artikel_griechenland - DIE LINKE. Reinickendorf

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Tsipras in der Zwickmühle
Nach dem im Dissens beendeten Treffen der „Brüsseler Gruppe“ und der Rückkehr
der griechischen Delegation nach Athen hat Ministerpräsident Alexis Tsipras mit
einer Erklärung gegenüber der linken Tageszeitung Efimerida ton Syntaktion reagiert.
Er weist darauf hin, dass die griechische Regierung nach wie vor bereit ist, in
weiteren Verhandlungen die „nötigen Abstriche“ zu machen, um eine Einigung mit
den „Institutionen“ der Gläubiger (EU, EZB und IWF) zu erreichen. Zugleich betont
er, dass er zusätzlichen Belastungen gerade der ärmsten Schichten nicht zustimmen
kann und zu einer „Unterwerfung“ seines Landes nicht bereit ist. Von Niels
Kadritzke.
Die Erklärung hat folgenden Wortlaut:
„Das Bestehen der Institutionen auf neuen Einschnitten bei den Renten, nachdem
diese fünf Jahre lang durch die Sparpolitik gefleddert wurden, kann man nur als
bewusste politische Absicht deuten.
Die griechische Regierung geht in die Verhandlungen mit einem Plan und mit
fundierten Gegenvorschlägen. Wir werden geduldig warten, bis die Institutionen zu
einer realistischen Haltung finden.
Wenn allerdings einige Leute unseren aufrichtigen Wunsche nach einer Lösung, und
die Schritte, die wir bereits zur Überbrückung der Differenzen gemacht haben, als
Schwäche interpretieren, geben wir ihnen Folgendes zu bedenken:
Auf unseren Schultern lastet nicht nur eine lange Geschichte von Kämpfen, wir
tragen vielmehr auch die Würde eines Volkes, und zugleich die Hoffnung der Völker
Europas. Diese Last ist so schwer, dass wir sie nicht abschütteln können. Das ist
keine Frage ideologischer Unnachgiebigkeit. Es ist eine Frage der Demokratie. Wir
haben nicht das Recht, die europäische Demokratie an dem Ort ihrer Geburt zu
Grabe zu tragen.“
Diese Stellungnahme, deren spezifisches Pathos schwer zu übersetzen ist, wird von
der Zeitung in einem Punkt näher interpretiert: Mit dem Verweis auf „idologisch
unnachgiebige“ Positionen habe Tsipras auch die Opposition innerhalb der eigenen
Partei im Auge.
Dass die linke Opposition für die Regierung ein erhebliches Problem darstellt, hat
Tassos Pappás in derselben Zeitung in seinem Kommentar vom letzten Samstag
erläutert. Der erfahrene und geachtete Journalist, der die griechische Innenpolitik seit
Jahren aus linker Perspektive kommentiert und ein entschiedener Befürworter der
Syriza-Regierung ist, skizziert dabei das Dilemma, in dem sich Tsipras nicht nur
gegenüber seinen „Partnern“, sondern auch gegenüber dem linken Flügel der Syriza
befindet. Die wichtigsten Passagen seiner Einschätzung will ich im Folgenden
dokumentieren.
Pappás skizziert zunächst den Stand der Verhandlungen (vom letzten Samstag) und
die Punkte, in denen die griechische Seite etwas herausgeholt hat (und die
inzwischen wieder fraglich sind):
1
„Nach allem, was wir wissen, hat Tsipras erreicht, dass der Primärüberschuss
(Haushaltsplus ohne Berücksichtigung des Schuldendienstes) kleiner sein darf als
die Gläubiger von der Regierung Samaras-Venizelos gefordert haben, aber immer
noch größer ist als ursprünglich von Griechenland vorgeschlagen (nämlich 0,8
Prozent des BIP, während die Gläubiger 1,0 Prozent fordern, NK.)
Zudem hat er es geschafft, das Thema der „Tragfähigkeit“ der Schuldenlast auf den
Verhandlungstisch kommt, ohne allerdings eine verbindliche Aussage über die
Lösung des Problems durchzusetzen. Was die Themenfelder Rentensystem,
Arbeitsbeziehungen und Mehrwertsteuer betrifft, so bleibt die Lage jedoch
undurchsichtig. Die Regierung lehnt die Vorstellungen der Gläubiger ab, aber wenn
der Fall bei den beteiligten Institutionen landet, wird man schwerlich eine
gemeinsame Basis finden, weil der IWF keine Bereitschaft erkennen lässt, seine
extremen Positionen aufzugeben.“
Dann kommt Pappás zu der Frage, ob die Regierung eine Vereinbarung (einen
„ehrenhaften“ Kompromiss vorausgesetzt) zu Hause „verkaufen“ kann. Seine Antwort
lautet:
„dem griechischen Publikum wahrscheinlich schon, aber bei der eigenen Partei wird
es schwierig“.
