Hans-Joachim Pieper Erneuerung und Tradition Zum Frühjahrsempfang der GIK, 18.3.2012 im Historischen Rathaus Bonn Die GIK, die Gesellschaft für internationalen Kulturaustausch und politische Bildung, hat zu ihrem Motto einen Satz des Konfuzius gewählt: Tradition bedeutet nicht das Bewahren der Asche, sondern das Weitergeben der Glut. Ich will gar nicht erst den Anschein erwecken, als ob ich viel Kluges über Konfuzius zu sagen hätte. Deshalb möchte ich diesem Satz einen Satz aus dem europäischen Kulturraum zur Seite stellen: „Wir werden diese Welt ebenso dumm und schlecht zurücklassen, wie wir sie bei unserer Ankunft vorgefunden haben.“1 – Ich bin auf diesen Satz Voltaires in Schopenhauers „Aphorismen zur Lebensweisheit“ gestoßen, und dort bekommt der Satz – wie fast alles bei Schopenhauer – eine pessimistische Note. Aber bei näherer Betrachtung – man könnte auch sagen: bei nun meinerseits pessimistischer Betrachtung – ist dieser Satz keineswegs so schwarzmalerisch, wie er sich zunächst vielleicht anhört. Wenn wir die Welt tatsächlich nur so dumm und so schlecht hinterlassen, wie wir sie vorgefunden haben, dann ist das noch keine Katastrophe. Vielmehr ist es deutlich besser, als es auch sein könnte, nämlich dass die Welt während unseres Lebens oder gar aufgrund unseres Lebens und Wirkens erheblich dümmer und schlechter geworden wäre, als sie vorher war. Sein Kapital nicht vergrößert, es aber auch nicht angegriffen zu haben, das ist zu manchen Zeiten schon eine geradezu heroische Leistung. Das Feuer nicht ausgehen zu lassen, vielleicht keine Flammen der Leidenschaft weiterzureichen, aber doch wenigstens die lebenswichtige Glut, das ist schon von großem Wert. Wie wir gehört haben, sieht Konfuzius darin sogar das Wesentliche von Tradition. – Tradition besagt Überliefern und Anvertrauen. Tradition verlangt Bildung, verlangt, das Überlieferte auch aktiv zu übernehmen. Tradition, Überlieferung, Bildung – das sind Vokabeln, die ziemlich angestaubt klingen, die etwas Hausbackenes, Konservatives vor sich her tragen. Man denkt an Trachtengruppen, uniformierte Schützenvereine, an Lateinunterricht, überlieferte Geschlechterrollen und dergleichen mehr. Dem 1 Voltaire, zit. nach Schopenhauer, AzL, 344. 1 stehen die Parole und die Dynamik des Fortschritts gegenüber. Das Neue ist das Gute, das Neuere ist das Bessere. Auf die Moderne folgt die Post-Moderne, darauf die Post-Post-Moderne; am Ende werden wir möglicherweise in einem Post-Zeitalter leben – immer schon im Hinterher, immer schon in der Nachzeit, uns selbst mindestens einen Schritt voraus wie ein Brief, der immer weiter gereicht wird, ohne anzukommen und ohne irgendwo lange genug liegenzubleiben, um zu sagen: Dieser Ort war mein Zielort, mein Bestimmungsort, meine Bestimmung. Tradition ist das eine; am anderen Ende der Skala steht die Revolution. Gegen Überliefern und Bewahren steht der Umsturz. Doch auf einem Grund, der permanent umgegraben und umgewühlt wird, lässt sich bekanntlich kein Haus errichten. Tote Asche wärmt uns nicht, aber lodernde Flammen tun das ebenso wenig – sie verbrennen uns. Klug und weise hat also Konfuzius das Weiterreichen der Glut gefordert, nicht das der Flammen. Aber worin besteht nun eigentlich diese Glut, und was zeichnet lebendige Traditionen aus? Versetzen wir uns für einen Augenblick in die Frühgeschichte der Menschheit zurück, dann dürfte uns mindestens zweierlei klar werden: Das Feuer, die Glut, durfte nicht ausgehen. Sie ist das, was die Menschen erst zu Menschen macht, die Initialzündung aller geistigen, technischen, kulturellen Entwicklung. Darüber hinaus ist das Feuer der Ort, an