- Max Fuchs

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Max Fuchs
Zur politischen Dimension kultureller Bildung
Werkstattbericht 5/2015
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Inhaltsverzeichnis
1. Zur Einführung
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2. Zur politischen Dimension von Bildung
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3. Kunst, Ästhetik und Politik: Hinweise zu ihrem Zusammenhang
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4. Kulturelle Bildungspolitik und Educational Governance
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5. Kulturelle Bildung, das Subjekt und die Menschenrechte
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6. Schlußbemerkung
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1. Zur Einführung
Dass die Geschichte der Bildung sowohl auf der Ebene der theoretischen Reflexion als auch im
Hinblick auf die Realgeschichte der Institutionalisierung eines umfassenden Bildungssystems aufs
engste mit jeweiligen politischen Rahmenbedingungen verbunden ist, zeigt ein auch nur
oberflächlicher Blick in eine beliebige historische Darstellung. Selbst eine ideen- und
geistesgeschichtlich orientierte Darstellung kommt nicht umhin, das jeweilige Verständnis von
Bildung einzuordnen in das wissenschaftliche und philosophische Denken der betreffenden Zeit.
Zudem kann man leicht feststellen, dass wichtige Denker, die sich mit Bildung und Erziehung befasst
haben, zugleich auch darüber nachgedacht haben, welcher Weise die Gemeinschaft politisch
gestaltet werden soll. So findet man etwa bei Platon oder bei Wilhelm von Humboldt wichtige
bildungstheoretische Erörterungen in ihren staatstheoretischen Schriften: Pädagogik und Politik sind
zwei Seiten derselben Medaille.
Kommt man von der Politik her, so landet man automatisch bei der Frage danach, wie die Subjekte
beschaffen sein müssen, die die vorgestellte politische Vision auch realisieren können. Kommt man
dagegen von der Pädagogik her, so muss man sich die Frage stellen, unter welchen politischen
Bedingungen die vorgetragene pädagogische Vision realisiert werden kann. In beiden Fällen wird
man sich zudem mit der Frage auseinandersetzen müssen, welche Bedingungen in der jeweiligen
Realität die Umsetzung der politischen bzw. pädagogischen Vision verhindern. Das bedeutet aber
zugleich, dass jedem Nachdenken über Politik oder Pädagogik eine kritische Grundhaltung immanent
sein muss.
Natürlich fallen die Antworten auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Pädagogik und Politik
sehr unterschiedlich aus. Dies gilt nicht nur für die jeweilige politische Ausrichtung, es gilt auch für
die Wege der Argumentation. Verbreitet ist etwa die Vorstellung, dass auf dem pädagogischen Wege
erst diejenigen Subjekte geformt werden müssen, die die jeweilige politische Vision später dann auch
realisieren können. In jedem Fall setzt man die (politische) Konstitution der Gesellschaft in eine enge
Relation zu der (pädagogischen) Konstitution des Einzelnen. Eine ästhetische Praxis spielt dabei in
zahlreichen philosophischen Konzeptionen eine besondere Rolle. So setzt sich bereits Platon in
seinen staatstheoretischen Schriften ausführlich mit der Frage auseinander, welche Kunstsparten in
der von ihm vorgestellten Polis erwünscht und welche unerwünscht sind.
Trotz dieser langen Tradition einer Verbindung von pädagogischen, kunsttheoretischen und
politischen Erwägungen erlebt das 18. Jahrhundert einen qualitativen Sprung bei der Behandlung
dieses Fragekomplexes. Bekanntlich hat Alexander Baumgarten Mitte des Jahrhunderts „Ästhetik“ als
neue philosophische Disziplin begründet. Er wählte diese - lange umstrittene - Bezeichnung für die
neue Disziplin, weil sich deren griechische Grundbedeutung auf sinnliche Erkenntnis bezieht. Genau
darum ging es ihm: um eine Rehabilitation der sinnlichen Seite des Menschen.
Diese Rehabilitation war zumindest auf dem europäischen Kontinent deshalb nötig, weil seit
Descartes der Rationalismus die dominante philosophische Richtung war. Dieser Rationalismus
wurde immer mehr als unzureichend erkannt, weil mit der Wende zur Neuzeit der Mensch auf
Entdeckungsreise ging. Das gilt in geographischer Hinsicht (durchaus nicht in humanistischer Absicht)
und er entdeckte – aus der Perspektive Europas – neue Kontinente. Es gilt in wissenschaftlicher
Hinsicht, was zu einer Explosion des Wissens führte. In beiden Dimensionen des Entdeckens waren
die Sinne ein entscheidendes Instrument.
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Mit eine Rolle spielte dabei durchaus auch der Aspekt, dass mit Newton wichtige Fortschritte im
Bereich der experimentellen Philosophie (so nannte man die entstehenden Naturwissenschaften) auf
englischem Boden geschahen, was philosophisch durch die sensualistische Philosophie von John
Locke fundiert wurde. Damit ergab sich auf der Ebene der Wissenschaften und der Philosophie ein
Pendant zu einem Konkurrenzverhältnis zwischen England und Frankreich, so wie es seit langem auf
der Ebene des Politischen bestand. Man muss sehen, dass bei aller Eigenlogik der philosophische
Reflexion und der wissenschaftlichen Forschung diese nicht im luftleeren Raum stattfinden, sondern
in vielfältiger Weise mit außerphilosophischen Interessen verbunden sind. Dazu kommt, dass auch
Denkformen und Begrifflichkeiten nicht bloß auf der Ebene der Reflexion entwickelt werden, sondern
dass diese oft eine Basis im praktischen Verhalten der Menschen haben. So gibt es durchaus
interessante Studien darüber, inwieweit in den realen Praktiken der entstehenden modernen
Gesellschaft die Basis für abstrakte Begriffe gefunden werden kann, die in den philosophischen und
wissenschaftlichen Systemen benötigt werden (so etwa im Anschluss an Sohn-Rethel, A.: Geistige
und körperliche Arbeit. Frankfurt/M. 1976).
Auch das Projekt der neuen philosophischen Disziplin Ästhetik ist in diesen Kontext eingebunden.
Denn der Streit zwischen Rationalismus und Sensualismus war nicht bloß ein Streit um eine
widerspruchsfreiere philosophische Konzeption, sondern er wurde überlagert durch politische
Entwicklungen. Es ist die Zeit der Aufklärung, der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft, es ist
die Zeit des Niedergangs des anciens regime.
Wenn man sich daher die Frage danach stellt, wieso ausgerechnet Mitte des 18. Jahrhunderts die
neue philosophische Disziplin Ästhetik begründet wurde, so wird man die Veränderungen in den
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Lebens und Denkens nicht vernachlässigen dürfen.
Die Brücke zu der eingangs beschriebenen Komplementarität von Politik und Pädagogik dürfte dabei
in der These zu finden sein, die Terry Eagleton (Ästhetik. Stuttgart 1994) zum Ausgangspunkt seiner
Darstellung der Geschichte des ästhetischen Denkens gewählt hat: dass nämlich mit der Debatte des
Ästhetischen auch ganz andere Fragen verbunden waren, die erst die Relevanz des Ästhetischen
begründeten. Es ging nämlich primär um die Frage nach der Konstitution des (bürgerlichen) Subjekts.
Damit erhält das Beziehungsverhältnis zwischen Pädagogik und Politik einen dritten Pol.
Im Folgenden sollen einige Erkenntnisse darüber zusammengetragen werden, wie sich diese
Beziehungen zwischen Pädagogik, Politik und Ästhetik historisch entwickelt haben, wobei man im
Blick behalten muss, dass dieser interdependente Entwicklungsprozess sowohl auf der Ebene der
Praxis als auch auf der Ebene der theoretischen Reflexion geschieht und sich beide Ebenen
permanent gegenseitig beeinflussen.
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2. Zur politischen Dimension von Bildung
Anliegen
Bildung wird entsprechend einer klassischen Definition als wechselseitige Verschränkung von Mensch
und Welt (W. v. Humboldt) verstanden (Fuchs: Kulturelle Bildung. München 2008). Die politische
Dimension des Bildungsbegriffs lässt sich dabei (u. a.) an der Rolle festmachen, in welcher Weise mit
Partizipation als einem Grundelement des Politischen umgegangen wird (Gerhardt, V.: Partizipation.
München 2007).Diese Rede von einer „wechselseitigen Verschränkung von Mensch und Welt“
bedeutet bereits, dass es nicht um einen isolierten Einzelnen ohne soziale und politische Bezüge
gehen kann: Der Einzelne wird in diesem Verständnis von Bildung als Subjekt seines Lebens
aufgefasst. „Subjektivität“, verstanden als Fähigkeit und Bedürfnis zum Gestalten des eigenen Lebens
und dessen Rahmenbedingungen, ist dabei ein eminent politisches Konzept, das aufgrund der
ebenfalls angesprochenen Handlungsorientierung zur politischen Einmischung geradezu auffordert
(Fuchs 2012). Dies wird bereits dort deutlich, wo die Verbindung von Bildung, Subjektivität, Politik
und Kunst erstmals in einen Zusammenhang gebracht wird: In den Konzeptionen von Friedrich
Schiller und Wilhelm von Humboldt. Ich werde darauf zurückkommen.
An dieser Stelle könnte man daher ruhig aufhören zu lesen. Denn auf konzeptioneller Ebene scheinen
alle Probleme gelöst zu sein: Natürlich ist „Partizipation“ Bestandteil eines aktuellen Bildungsbegriffs,
zumal gerade die künstlerischen Arbeitsformen eine Menge Möglichkeiten bieten, die öffentliche
Wirksamkeit der Kinder und Jugendlichen zu unterstützen. Dies zeigen auch die Praxisbeispiele in
diesem Buch. Trotz dieser scheinbaren Eindeutigkeit gibt es jedoch sowohl auf konzeptioneller
Ebene, aber auch in der Praxis Probleme und auch Widerstände. Im Folgenden will ich durch eine
erneute Betrachtung des Bildungsbegriffs zeigen, dass es sich bei diesen Friktionen nicht um eine
widerständige Position handelt, die gegen besseres Wissen unterhalb der Möglichkeiten und
Notwendigkeiten eines zeitgemäßen Bildungskonzepts bleibt, sondern die vielmehr sehr viel mit der
Spezifik des (deutschen) Bildungsdiskurses zu tun hat. Wir sind hier Erben einer zumindest 200jährigen Tradition, die zur Kenntnis zu nehmen nicht bloß sinnvoll ist, um genauer heutige
Widersprüche zu verstehen, sondern deren Kenntnis auch Teil der Selbstanwendung des oben
skizzierten Bildungskonzeptes darstellt: nämlich die Herstellung eines bewussten Verhältnisses zur
eigenen Geschichte in einem hoch sensiblen Punkt.
Vielleicht motiviert zusätzlich die folgende These zur Beschäftigung mit einer Ideen- und
Sozialgeschichte des Bildungsbegriffs, die 200 Jahre und länger zurückreicht. Die These lautet:
„Bildung“ ist eine zentrale pädagogische Kategorie. Dies ist jedoch nur ein Teil der Wahrheit. Man
versteht die Rolle von „Bildung“ in der deutschen Geschichte – auch in der Diskussion über den
sogenannten „Sonderweg“ Deutschlands – jedoch erst dann richtig, wenn man „Bildung“ als
spezifisch deutsche Antwort auf soziale und politische Problemlagen betrachtet, für die in anderen
Ländern völlig andere Antworten gefunden worden sind. Um einen Vorgeschmack zu geben, worum
es sich hierbei handeln könnte, will ich bloß die bürgerlichen Revolutionen in England und vor allem
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in Frankreich anführen: „Bildung“ ist zu einem guten Stück deutscher Ersatz für eine nicht
stattgefundene beziehungsweise
erfolglose bürgerliche Revolution. Damit wird „Bildung“ sofort sehr viel stärker zu einem politischen
Begriff, als seine bloß pädagogische Konnotation und Verwendungsweise zunächst vermuten lässt.
Allerdings zeigt diese These über den politischen Ursprung des Bildungskonzeptes bereits einen
ersten Schritt zur Entpolitisierung, der später noch vertieft werden soll: Insofern spätestens seit und
mit der Romantik die politische Konnotation zugunsten einer nur noch individualistischkünstlerischen Auslegung zurück gedrängt wird – und dies in durchaus politischer Absicht!
„Entfremdung“ als Krisenerfahrung der Moderne: Jean Jaques Rousseau
Leu (in BKJ 2000, 25 ff.) weist am Anfang seines Beitrages auf Rousseau (1712–1778) und das
veränderte Bild vom Kinde hin, das nunmehr als „Wesen eigener Geltung“ aufgefasst wird. Dies ist –
wie Leu später am Beispiel anderer wissenschaftlicher Kindheitsbilder zeigt – ein „gesellschaftliches
Konstrukt“, das mit anderen Konstrukten – zum Teil bis heute – konkurriert. Warum kommt
Rousseau zu dieser Veränderung in der Sichtweise? Um dies zu verstehen, ist es notwendig, nicht
bloß die überall spürbare Überkommenheit des Ancien Régime, sondern auch die bis dahin nur
intellektuelle oder künstlerische Kritik an den Zuständen der Zeit, so wie sie die Aufklärer Voltaire,
Diderot und d'Alembert betreiben, einzubeziehen. Rousseau schließt sich bei aller kritischen
Grundhaltung gegenüber dem bestehenden maroden ökonomischen und politischen System dem
Lob der Zivilisation und der Vernunft durch die Enzyklopädisten nicht an. Auslöser für seine neue
gesellschaftskritische Haltung, so beschreibt er es später selbst in seinen verschiedenen
Lebensrückblicken, ist die Preisaufgabe der Akademie von Dijon im Jahre 1750: „Hat der
Wiederaufstieg der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen?“ Rousseau
antwortet mit seinem ersten Discours, in dem er ein klares Nein begründet.
Man hat, gerade in der Pädagogik, lange Zeit den politischen Rousseau des „Gesellschaftsvertrages“,
den Kultur- und Zeitkritiker Rousseau der beiden „Discours“, den Schriftsteller und den Verfasser des
„Emile“ strikt voneinander unterschieden. Ich gehe davon aus, dass es sinnvoll ist, sein Werk
einheitlich, also als Synthese von Zeitkritik, politischer Philosophie, Anthropologie, Pädagogik und
Literatur zu sehen. Denn die gemeinsame krisenhafte Grunderfahrung, die Rousseau eindrucksvoll
beschreibt und für deren Behebung er seine politischen und pädagogischen Entwürfe entwickelt, ist
die der Entfremdung: Zivilisation ist mitnichten Fortschritt, sondern hat vielmehr zur Zerrissenheit,
zur Zerstörung einer zunächst vorhandenen Natürlichkeit und schließlich auch zu den schlimmen
Zuständen in Politik und Gesellschaft geführt. Das neue Bild des Kindes als „Wesen eigener Geltung“
ist daher notwendiger systematischer Teil dieses umfassenden Entwurfes, aus dem sich dann auch
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konsequent ein neues Verständnis von Pädagogik entwickelt. Und dieses ist kompatibel mit seiner
Politiktheorie. Es ist kein Wunder, dass es die griechische Polis ist – freilich ebenfalls ein
idealtypisches Konstrukt –, das als Vorbild für die Unmittelbarkeit der politischen Steuerung dient
und das er in seiner überschaubaren Heimatstadt Genf angewandt wissen will: Alle Polisbürger
entscheiden, führen aus, spüren sofort die Auswirkung ihres Handelns und werden dadurch erneut
zu einem weiteren politischen Engagement motiviert. Anthropologie, Politik und Pädagogik gehören
daher in diesem Entwurf zusammen. Ein Auseinandertriften des Einzelnen und seiner Gesellschaft
soll vermieden werden. „Selbstliebe“, ein zentrales Konzept von Rousseau, ist daher gerade kein
Gegensatz zu sozialer und politischer Beteiligung, sondern geradezu integraler Bestandteil. Damit
formuliert Rousseau eine moderne Fortsetzung des griechischen Ideals: Nämlich nur dadurch, dass
der Polisbürger seine Polis-Pflichten erfüllt, kann er als Individuum seine Glückansprüche realisieren.