Hier seine Begründung:
„In der Gesellschaft gibt es eine klare Mehrheit für eine Einigung um jeden Preis. Die
meisten Bürger sind – unabhängig von ihrer Präferenz bei den Wahlen vom 25.
Januar – von den endlosen Verhandlungen erschöpft, sind verzweifelt über das
Fehlen von klaren Perspektiven, ganz wirr im Kopf von den sich ständig
widersprechenden Informationen, zutiefst erschreckt über die Möglichkeit eines
gefährlichen Abenteuers, falls wir mit den Verbündeten brechen, und enttäuscht
darüber, dass das angestrebte Ziel einer raschen, beiden Seiten nützenden
Vereinbarung nicht erreicht wurde. Deshalb wollen sie hier und jetzt eine Einigung –
selbst wenn sie für das Land schlecht sein sollte.
Natürlich werden sie später, wenn sich das Ergebnis in der Praxis als sehr belastend
erweisen wird, über Tsipras und die Regierung zetern und sie steinigen wollen, aber
das ist in der Politik nichts Neues. Jedenfalls könnte sich der Zorn ziemlich rasch
wieder legen, wenn die Regierung ihr Arbeitstempo in anderen Bereichen
beschleunigt und Veränderungen auf den Weg bringt, die den Leuten beweisen,
dass sie sich von den Vorgängerregierungen unterscheidet.
Ein Vorteil für die Regierung ist der Zustand, in dem sich die Opposition befindet. Die
Nea Dimokratia und die Pasok müssen sich mit ihren alten Sünden herumschlagen,
Potami (eine neue Zentrumspartei) sucht noch ihr Profil und lässt die Wähler ratlos,
während die KKE den unzufriedenen Linken nur eine vorübergehende Zuflucht
bieten kann.
Anders als bei den Wählern stehen die Dinge in der Syriza. Innerhalb der Partei
überwiegt allem Anschein nach die Auffassung, dass die Regierung sich auf keine
Vereinbarung einlassen darf, die im Widerspruch zu den programmatischen
Ankündigungen der Partei steht.
2
Die meisten Mitglieder der Syriza und eine erhebliche Anzahl ihrer Funktionsträger
ziehen einen Bruch (in den Verhandlungen) vor. Auf derselben Wellenlänge liegen
wichtige Minister, aber auch ein großer Teil der Syriza-Wähler, wie aus einer
Umfrage des Instituts MARC für den Fernsehsender Alpha hervorgeht (nämlich 53
Prozent). Wir wissen allerdings nicht, was diejenigen, die nicht wollen, dass Tsipras
einen Kompromiss schließt, unter Bruch tatsächlich verstehen. Bedeutet er für sie
lediglich neue Wahlen und nicht mehr? Und was soll dann nach den Wahlen
geschehen?
Wenn die Syriza aus Neuwahlen gestärkt hervorgeht und eine eigene Mehrheit
erringen kann, denken sie dann womöglich, dass die gezwungen sein werden, ihre
Forderungen zu verwässern und sich dem Urteil des Volkes zu unterwerfen? Haben
die Verfechter der Konfrontation einkalkuliert, dass das Ergebnis einer solchen
Konfrontation – selbst bei einer großen Dominanz der Syriza im Parlament – der
Ausstieg des Landes aus der Eurozone sein kann? Niemand ist in der Lage, diese
Fragen heute mit Sicherheit zu beantworten.
Kurz und gut: Alexis Tsipras ist der Ministerpräsident des Landes und ist verpflichtet,
zuallererst die Meinung und die Stimmungen der Mehrheit der griechischen Bürger in
Betracht zu ziehen. Er steht aber zugleich an der Spitze der Syriza und es kann nicht
vernachlässigen, wie sich die Kräfteverhältnisse innerhalb seiner Partei und bei
ihrem Wähleranhang entwickeln. Das ist ein schwieriges Dilemma. Aber hat er selbst
nicht immer wieder gesagt, dass immer dann, wenn es schwierig wird, die Linke
gefordert ist?“
James Dean und der Poker um Griechenland
In den Verhandlungen zwischen Griechenland und der „Brüsseler Gruppe“ bleiben
die beiden Kontrahenten auf ihrem Kollisionskurs. Wenn sich die Finanzminister der
Eurozone am Donnerstag treffen, könnte es zum Frontalzusammenstoß kommen.
