der Syriza argumentieren heute auf derselben Linie wie die EuroFighter von der AfD und neoliberale Einzelkämpfern wie Hans-Olaf Henkel. Ob Kommunisten oder nicht – als Mitstreiter in einer deutschen Grexit-Kampagne sind sie durchaus willkommen. (Siehe dazu meine Analyse über den Grexit in der letzten Ausgabe der Le Monde diplomatique). [«*] Nach einem Bericht des Athener Arbeits- und Sozialministeriums aus dem Februar müssen in Griechenland 20 Prozent der Bürger mit bis zu 500 Euro im Monat auskommen, 38 Prozent erhalten 500 bis 1000 Euro ausgezahlt. 23 Prozent stehen mit 1000 bis 1500 Euro deutlich besser da. Und 17 Prozent beziehen mehr als 1500 Euro. 10 Siehe auch: Das griechische Renteneintrittsalter liegt nicht bei 56 Jahren Siehe Überblick über das Rentenalter in den 27 EU-Staaten