dem die Menschen sich versammeln, Zentrum der Gemeinschaft, des menschlichen Miteinanders. Die Glut verkörpert das, worauf Menschen nicht verzichten können, was sie zu Menschen macht: Klugheit, Geist und Miteinander. Die Glut des Geistes liegt darin, Fragen zu stellen, sich mit sich und der Welt auseinanderzusetzen, was selbstverständlich scheint, mit eigener Neugier, eigenem Interesse zu beleben und zu durchdringen. Und eine andere Glut drängt uns zueinander hin, sei es im Guten oder Schlechten, sei es in nüchternen Kooperationsgemeinschaften oder in den persönlichen Verbindungen von Freundschaft und Liebe. Wache Menschen streben danach, die Kontrolle über ihr Leben zu erlangen, sie streben nach Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung. Dazu müssen sie sich mit dem, was sie geworden sind, was sie quasi sich selbst tradieren, permanent auseinandersetzen, es sichten, prüfen, verändern, zurückweisen oder es sich zu eigen machen. Und genauso müssen wir mit den sogenannten Bildungs- und Kulturgütern verfahren, die wir vorfinden, mit denen wir wie selbstverständlich 2 aufgewachsen sind. Tradition bedeutet, solche Güter zu hinterlassen: die Errungenschaften von Technik, Medizin, Kunst, Religion und Philosophie, die Wohlstandsgüter – wie Industrie, Kapital, Infrastruktur usw. (Jedenfalls würde es sich im Idealfall dabei um Güter handeln und nicht in erster Linie um ökologische und ökonomische Schulden, wie es sich heute leider für uns darstellt.) Tradition bedeutet das Weiterreichen solcher ökonomischen und kulturellen Werte. Tradition bedeutet aber außerdem und vielleicht vor allem, den Impuls weiterzureichen, den Impuls, sich seines eigenen Lebens bemächtigen zu wollen, sich nicht mit Überliefertem wie mit Asche und Ruinen zufrieden zu geben, sondern es zu beleben mit eigener Neugier, eigenen Fragen, eigenen Antworten – und dies gemeinsam mit anderen zu tun. Genau darin liegt der Sinn und die Funktion von Bildung. Bildung bedeutet Persönlichkeitsbildung, bedeutet, sich selbst und das Leben miteinander zu gestalten, in einer aktiven Auseinandersetzung mit den verschiedenen Dimensionen der Kultur, mit ihrer Geschichte und ihren Tendenzen. Das ist in unserer globalisierten Welt einerseits leichter als zu anderen Zeiten: Das Nebeneinander verschiedener Kulturen erleichtert es uns, die eigene kulturelle Prägung in Frage zu stellen und zu relativieren. Andererseits konfrontiert es uns aber auch mit der Notwendigkeit, in fundamentalen Fragen „Kante“ zu zeigen, Farbe zu bekennen, wenn wir uns nicht in einem moralisch-politischen „Anything goes“ verlieren wollen. Toleranz, Akzeptanz, Zurückhaltung und Bescheidenheit sind zweifellos von herausragendem Wert, wenn interkulturelle Verständigung und die Ausprägung einer eigenen kulturellen Identität erreicht werden sollen. Aber gerade wenn es um Identitätsstiftung geht, haben sie auch ihre Grenzen: Jede und jeder muss die Frage beantworten, ob er auch für öffentliche Steinigungen, Genitalverstümmelungen, Folter, ungleiche Bildungsund Entwicklungschancen und Ähnliches Verständnis aufbringen will, nur weil diese Dinge hier und da angeblich zur politischen und gesellschaftlichen Kultur gehören. Tradition und Bildung gehören ebenso zusammen wie Bildung und Selbstverwirklichung. Ohne Rückgriff auf Überliefertes bleiben Bildung und Selbstbestimmung richtungslos und leer. Ohne kritische Neugier und revolutionären Geist sind Tradition und Bildung kalte Asche, Ruinen, verstaubtes Museumsinventar. Und ohne die lebendige Lust, miteinander zu leben, ohne die klare eigene Einsicht, dass Menschenleben ohne gemeinsames 3 