Man kann zwar davon ausgehen, dass beide Seiten darauf aus sind, dies zu
vermeiden – eine Prognose, wie die jüngste Zuspitzung der Krise ausgehen wird, ist
jedoch nahezu unmöglich. Die Verhandlungsstrategie beider Seiten wird nämlich
offensichtlich von der Spieltheorie bestimmt. Die Troika und Griechenland spielen
das Chicken Game (auf deutsch: „Feiglingsspiel“) und sind mittlerweile in ihren
eigenen spieltheoretischen Strategien derart gefangen, dass eine Katastrophe
keineswegs mehr auszuschließen ist. Oder ist das genau die Strategie, mit der beide
Seiten das Spiel gewinnen wollen? Von Jens Berger.
Wenn Sie jemals den Filmklassiker „… denn sie wissen nicht, was sie tun“ (orig.:
„Rebel Without a Cause“ gesehen haben sollten, können Sie sich sicherlich an die
wohl berühmteste Szene des Films erinnern: James Dean und sein Kontrahent rasen
in gestohlenen Autos auf den Rand einer Klippe zu. Wer zuerst aus dem Wagen
springt, ist bei dieser Mutprobe der Feigling. Im Film gewinnt James Dean, weil sein
Kontrahent mit dem Jackenärmel am Türgriff hängen bleibt und so in den Tod stürzt.
Die Mutprobe hat er damit jedoch verloren. Was in Nicolas Rays Film von 1955 in
den Kinos gezeigt wurde, ist eine Variante der Spieltheorie, die wenige Jahre zuvor
zunächst die Wissenschaft eroberte und während des Kalten Krieges zur nuklearen
Globalstrategie der beiden Supermächte werden sollte.
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Beim klassischen „Chicken Game“ fahren die beiden Autos nicht auf eine Klippe
sondern aufeinander zu. Wer zuerst den Kollisionskurs verlässt, hat verloren. Lenken
beide Seiten nicht ein, kommt es zum Frontalzusammenstoß, bei dem beide Seiten
verlieren. Es gibt sogar mathematische Formeln, wie beispielsweise das „NashGleichgewicht“, die den Spielern (Fahrern) den idealen Punkt nennen sollen, an dem
sie das Lenkrad herumreißen sollten. Diese Modelle haben jedoch ihre Grenzen.
Immer wenn in der großen Politik das „Chicken Game“ gespielt wird, geht es vor
allem um Psychologie. Die wichtigste Währung in diesem Spiel ist dabei die
Glaubwürdigkeit. Als sich Amerikaner und Russen während der Kubakrise
gegenüberstanden, gehörte es zur amerikanischen Strategie, keinen Zweifel daran
zuzulassen, dass man voll und ganz bereit war, einen globalen Atomkrieg zu starten,
wenn die Russen nicht einlenken sollten. In der Spieltheorie wird diese Strategie als
„Brinkmanship“ bezeichnet. Im Grunde passten Amerikaner und Russen während
des gesamten Kalten Krieges ihre Politik der Spieltheorie an. Hier ging es jedoch
nicht um eine Mutprobe rund um den Zusammenstoß zweier aufeinander zu
fahrender Autos, sondern um den Fortbestand der Menschheit.
So groß ist der Einsatz beim Poker um die Rückzahlung der griechischen
Staatsschulden zwar nicht. Auch bei diesem „Spiel“ steht jedoch für Europa und
Griechenland sehr viel auf dem Spiel. Und auch dieses „Spiel“ ist im Rahmen der
Spieltheorie ein „Chicken Game“, bei dem es vor allem um Psychologie geht. Beide
Seiten pokern darauf, dass der Gegner kurz vor dem Frontalzusammenstoß das
Lenkrad herumreißt. Wie bei jedem „Chicken Game“ besteht jedoch auch die Gefahr,
dass keine der Parteien das Lenkrad herumreißt und es zum Frontalzusammenstoß
kommt. Und auch in anderen Punkten weisen die Verhandlungen eine frappierende
Ähnlichkeit zur Spieltheorie auf.
Ein elementarer Bestandteil des spieltheoretischen „Chicken Game“ ist es, den
Gegner glauben zu machen, man selbst sei für den Frontalzusammenstoß bereit.