Hier wird der Bezug zwischen Lebenskunst und Bildung, zwischen Pädagogik und Politik, zwischen
individueller und gesellschaftlicher Entwicklung deutlich. Man mache es sich klar: Schon alleine die
Tatsache, dass über Gemeinsamkeiten und Unterschiede von individueller Lebensgestaltung und
sozialer Mitwirkung nachgedacht werden muss, ist spätestens seit Rousseau ein Indikator für
Entfremdung und Entzweiung und zeigt an, wie krisenhaft sich die Moderne entwickelt hat, wenn das
Ganze und seine Teile in ein derart konflikthaltiges Verhältnis zueinander geraten.
Rousseau formuliert als erster mit unglaublichem Nachdruck diese Kritik an der Moderne. Alle
Autoren der Folgezeit, gerade auch die Deutschen Kant, Herder, Schiller, Humboldt und Hegel, setzen
sich mit Rousseau auseinander. Er ist trotz seines tragischen Lebensschicksals einer der wichtigsten –
vielleicht der wichtigste – Autor des 18. Jahrhunderts. Die Probleme, die er benennt, sind bis heute
hochrelevant und stehen daher im Mittelpunkt bei Marx und Nietzsche, bei Weber und Simmel bis
hin zu dem Streit zwischen Kommunitaristen und Liberalen. Denn auch hierbei geht es genau um
diese Frage: Ist es der Einzelne mit seinen egoistischen Interessen, seinem Eigennutz, in dessen
Verfolg automatisch ein Soziales entsteht, das eine optimale Güterversorgung gewährleistet
(Liberalismus), oder ist es eher die Gemeinschaft mit ihren Werten und Normen, die Vorrang haben
sollte (Kommunitarismus)?
„Bildung“ – eine deutsche Antwort
Als Begründer des deutschen Bildungskonzeptes gilt Wilhelm von Humboldt (1767– 1835). Die
Quellen des deutschen Bildungs-Begriffs sind gut untersucht. Es ist etwa das theologische Konzept
des „imago dei“ einflussreich, also die Vorstellung des Menschen, den Gott als sein Ebenbild
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geschaffen
hat.
Hierauf
sind
alle
Assoziationen
zurückzuführen,
die
Bildung
in
den
Bedeutungszusammenhang von „Bild“ stellen. Auch die eher künstlerisch inspirierte Vorstellung von
„Bildung“ im Sinne einer Formung, so wie sie auch im französischen „formation“ und in der
englischen „formation“ angesprochen wird, ist mit dieser Vorstellung verwandt. Näher an Humboldt
rückt man mit Begriffen, die „Bildung“ als „cultivation“ (englisch und französisch) deuten, wobei die
landwirtschaftliche Konnotation bekanntlich auf Ciceros tusculanische Schriften zurückgeht (colere
als pflegen). Diese biologisch-pflanzliche Assoziation als Hege und Pflege gibt es bis heute in der
Pädagogik, etwa im Begriff des Kindergartens, wobei die Rousseausche Vorstellung mitgegebener
Anlagen, die durch geeignete Pflege zum Erblühen gebracht werden, stets präsent ist. Die diesem
Gedanken entsprechende programmatische These ist, dass der Mensch erst werden muss, was er
(von seinen natürlichen Anlagen her) ist.
Ebenso wie bei Rousseau ist auch der Blick auf Humboldt durch die Geschichte des pädagogischen
Denkens des 19. Jahrhunderts verstellt. Und ebenso wie bei Rousseau zeigt die jüngere
Humboldtforschung, was Zeitgenossen noch selbstverständlich war: die Einheit des politischen und
pädagogischen Denkens, was etwa an der politischen Funktion des Altertums im Bildungsdenken von
Humboldt gezeigt werden kann(s. u.). Allerdings geht eine spezifische Einseitigkeit ebenfalls auf
Humboldt zurück: die Konzentration auf das (bloß) Geistige. Man erinnere sich: Der junge Humboldt
macht entsprechend seinem höheren gesellschaftlichen Rang unter der Leitung eines Privatlehrers
seine obligatorische Bildungsreise auch ins (revolutionäre) Frankreich. Sein Lehrer ist der prominente
Aufklärungsdenker Campe, das Schulhaupt der „Philanthropen“, einer in der in der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts überaus einflussreichen Pädagogengemeinschaft. Die Französische Revolution
wird – auf der Basis der Kritik am Ancien Régime von Rousseau, aber auch der Enzyklopädisten – von
den deutschen Intellektuellen neugierig beobachtet. Der junge Hegel, zu dieser Zeit Student im
theologischen Tübinger Stift verfolgt die Entwicklung ebenso wie Schiller oder Kant. Das
Freiheitspathos des deutschen Sturm und Drang zeigt,
wie sehr alle kritischen Intellektuellen
glaubten, dass nunmehr die von Rousseau so scharf gebrandmarkte Ungleichheit und Unterdrückung
aufgehoben werden können.
Alle relevanten Denker befassen sich zu dieser Zeit mit beiden Fragen: der Rolle der „richtigen“
Verfassung des Staates und der Funktion der Erziehung. Kant hält Vorlesungen zur Pädagogik und
denkt gleichzeitig über den „ewigen Frieden“ nach. Hegel schreibt über Staatsrecht und
Verfassungen und war viele Jahre als Leiter eines Gymnasiums in Nürnberg bildungspolitisch und –
theoretisch involviert. Man muss sich zudem verdeutlichen, dass wir uns in der Hochzeit der
Weimarer Klassik befinden. Kant hat seine wesentlichen Schriften publiziert (er stirbt 80jährig im
Jahre 1804). Neben Rousseau ist er es, der das intellektuelle Leben immer mehr bestimmt. Er gilt als
„Kopernikus der Philosophie“, weil er – revolutionär – die Macht in das erkennende und tätige
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Subjekt gelegt hat. Dieses ist es, das mit seinen Kategorien die Wahrnehmungsinhalte erst
konstituiert; dieses ist es, das eigenverantwortlich über richtig und falsch entscheidet; und dieses ist
es, das ästhetische Geschmacksurteile fällt. Aber: Bei all diesen Prozessen wird das Soziale und
Allgemeine mitgedacht, stellt sich bei aller Individualität von Erkenntnis, Moral und Geschmack ein
soziales Allgemeines her. Dies ist der raffinierte „Trick“, so wie er etwa im sensus communis, der
Konzeption des „Gemeinsinns“, zum Ausdruck kommt: Jeder entscheidet zwar selber. Aber in
verinnerlichter Form ist das Urteil der Anderen immer auch im individuellen Entscheidungsprozess
präsent, so dass das Soziale und Gemeinsame in Form von Intersubjektivität entsteht. Der Einzelne
und die Gemeinschaft sind daher aufs engste miteinander verbunden.
Dieses ist eine einflussreiche idealtypische Konstruktion am Reißbrett, an der sich die Empirie
bewähren muss. Und die Empirie erfüllt mitnichten diese hohen Anforderungen. Daher denkt der
studierte Jurist von Humboldt über geeignete und ungeeignete Verfassungen nach, die eben die
Herausbildung einer solchen sozialen Individualität erleichtern oder erschweren. Er schreibt
(kritisch!) im Jahre 1792 über die Grenzen der Staatstätigkeit. Und genau in dieser
staatstheoretischen Schrift findet sich seine verbreitetste Definition von Bildung: „Der wahre Zweck
des Menschen ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. In
dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerläßliche Bedingung“. (Band 1, S. 64)
Dies zu unterstützen ist der (einzige und vornehmste) Zweck des Staates. Der Staat hat
Rahmenbedingungen zu schaffen, darf jedoch niemals Selbstzweck werden: Der einzige legitime
Zweck des Menschen ist der Mensch selbst. „Bildung“ wird daher der Schlüsselbegriff dieser
politischen Konzeption: Bildung ist Selbstbildung des Menschen. „Der Mensch“ wird bei Humboldt im
Laufe seines Lebens mehr und mehr zum „Individuum“. Dies ist der Kern des Liberalismus, den
Humboldt hier auf der Grundlage der Kunsttheorie und Moralphilosophie von Kant formuliert. Auch
„die Griechen“, die – ebenso wie bei Rousseau – ein zentrales Gewicht im Bildungsdenken
Humboldts erhalten, bedeuten mitnichten ein Rückzug aus der widerständigen Welt. Denn in
Griechenland hat sich (idealtypisch gesehen) eine solche Kultur entwickelt, die den Menschen in den
Mittelpunkt stellt, die den Staat in seiner dienenden Funktion sieht und die daher emanzipatorisches
Modell für eine gegenwärtige politische und Bildungspraxis werden kann. „Distanz“ von einer
schlechten Gegenwart – auch durch eine alte Sprache –, „Bildung“ am idealtypischen Beispiel,
Formung der inneren Kräfte an einer wohlausgebildeten Kultur: Dies ist Humboldts Lösung des
Problems der Entfremdung. Identität findet der Mensch nur über diesen Umweg. In diesem
individuellen Bildungsprozess erobert sich jedes Individuum je für sich dasselbe Allgemeine, so dass
im Ergebnis trotz der hohen Individualität des Prozesses gelebte Allgemeinheit entsteht.
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Schiller hat in seinen „Briefen zur ästhetischen Erziehung“ – in enger Freundschaft mit Humboldt – in
diesem politisch-pädagogischen Prozess die Rolle der Künste hervorgehoben. Gerade angesichts des
„Terreur“ von Robespierre erschien die Reform der Gesellschaft über Bildungsprozesse als die im
Vergleich zu einer Revolution humanere Lösung. So erklärt sich vielleicht, dass das Ziel immer noch
ein politisches war, der Weg dazu jedoch keine politische Tat, sondern die Beschäftigung mit der
Antike, mit dem Griechischen, mit Kunst. „Bildung“ ist hier immer noch emanzipatorisch und politisch
gedacht. In der Verlagerung auf das Geistige wird jedoch die Grundlage dafür gelegt, dass sich als
Trägergruppe eine aristokratische „Bildungselite“ als Teil des Bürgertums konstituiert, die das
zunächst
emanzipatorische
neuhumanistische
Bildungskonzept
zu
einer
reaktionären
Stützungsideologie einer überkommenen politischen Ordnung macht. Das Gymnasium, das
Humboldt als Ort der Freiheit und „Bildung“ geplant hatte, wird zur üblen Paukschule, die später nur
noch um die Berechtigung kämpft, als einzige Schulform den Zugang zur Universität zu ermöglichen.
Heinrich Mann hat gleich zwei Produkte dieser Entwicklung im Wilhelminischen Reich beschrieben:
den Gymnasialprofessor Unrat und den Chemiker und Unternehmer Hessling („Der Untertan“); der
eine als durchaus mitleiderheischende tragische Gestalt, der andere bereits nur noch mit Verachtung
zu strafen. Das ist also aus der Humboldtschen Vision des „gebildeten Menschen“ geworden!
Politik wird zum schmutzigen Geschäft, für das die Geistesarbeiter und Kunstbeflissenen zu fein sind.
Thomas Mann gibt in seiner Entwicklung ein gutes Beispiel: Am Ende des ersten Weltkrieges
proklamiert er in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ den Rückzug aus der Politik, was er
1938 deutlich korrigieren muss. Dies ist die vielleicht tragisch zu nennende Geschichte des
humanistischen Bildungskonzeptes: Als geistiges Konzept der Überwindung von Entfremdung und
der Gestaltung eines humanen Gemeinwesens wird es in einer scheinbar antipolitischen Umdeutung
im 19. Jahrhundert zu einem äußerst wichtigen politisch-ideologischen Konzept der Repression, der
Herrschaft und Reaktion.
Arbeit als Bildung: Hegel und Marx
„Bildung als Ritterschlag des
Bürgertums“
– so
lautet eine bürgerlich-selbstbewusste
Charakterisierung der sozialen Funktion, die Bildung im 19. Jahrhundert erhält. Doch macht sich
schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in Deutschland, bei dem das Bürgertum mit
einer erheblichen Verspätung gegenüber Frankreich oder gar England seinen Anteil an der
politischen Macht (vergeblich) reklamiert, die Erkenntnis breit, dass mit der Emanzipation des
Bürgertums immer noch ein – zudem ständig wachsender – Bevölkerungsanteil von gesellschaftlicher
Partizipation und Mitsteuerung ausgeschlossen bleibt: Frühsozialisten in England und Frankreich
entdecken die Arbeiterklasse. Im herkömmlichen öffentlichen Bildungssystem bleibt dieser Klasse
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bestenfalls die Volksschule, ständiges Stiefkind des Erziehungssystems. Einen neuen Weg, diese ins
pädagogische
und
politische
Geschäft
einzubeziehen,
beschreitet
–
freilich
kaum
in
klassenkämpferischer Absicht – Hegel. Dieser war als Autor der „Phänomenologie des Geistes noch
lange nicht der preußische Staatsphilosoph der späten Jahre, sondern im Jahre 1805 junger, schlecht
bezahlter außerordentlicher Professor in Jena auf der Suche nach einer Stelle, die ihm zumindest ein
Mindestmaß an Lebensstandard garantiert, so dass er endlich heiraten kann. Geradezu abenteuerlich
ist seine Flucht vor den französischen Truppen, das Manuskript seines Grundwerkes in der Tasche.
Und dieses Grundwerk liest sich nicht bloß als philosophischer Bildungsroman, sondern enthält den
Kern einer Dialektik der Arbeit: Der Mensch erzeugt sich selbst durch Arbeit. Und so macht er auch
plausibel, dass der unterdrückte Knecht, der die Dinge für seinen Herrn schafft, eben dadurch diesen
in seine Abhängigkeit bringt. Arbeit schafft Herrschaftsbeziehungen, aber man muss aufpassen, sonst
werden diese aufgrund der immanenten Logik der Arbeit umgedreht. Freiheit, Bildung, Arbeit,
Herrschaft: Diesen Zusammenhang greift Marx – ebenfalls auf der Grundlage der Anerkennung von
gravierenden Entfremdungserscheinungen – auf. Zunehmend entwickelt Marx eine politische Lösung
des Entfremdungs- (und damit Bildungs-)problems. Und: Der Weg zur Bildung als Befreiung führt
nicht mehr über die Griechen, sondern – später – über praktisches Tun (polytechnische Bildung),
zunächst jedoch über Revolution. Wohlgemerkt: Es geht immer noch um das klassische Problem der
Entfremdung des Menschen von sich selbst. Es geht immer noch um Herrschaft und Freiheit. Und es
geht immer noch um Subjektivität und Geschichte. Doch wird nun das Subjekt ein kollektives: die
Klasse der Proletarier. Und es wird die individuelle Subjektivität als Teilhabe an dieser kollektiven
Subjektivität gedeutet. „Aneignung“ steht nach wie vor an. Doch ist es nun eine praktische
Aneignung durch Arbeit, die die Freiheit schafft, die Bildung ausmacht. Damit ist ein neuer Ansatz
geboren, der seither – zustimmend oder abwehrend – das politische und pädagogische Denken
prägt.
Aktuelle Bildungstheorie muss sich mit all diesen Konzeptionen auseinandersetzen: der
emanzipatorischen Tradition von Schiller und Humboldt, die jedoch von Anfang an Handeln auf bloß
geistiges Handeln beschränkte; die reaktionäre Überlagerung, die daraus ein Instrument der
Erhaltung von undemokratischen und repressiven Strukturen macht, und die praktisch-politische
Lösung des Entfremdungsproblems durch Revolution bzw. durch Arbeit.