Planen und Handeln unmöglich, dass die Begegnung mit anderen, auch und gerade mit anderen Kulturen, hingegen eine große Bereicherung darstellt, ohne die eigene lebendige Erfahrung des Solidaritäts- und Kooperationsgedankens bleiben auch alle politischen Institutionen anonyme, fremdgesteuerte Zwangseinrichtungen. Tradition ist das Weiterreichen der Glut, das heißt: Sie ist der Impuls, der Appell an uns und an die folgenden Generationen, mitzuarbeiten am großen Projekt der Menschheit und der Menschlichkeit – humane Lebensbedingungen zu schaffen, kulturelle Werte zu erzeugen, das Leben der Menschen zunehmend in ein Miteinander zu verwandeln. Dieser Impuls, dieser Appell ist nach meinem Verständnis die Glut, von der Konfuzius spricht. Bei diesen Gedanken kann schon einmal das Pathos mit einem durchgehen. Natürlich ist hier Skepsis angebracht, auch Bescheidenheit: Ob und was der Rest der Menschheit und die, die nach uns kommen, von unseren Hinterlassenschaften akzeptabel und übernehmenswert finden, das haben wir nicht in der Hand. Aber haben wir nicht trotz aller historischen Rückschläge heute Grund genug, die Einschätzung Voltaires in ihre Schranken zu weisen? Ist die Welt in den letzten 250 Jahren wirklich nicht klüger und besser geworden? Bei allen Einschränkungen sollte man doch nicht übersehen, welche Entwicklungen sich zumal in Europa zugetragen haben: Autokratische Monarchien wurden durch mehr oder weniger gut funktionierende Demokratien ersetzt, Folter und Todesstrafe weitgehend abgeschafft, Meinungs- und Pressefreiheit allgemein anerkannt. Und wenn wir statt in das große Ganze der Geschichte nur auf die eigene Lebensgeschichte blicken, kann man dann wirklich mit Voltaire behaupten, die Welt sei am Ende – das für uns alle noch möglichst fern liegen mag, aber man kann ja schon einmal eine Zwischenbilanz ziehen –, kann man dann wirklich mit Voltaire behaupten, die Welt sei am Ende noch genauso dumm und schlecht wie am Anfang? Doch wohl kaum: Ein vom Ungeist des Nationalsozialismus verseuchtes Deutschland liegt hinter uns – wenn es auch noch immer unerträgliche Spuren davon gibt –, die Teilung Deutschlands, ja ganz Europas liegt ebenso hinter uns. Kriegsverbrecher, Mitglieder amtierender Regierungen können vor Gericht gestellt und verurteilt werden. Die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen ist ein Dokument weltweit akzeptabler moralischer Spielregeln, ein Dokument, das bei weitem nicht immer befolgt wird, auf das man sich jedoch 4 mit einiger Wirkung berufen kann. Freiheitsrechte und Gerechtigkeit – auch im Sozialen – markieren Werte, die sich nicht mehr ohne Weiteres ignorieren lassen. Niemand weiß, wohin die Reise geht. Ob die Geschichte der Menschheit sich zu friedlicher Koexistenz, zum Krieg aller gegen alle oder zum Kollaps des Planeten entwickeln wird, das wird von keinem Heilsplan vorgeschrieben, sondern das hängt einzig und allein von uns Menschen ab. Diese Einsicht und der Appell, sich die Werte der Freiheit und Verantwortung, der Gerechtigkeit und Solidarität lebendig anzueignen, das ist die Tradition, das ist die Glut, die wir an die Nachfolgenden weiterreichen sollten – und nicht zuletzt auch an uns selbst, für all die Jahre, die uns noch vergönnt sind. Denn bei aller Tradition und allem Fortschritt – leben tun wir immer nur in der Gegenwart. Es ist wichtig, daran mitzuwirken, dass die Welt, wenn wir sie verlassen, besser ist als sie vor unserer Ankunft war. Aber genauso wichtig ist es, unsere Gegenwart besser zu machen, als sie sein könnte. In diesem Sinne: Carpe diem! – Geschichte wird gemacht, und zwar immer hier und heute. 5