Beim klassischen „Chicken Game“ ist beispielsweise das Verbinden der Augen oder
das Verriegeln der Autotüren eine denkbare Strategie. Eine weitere Strategie ist es,
dem Gegner den Eindruck zu vermitteln, man handele irrational. Bei „Chicken Game“
wäre dies beispielsweise das echte oder vorgetäuschte Betrinken vor der Fahrt, das
dem Gegner davon überzeugen soll, zuerst einzulenken, da er denkt, sein
Gegenüber sei nicht dazu in der Lage, rational zu entscheiden. Auch dies wurde im
Kalten Krieg bereits ausprobiert, als Nixon im Vietnamkrieg den Anschein erweckte,
nicht mehr Herr seiner Sinne zu sein. Nixons Strategie, die im übrigen gescheitert ist,
ging als „Madman-Theory“ (deutsch: Theorie vom Verrückten) in die Geschichte der
Spieltheorie ein.
Viele dieser Elemente lassen sich auch im aktuellen Euro-Poker zwischen
Griechenland und der Troika wiederfinden. Ist der IWF beispielsweise wirklich nicht
(mehr) kompromissbereit oder hat Frau Lagarde damit die Fahrertür des TroikaWagens verriegelt, um den Griechen zu signalisieren, es sei besser, das Lenkrad
herumzureißen? Sind Berlin und Brüssel wirklich für einen „Grexit“ bereit oder ist dies
„Brinkmanship“, die strategische Drohung, im Zweifel gemeinsam in den Abgrund zu
gehen? Und einige Äußerungen von deutschen Politikern aus der zweiten Reihe
erinnern tatsächlich an die „Madman-Theory“, die den Griechen den Eindruck
vermitteln soll, man habe es mit Verrückten zu tun, die nicht rational entscheiden
können, wann sie das Lenkrad herumreißen. Vor allem die „Brüsseler Gruppe“ macht
öffentlich den Eindruck, sie sei zu Allem entschlossen. Aber auch das gehört
natürlich zur spieltheoretischen Strategie.
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Alexis Tsipras und die „Gang“ um Wolfgang Schäuble fahren also, um im
ursprünglichen Beispiel zu bleiben, frontal aufeinander zu und hoffen, dass der
jeweilige Gegenspieler im letzten Moment das Lenkrad herumreißt. Dieses „Spiel“ ist
jedoch für alle Seiten brandgefährlich und von außen ist es unmöglich zu sagen, wer
hier blufft und wer wirklich zu allem bereit ist. Wenn beiden Seiten zu allem bereit
sind, verlieren beide Seiten beim „Chicken Game“. Der Frontalcrash könnte bereits
am Donnerstag stattfinden. Ein in diesem Kontext sicher interessanter Randaspekt:
Die Spieltheorie ist das Spezialgebiet des Ökonomen Yanis Varoufakis. Aber das ist
natürlich nur ein weiterer Parameter in der Gleichung des momentan stattfinden
„Spiels“.
Es reicht! – Die Grexit-Kampagne der Bild-Zeitung
„Frau Bundeskanzlerin, diese Rede wollen wir von Ihnen hören“ unter dieser
Überschrift veröffentlichte die Bild-Zeitung gestern einen Entwurf einer
Regierungserklärung für Angela Merkel. Bild schreibt der Kanzlerin darin vor, was sie
sagen müsste. Die klare Botschaft an die griechische Regierung lautet: „Es reicht!“.
In diesem Beitrag finden sich geballt die Behauptungen, Halbwahrheiten und Lügen
mit der die Bild-Zeitung seit Jahren gegen „die Griechen“ und zuletzt vor allem gegen
die neue griechische Regierung hetzte. Wir haben Niels Kadritzke gebeten, diese
Behauptungen einmal unter die Lupe zu nehmen.
1. Behauptung
„Fünf Jahre lang haben wir dafür gearbeitet, dafür gerungen, dass
Griechenland Teil der Euro-Familie bleibt.
Fünf Jahre haben wir dafür gekämpft, Griechenland vor der Staatspleite zu
retten.
Dafür hat Deutschland allein 87 Milliarden direkte Garantien und NotenbankKredite bereitgestellt.
Wir sind bis an die Grenzen des Leistbaren gegangen und manchmal auch
darüber hinaus.“
Niels Kadritzke: Das ist schon zum Auftakt eine wunderbare Pointe: Die
Redaktion der Zeitung, die unserer Bundeskanzlerin das Bekenntnis in den
Mund legt, fünf Jahre lang für den Verbleib Griechenlands in der „EuroFamilie“ gekämpft zu haben, tut seit fünf Jahren nichts anderes, als ihren
Lesern einzureden, dass dieses Land in der Eurozone nichts zu suchen hat.