Die aktuelle Diskussion
Es ist vor diesem ideologischen Hintergrund durchaus verständlich, dass man auf dem Weg zu einem
demokratischen Bildungswesen gerade in Zeiten der Bildungsreform der siebziger Jahre des 20.
Jahrhunderts auf ein derart diskreditiertes Konzept von „Bildung“ verzichten wollte. Trotzdem gab es
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bei den Schülern und Enkelschülern der Vertreter der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik (Nohl, W.
Flitner, Litt, Spranger, Weniger) erhebliche Bemühungen zur Modernisierung des Bildungskonzeptes,
zur Wiedergewinnung von beidem: dem emanzipatorischen und dem politischen Gehalt. Zu nennen
sind hier in erster Linie Wolfgang Klafki, Hans-Joachim Heydorn, Herwig Blankertz und Klaus
Mollenhauer.
Der Weg, den ich hier skizziert habe, mag manchem überflüssig erscheinen. Doch sollte man
bedenken, dass kulturelle Traditionen – und solche haben das Verständnis des deutschen
Bildungsbegriffs stark geprägt – immer dann besonders wirken, wenn man glaubt, sie ignorieren zu
können. Die hier skizzierte Entwicklungslinie hat in dieser Form nur in Deutschland stattgefunden.
Dies macht den deutschen Bildungsbegriff so unhandlich im internationalen Diskurs. Er ist jedoch zu
rekonstruieren als tief verankert mit der Entwicklung der Politik, der Künste und der Pädagogik in
Deutschland, so wie ich es eingangs skizziert und ausführlicher in meinem Beitrag zu dem Buch
„Lernziel Lebenskunst“ (BKJ 1999) dargestellt habe.
Aus bildungstheoretischer Sicht die Einbeziehung von Partizipation in die kulturpädagogische Praxis
zu betreiben, ist sinnvoll und notwendig, eben weil Bildung immer schon ein pädagogischer und
vielleicht sogar noch stärker ein politischer Begriff war und ist. Die Betonung der politischen
Dimension von „Bildung“ ist daher zugleich eine Wiederentdeckung des ursprünglichen, aber
zwischenzeitlich verschütteten Konzeptes von Bildung, die deshalb notwendig ist, weil die
ursprünglichen Anlässe nach wie vor aktuell sind: Entfremdung und Herrschaft zugunsten von
Freiheit und Demokratie abzubauen und zugleich soziale Individualität – eben: Bildung als humane
Lebensform – zu ermöglichen. Die Grundidee dieses Bildungskonzeptes bleibt also erhalten, die
Umsetzung – auch auf konzeptioneller Ebene – muss natürlich die 200 Jahre, die inzwischen
vergangen sind, berücksichtigen. Dies bedeutet insbesondere, die qualitative Messlatte für Prozesse
der Partizipation hoch genug zu legen und sich nicht mit Akten bloß symbolischer Politik zufrieden zu
geben.
Literatur
Fuchs, M.: Kulturpolitik als gesellschaftliche Aufgabe. Eine Einführung in Theorie, Geschichte, Praxis.
Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998.
Fuchs, M.: Kultur Macht Politik. Studien zur Bildung und Kultur der Moderne. Remscheid: BKJ 1998.
Fuchs, M.: Die Macht der Symbole. Ein Versuch über Kultur, Medien und Subjektivität. München: Utz
2012
Fuchs, M.: Persönlichkeit und Subjektivität. Opladen: Leske&Budrich 2001
Hegel, G. F. W.: Werke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983
13
Heydorn, H.-J.: Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft. Frankfurt/M. 1970.
Heydorn, H.-J.: Zu einer Neufassung des Bildungsbegriffs. Frankfurt/M.: 1972.
Heydorn, H.-J./Koneffke, G.: Studien zur Sozialgeschichte und Philosophie der Bildung I + II. München
1973.
Humboldt, W. v.: Werke in fünf Bänden (Hg.: A. Flitner/K. Giel). Darmstadt: WBG 1960.
Kocka, J.: (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. Drei Bände.
München: dtv 1988.
Koselleck, R. (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil II: Bildungsgüter und Bildungswissen.
Stuttgart: Klett-Cotta 1990.
Mann, Th.: Gesammelte Werke, 12 Bde. Frankfurt/M.: Fischer 1960.
Marx-Engels-Werke (MEW). Berlin 1958ff.
Meier, Chr.: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989.
Meyer, Th.: Die Transformation des Politischen. Frankfurt/M: Suhrkamp 1994.
Nipperdey, Th.: Deutsche Geschichte. 1800 - 1866. Bürgerrecht und starker Staat. München: Beck
1983.
Reese-Schäfer, W.: Grenzgötter der Moral. Der neuere europäisch-amerikanische Diskurs zur
politischen Ethik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997
Rousseau, J.-J.: Schriften in zwei Bänden. (Hg.: H. Ritter). München: Hanser 1978.
Schiller, F.: Sämtliche Werke, Bd. V: Erzählungen, theoretische Schriften. München: Hanser 1959.
Steenblock, V.: Theorie der kulturellen Bildung. Zur Philosophie und Didaktik der
Geisteswissenschaften. München: Fink 1999.
Vierhaus, R.: Bildung. In: Brunner, O./Conze, W./Koselleck, K. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe.
Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1. Stuttgart 1971.
Weil, H.: Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips. Bonn: Bouvier 1967.
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3. Kunst, Ästhetik und Politik: Hinweise zu ihrem Zusammenhang
A) Die Künste
Seit Menschen über sich selbst nachdenken, denken sie offenbar auch darüber nach, ob und wie
bestimmte Bereiche ihres Tuns miteinander zusammenhängen oder sich sogar wechselseitig
bedingen. So stellten schon die frühen Geschichtsschreiber Zusammenhänge her zwischen der
Lebensweise und den geographischen Bedingungen der Völker, über die sie berichteten. Es sollte
daher auch nicht verwundern, dass auch Zusammenhänge zwischen den Künsten, der politischen
Gestaltung und der Erziehung der Menschen hergestellt worden sind.
Im ersten Kapitel wurde gezeigt, wie eng Pädagogik und Politik miteinander zusammenhängen und
wie diese engen Zusammenhänge auch immer wieder diskutiert wurden. Auch die ästhetische Praxis
der Menschen wurde zu beidem in Beziehung gesetzt: zu dem Problem der Erziehung und zu der
Aufgabe der politischen Gestaltung. Neben die ästhetische Gestaltung selbst tritt spätestens seit den
Griechen auch die Reflexion über diese ästhetische Praxis, so dass sich im Hinblick auf die
wechselseitige Beeinflussung drei Pole ergeben, die man im Hinblick auf ihre Beziehungen
untereinander betrachten kann: die Künste selbst, die theoretische Reflexion über sie und die Politik,
wobei man bei Letzterer auch die praktische und die theoretische Seite unterscheiden kann.
Eine solche Betrachtungsweise hat eine lange Tradition. So spricht der Schweizer Kulturhistoriker
Jacob Burckhardt (2007) in seinen weltgeschichtlichen Betrachtungen von den drei „Potenzen“
Kultur, Religion und Staat und untersucht die wechselseitigen Beziehungen. Dabei weist Burckhardt
die Frage danach zurück, ob eine der drei untersuchten Potenzen eine Priorität gegenüber den
anderen habe (785). Bekanntlich haben sich auch materialistische Ansätze für solche
Zusammenhänge interessiert, wobei man der materiellen Basis die Priorität gegenüber dem geistigen
Überbau zugesprochen hat. Solche vereinfachenden Kausalitätsvorstellungen konnten in der Praxis
immer wieder widerlegt werden, da sie die Eigenlogik in der Entwicklung der Künste oder der
Wissenschaften vernachlässigten. Selbst Marx und Engels sprachen lediglich davon, dass die
materielle Basis in letzter Instanz den entscheidenden Entwicklungsimpuls gebe und sich nicht jede
Regung des Geistes unmittelbar auf entsprechende Entwicklungen in der ökonomischen Basis
zurückführen ließe.
In diesem Kapitel können natürlich nur einige Hinweise auf solche Zusammenhänge gegeben werden.
Auf den engen Zusammenhang, den Platon zwischen einer ästhetischen Praxis und der politischen
Gestaltung gesehen hat, bin ich eingangs schon eingegangen. Im Hinblick auf die Frage nach der
politischen Dimension der Künste und des ästhetischen Denkens könnte man nunmehr einige
15
Unterscheidungen treffen: Man kann danach fragen, inwieweit die Akteure im Bereich der Künste
und des Ästhetischen sich selber politisch engagierten und was das mit ihrer genuinen Arbeit zu tun
hatte. Man kann danach fragen, inwieweit im Bereich der Künste politische Themen aufgegriffen
worden sind.
Verlässt man den unmittelbaren Bereich der künstlerischen Produktion, so kann man danach Fragen,
inwieweit
die
Organisationsform
der
Künste
etwas
mit
den
jeweiligen
politischen
Rahmenbedingungen zu tun hat, ob etwa die jeweilige Politik die Künste durch die Einrichtung
bestimmter Institutionen (etwa Akademien wie in Frankreich im 17. Jahrhundert) bzw. durch die
Vorgabe berufsspezifischer Bedingungen unterstützt und beeinflusst hat. Natürlich spielt auch die
Bereitstellung von Finanzen eine Rolle. In umgekehrter Richtung lässt sich fragen, inwieweit durch
künstlerische Aktivitäten eine bestimmte Politik unterstützt oder verhindert worden ist. Immerhin
gewinnt man durch eine künstlerische Praxis eine Öffentlichkeit (weshalb etwa Faulstich in seiner
mehrbändigen Geschichte der Medien die Künste mit einbezieht) und es ist unstrittig, dass
Kunstwerke den Menschen berühren und beeinflussen. Diesen Aspekt der Beeinflussung der
Beziehung von Künsten zu den Menschen habe ich an anderer Stelle Mentalitätspolitik (Fuchs 2013)
genannt.
Den Zusammenhang zwischen den Künsten und dem Politischen oder allgemeiner: der Gesellschaft
untersuchen insbesondere sozialgeschichtliche Darstellungen der jeweiligen Kunstpraxen. So befasst
sich das berühmte Standardwerk von Arnold Hauser (1990) mit der Sozialgeschichte der bildenden
Kunst und der Literatur und verfolgt diese von der älteren Steinzeit bis zu den Filmkunstwerken der
jungen Sowjetrepublik.
Das Funkkolleg Kunst (Busch 1987) beschreibt die Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen
(so der Untertitel) und unterscheidet systematisch die religiöse, die ästhetische, die politische und
die abbildende Funktion von Kunst. Es wird gezeigt, dass es völlig selbstverständlich war, dass die
Kunst der Darstellung der Macht (des Fürsten oder der Kirche) diente und später eine wichtige Rolle
bei der Herstellung eines Nationalbewusstseins spielte. Aber auch in dem Kapitel über die
ästhetische Funktion der Kunst wird gezeigt, welche Bedeutung das Ästhetische im Hinblick auf die
Formung des Subjekts hat und dass man auf der Basis dieser Grundüberzeugung die Künste nicht nur
im Bereich der angewandten Künste (Wohnungsausstattung, Design, Architektur, Mode) förderte,
sondern auch für die später als autonom verstandenen Künste entsprechende Einrichtungen und
Förderinstrumente schaffte, damit sie ihre sozialen Funktionen erfüllen konnten (Wagner 2009).
Dabei ist immer wieder daran zu erinnern, dass zwar eine explizite Rede einer Kunstautonomie ein
Kind des späten 18. Jahrhundert ist, dass aber auch diese Rede von einer Kunstautonomie aufs
engste verbunden war mit Vorstellungen einer politischen und sozialen Nutzung vgl. Fuchs 2012).
16
Schiller (1959) war bekanntlich der erste, der in raffinierter Weise die politische Dimension einer als
autonom verstandenen und damit in einem Schutzraum praktizierten Kunst für die Formulierung
einer politischen Vision nutzte.
Die Vielfalt der Bezüge zur Gesellschaft und zur Politik ist beachtlich. So kann man anhand der Motive
und Themen den jeweiligen Zeitgeist und den Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse erkennen.
Wenn etwa nicht mehr bloß Adlige, sondern auch Bürgerliche und – im 19. Jahrhundert bei Courbet –
unterbürgerliche und proletarische Menschen und ihre Lebenssituationen dargestellt werden, wenn
man überhaupt den Menschen in seiner Einzigartigkeit literarisch oder bildlich den Mittelpunkt eines
Werkes stellt, dann ist dies Ausdruck eines erheblichen gesellschaftlichen Wandels (Fuchs 2001).
Es gab auch immer wieder Versuche, Verbindungen zwischen der Struktur der Werke und der
Struktur der Gesellschaft herzustellen. In der Literaturtheorie des Philosophen Lucien Goldmann wird
der Gedanke entfaltet, dass die Struktur des Romans korrespondiere mit der Struktur der jeweiligen
Gesellschaft. Panofsky stellte eine Verbindung her zwischen der Struktur der Architektur und dem
logischen Aufbau der philosophischen Systeme und brachte dies in Verbindung mit seiner (später von
Bourdieu übernommenen) Theorie des Habitus (Bourdieu 1994).
Spätestens seit dem 19. Jahrhundert versuchten Kunsttheoretiker den Wandel des Stils in den
Künsten mit Veränderungen in anderen Bereichen der Gesellschaft in Verbindung zu bringen. Noch
weiter gehen sol´che Untersuchungen, die Veränderungen im Bereich der Künste in Verbindung
bringen mit Veränderungen in der Art und Weise der sinnlichen Wahrnehmung und deren
intellektueller Verarbeitung bei den Menschen. Es ist bekannt, dass die Erfindung der
Zentralperspektive mit einer Veränderung der Wahrnehmungsformen der Menschen zu tun hatte.
Auch der Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin verankerte seine Arbeiten über „kunstgeschichtliche
Grundbegriffe“ in einer Geschichte des Sehens.
Eine weitere Dimension, die offensichtlich etwas mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen zu
tun hat, ist die Art und Weise der Organisation der verschiedenen Kunstformen. Man spricht davon,
dass mit der Entstehung der modernen Gesellschaft eine Autonomisierung der verschiedenen
Kunstfelder stattfindet (für die Literatur vgl. etwa Schmidt 1989). Diese Autonomisierung der
Kunstfelder kann dabei im Hinblick auf verschiedene Dimensionen betrachtet werden: Sie ist
verbunden mit der Professionalisierung der jeweiligen Künste. Sie ist verbunden mit der Art und
Weise, wie ästhetische Standards entstehen und sich durchsetzen. Sie ist verbunden damit, in
welcher Weise eine Berufstätigkeit im Feld des Künstlerischen möglich wird. Sie ist zudem verbunden
mit einem möglichen Funktionswandel der Künste in der Gesellschaft. Dies betrifft etwa die Trägerund die Nutzergruppen der Künste. Insbesondere ist es spätestens seit dem 18. Jahrhundert das
Bürgertum, das bei der Produktion der Künste, ihrer Finanzierung, ihrer Verbreitung und ihrer
17
Nutzung eine immer bedeutendere Rolle spielt. Balet und Gerhard (1972) gehen in ihrer Studie der
„Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert“ nach und
versuchen, die Verbindungslinien zwischen dem Stilwandel in den betrachteten Künsten in dieser
Zeit und der gesellschaftlichen Entwicklung aufzuzeigen:
„Verbürgerlichung heißt den Autoren nicht nur Kapitalisierung des Wirtschaftslebens und
Durchsetzung bürgerlicher Normen und Verkehrsformen in den Teilbereichen des sozialen und
kulturellen Lebens; sie bezeichnen vielmehr mit diesem Terminus auch das innere telos, nach dem im
Laufe des Jahrhunderts zunehmend die Künste ihre Stoffe verarbeiten: also den sozialen Inhalt des
von Balet und Gerhard konstatierten Stilwandels.“ (G. Mattenklott in Balet/Gerhard 1972, XI).
Ähnlichen Fragestellungen geht nicht nur die Geschichtsschreibung der einzelnen Künste, sondern
auch die Soziologie der unterschiedlichen Kunstsparten nach. Doch wie steht es nun mit der
reflexiven Dimension des Ästhetischen, welche Zusammenhänge lassen sich hier aufzeigen?
B) Kultur der Macht – Macht der Kultur. Zum Zusammenhang ästhetischer, moralischer und
politischer Diskurse
Vorbemerkung
Der Titel dieses Beitrages ist dem Untertitel des schönen Buches „Das alte Europa 1660-1789“ des
englischen Historikers T. C. W. Blanning (2006) entliehen, dessen Umschlagsbild diesen Untertitel
sinnfällig macht: Es zeigt Voltaire in einer Tafelrunde wichtiger Repräsentanten des preußischen
Staates im Gespräch mit Friedrich II. Dieses Treffen gab es wirklich. Allerdings endete der Besuch
Voltaires am Hofe des sich als Philosoph verstehenden kunstsinnigen Königs mit einer beidseitigen
Verstimmung: Die Praxis eines absolut herrschenden Königs und die Haltung des französischen
respektlosen Freigeistes konnten sich besser in einer gewissen geographischen Distanz begegnen. Bei
aller Freiheit im Geiste erwartete der absolute Herrscher vor allem Gehorsam und duldete keine
Widersprüche. Dies galt dem Musiker auf dem Thron erst recht in künstlerischen Fragen (vgl.
Heidenreich/Kroll 2002, Clark 2007 und für die Musik Blanning 2010).
Dieser Problemstellung, dass und wie ästhetische Kommunikation in der Geschichte der bürgerlichen
Gesellschaft auf engste mit der moralischen und politischen Kommunikation verbunden war, geht
der vorliegende Text (nicht zum ersten Mal; vergleiche etwa Fuchs 2012 a und b) nach. Dabei ist das
primäre Interesse ein pädagogisches. Dies mag vielleicht etwas weniger irritieren, wenn man sich
18
vergegenwärtigt, dass ein gemeinsames Band der verschiedenen, allerdings noch wenig
unterschiedenen Diskurse die Frage nach der Konstitution des bürgerlichen Subjekts, der
bürgerlichen Gesellschaft und dann auch des bürgerlichen Staates war. In der Tat muss man heute in
der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren weitgehend autonom und voneinander
separiert stattfindenden Fachdiskursen immer wieder daran erinnern, dass es sich bei diesem
Prozess der Autonomisierung der Felder um eine historische gesellschaftliche Entwicklung handelt,
die nicht nur geographisch auf einen bestimmten Raum eingegrenzt war – nämlich auf „den Westen“
–, sondern der auch noch recht jungen Datums ist. Daher verdeckt eine strikte Trennung der Diskurse
mehr, als sie zu einem vertieften Verständnis menschlicher Befindlichkeiten verhilft. Deshalb
scheinen mir vor dem Hintergrund einer verbreiteten aktuellen ideologischen Überhöhung eines
Begriffes wie dem der „Kunstautonomie“ einige historische Erinnerungen nützlich zu sein, zumal man
es inzwischen sogar fertig bringt, Darstellungen der Geschichte der ästhetischen Bildung zu
präsentieren, die die Eingebundenheit ästhetisch-pädagogischer Diskurse in gesellschaftliche
Prozesse weitgehend ausblenden.
Eine weitere Motivation für Untersuchungen wie die vorliegende wird vielleicht noch mehr
überraschend. Es geht mir nämlich um die Weiterentwicklung eines Ansatzes, die Wirksamkeit
kultureller Schulentwicklung zu untersuchen. An einer anderen Stelle (Fuchs 2014) habe ich versucht,
den großen Begriff der Menschenwürde mit seinen Facetten (Selbstbestimmung, Selbstbild,
Selbstwirksamkeit etc.) als Messlatte für die Wirksamkeit pädagogisch-künstlerischer Interventionen
nutzbar zu machen. Inwieweit trägt eine entsprechende ästhetische Praxis, so die Frage, dazu bei,
dass sich auch im Kontext von Schule starke Subjekte entwickeln? Mit dieser Frage ist allerdings
bereits ein systematischer Zusammenhang von politischen, moralischen, ästhetischen und
pädagogischen Diskursen hergestellt. Diesen Zusammenhang gilt es – auch in seiner historischen
Entwicklung – zu erläutern.
Im Kontext der kulturellen Schulentwicklung ersetzt dies natürlich nicht die Mühe, eine praktikable
Methodologie nicht nur der konkreten Schulentwicklung, sondern auch ihrer Evaluation zu
erarbeiten. Es ist lediglich eine flankierende Untersuchungsrichtung, die zeigt, dass sich gerade die
Pädagogik nicht auf eine eher technokratische quantitative Evaluationsforschung ohne Verlust ihrer
kulturellen und humanen Dimension begrenzen lässt. Zudem haben die Organisationstheorien und
die Theorien der Schulentwicklung die zu verändernden Institutionen längst als Orte entdeckt, in
denen Machtspiele eine wichtige Rolle spielen (Stichwort „Mikropolitik“), so dass möglicherweise
eine Aufdeckung des Zusammenhangs von Kunst/Kultur und Macht auf der großen Bühne der
Gesellschaft auch eine Relevanz haben könnte auf der kleinen Bühne der Schule. Man wird sehen!
19
Zum Grundwiderspruch der (entstehenden) bürgerlichen Gesellschaft: Freiheit und/oder
Determinismus
Die Schule als ein Kind der Moderne steht als solches im Brennpunkt der „Pathologien des Sozialen“
(Honneth 1994). Insbesondere zeigt sich dies an der Funktionsbestimmung von Schule: In einer
pädagogischen Perspektive geht es primär – manche sagen: ausschließlich – um die Entwicklung des
Einzelnen, andere thematisieren die gesellschaftlichen Anforderungen an die Schule (Qualifikation,
Legitimation, Allokation/Selektion und Enkulturation). Es liegt auf der Hand, dass sich je nach
Perspektive sehr unterschiedliche Vorstellungen von Schule ergeben (Weigand 2005, Fuchs 2012c,
Apel 1995, Fend 2006). Wieder andere meinen, dass beide Perspektiven sich ergänzen müssen,
zumal Individualität nur im sozialen Kontext entstehen kann, so dass die subjektorientierte und die
gesellschaftliche Perspektive nicht in einen Gegensatz zueinander gesetzt werden dürfen.
So sehr diese letzte Perspektive zwar theoretisch zutrifft und als Vision anzustreben ist, so ergeben
sich doch in der Realität immer wieder Spannungen. Das Interessante hierbei ist, dass diese
Spannungen zwischen Individuum und Gesellschaft nicht immer existiert haben bzw. nicht als solche
empfunden wurden, sondern historisch entstanden sind, nämlich mit der Entstehung der
bürgerlichen Gesellschaft. Zudem ist ein analoger Widerspruch in allen Gesellschaftsfeldern (und
nicht nur in der Schule) zu finden, so dass er auch nicht isoliert in der und für die Schule gelöst
werden kann. Vielmehr zeigt es sich, dass dieser Widerspruch sowohl in der Erkenntnistheorie, in der
politischen Theorie – eng verbunden mit der Debatte über Ethik und Moral – und auch in der
Ästhetik gefunden und bearbeitet worden ist. Dies soll im Folgenden skizziert werden.
Zunächst einmal muss man sich verdeutlichen, dass in der Tat dieser Widerspruch erst in der Neuzeit
auftaucht, ja erst dann auftauchen kann. Denn er ist eng verbunden mit der Denkfigur des einzelnen
Individuums, das selbst verantwortlich für die Gestaltung seines Lebens ist. Erst als dieser Einzelne
Ausgangspunkt des Denkens wurde, stellte sich nämlich das Problem, wie mehrere dieser
(zunehmend autonomen) Einzelnen überhaupt eine Gemeinschaft, ein Volk dann auch noch einen
Staat bilden können und wollen. Zwar gibt es viele Argumente dafür, dass das Denken aus der
Perspektive eines Einzelnen nicht erst in der Renaissance entdeckt oder – wie manche sagen – sogar
erst erfunden wurde (Burckhardt 2006, Dülmen 1997, vgl. auch Fuchs 2001). So ist der Hinweis auf
die Bekenntnisse des Augustinus (354 – 430), also einer Lebensbeschreibung, bei der ein einzelnes
Individuum im Mittelpunkt steht, natürlich relevant. Auch die Einzelschicksale in der griechischen
Tragödie sind anzuführen (vgl. insgesamt Fetz 1998; siehe auch Fuchs 2001 und 2012). Doch ist das
Denken sowohl in der Antike als auch im Mittelalter wesentlich eines, das vom Kollektiv ausgeht. Der
Einzelne ist lediglich (je nach Stand!) Teil der Polis bzw. Teil eines Lehens, eines Reiches, in jedem Fall
20
aber: Teil der katholischen Kirche. Dabei bezieht sich bereits der Begriff des Katholischen von seiner
griechischen Wortbedeutung her auf das Allgemeine.
Es war also trotz der angeführten Einzelfälle ein enormer Paradigmenwechsel, als sich die Umstellung
auf das Denken in Kategorien des Einzelnen in und nach der Renaissance vollzog. Die Reformation ist
dabei ein wichtiger Teil dieses Prozesses, da nunmehr der Einzelne unmittelbar gegenüber Gott sein
Handeln verantworten muss (Luther war Augustinermönch, steht also in einer diesbezüglichen
Tradition). Dies macht daher auch die kultur- (und nicht bloß die literatur-) geschichtliche Bedeutung
von Petrarca und seinem Aufstieg auf den Mont Ventoux verständlich, da er sich sehr deutlich – auch
über sein individuelles ästhetisches Erleben der Natur – als Gestalter seines Lebens versteht. Diese
Entwicklung ist in dieser Form ausschließlich eine europäische Erscheinung. Denn bis zum Ende des
20. Jahrhunderts konnte der Ethnologe Clifford Geertz (1987) noch feststellen, dass das Denken in
Kategorien einer individuellen Persönlichkeit im Weltmaßstab als eine sehr eigenartige Idee gelten
muss.
Wie wenig dieses Problem Individuum und/oder Gesellschaft bis heute gelöst ist, lässt sich zudem an
dem interessantesten philosophischen Streit der letzten Jahrzehnte erkennen, nämlich an dem Streit
zwischen dem philosophischen Liberalismus (unter anderem John Rawls), der von dem einzelnen
Individuum ausgeht, und den Kommunitaristen, die die Gemeinschaft prioritär sehen
(Brumlik/Brunkhorst 1993). Vieles, wenn nicht sogar alles am ästhetischen, politischen und
moralischen Denken in Europa lässt sich auf diesen individuumsbezogenen Denkansatz beziehen. Um
ein erstes Beispiel zu zitieren: „Europa hat den Staat erfunden.“ – So beginnt Reinhard (1999, 15)
sein preisgekröntes Werk über die „Geschichte der Staatsgewalt“. Das Buch handelt von der
Entstehung, Legitimation, Erhaltung und dem Verlust von Macht, wobei die Genese des Staates in
unserem heutigen Verständnis mit der Neuzeit und damit mit dem Denken in Kategorien der
Individualität verbunden ist. Denn: „Auch noch in der Frühneuzeit setzte sich die Gesellschaft
weniger aus autonomen Individuen als aus Gruppen und Interaktionsnetzen zusammen, in denen die
Individuen bereits auf Gedeih und Verderb verkettet waren.“ (ebd. S. 23).
Die allmählich entstehende Staatsgewalt war natürlich auch mit sich verändernden ökonomischen
Bedingungen verbunden. Es spielten allerdings auch kulturelle Prozesse eine so große Rolle, dass
man „Staatsbildung als kulturellen Prozess“ (Asch/Freist 2005) beschreiben kann. In diesem Prozess
der entsprechenden Mentalitätsentwicklung, der geistigen Durchdringung von Staatshandeln und
seiner Legitimation spielt das Kulturelle also genau die Doppelrolle, die in der Überschrift formuliert
wird:
21
Die Macht nutzt zum einen die Kultur (Religion, Künste, Bildungswesen, Wissenschaften etc.) zur
eigenen Stabilisierung. Daher beschreibt Reinhard die Kulturpolitik neben Gewalt, Finanzen und
Diplomatie als viertes Machtmittel und integralen Bestandteil der Machtpolitik (a. a. O., Kapitel IV.4).
Zum andern entfalten die – immer mehr um ihre Autonomie ringenden - Kulturmächte eine
eigenständige Macht, den Staat, seine Institutionen und Akteure zu beeinflussen. In diesem Prozess
spielt die Ästhetik eine wichtige Rolle (wobei bekanntlich der Begriff der Ästhetik Mitte des 18.
Jahrhunderts von A. Baumgarten erfunden wurde und bis ins 19. Jahrhundert umstritten blieb).
In dem Moment, in dem die natürliche oder gottgegebene Ordnung (ein König „von Gottes Gnaden“)
zunehmend infrage gestellt wird, stellt sich das Problem, wie man sich den Zusammenhalt der
Gesellschaft vorstellen kann. Dies hängt entschieden mit dem Menschenbild zusammen, also damit,
ob man den Menschen als zoon politikon (Aristoteles) oder als isolierte Monade (Leibniz) versteht.
Eine Diskurslinie ist dabei, dass es die wilden Triebe, quasi die Naturseite des Menschen, sind, die zu
Gewalt und Krieg führen, weshalb diese zu domestizieren sind (König 1992). Auf der Basis einer
solchen negativen – allerdings auch realistischen – Anthropologie hat Thomas Hobbes seine
Konstruktion von Gesellschaft und politischer Ordnung aufgebaut (der Mensch ist dem Menschen ein
Wolf). Nachfolger von ihm haben versucht, aus individuellen Charakterschwächen (zum Beispiel
einem „natürlich“ gegebenen Egoismus) einen gesellschaftlichen Nutzen zu entwickeln. Dies ist –
allerdings über 100 Jahre später – die Grundidee der ersten Theorie des Kapitalismus, die der
Moralphilosoph (!) Adam Smith entwickelt hat.
Hobbes Ansatz ist dabei von einer kaum zu überschätzenden Bedeutung. Denn er rezipiert die neue
Naturwissenschaft in ihrem Ziel und in ihrer Methode, die Natur als gesetzmäßigen Zusammenhang
zu begreifen (Fuchs 1984). Dies war deshalb gefährlich – und zog daher aus guten Gründen die
Feindschaft der Kirche auf sich –, weil ein gesetzmäßig ablaufender Zusammenhang keine Eingriffe
von außen nötig macht und zulässt. Damit ist der Allmacht Gottes eine deutliche Grenze gesetzt. In
der Tat mangelt es den Naturphilosophen dieser Zeit nicht an Selbstbewusstsein. Unser Wissen, so
etwa Galilei, ist dem Wissen Gottes in der Qualität ebenbürtig. Denn Gott hat die Natur in den
„Lettern der Mathematik“ geschrieben, und diese beherrscht inzwischen der Mensch genauso gut.
Aus diesem Grund hat Descartes eine Zweiteilung in eine res extensa (wo Naturgesetze
deterministisch herrschen) und eine res cogitans (wo Gott uneingeschränkt herrschen kann)
eingeführt. Es hat ihn vor einer Verfolgung nicht geschützt: Er musste sein Leben überwiegend im Exil
verbringen, wobei er noch Glück hatte, denn Kollegen von ihm landeten auf dem Scheiterhaufen.