Zu Beginn der Krise schickte BILD einen Reporter los, der auf Athens Straßen
versuchte, den Passanten alte Drachmen-Scheinen aufzudrängen und damit
auf den Grexit einzustimmen (zu seiner Enttäuschung wollten die Leute von
der Drachme nichts wissen). Es folgte eine Kaskade von Berichten,
angeblichen Reportagen, Aufrufen an Bundestagsabgeordnete, die stets das
eine Ziel hatten: den Rausschmiss Griechenlands aus der Eurozone zu
propagieren.
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Der gestern publizierten Grexit-Rede, mit der sich die Redaktion als
Ghostwriter für die Kanzlerin anbietet, ging ein Coup der besonderen Art
voraus: Im März interviewte BILD den Chefideologen der Grexit-Fraktion
innerhalb der Syriza, Kostas Lapavitsas. Der in England ausgebildete und
heute im Athener Parlament sitzende Ökonom wurde zur gezielten
Desinformation der Leser als „einer der wichtigsten Berater von Alexis
Tsipras“ vorgestellt. In Wirklichkeit ist Lapavitsas, der die „Linke Plattform“
innerhalb der Syriza repräsentiert, der entschiedenste innerparteiliche
Widersacher von Tspipras und Varoufakis in der Grexit/Drachmen-Frage. Was
man natürlich auch in der BILD-Redaktion weiß.
„Bis an die Grenzen des Leistbaren?“
Wenn heute laut Umfragen eine deutliche Mehrheit der Bundesbürger für den
Grexit ist, muss man diese Umfrage-Zahlen auch als Belohnung für die
publizistische-propagandistische Leistung des deutschen Zentralorgans der
Grexit-Betreiber sehen. Aber was erzählen die angemaßten MerkelGhostwriter ihren Lesern. Sehen wir etwas genauer hin: Es fängt gleich mit
einer faustdicken Desinformation an: dass Deutschland in selbstloser
Solidarität mit Griechenland „bis an die Grenzen des Leistbaren“ gegangen
sei, „und manchmal auch darüber hinaus“.
„Grenze des Leistbaren“? Lassen wir an dieser Stelle mal beiseite, an welche
Grenzen des Leistbaren sich heute, im sechsten Jahr der Krise und der
„Rettungsprogramme“, die große Mehrheit der Griechen befindet (die Zahlen
sprechen für sich: eine um mehr als 25 Prozent geschrumpftes Wirtschaft;
eine Arbeitslosenquote, die immer noch bei 26 Prozent liegt und im letzten
Quartal wieder leicht angestiegen ist; fast eine Million Langzeitarbeitslose
ohne jedes Einkommen; zwei Millionen Menschen ohne jegliche
Krankenversicherung).
Hier geht es um den Teil der deutschen „Leistungsbilanz“, die BILD seinen
Lesern vorenthält: um die „geldwerten Vorteile“, die Deutschland aus der
griechischen Katastrophe erzielen konnte.
1. Deutschland zahlt seit Beginn der Eurokrise einmalig niedrige Zinsen
für seine eigenen Staatspapiere: die 10-Jahres-Bundesanleihen
finanzieren einen Teil unserer Staatsausgaben praktisch durch zinslose
Kredite. Die Ersparnis der öffentlichen Hand seit 2010 wird auf 60 bis
80 Milliarden Euro geschätzt. Die Null-Verschuldung des deutschen
Staates ist also teilweise ein Resultat der großzügigen
Rettungsprogramme.
2. Der Exportweltmeister Deutschland profitiert ganz besonders stark vom
Fall des Euro-Preises, der eine unmittelbare Folge der Krise des
europäischen Südens ist.
3. Den vielleicht bedeutendsten Kollateralnutzen hat die deutsche
Volkswirtschaft dank des Imports junger, gut qualifizierter Arbeitskräfte
aus den Krisenländern, die in ihrer Heimat keine Perspektive haben.
Fachkräfte fehlen (z.B. Mediziner); das bedeutet einen Transfer von
wertvollem Knowhow, ohne dass unsere Gesellschaft für die
entsprechende Ausbildung gezahlt hätte.
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Und diese Liste der Krisengewinne ist längst noch nicht vollständig.
Richtig ist, und das hat eine deutsche Regierung ihren Bürgern auch zu
erklären, dass ein Schuldenschnitt – auch in Form verminderter Zinsen und
längerer Rückzahlungsfristen für die Griechenland-Kredite aus dem bail-outProgamm – erstmals auch den deutschen Steuerzahler belasten würden
(wenn auch weit weniger als die nackten Zahlen besagen). Aber hier wäre
eine Rechnung aufzumachen, die BILD seinen Lesern verschweigt: auf jedem
Fall würden diese deutschen „Krisenverluste“ deutlich unter den bislang
erzielten Krisengewinnen liegen.
2. Behauptung:
Nach der BILD-Merkel hält die neue griechische Regierung nicht, was sie
verspricht: „Weder wurden Betriebe privatisiert, noch wurde ein
funktionierendes Steuersystem in Gang gesetzt“.
Niels Kadritzke: Zu dieser Behauptung sind zwei Anmerkungen fällig:
Zum einen wird der neuen Regierung der Wortbruch ihrer VorgängerRegierungen in die Schuhe geschoben, die in der Tat das Steuersystem nicht
oder nur zögerlich reformiert und nur wenig gegen die Steuerhinterziehung
getan haben. Zwar hätte auch die Regierung Tsipras in den ersten Monaten
ihrer Amtszeit mehr tun können (und ohne eine Vereinbarung mit den
Gläubiger-Institutionen abzuwarten), aber ihr Interesse am Kampf gegen die
Steuersünder ist deutlicher ausgeprägter als das der abgewählten Regierung
Samaras. Allerdings hat sie einige sehr problematische gesetzliche
Regelungen erlassen, die auf eine allzu milde Amnestie von Steuersündern
gleichkommen. Dieses falsche Signal an die Steuersünder ist allerdings zum
Teil auf den Druck zurückzuführen, den die Gläubiger ausüben: Um den
verarmten Schichten weitere soziale Einschnitte zu ersparen, will die
Regierung Tsipras möglichst schnell die ausstehende Steuerschulden
eintreiben. Damit gewinnt das Ziel der Haushaltssanierung eine fatale Priorität
auf Kosten langfristig tragfähiger Lösungen.
Die zweite Anmerkung betrifft die Privatisierungen. Auch hier ist schon die alte
Regierung weit hinter den gesteckten bzw. auferlegten Zielen
zurückgeblieben, weil diese schlicht illusionär waren. Die wenigen bislang
durchgezogenen Privatisierungen (die lediglich etwas über 3 Milliarden Euro in
die Staatskasse brachten) liefen eher auf einen billigen Ausverkauf hinaus,
weil nur Krisentiefstpreise erzielt werden konnten. Zudem hat der Staat, etwa
beim (Aus)Verkauf der staatlichen Lotto-Gesellschaft, auf sehr viel höhere
laufende Staatseinnahmen verzichtet. Angesichts dieser negativen
Erfahrungen verhält sich die Regierung Tsipras völlig rational. Sie lehnt
Privatisierungen nicht grundsätzlich ab, besteht aber auf zwei Bedingungen:
o
o
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die öffentliche Hand soll einen Mindestanteil an dem privatisierten
Unternehmen behalten, um bei der Geschäftspolitik mitreden zu
können,
die privaten Käufer sollen verbindlich auf Investitionen verpflichtet
werden, die einen Beitrag zur Erholung der Wirtschaft leisten können.
Behauptung
„Griechenlands Schuldenpolitik ist unsolidarisch. Ein Beispiel: Um zu sparen,
hat Italien die Frührente für Mütter abgeschafft. Nur in Griechenland gibt es sie
noch. Alle müssen dafür zahlen, auch Italien.
Aber es kann doch nicht sein, dass wir in Europa sparen und reformieren –
und nur Griechenland macht weiter, als wäre nichts geschehen!
Und dann das Renteneintrittsalter: Wer 56 Jahre alt ist und im öffentlichen
Dienst in Griechenland arbeitet, der kann vorzeitig in Rente gehen.
Zahlen für diese Sozialmaßnahmen muss der Rest der EU!“
Niels Kadritzke: Griechenlands Schuldenpolitik war in der Tat unsolidarisch,
weil sie die Lasten der Krise fundamental ungerecht verteilt. Beleg dafür ist,
dass sich die Ungleichheit in der Krise noch weiter verschärft hat.