Immerhin haben wir erstmals hier explizit ausgeführt und begründet eine Trennung der Welt des
Menschen in ein Reich der Freiheit und in ein Reich der Notwendigkeit und des Determinismus. In
22
Ersterem konnte sich dann später das Individuum austoben, als Teil der Natur war es aber zugleich
der gnadenlosen Gesetzmäßigkeit des zweiten Feldes, der Natur, unterworfen, konnte dieses jedoch
zumindest erforschen. Beides, dies muss man sich klarmachen, war jedoch emanzipatorisch
gegenüber den Herrschenden: der Determinismus, weil er die Allmacht Gottes (also der Kirche!)
einschränkte, so dass im jahrhundertelangen Kampf zwischen Glauben und Wissen das Wissen
siegte; die Freiheit, weil diese zum zentralen Charakteristikum des Lebens des Einzelnen in der
Neuzeit wurde.
Thomas Hobbes gehörte zu denjenigen Philosophen, die das erfolgreiche Modell des Determinismus
des mechanistischen Denkens in der Naturwissenschaft auf die Gesellschaft übertragen hat.
Weltanschaulich war das durchaus riskant und konnte sicherlich in kaum einem anderen Land als in
England stattfinden. Denn dort gelang es weitaus früher als in anderen europäischen Ländern, eine
Mitbeteiligung an der politischen Gestaltung durch weitere Gesellschaftsmitglieder durchzusetzen.
Doch mussten auch englische („liberale“) Philosophen – ebenso wie Hobbes - immer wieder ins Exil.
Hobbes (1588-1679) ahmt in seinem Vorgehen in seiner Gesellschaftstheorie (in seinem Grundwerk
„Vom Menschen“ -1657- und „Vom Bürger“ -1642/1647) die axiomatische Methode der
Naturwissenschaft nach mit exakten Definitionen, Behauptungen und Beweisen, wodurch er dem
Werk eine besondere Dignitität geben wollte.
Damit war ein weiterer Bereich nach dem der Natur dem Eingriff fremder Mächte entzogen: Die
Gesellschaft funktioniert in dieser Theorie ebenso maschinenmäßig wie ein Uhrwerk, so dass man
Machttechniker als Spezialisten braucht, die damit umgehen können. Damit geht zugleich ein
anderes Verständnis von Macht und Herrschaft ein: Der Herrscher ist gebunden an Regeln. Er hat der
Erhaltung des Friedens zu dienen (Habermas 1971,72 ff.) und für ein angenehmes Leben der (sich
jetzt als Bürger verstehenden) Untertanen zu sorgen. Der Erfolg seines Herrscherhandelns wird dann
zur Legitimationsgrundlage seiner Herrschaft – und kann natürlich von allen überprüft werden
(MacPherson 1973). Allerdings ergibt sich auch hierbei der Grundwiderspruch: Wenn der
naturgesetzliche Determinismus – durchaus in emanzipatorischer Absicht und im Interesse der
Bürger – auf die Gesellschaft übertragen wird, dann schränkt dies die Freiheit des Einzelnen erneut
ein. Es gibt nunmehr ein neues Feld, in dem sich der Widerspruch zwischen individueller Freiheit des
Einzelnen und einer allgemeinen und einschränkenden Gesetzmäßigkeit (Gesellschaft) auftut.
Interessant dabei ist die Feststellung, dass sich gerade auch in dieser Frage das angelsächsische und
das kontinentale, vor allem aber das deutsche politische Denken auseinander entwickeln. So stützen
sich politische Philosophien auf der Insel und auf dem Kontinent zwar gleichermaßen auf das
Naturrecht (und eben nicht mehr auf ein Gottesrecht oder ein königliches Recht), doch wird in der
Folgezeit vor allem bei John Locke (der der zentrale Stichwortgeber für die Verfassungsdiskussion in
23
den entstehenden Vereinigten Staaten war; Habermas 1971, 111ff.) der liberale Gedanke des starken
Individuums
in
den
Vordergrund
gestellt
(zusammen
mit
der
Konstruktion
eines
Gesellschaftsvertrages), wohingegen in Deutschland der Akzent auf dem allgemeinen Gesetz liegt:
Etatismus erfreut sich bis in die jüngsten kulturpolitischen Diskussionen rund um einen Kulturstaat in
Deutschland einer großen Beliebtheit. Bei einer Entscheidung zwischen Freiheit und Form neigt man
hierzulande offenbar eindeutig zur Bevorzugung der Form (Caygill 1982; vgl. auch Cassirer 1917).
Immerhin ergibt sich immer dringlicher das Problem, zumindest geistig diesen Widerspruch zu
überwinden. Nun mag man glauben, dass eine bloß theoretische Schreibtischarbeit einer
widerspruchsfreien Konstruktion für die politische Praxis irrelevant gewesen wäre. Denn diese Praxis
entwickelte sich ohnehin etwa auf der Basis der Entwicklung der Produktivkräfte (Jonas 1969) oder
durch eine Eigendynamik praktischer Politik. Doch wächst – auch dies ein Spezifikum der Neuzeit – in
immer breiteren Schichten der Bedarf an theoretischer Grundlegung und an nachvollziehbaren
Argumentationen. Es gibt einen zunehmenden intellektuellen Wettstreit, denn nach wie vor gibt es
starke Kräfte, die für das Bestehende argumentieren (auf Seiten der Kirche bzw. des weltlichen
Machthabers). Dieser Prozess einer wachsenden Begründungsnotwendigkeit (Legitimation) kann
unter dem Thema einer sich konstituierenden Öffentlichkeit betrachtet werden (Habermas 1990,
Sennett 1983, siehe aktuell Gerhardt 2012).
Die Entstehung und Stabilisierung einer solchen Öffentlichkeit hängt natürlich aufs engste mit der
Ausbreitung der Lesefähigkeit, der Ausweitung der Nutzung der jeweiligen Landessprache und der
Entstehung eines veritablen Marktes an Büchern und Zeitschriften zusammen (Faulstich 1988, 2002).
Faulstich zeigt dabei, wie auch die verschiedenen Künste (Bilder, Musik, Theaterstücke) ihren Beitrag
zur Konstitution einer Öffentlichkeit haben leisten können, so dass sich immer mehr eine politische
Kommunikation (Schorn-Schütte 2004), eine ästhetische Kommunikation (Plumpe 1993) und eine
moralische Kommunikation sowohl jede für sich, meist aber gemeinsam entwickeln. Es gibt
zunehmend Strukturen und Medien und vor allem gibt es eine gebildete bürgerliche Trägerschicht
für eine solche Debatte. In besonderer Weise sieht man dabei in ästhetischen Debatten eine Chance,
die oben skizzierte Widersprüchlichkeit zwischen Einzelnem und Allgemeinem aufzulösen. Zudem
brauchte man aus Gründen des persönlichen Schutzes das Ästhetische als ungefährlicheren Bereich,
um quasi unterschwellig und subversiv Fragen der Politik zu diskutieren.
24
Ästhetische Kommunikation und die Macht
Wer die Schriften von Shaftesbury, Hutchinson oder Burke kennt – es genügt bereits die Kenntnis der
Überschriften –, kann nicht mehr der Überzeugung sein, dass Ästhetik und Ethik scharf voneinander
zu trennende Bereiche sind. Vielmehr gehört es zur europäischen Tradition seit den Griechen, Fragen
der Tugend, des richtigen Verhaltens, des Schönen und der Bildung stets zusammen zu diskutieren.
Gerade im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert bündelten sich diese Diskussion in dem Begriff des
Geschmacks (taste, gout). Man verhandelte über Geschmacksbildung als Teil der Zivilisierung und
Humanisierung des Menschen (Pädagogik), und dies im Interesse eines harmonischen Miteinanders
(Politik), wobei zu dem richtigen Benehmen auch eine ästhetische Kultiviertheit gehört.
Ein roter Faden dieser Diskurse war dabei die Frage nach der Konstitution des bürgerlichen Subjekts.
Dieses Thema war zentraler Inhalt der künstlerischen Werke in der bildenden Kunst, in der Literatur
und im Theater. Eine interessante Studie („Aesthetics and Civil Society“, 1982) von Howard Caygill
zeigt zudem, dass die Theorien sowohl über Kunst als auch über die Gesellschaft in der Zeit von 1640
bis 1790 auch in ihrer Architektonik eine Strukturähnlichkeit haben: Die Theorien des (ästhetischen)
Geschmacks und die moralischen Theorien der bürgerlichen Gesellschaft (civil society) bis hin zu den
Studien von Kant korrespondieren miteinander. Insbesondere steht Kants Kritik der Urteilskraft
(1790) im Mittelpunkt der Studie von Caygill, wobei er zeigt, wie stark die ästhetische Theorie im
ersten Teil der Kritik der Urteilskraft bezogen ist auf die sehr viel seltener rezipierte Theorie der
Kultur im zweiten Teil. Vor diesem Hintergrund gewinnen Formulierungen wie die Rede von einer
Staats-„Kunst“, von dem (Kunst-) Handwerk der Politik, von dem „ästhetischen Staat“ (Schiller) oder
dem „Staat als Kunstwerk“ mehr als eine bloß metaphorische Bedeutung: Die perfekt organisierte
Gesellschaft wird analog zu einem gelungenen Kunstwerk betrachtet (siehe etwa den letzten Brief in
Schillers Briefen zur ästhetischen Erziehung; 1959).
Dass diese Verbindung von Ethik, Moral und Politik (und Pädagogik) nicht bloß ein vergangenes
historisches Ereignis ist, sondern bis heute aktuell ist, erkennt man etwa einer konfliktreichen
Debatte über die Ästhetisierung des Staates (Benjamin 1963, Rebentisch 2012). Die Frage ist nun, ob
es in der Ästhetik und in den Künsten gelingen kann, den oben beschriebenen Widerspruch zwischen
Individuum und Gesellschaft aufzulösen.
Das Ästhetische
„Geschmack“, so wurde es eben dargestellt, entwickelt sich im 18. Jahrhundert quasi zu einem
Brückenkonzept zwischen Politik, Bildung, Ethik und Ästhetik. In ihrer Studie „Culture and the State“
gehen Lloyd/Thomas (1998) genau dieser Frage nach: „How are subjects formed as citizens who by
25
definition and for all practical purposes accept the forms and precepts oft the state at least to the
extent that alternatives become literally and figuratively the state`s „unthinkable“?“(S. 4)
Die Antwort - zumindest seit dem späten 18. Jahrhundert - unter Bezug auf Schiller und die
Romantik: durch Ästhetik. Durch diese findet eine Kultivierung, eine Bildung des ethischen
(bürgerlichen) Subjekts statt, das seinen Staat auch akzeptiert. Kultivierung heißt dabei in erster Linie
Geschmacksbildung. Neben den Vertretern der deutschen Romantik sind es in England Wordsworth
und Coleridge sowie später Matthew Arnold, die ein solches Konzept publikumswirksam vertreten.
Dabei erhält das Konzept ausgehend von der freiheitlich-republikanischen Perspektive Kants, der mit
dem sensus communis ein soziales Band zwischen den Individuen schafft und dabei zwanglos den
Einzelnen mit dem Allgemeinen verbindet, über den Freiheitsdichter Schiller zunehmend eine
konservative Ausrichtung: Es geht immer mehr um Versöhnung etwa der im Zuge der
Industrialisierung immer deutlicher werdenden Klassengegensätze, wobei das dahinter stehende
Kunst- und Kulturverständnis der bürgerlichen Klasse dominiert, die auf diese Weise zumindest in
diesem Feld siegreich aus dem Kampf um (hier: kulturelle) Hegemonie hervorgeht.
Das Mittel für diesen Erfolgsprozess war das Bildungssystem. Allerdings – so die Autoren – wehrt sich
die Arbeiterklasse in England gegen eine solche Vereinnahmung durch die Pädagogik. Ihr Vorwurf:
Gerade linke Theoretiker von Marx bis zu den heutigen cultural studies übernehmen das
entsprechende Kulturkonzept unkritisch für gegeben hin und übersehen, dass nicht bloß von den
Inhalten her, sondern auch vom formalen Aufbau eine große Parallelität zwischen den jeweiligen
Bereichstheorien besteht. Sie sprechen von einer „intrinsic relation of culture and the idea of the
state".
Eine ähnliche Beobachtung lässt sich auch für Deutschland anstellen. Auch hier kann man Belege
dafür finden, dass die zunehmende Unsicherheit der Machthaber, ob die Integration der Gesellschaft
bei den wachsenden Klassenkonflikten erhalten bleibt, zu bestimmten Maßnahmen veranlasst: Die
Einführung der Sozialversicherung von Bismarck etwa war eine solche Idee zur Herstellung von
Massenloyalität. Flankiert wurde dies durch eine reaktionäre Schulpolitik. Auf intellektueller Ebene
verbreiterte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zudem der Kulturdiskurs bis hin zur
Entwicklung eines Konkurrenzprogramms zur – sozialdemokratisch konnotierten – Sozialpädagogik
eines Paul Natorp, nämlich dem Ansatz einer Kulturpädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die
eine kulturelle Sinnstiftung von oben versuchte (Fuchs 2013). All dies lässt sich durchaus als Teil eines
ideologischen Klassenkampfes beschreiben.
Die Künste und das Ästhetische fungierten also als Hoffnungsträger für Verschiedenes: für die
Auflösung des Widerspruches zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen, als Oase der (Einübung
in) Freiheit und immer wieder als idealer Erziehungs- und Bildungsbereich für die Formung
26
geeigneter Subjekte. Entgegen einer aktuellen Ideologie von Kunstautonomie hatten und haben
Künste also vielfältige Funktionen. Diese waren sogar immer schon der Grund für ihre Förderung. Im
Funkkolleg Kunst (Busch 1987) unterscheidet und diskutiert man daher konsequent die religiöse,
politische und ästhetische Funktion von Kunst. Wer sozialgeschichtlich sensible Darstellungen der
Geschichte einzelner Künste liest (Hauser 1972, Fischer-Lichte 1993, Blanning 2010), wird
Schwierigkeiten damit haben, eine Loslösung der Kunstproduktion und -rezeption von ihren sozialen
und kulturellen Kontexten zu akzeptieren. Sogar die tatsächlich zu belegenden Prozesse einer
Autonomisierung der sich allmählich konstituierenden Kunstfelder, die Tatsache nämlich, dass
Experten der jeweiligen Felder definieren, was in ihrem Bereich als „Kunst“ zu gelten hat, ist ein Teil
der Modernisierungsprozesse der bürgerlichen Gesellschaft.
In besonderer Weise betrifft diese „Funktionalisierung“ der Künste den Bereich der Formung der
Bürger als vielleicht wichtigster sozialer Funktion von Kunst. Es ist so, wie es (nicht nur) Eagleton
1994, S.3 beschreibt: Man redet zwar über Künste, thematisiert jedoch stets das bürgerliche Subjekt.
Selbst die theoretischste Ästhetik-Konzeption wie etwa die Kritik der Urteilskraft von Kant tut dies.
Denn die Erfahrung von Lust in dieser Konzeption hat ihren Grund darin, dass das Subjekt spürt, dass
und wie seine mentale Ausstattung auf die Wahrnehmungsreize von außen passt – und es sich
deshalb freut.
Es ist daher ein durchaus plausibler Ansatz, nicht nur die jeweiligen Diskurse als ästhetische,
politische oder pädagogische Kommunikation zu verstehen (Schorn-Schütte 2004, Plumpe 1993),
sondern die vielfachen Verflechtungen zwischen diesen Kommunikationsformen zu untersuchen.
Diese reichen – so Caygill oder Lloyd/Thomas – bis in die Architektur der Theorienkonstruktionen.