Aber das meint die BILD-Kanzlerin nicht. Sie spielt vielmehr „die Griechen“
gegen „die Italiener“ und andere Südländer aus. Was schon deshalb
demagogisch ist, weil kein Land der Eurozone eine auch nur annähernde
vergleichbare Reduktion der Masseneinkommen (um 35 bis 40 Prozent)
aufweist wie Griechenland. Wobei die Einbußen am verfügbaren Einkommen
noch höher liegen, weil die steuerliche Belastung selbst der ärmsten
Schichten erheblich angestiegen ist. Dies gilt auch für die Rentenbezüge, die
im Durchschnitt so niedrig liegen, dass fast 45 Prozent aller Rentner
inzwischen als „armutsgefährdet“ einzustufen sind, weil ihr verfügbares
Einkommen weniger als 60 Prozent der Medianeinkommen beträgt.
Dennoch will BILD die „unsolidarischen“ Griechen wieder einmal mit Verweis
auf das Rentensystem „überführen“. Die Ebene ist allerdings nicht ungeschickt
gewählt: Kein Mensch kann bezweifeln, dass das griechische Rentensystem
vor der Krise einer der Ursachen für die hohen Defizite war, die in den
Sozialkassen und damit im Staatshaushalt aufgelaufen sind. Das weiß heute
nicht zuletzt die Regierung Tsipras, die erkannt hat, dass der hohe Anteil von
Frühverrentungen im öffentlichen Sektor der entscheidende Faktor ist, die das
Rentensystem an den Abgrund gebracht hat.
Aber nach klassischer Bild-Methode sind die pauschalen Behauptungen im
Detail falsch und im Ganzen irreführend.[*] Unsinn ist vor allem die
Behauptung, dass „der Rest der EU“ für griechische „Sozialmaßnahmen“
zahlen muss. Im Gegenteil: für die noch bestehenden Ungerechtigkeiten – vor
allem im Hinblick auf Frührenten – zahlen allein die Ärmsten der armen
Griechen, weil das Sozialsystem zum Beispiel keinerlei Vorsorge für
Langzeitarbeitslose kennt, deren einzige Überlebenshilfe häufig die Rente des
Ehepartners oder gar der Eltern oder Großeltern darstellt.
Nun aber zu den Detail der Merkel-Rede von Bild:
Die pauschale Rede von einer „Frührente für Mütter“ ist grob irreführend. Es
gab und gibt sie nur für Mütter, die beim Eintritt ins (vorgezogene) Rentenalter
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noch schulpflichtige Kinder haben. Für die überwiegende Mehrheit der
weiblichen Erwerbstätigen trifft dieses Kriterium nicht zu, weil ihre Kinder beim
Erreichen des Rentenalters bereits erwachsen sind.
Vor der Krise konnten öffentliche Bedienstete tatsächlich mit 56 Jahren in
Frührente gehen; diese niedrige Grenze wird aber schrittweise erhöht, bis sie
(in zehn Jahren) bei 62 Jahren liegen soll, während das reguläre Rentenalter
auf 67 Jahre angehoben wird. Gerade in diesem Punkt hat die neue
griechische Regierung eingesehen, dass das alte System nicht mehr
finanzierbar ist. Aber sie hat auch kapiert, dass die von der Troika geforderte
zügige „Verschlankung“ des öffentlichen Dienstes, die seit 2009 über eine
Welle von Anträgen auf Frührenten erfolgte, die Rentenkassen an den Rand
des Abgrunds geführt hat.
Genau diese Erfahrung ist der Grund dafür, dass es in einem wichtigen Detail
– trotz der Übereinstimmung in der Grundsatzfrage – gewichtige Differenz
zwischen Athen und den „Institutionen“ der alten Troika gibt. Letztere, und vor
allem der IWF, wollen die Griechen zwingen, die Altersgrenze für
Frühverrentung sofort (also spätestens Anfang 2016) und mit einem Schlag
auf 62 Jahre anzuheben. Das aber hätte zur Folge, dass in den kommenden
Wochen und Monaten Zehntausende Bedienstete des öffentlichen Sektors
(öffentlicher Dienst wie öffentliche Unternehmen, aber auch halbstaatliche
Banken) noch schnell nach den alten Bedingungen ihre Frührente beantragen
würden. Das würde die Kassen schlagartig überlasten und unverzüglich in den
Bankrott stürzen, den eine mittel- und langfristige Reform ja gerade abwenden
soll.