„Geschmack“ war also die zentrale Vermittlungs- (andere sprechen von „Versöhnungs-“) Kategorie
zwischen den verschiedenen Feldern (siehe auch Gadamer). Geschmack wird das einigende Band
einer „Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert“
(Balet/Gerhard 1972). Träger dieses Geschmacks ist das bürgerliche Subjekt, die „schöne Seele“ oder
die „schöne Individualität“ (Ewers 1978). Hier wird Kunst endgültig zu einem Mittel einer visionären
humanen/humanistischen Gestaltung der Gesellschaft und ihrer Subjekte.
Die Formung des Subjekts durch Kunst
Dass man über eine entsprechende Formung des Subjekts eine Veränderung der gesellschaftlichen
Verhältnisse bewirken will und man bei der Konstruktion politischer Ordnungsrahmen stets die Frage
danach berücksichtigt, wie denn die Einzelnen beschaffen sein müssen, die das Ganze tragen sollen,
ist ein roter Faden seit Beginn des pädagogischen und politischen Denkens. Dabei haben immer
27
wieder die Menschen - durchaus gerade diejenigen, die in den politischen Konstruktionen bzw. in der
jeweiligen Realität keine Berücksichtigung fanden - durch die unterschiedlichsten Protestformen
daran erinnert, dass es auch um sie selbst geht. So sehr im Bewusstsein der Machthaber die
Möglichkeit von Protest oder gar Aufstand präsent war, so wenig hat offenbar die
Geschichtswissenschaft dies lange Zeit berücksichtigt. So lässt George Rude (1977) seine Geschichte
der „Unruhen, Aufstände und Revolutionen in England und Frankreich 1730-1848“ (so der Untertitel)
mit
den
Worten
beginnen:
„Vermutlich
ist
kein
geschichtliches Phänomen
von
der
Geschichtswissenschaft so sehr vernachlässigt worden wie das der Massen…“ (S. 9). Zwar hat man
spätestens am Ende des 19. Jahrhunderts die „Masse“ entdeckt (LeBon, Freud und andere), doch
sind die meisten dieser Darstellungen eher von Sorgen und Ängsten der Intellektuellen getrieben. Mit
einiger Berechtigung kann man diese Ängste auf die Französische Revolution zurückführen, als das
französische peuble im Deutschen zum Pöbel mutiert: „Den Sklaven, wenn er die Ketten bricht, den
freien Menschen, den fürchtet nicht“ dichtete folgerichtig unser größter Freiheitsdichter Friedrich
Schiller.
Im Anschluss an Rude hat sich jedoch rasch eine Geschichtsschreibung entwickelt, die jenseits der
„Haupt- und Staatsaktionen“ der etablierten Geschichtswissenschaft die „Massen“ in den
Mittelpunkt stellte und danach fragte, wie die unterprivilegierten Schichten lebten, fühlten, dachten
und was sie insbesondere zu einem Protest veranlasste. So stellt der englische Historiker Edward P.
Thompson (hier in Puls 1979, S. 13ff.) die „Moral Economy" (in diesem Band mit „sittlicher
Ökonomie“ übersetzt) in den Mittelpunkt, nämlich ein ökonomisches Verhalten, das sich an
Maßstäben gelebter Sittlichkeit orientiert. Aufstände kamen dann zustande, wenn das Volk zu lange
und zu gravierende Verstöße gegen diese Moralnormen aushalten musste. Diese These unterstützte
B. Moore mit seiner bahnbrechenden Studie über „Ungerechtigkeiten“ (1987, zuerst 1978): Nicht
alleine Hunger und anderes Elend veranlasste die Menschen zum Protest, sondern das Gefühl, dass
eine andere Gesellschaftsordnung, die ein besseres Leben verspricht, als gerecht empfunden wird.
Der Wert des philosophischen Prinzips der Gerechtigkeit erhält daher in einer solchen
sozialgeschichtlichen Perspektive quasi eine empirische Unterstützungen seiner Relevanz (Sen 2010,
Ebert 2010). Gerade die Arbeiten des Ökonomen Amartya Sen zeigen, wie eng Freiheit und
Gerechtigkeit miteinander verwoben sind und wie sich die Ökonomie in ihrer Zuständigkeit für die
materielle Versorgung der Menschen an moralischen Kriterien messen lassen muss (Sen 2002). Man
kann dies durchaus als anhaltende Relevanz der Idee einer „sittlichen Ökonomie“ verstehen, deren
Herstellung bekanntlich das Motiv des ersten Theoretikers des Kapitalismus, des Moralphilosophen
Adam Smith war und das von der katholischen Soziallehre über die Gründungsväter der Sozialen
Marktwirtschaft bis heute eine beunruhigende Relevanz hat (vergleiche etwa das Kapitel „Wirtschaft
als Kultur“ in Fuchs 2011).
28
Die Protestbewegungen gegen als ungerecht empfundenes Herrschaftsverhalten zeigen, dass
„Widerstand“ eine große Bedeutung hat. Dies wird heute auch zunehmend in der Pädagogik erkannt.
Widerstand gegen zu einfache Vorstellungen von Fortschritt veranlasste Rousseau bereits im 18.
Jahrhundert zu einem ersten fulminanten Protest. Widerstand war zudem ein Leitmotiv in der Zeit
des Sturm und Drang, Widerstand gegen einengende Verhältnisse beschäftigte die Künste, die
politische und soziale Theorie und nicht zuletzt die Pädagogik. „Widerstand“ wird heute – im
Anschluss an Heydorn – geradezu als zentrale pädagogische Kategorie wieder entdeckt (Bernhard
2011). Auch in der kulturellen Bildung sollte daher Widerständigkeit eine Rolle spielen, zumal selbst
staatliche Programme heute formulieren: Kultur macht stark. Es wird darauf ankommen, welche
Stärke erwünscht ist und welche Stärke die beteiligten Jugendlichen entwickeln. Jedenfalls befindet
man sich mit diesem Programm sehr viel intensiver in einer Geschichte der Emanzipation der
Subjekte, als manche glauben wollen (Fuchs 2014).
Doch wie steht es nun mit der Frage, ob und wie der Grundwiderspruch zwischen Einzelnem und
Allgemeinem gelöst worden ist bzw. überhaupt gelöst werden kann? Eine erste theoretisch mögliche
Lösung kommt heute kaum mehr in Frage: die vorneuzeitliche Lösung, also eine Rücknahme der Idee
des autonomen Subjekts, so dass ein (kollektivistisches) Eingliedern in ein Ganzes leicht fiele.
Versucht hat man eine solche Rücknahme allerdings durchaus. In Zeiten der Diktatur und der
Militarisierung der Gesellschaft findet man solche Versuche: „Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ war ein
Slogan, der das Ganze der Gemeinschaft, orientiert auf die Person eines Führers, in den Vordergrund
stellte.
Zwei historische Anknüpfungspunkte gab es für eine solche Denkfigur: das Rousseausche Konzept
eines volonte generale, eines allgemeinen Willens (der in der Diktatur durch den Willen des Führers
repräsentiert wird), und Hegels Vorstellung, dass der Staat die Verkörperung des sittlich Guten und
des Allgemeinen ist. Dies machte beide Ansätze in der Tat nutzbar für menschenfeindliche Systeme.
Es
ist
allerdings
befriedigend,
dass
keine
der
Diktaturen
auf
europäischem
Gebiet
(Deutschland/Österreich, Spanien, Griechenland, Portugal, die sozialistische Länder) auf Dauer
überlebt hat.
Auf
einer
anderen
Ebene
bewegen
sich
Bemühungen,
den
Ich-Kult
der
modernen
Konsumgesellschaft zugunsten einer Gemeinschaftsorientierung zu reduzieren. Gemeinwohl,
Gemeinnutz, Verantwortung für das Ganze und die oben erwähnten kommunitaristischen Ansätze
gehen in diese Richtung. Allerdings stehen diesen Ansätzen die Verkaufslogiken kapitalistischer
Märkte entgegen, so dass man gegen eine offenbar überwältigende und alle Bereiche erfassende
Weltsicht ankämpfen muss. Auch aus diesem Grund wird von vielen Theoretikern das Denken in
29
Kategorien des Marktes als ein wichtiges Hindernis betrachtet, überhaupt demokratische
Verhältnisse zu erreichen (MacPherson 1977). Darauf ist später noch zurückzukommen.
Eine letzte hier zu nennende Möglichkeit ist der freiwillige Verzicht auf Autonomie (auf Krankheiten,
die zur Einschränkung von Subjektivität führen, gehe ich hier nicht ein). Es geht um Sekten, bei denen
systematisch die Autonomie individueller Willensfreiheit gebrochen wird.
Alle diese Wege sind also entweder nicht wünschbar bzw. unwahrscheinlich. Welche Wege stehen
aber dann sonst zur Verfügung? Ein aussichtsreicher Weg besteht darin, überzogene Ansprüche an
Autonomie zu reduzieren. Dies ist insofern aussichtsreich, als Autonomie in der Tat von Autarkie
unterschieden werden muss, so dass nicht jede Form von Fremdbestimmung gleich als empfindlicher
Angriff auf die individuelle Autonomie und die Selbstbestimmung verstanden werden muss.
So hat man im Kontext einer kritischen Diskussion des Lebenskunstkonzeptes darauf hingewiesen,
dass jedes noch so autonome Leben Regeln des Sozialen akzeptieren muss (Kersting/Langbehn 2007).
In der Demokratietheorie löst man dieses Problem dadurch, dass der Einzelne an der Entwicklung
dieser Regeln durch ein demokratisches Verfahren beteiligt wird. Ein besonderer Fall ist dabei die
Pädagogik mit ihrem Grundwiderspruch, dass diese nämlich immer versucht, „Freiheit bei dem
Zwange“ (Kant) durch Erziehungsprozesse zu entwickeln. Pädagogik ist offensichtlich ein
Gewaltverhältnis. Dietrich Benner (1987) rettet sich damit, dass er von einem „sich selbst
aufhebenden Gewaltverhältnis“ spricht, der Pädagoge in seiner Erziehungsarbeit also nach und nach
seinen Einfluss reduzieren muss. In diese Richtung gehen auch Ansätze einer pädagogischen Ethik
bzw. einer pädagogischen Professionstheorie. Aber immerhin: Es bleibt die Akzeptanz von Macht.
Der Ansatz von Foucault erklärt hierbei, dass Macht im Prozess der „Subjektivierung“ einen
Doppelcharakter hat: Es geht zwar auch um Unterwerfung, es geht aber auch um Ermöglichung.
Letzteres findet sich auch in der Rehabilitation einer (allgemeinen) Form und Gestalt bei Cassirer
(zum Beispiel 1917): Freiheit bedarf der Form. Dies gilt letztlich auch und gerade für die Künste:
Künste bedeuten Gestaltung und Formgebung. Das Kunstwerk galt (und gilt?) als (Mikro-) Kosmos,
also als wohlgestalteter gesetzmäßiger Zusammenhang. Form und Gestalt sind hier keine
Eingrenzungen von Freiheit, sondern Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit. Aber auch diese
muss gelebt werden. Es bleibt also die Aufgabe, stets zwischen Formung als Eingrenzung und als
Freiheitsermöglichung abzuwägen.
Bei aller Unabänderlichkeit von partieller Fremdbestimmung ist dieser Prozess letztlich in die Hand
des Einzelnen zu geben. Dies gilt auch für die Zwangsanstalt Schule. Auch hierbei geht es darum,
trotz eines harten, gesetzlich abgesicherten Regelregimes darum, Freiheit – und d.h.: Mitgestaltung –
30
zu ermöglichen. Dies bedeutet, die Schule als „Schule der Person“ (Weigand 2005), als „Schule der
Teilhabe“ (Rihm 2008), als demokratische Schule (Dewey) zu verstehen.
Auch die Künste – es wurde im Kontext von Form und Gestalt angesprochen – sind ein Regelsystem
und nicht ein Reich uneingeschränkter Freiheit. Sie können auch nicht als Modell oder als Oase
gelten, wie es die politische Vision Schillers vorsah. In der Realität ist professionelle Kunst mit ihren
harten Spielregeln der Konkurrenz, des Kampfes um Aufmerksamkeit sogar ein besonders schlechtes
Lernfeld. Dies wird auch durch die Studien von Bourdieu (1987) unterstützt, der zeigt, dass die Künste
nicht nur effektive Medien der Unterscheidung, sondern sogar effektive Medien der politischen
Unterdrückung sind. Daher wurde er nicht müde, gegen die Illusionen der (Kantschen) AutonomieÄsthetik an zu argumentieren.
Allerdings gibt es eine immanente Logik der Künste („Eigensinn“), die durchaus zur Stärkung des
Einzelnen führen kann. Genau darum geht es bei den obigen Ausführungen: um die Idee einer
Stärkung des Subjekts, das den Widerspruch zwischen individueller Freiheit und notwendiger
Einordnung in ein Ganzes erkennt und damit umzugehen weiß. Ästhetisch-kulturelle Bildung ist daher
insoweit politische Bildung, als sie ein solches starke Subjekt anstrebt.
Doch sollte man nicht der neoliberalen Lehre folgen, dass nunmehr der Einzelne allein sein Leben zu
bewältigen habe (Ich-AG, Agenda 2010 etc.). Hierbei gilt es vielmehr zu erkennen, dass die aktuelle
gesellschaftliche Ordnung historisch entstanden ist, von Menschen gemacht wird und keineswegs
„alternativlos“ – so ein beliebtes Kanzlerinnenwort – ist. Es ist zu erkennen, dass die aktuelle
gesellschaftliche Ordnung ein Versprechen auf individuelle Freiheit gibt, für die sie jedoch kaum
geeignete Rahmenbedingungen bereitstellt. Dies wird auch zunehmend erkannt, wie man an den
aufblühenden kritischen Gesellschafts- und Subjektdiskursen ablesen kann. So entwickelt etwa Dux
(2013) ein Anspruchstableau an eine menschenwürdige Politik und kommt zu dem Ergebnis, dass sich
Kapitalismus und Demokratie geradezu ausschließen. Es gehört zu diesem Befund die
Ökonomisierung aller Lebensbereiche, die von einer neoliberalen Gesellschaftstheorie angestrebt
wird. Davon bleibt auch die Öffentlichkeit mit ihren emanzipatorischen Wirkungen in der Frühzeit der
bürgerlichen Gesellschaft nicht verschont, so dass bereits der junge Habermas (1990, zuerst 1962)
geradezu einen Abgesang auf eine solche emanzipatorische Öffentlichkeit formuliert hat.
Gegenwärtig geht es daher darum, nahezu vergessene Konzepte des letzten Jahrhunderts
wiederzubeleben. „Gegenöffentlichkeit“ gehört zu diesen Konzepten. In der Tat gibt es einen
wachsenden Widerstand gegen eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in der – so ein Beispiel –
die sich selbst durch schlechtes und riskantes Management in den Ruin getriebenen Banken mit
öffentlichen Mitteln gerettet werden, wobei diese dann nach ihrer Rettung ungeniert und
unbeeindruckt ihr Spiel weiterspielen. Zu erinnern ist an die These von Moore (1983), dass ein
31
Empfinden von Ungerechtigkeit die Menschen zum Protest veranlasst. Der Tatbestand von
Ungerechtigkeit ist heute objektiv längst gegeben. Ein kritischer Diskurs über die Mängel der
bestehenden Ordnung ist daher durchaus lebendig und kommt dynamisch in Gang (Dörre 2012).
Wenn Kultur also wirklich „stark“ (in diesem Sinne) macht, dann gibt es durchaus Grund zu
Optimismus. Man muss sich dabei nicht unbedingt dem harten Urteil von Dux über die völlige
Unvereinbarkeit von Demokratie und Kapitalismus anschließen, wobei allerdings bereits vor Jahren
MacPherson (1977) zu dem Schluss kam, dass alle aktuellen liberalen Demokratietheorien nur
scheitern können, solange sie an dem Konzeptes Besitzindividualismus festhalten. Dieses Konzept hat
er in seiner viel zitierten gleichnamigen Studie (1973) als dasjenige anthropologische Modell
analysiert, das insbesondere den Theorien von Hobbes und Locke zugrunde lag (der Mensch als
vereinzelter Egoist ohne Solidarität mit seinen Mitmenschen, der ständig nach einer Vermehrung von
Macht und Reichtum strebt). MacPherson zeigt, dass auch aktuelle liberale Konzeptionen (wie die
von John Rawls) von diesem Menschenbild ausgehen und daher in Theorie und Praxis nur scheitern
können. Heutigen Gesellschaftsanalysen ist es dabei wichtig, dass man die Realität unterschiedlicher
Ausprägungen des Kapitalismus beachtet (Fuchs 2014), in denen die Rolle des Staates bei der
Schaffung von Rahmenbedingungen für die Entwicklungsmöglichkeiten des Einzelnen sehr
unterschiedlich ist. Es lohnt sich also, sich auch innerhalb des Kapitalismus um eine
sozialverträglichere Variante einzusetzen.
In dieser Situation helfen Studien wie die von Hein (2013), die unterschiedliche Wege der
Kapitalismuskritik, hier konkret: Marx, Bourdieu und Foucault, in ihrer Kompatibilität nachweisen. So
zeigt Hein, dass weder eine ökonomistische Deutung von Marx noch eine rein diskurstheoretische
Machttheorie bei Foucault noch eine bloße symboltheoretische Kulturtheorie bei Bourdieu den
jeweiligen Theorieansätzen gerecht wird. Dies ist deshalb wichtig, weil man sich daran erinnern
muss, dass am Ende des letzten Jahrhunderts eine Lebensstil- und Risikogesellschafts-Soziologie das
Ende einer gravierenden ökonomischen Ungleichheit behauptet hat und daher anti-ökonomisch bloß
noch kulturalistische Gesellschaftsanalysen akzeptieren wollte. Vor diesem Hintergrund scheint als
erstes politisches und dann auch pädagogisches Ziel die Überzeugung bedeutsam zu sein, dass keine
Realität „alternativlos“ ist, dass es eben keine deterministische Teleologie gibt, die die heutige
Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung als alternativloses „Ende der Geschichte“ (Fukuyama)
produziert hat.
Erinnert man sich daran, dass ein Definitionsmerkmal aktueller Künste die Erfahrung von Kontingenz
ist, dass eben alles auch anders sein könnte, als es jeweils ist, dann ergibt sich dadurch ein wichtiges
emanzipatorisches
Bildungsziel
ästhetisch-kultureller
Bildungsarbeit,
das
diese
ohne
Überanstrengung auch tatsächlich erreichen kann: Das starke Subjekt kann nämlich als ein solches
32
bestimmt werden, das sich mit ungerechten Verhältnissen eben nicht abfindet. Voraussetzung für
diese Dispositionen ist eine sensible Wachheit und Wahrnehmungsfähigkeit, ganz so, wie sie in einer
ästhetischen Praxis entstehen kann. Auf diese Weise kann – unter aktuellen Bedingungen – eine
erneute Synthese von Ästhetik, Ethik und Politik hergestellt werden, ganz so, wie es als
emanzipatorisches Programm in der Frühzeit der bürgerlichen Gesellschaft üblich war.
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36
4. Kulturelle Bildungspolitik und Educational Governance
Politische Rahmenbedingungen, neue Akteurskonstellationen und Motivationen
Kulturelle Bildung im Überschneidungsbereich unterschiedlicher Politikfelder
Die Geschichte politischer Visionen und Leitbilder ist lange und eindrucksvoll. Sie ist vermutlich
genauso lange, wie Menschen in Gruppen zusammen leben und darüber nachdenken, wie dieses
Zusammenleben funktionieren kann. Spätestens seit den Griechen gibt es tiefgründige theoretische
Reflexionen über die beste Art und Weise, wie die Polis zu organisieren ist (Rausch 1974).
Neben diesen großen philosophischen Ideen über eine gelingende politische Gestaltung gibt es aber
auch die alltägliche Praxis, gibt es das politische Handeln unterschiedlicher Akteure, die versuchen,
ihre Ideen zu realisieren. Insbesondere ist diese Problemstellung wichtig für diejenigen, denen man
die Macht für die Regierungsgeschäfte übertragen hat (Ellwein 1976). Dieses Regierungshandeln, also
die alltägliche Praxis der Aufrechterhaltung einer politischen Ordnung, nannte man lange Zeit
Regierungskunst. Die Rede von einer Kunst war dabei in den unterschiedlichsten Handlungsfeldern
von Belang: Die Kunst (im Griechischen techne und im Lateinischen ars) hatte zunächst einmal nichts
mit den schönen Künsten des Theaterspiels, des Malens oder Musizierens zu tun, sondern es war
generell ein regelgeleitetes Tun. Auch die schönen Künste wurden lange Zeit in diesem Sinne als
regelgeleitetes Tun, als Handwerk betrachtet. Dieses politische Handwerk spielt – neben den großen
Ideen – in dem Nachdenken über Politik von Anfang an eine wichtige Rolle. Denn es ging letzten
Endes immer um die entscheidende Frage, in welcher Weise die Ausübung von Macht in der
Gesellschaft geregelt werden kann (Reinhard 1999). In diesem Diskussionskontext spielt nicht
umsonst die Arbeit von Machiavelli (2008) eine entscheidende Rolle, weil er sich intensiv mit der
Frage der Eroberung und der Erhaltung von Macht befasst hat. Fragen der Moral traten vor dieser
pragmagischen Schwerpunktsetzung in den Hintergrund. Wie aktuell diese Renaissanceschriften sind,
kann man an solchen organisationstheoretischen Ansätzen erkennen, in denen von einer
„Mikropolitik der Macht“ die Rede ist. Selbst in kleinen Kulturverbänden gibt es ein solches, mitunter
raffiniertes Spiel um Einfluss und um Vorstandspositionen. Offenbar gibt es allgemeine Spielregeln,
die über die Zeiten hinweg und den unterschiedlichsten Kontexten funktionieren.
In einem demokratischen Rechtsstaat mit seiner idealtypischen Gewaltenteilung in eine Legislative,
Exekutive und Judikative gehört die Regierungskunst in das Feld der Exekutive, wobei man nicht nur
an die Spitzen der Exekutive zu denken hat, sondern vielmehr an den gesamten Verwaltungsapparat,
der nötig ist, um die politischen Ziele umzusetzen. Dies gilt natürlich auch für das Feld, das in dem
vorliegenden Text im Mittelpunkt steht. Es geht um die Frage, wie politische Steuerung heute
geschehen kann, wie insbesondere Veränderungen in der Praxis herbeigeführt werden können.
Diese und andere Aspekte führen zu der Aufgabe, genauer zu analysieren, unter welchen Umständen
innovative pädagogische Ansätze erfolgreich in die Fläche implementiert werden können, welche
Rolle hierbei Begründungen und Argumentationsmuster spielen, wer die relevanten Akteure sind und
welche Einflussmöglichkeiten sie jeweils haben. Diese Problemstellung ist dabei weniger ein Problem
einer Theorie der kulturellen Bildung, sondern sie gehört vielmehr in den politikwissenschaftlichen
37
Kontext der politischen Steuerung. Es scheint dabei so zu sein, dass sich gerade in diesem Feld seit
einigen Jahren erhebliche Veränderungstendenzen abzeichnen.
Gerade im Kontext von Regierungen, die gezielt politische Reformen anvisieren, musste man nämlich
feststellen, dass herkömmliche Verfahren einer top down Steuerung, bei der die politische Spitze die
Richtung angibt und die Verwaltung dafür sorgt, dass die neuen politischen Leitlinien in der Praxis
auch umgesetzt werden, sehr wenig Erfolg hatten. Diese erwiesene Erfolgslosigkeit gerade bei dem
Versuch, politische Reformen umzusetzen, hat zu einem Umdenken in der Politikwissenschaft
darüber geführt, wie politische Steuerung überhaupt unter sich verändernden gesellschaftlichen
Bedingungen funktionieren kann (Behrens 1995). Dies gilt insbesondere für das Bildungswesen, da es
zur deutschen Tradition gehört, dass dieses sehr fest in der Hand des Staates ist. Daher ist es auf den
ersten Blick verwunderlich, dass sich ein solches Praxisfeld, bei dem der Staat erheblich größere
Einflussmöglichkeiten hat als in anderen Feldern, durchaus resistent gegenüber Reformansätzen
zeigt.
Im Folgenden will ich mich explorativ dieser Problemstellung annähern. Eine Besonderheit des
Praxisfeldes der kulturellen Bildung besteht dabei darin, dass es quer zu sehr unterschiedlichen
Politikfeldern liegt, da kulturelle Bildungsarbeit mindestens in der Schul-, Jugend- und Kulturpolitik
stattfindet, so dass die Art und Weise der politischen Steuerung in diesen drei Feldern Relevanz hat.
Es gibt dabei bereits relevante Untersuchungen darüber, wie geeignete politische
Rahmenbedingungen der Schul-, Jugend- und Kulturpolitik jeweils gestaltet werden müssen, doch ist
man von einer integrativen kulturellen Bildungspolitik noch weit entfernt.
Man muss dabei berücksichtigen, dass die drei genannten Politikfelder sich nicht bloß erheblich im
Hinblick auf die gesetzliche Absicherung, die unterschiedlichen Trägerstrukturen, die jeweiligen
Handlungslogiken und die finanzielle Ausstattung unterscheiden, sie stehen auch in sehr
verschiedenen Traditionslinien, die bis in die Gegenwart Einfluss auf die politische Gestaltungsrealität
haben.
So kann man zwar durchaus von einer Kulturpolitik sprechen, wenn in der Geschichte Fürsten und
Könige bzw. die Kirche künstlerische Ausdrucksformen benutzt haben, um das Volk davon zu
überzeugen, dass die Macht in den richtigen Händen ist (Reinhard 1999, 388 ff.). Die Künste hatten
nämlich nicht nur eine ästhetische Funktion, sondern sie hatten immer auch eine politische Funktion,
die sogar ein wesentlicher Grund für ihre Förderung war (für die bildenden Künste vergleiche etwa
Busch 1987). Eine Kulturpolitik in unserem heutigen Verständnis hat sich erst im 19. Jahrhundert
entwickelt (vgl. Wagner 2009), wobei bis in die 1920er Jahren die staatliche Kulturpolitik offen als
Mittel der Macht (national und international) verstanden wurde.
Eine Förderung der Künste auf der Basis der Kunstfreiheitsgarantie, so wie sie das Grundgesetz auf
der Grundlage einer etwa 200 -jährigen Diskurstradition über Kunstautonomie garantiert, gibt es in
Deutschland erst nach dem zweiten Weltkrieg. Erst in jüngster Zeit hat sich zudem eingebürgert,
neben den zwei traditionellen Säulen der Kulturpolitik, nämlich der Pflege des Kulturerbes und der
Künstlerförderung, die Förderung kultureller Bildung als drittes Aktivitätsfeld zu benennen.
Von einer staatlichen Steuerung dieses Feldes kann man allerdings nur indirekt sprechen. Zwar gibt
es eine solche auch, insofern jede Mittelvergabe auch mit Einflussnahme verbunden ist. Zudem
nimmt die öffentliche Hand auch Einfluss auf die Besetzung wichtiger Leitungsstellen im
Kulturbereich und es ist die Förderung der Kultur eingebunden in Strategiepapiere, die die
38
politischen Gremien diskutiert und verabschiedet haben. Unterhalb dieser globalen Zielsetzungen
jedoch gibt es ein großes Maß an Gestaltungsfreiheit der Künstlerinnen und Künstler und der
Kultureinrichtungen. Kulturpolitik gehört also zu denjenigen Politikfeldern, in denen eine diskursive
Aushandlung zwischen den unterschiedlichen Akteuren geradezu zur Tradition gehört. Die
Kulturpolitik (insbesondere bei Museen und Theatern) ist allerdings auch dasjenige Feld, in dem
zuerst Strategien einer Neuen Steuerung (Tillburger Modell) in den 1980er Jahren erprobt wurden.
Insofern sind viele Elemente des unten vorzustellenden neuen Governance-Ansatzes längst in der
Kulturpolitik etabliert, allerdings ohne diese Bezeichnung zu verwenden.
Ein zweites Politikfeld, das viele Ähnlichkeiten mit dem kulturpolitischen Feld hat, ist der Bereich der
Jugendpolitik. Eine staatliche Jugendpolitik ist erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
entstanden und hat sehr viel mit Verwerfungsprozessen in der Gesellschaft zu tun, unter denen
insbesondere die Jugendlichen zu leiden hatten. Dem Staat ging es insbesondere um eine
Disziplinierung einer Jugend, die nach ihrer Schulzeit nicht mehr einer staatlichen Disziplinargewalt
unterworfen war. Das erste Jugendhilfegesetz stammt aus dem Jahre 1922, wobei bis heute in dem
aktuellen Kinder- und Jugendhilfegesetz die beiden Dimensionen der Disziplinierung und der
pädagogischen Hilfe nebeneinanderstehen.
Im Sozialbereich, zu dem die Jugendpolitik gerechnet wird, gilt das Subsidiaritätsprinzip. Dies
bedeutet zum einen, dass Probleme dort gelöst werden sollen, wo sie auch entstehen, also an der
Basis. Es bedeutet speziell in der deutschen Tradition, dass es neben den Kirchen viele freie Träger
gibt, die – mit einem Anspruch auf öffentliche Unterstützung – Jugendhilfe vor Ort praktisch
realisieren.
Auch in diesem Politikfeld gibt es daher von Anfang an einen – inzwischen auch gesetzlich
abgesicherten – Dialog zwischen öffentlichen und freien Trägern und zwischen der Trägerstruktur der
Jugendhilfe und der Politik. Im Hinblick auf eine Pluralität von Akteuren und die Realität von
Aushandlungsprozessen sind also auch in diesem Feld wichtige Elemente des Governance-Ansatzes
traditionell realisiert. In der Jugendhilfe war allerdings der Widerstand gegen die Einführung des
Neuen Steuerungsmodells erheblich größer als in der Kulturpolitik.
Als drittes Politikfeld, das für kulturelle Bildung Relevanz hat, ist die Bildungspolitik, speziell die
Schulpolitik zu nennen. Im 19. Jahrhundert war es eine wichtige Errungenschaft, dass der Staat die
Verantwortung für die Schule von der Kirche übernahm. Vorangegangen sind einzelne gesetzliche
Regelungen, insbesondere ist hier das preußische Landrecht von 1794 zu nennen, in denen diese
Übernahme der Schule durch den Staat angebahnt wurde. Mit der Übernahme der Verantwortung
für die Schule fand gleichermaßen die Übernahme der Zuständigkeit für die Lehrpläne, für die
Trägerschaft und für die Ausbildung und Anstellung der Lehrerinnen und Lehrer statt und es wurde
ein spezifisches Schulverwaltungsrecht entwickelt. Die Bildungspolitik entwickelte sich so zu einem
Kernbereich hoheitlicher Staatsaufgaben, wobei speziell in Deutschland im Vergleich zu anderen
Ländern eine freie Trägerschaft von Schulen eine sehr kleine Rolle spielte. Auch andere Akteure als
der Staat wie etwa Lehrergewerkschaften spielten in diesem Politikfeld keine große Rolle.