Dies ist ein klassisches Beispiel für irrationale und kontraproduktive
Forderungen der Gläubiger. Und die Regierung Tsipras hat in der Sache völlig
Recht, wenn sie ein so wichtiges strukturelles Problem wie die langfristige
Sanierung der Kassen auf eine spätere Verhandlungsphase verschieben will.
Behauptung:
„Griechenlands politische Führung ist dabei, dem Ansehen der Europäischen
Union viel Schaden zuzufügen. Wir müssen aufpassen, dass die Bürger sich
nicht von Europa abwenden.
Sigmar Gabriel hat ausgesprochen, was viele denken: „Wir werden nicht die
überzogenen Wahlversprechen einer zum Teil kommunistischen Regierung
durch die deutschen Arbeitnehmer und ihre Familien bezahlen lassen.“
Der nationale Weg, den Griechenland geht, bedeutet in letzter Konsequenz,
dass es nicht mehr Teil der Euro-Familie sein will und auch nicht mehr bleiben
kann.
Meine Damen und Herren; Griechenland gilt wegen seiner Geschichte zu
Recht als Wiege Europas. Und auch mit dem Austritt aus dem Euro-Raum
bleibt das Land ein wichtiges Mitglied der Europäischen Union. Geben wir
Griechenland die Zeit, sich selbst zu erneuern.
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Für seine Menschen und für Europa.“
Damit ist der Gipfel der Demagogie erreicht: Die Bundesregierung,
repräsentiert durch desinformierte und desinformierende Bild-Redakteure,
kennt die Interessen der griechischen Bevölkerung besser als diese selbst.
Wenn sich ein Boulevard-Blatt zum Sprachrohr der deutschen
Bevölkerungsmehrheit macht, die die Griechen aus dem Euroraum verstoßen
will, darf man sich nicht groß wundern. Aber wenn es sich als Anwalt der
armen Griechen aufspielt, macht das nur noch sprachlos.
BILD klärt also nicht nur die deutsche Gesellschaft auf, sondern auch die
griechische, die noch gar nicht kapiert hat, dass sie „nicht mehr Teil der EuroFamilie sein will“. Obwohl regelmäßig drei von vier Griechen (nach der
neusten Umfrage knapp 70 Prozent) unbedingt in der Eurozone bleiben
wollen.
Aber auf ein Detail muss hier noch verwiesen werden: auf die Tatsache, dass
sich das Springer-Blatt bei dem zynischen Plädoyer für den Rausschmiss
Griechenlands bei Vizekanzler Gabriel bedienen kann. Damit wird offenbar,
dass die Führung der Sozialdemokratie, verzweifelt über ihre eigenen
Umfragewerte, auf dem Niveau der rechtspopulistischen Propaganda
angekommen ist: Die „deutschen Arbeitnehmer und ihre Familien“ wollen nicht
für „überzogene“ Wahlversprechen von Kommunisten zahlen?
Dieser Bezug auf „die Kommunsten“ ist von hochgradiger Ironie. Es ist zwar
richtig, dass es innerhalb der Syriza bekennende Kommunisten (aller
Schattierungen) gibt, die auch innerhalb der Parteigremien und in der
Parlamentsfraktion ziemlich stark repräsentiert sind. Aber das
Bemerkenswerte liegt hier darin, dass Gabriel und die BILD-Redaktion dabei
sind, die Erwartungen und Hoffnungen des linken Syriza-Flügels zu erfüllen,
der ganz offen für den Grexit eintritt. Kostas Lapavitsas durfte also seine
Botschaft über die BILD-Zeitung transportieren. Er und die Grexit-Fraktion
innerhalb der Syriza argumentieren heute auf derselben Linie wie die EuroFighter von der AfD und neoliberale Einzelkämpfern wie Hans-Olaf Henkel. Ob
Kommunisten oder nicht – als Mitstreiter in einer deutschen Grexit-Kampagne
sind sie durchaus willkommen. (Siehe dazu meine Analyse über den Grexit in
der letzten Ausgabe der Le Monde diplomatique).
[«*] Nach einem Bericht des Athener Arbeits- und Sozialministeriums aus dem
Februar müssen in Griechenland 20 Prozent der Bürger mit bis zu 500 Euro im
Monat auskommen, 38 Prozent erhalten 500 bis 1000 Euro ausgezahlt. 23 Prozent
stehen mit 1000 bis 1500 Euro deutlich besser da. Und 17 Prozent beziehen mehr
als 1500 Euro.
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Siehe auch: Das griechische Renteneintrittsalter liegt nicht bei 56 Jahren
Siehe Überblick über das Rentenalter in den 27 EU-Staaten
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