Allerdings war die Schule in der öffentlichen Kommunikation stets ein wichtiges Thema, was
insbesondere den strukturellen Aufbau des Schulsystems (Mehrgliedrigkeit) betrifft. Für die
Bildungspolitik ist daher der Governance-Ansatz mit seinen verschiedenen Aspekten (s.u.) in der Tat
39
Neuland. Neu ist auch in der Bildungspolitik die politisch gewünschte Kooperation zwischen Schule
und Einrichtungen aus dem Bereich der Kultur oder der Jugendhilfe, wobei es notwendigerweise auf
allen Ebenen zu oft spannungsvollen Beziehungen kommt. Denn das Bildungswesen ist als
Kernbereich hoheitlicher Aufgaben einer staatlichen Steuerungslogik in einer Weise unterworfen, wie
das im Bereich der Jugend- und Kulturpolitik nicht der Fall ist.
Ein Rückblick in die Geschichte der Bildungspolitik
Unter den drei genannten Politikfeldern ist die Schulpolitik dasjenige Politikfeld mit der längsten
Tradition, das zudem heute unter der Perspektive der politischen Steuerung dem größten Wandel
unterworfen zu sein scheint. Es lohnt sich daher ein Blick in die Geschichte dieses Politikfeldes, weil
damit auch deutlich wird, dass unter den relevanten Akteuren der Bildungspolitik gerade im Hinblick
auf die Kunst des Regierens das Handeln der Verwaltung in seiner hohen Bedeutung aufgezeigt
werden kann. Dies gilt gerade in Bezug auf die Bildungsreformpolitik während der Sattelzeit (17701830), wobei insbesondere die Entwicklung in Preußen interessant ist (Tenorth 2000,
Jeismann/Lundgreen 1987, Roessler 1961). Denn zu dieser Zeit gab es nicht bloß eine dynamische
Entwicklung in der Philosophie und dem pädagogischen Denken, man setzte sich sowohl in Theorie
als auch in der Praxis damit auseinander, welches das passende Modell politischer Steuerung für die
entstehende und nicht mehr aufzuhaltende Industriegesellschaft sein kann.
Die Französische Revolution und ihre Folgen (Napoleon) haben wesentlich zur Zerstörung des
herkömmlichen (aufgeklärt-) absolutistischen Systems beigetragen. Die sich beschleunigende
Industrialisierung führte zudem zu einer Zerstörung der früheren Stände-Gesellschaft und zur
Herausbildung einer funktional differenzierten modernen Gesellschaft. Philosophen wie Kant, Fichte
und Hegel reflektierten sehr genau diesen Veränderungsprozess, der notwendigerweise zu einer
Neubestimmung der Vorstellungen von Staat, Politik und Gesellschaft sowie der sich verändernden
Rolle der Kirche und der Religion insgesamt führte. Es entwickelte sich nicht nur die kapitalistische
Klassengesellschaft, es entstanden mit dieser auch gravierende Widersprüche zwischen dem
herkömmlichen Regierungssystem, dem sich konstituierenden Bürgertum, dem entstehenden
Proletariat, der Kirche und dem Adel (Reinhardt 1999).
Die Philosophie stärkte die Idee der Freiheit und der Selbstbestimmung, die nunmehr auch im
politischen Denken des 19. Jahrhunderts nicht mehr zu vernachlässigen war. Man entwickelt neue
Ideen eines Staates, der nicht mehr aus Untertanen, sondern aus mündigen Bürgern bestand, woraus
sich unmittelbar ergab, genauer die Wechselbeziehungen zwischen Staat, Erziehung und Gesellschaft
zu untersuchen:
„Die Errichtung eines staatlichen Unterrichtswesens setzt eine Vorstellung vom Zusammenhang der
öffentlichen Erziehung mit dem Staatszweck, also eine Koinzidenz von Pädagogik und Politik voraus.“
(Jeismann in Jeismann/Lundgreen 1987, 106).
Im 19. Jahrhundert entstanden die bis heute relevanten politischen Strömungen des Liberalismus,
des Konservativismus und des Sozialismus, es entstand die Ideen eines Sozial- und Kulturstaates, der
sich in anderer Weise als der herkömmliche Polizeystaat um das Wohlbefinden der Bürgerinnen und
Bürger kümmert.
40
Das Bildungssystem spielte bei diesen anvisierten Veränderungsprozessen eine entscheidende Rolle
und es waren – gerade in Preußen – in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts die Bedingungen für
eine Veränderung recht günstig, denn es gab einen Schulterschluss zwischen einer reformwilligen
Regierung, einer qualifizierten Verwaltung und einem ambitionierten philosophischen und
bildungstheoretischen Diskurs. Obwohl diese Sattelzeit gerade für Preußen in der
Geschichtswissenschaft, der Pädagogik und in der Philosophie gut untersucht ist, kommt Jeismann
(a.a.O., 106) zu dem Schluss:
„Von einer einhelligen Urteilsbildung über Motive und Folgen staatlicher Schulpolitik und die darauf
einwirkenden gesellschaftlichen Gruppen sind wir jedoch weit entfernt; insbesondere ist die Frage
nach dem Verhältnis von sozial mobilisierenden zu sozial stabilisierenden Wirkungen des staatlich
gelenkten Erziehungswesens umstritten. Die Bedeutung des staatlichen Bildungswesens für die
Geschichte der Mentalitäten ist bisher überhaupt noch wenig beachtet worden und bedarf
gründlicher Untersuchung.“
Immerhin zeigen entsprechende Untersuchungen, dass es nicht bloß im Bereich der pädagogischen,
staatstheoretischen, verwaltungswissenschaftlichen und philosophischen Theorienbildung erhebliche
Kontroversen gab, auch in der politischen Praxis weiß man um den Einfluss unterschiedlicher Akteure
und die Komplexität der Verschränkung unterschiedlicher Entwicklungstendenzen:
„…die Umstrukturierung des durch Unterricht vermittelten Wissensbestandes unter der Herrschaft
eines neuen Bildungsbegriffes; die Neuorganisation der Schule nach Typen, der Lehrerbildung, der
Fachverwaltung; die Heranbildung von wissenschaftlichem, technisch-wirtschaftlichem und
verwaltungspolitischen Sachverstand, der die Effizienz im politischen wie wirtschaftlichen Bereich
steigerte; die Auflösung der schon labil gewordenen ständischen Gesellschaftsordnung; die
Überlagerung der Reste dieser Sozialordnung durch eine nach Bildungsart und Bildungshöhe sich
differenzierende „Bildungsgesellschaft“, deren Trennlinien sich nicht mit denen der jüngeren
kapitalistischen Klassenbildung decken; die Forderung der Gebildeten nach politischer Partizipation,
d.h. nach Transformation des absolutistischen Verwaltungsstaates in den Verfassungsstaat.“
Und weiter:
„So traten eine Vielzahl von ideellen und materiellen Widersprüchen zwischen den Zielen und
Interessen der Beteiligten auf. Die Konzeption der Erziehung und die Organisation des
Unterrichtswesens wurden zu Faktoren im Kampf um die politische Ordnung und die Gliederung der
Gesellschaft.“ (ebd., 105f.)
Wir haben es also mit verschiedenen Akteuren und Akteursgruppen zu tun, die jeweils
unterschiedliche Interessen verfolgen und die sich dabei auf veritable Reflexionen aus Wissenschaft
und Philosophie beziehen können. In moderner Sprache: Es gibt also auch in dieser frühen
Reformzeit eine komplexe Akteurskonstellation, es gibt einen Diskurszusammenhang, bei dem es um
die Durchsetzung gruppenspezifischer Interessen geht. Ein Grundcharakteristikum dieses
Diskurszusammenhanges ist dabei der Widerspruch zwischen den jeweiligen Interessen und den
darauf basierenden Forderungen.
Die schon ältere Schrift von Romberg (1979), die aus dem Kontext der Verfassungsgeschichte (Ernst
Rudolf Huber) stammt, beschreibt nicht bloß präzise die handelnden Personen und Akteursgruppen
41
(Kirche, Parteien, Kommunen, der Lehrerstand, Eltern und Schüler und Verwaltung), sie stellt ihre
philosophischen, pädagogischen und staatstheoretischen Grundüberzeugungen zusammen mit ihren
politischen Vorschlägen (Humboldt, Fichte, Zöllner, Krug, Schleiermacher, vom Stein, Süvern u. a.)
vor, sie macht auch deutlich, wie stark die Rolle der sich entwickelnden staatlichen Verwaltung
gerade in der Bildungspolitik war.
Man muss sehen, dass auch Autoren, die in Darstellungen des pädagogischen Denkens ein wichtige
Rolle als Bildungstheoretiker spielen (Humboldt, Schleiermacher, später Troeltsch) ihre politische
Wirksamkeit nur in ihrer oft kurzen Zeit als hohe Verwaltungsbeamte entfalten konnten. Immer
wieder betont die Autorin nicht nur die nicht zu überschätzende Rolle des Bildungssystems bei der
Umsetzung einer bestimmten Vorstellung des Staates, sie zeigt auch, dass der entscheidende
Machthaber in diesem Prozess die Schulverwaltung war.
Pädagogik und Politik sind also zwei Seiten derselben Medaille, wobei der zentrale Hebel der
Wirksamkeit die Verwaltung ist:
„Die Reform des Bildungswesens war ein integrierender Bestandteil der gesamten preußischen
Reformen. In der fruchtbarsten Reformphase (1808-1814) stimmten die leitenden Politiker und die
neuen humanistischen Schulreformer in ihren Konzeptionen grundsätzlich überein, dass sich bei der
Neugestaltung des Staatswesens Politik und Pädagogik wechselseitig bedingen.“ Und weiter: „Bei der
Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen der neuen humanistischen Bildungsreform ist die
spezifische Interessenkonstellation zu berücksichtigen, innerhalb derer die Bildungsreformer
handelten. Der vornehmliche Träger der Reform war die nach Herkunft und Interessenslage in
besonderer Weise auf den Staat bezogene gebildete Beamtenschaft, die eine Mittelstellung einnahm
zwischen der im Revolutionszeitalter vorübergehend geschwächten Herrenklasse und dem erst im
Entstehen begriffenen, politisch einflusslosen Wirtschaftsbürgertum.“ (Herrlitz/Hopf/Titze 1993, 43f.)
Der Governance-Ansatz als neuer Weg der politischen Steuerung
Der Staat, so wie wir ihn heute kennen, ist ein integraler Bestandteil der Entstehung der modernen
Gesellschaft. In ökonomischer, kultureller und politischer Hinsicht hat sich die Notwendigkeit
ergeben, eine Alternative für das nicht mehr funktionierende herkömmliche Modell einer
absolutistischen Monarchie zu suchen. Seit Beginn der Neuzeit denken daher Philosophen und
andere Theoretiker darüber nach, wie dieses neue Element „Staat“ beschaffen sein muss, welches
seine Bestimmungsmerkmale sind, wie es zustande kommen kann, welche Aufgaben es haben soll.
Vom „Leviathan“ (Hobbes), also einem starken Staat unter der Herrschaft eines absoluten
Monarchen, bis zu den zeitgenössischen Formen des Staates in einer parlamentarischen Demokratie
stellt sich die Frage, wie der Einfluss dieses Staates auf das Leben seiner Bürger gesichert werden
kann. Dabei variieren die Vorstellungen über die Zugriffsmöglichkeiten und die Zuständigkeiten
dieses Staates bis heute: von einem reinen (liberalen) „Nachtwächterstaat“, der sich lediglich um die
Sicherheit seiner Bürger kümmern muss, bis zu einem Wohlfahrtsstaat, der sich umfassend für das
gute Leben seiner Bürgerinnen und Bürger kümmert, reicht das Spektrum.
Allerdings gibt es spätestens seit der (zum Teil gescheiterten) Reformpolitik der 1960er und 1970er
Jahr einen Konsens darüber, dass Vorstellungen einer direkten Steuerung gesellschaftlicher (also
42
ökonomischer, kultureller oder sozialer) Prozesse durch den Staat nicht funktionieren. Vor diesem
Hintergrund geistert seit einigen Jahrzehnten das Konzept der Governance durch die Debatten:
„Governance impliziert, dass staatliches Handeln nicht oder nicht allein in der Form hierarchischer
Steuerung, sondern in Kooperation mit privaten Akteuren stattfindet. Umstritten bleibt dabei,
welche Form der Interaktion zwischen staatlichen und privaten Akteuren unter Governance gefasst
werden sollen.“ (Blumenthal 2014, 87).
Nach wie vor gibt es dabei keinen Konsens darüber, wie der Ansatz konkret zu definieren ist bis hin
zu der kritischen Anfrage, ob es sich dabei vielleicht lediglich um ein Modebegriff handelt. Immerhin
wird der Begriff in unterschiedlichen Disziplinen verwendet: Politikwissenschaft, Soziologie,
Ökonomie, Rechtswissenschaft und nicht zuletzt auch in der Bildungsforschung.
Bei allen unterschiedlichen Verwendungsweisen geht es dabei um die Erfassung von vier
Dimensionen:
– sich wandelnde und neue Akteurskonstellationen
– sich wandelnde und neue institutionelle Arrangements und Regelungsstrukturen
– sich auflösende, bzw. verwischende bisherige Grenzziehungen wie etwa zwischen National und
International, öffentlich und privat, formal und informal
– sich wandelnde oder neu zu entwickelnde Legitimationskonzepte, die die Geborgenheit
nationalstaatlicher Legitimationskonzepte überwinden. (Schuppert, zitiert nach Blumenthal a.a.O.,
95)
Die Problematik des Governance-Ansatzes liegt auch darin, dass er offenbar mit zwei
unterschiedlichen normativen Orientierungen verwendet werden kann: einer „sozialdemokratischetatistischen Philosophie“ und andererseits mit einer „liberalen oder auch kommunitarischen
Auffassung“ (so Offe, zitiert nach Blumenthal a.a.O., 104).
Noch etwas präziser werden die Dimensionen dieses Ansatzes bei Altrichter/Maag Merki (2010, 17
ff.) benannt:
– viele Steuerungsakteure mit multiplen Interessen
– Akteure und Systeme mit Eigenlogiken und Eigendynamiken
– Verselbstständigung und Verschränkung – keine direkte Steuerung, aber indirekte Beeinflussung
durch aktive Übersetzungsvorgängen
– Intentionale Gestaltung mit teilweise transintentionalen Ergebnissen.
Neben der Frage der Optimierung von Steuerung spielte bei der Einführung des GovernanceKonzeptes gerade auf internationaler Ebene (Vereinte Nationen) auch eine Rolle, dass die Politik sich
dort wesentlich auf Staaten mit einer sehr begrenzten Legitimation stützen kann. Von daher gab es
ein Interesse, neben den offiziellen Machthabern auch zivilgesellschaftliche Organisationen als
43
politische Gestalter anzuerkennen. Vor diesem Hintergrund ist die offiziöse Definition einer
entsprechenden Kommission entstanden:
„Ordnungspolitik bzw. Governance ist die Gesamtheit der zahlreichen Wege, auf denen Individuen
sowie öffentliche und private Institutionen ihre gemeinsamen Angelegenheiten regeln. Es handelt
sich um einen kontinuierlichen Prozess, durch den kontroverse und unterschiedliche Interessen
ausgeglichen werden und kooperatives Handeln innitiiert werden kann. Der Begriff umfasst sowohl
formelle Institutionen und mit Durchsetzungsmacht versehene Herrschaftssysteme als auch
informelle Regelungen, die von Menschen und Institutionen vereinbart oder als im eigenen Interesse
angesehen wird.“ (Commission on Global Governance 1996, Seite 4)
Begriffe, die im Kontext dieser Debatten immer wieder genannt werden sind: Mehrebenensystem,
Kooperation zwischen öffentlichen, zivilgesellschaftlichen und wirtschaftlichen Instanzen, Vielfalt von
Akteuren und damit verbunden eine Vielfalt von Steuerungslogiken.
Insbesondere im Hinblick auf die Zusammenarbeit zwischen Staat und Wirtschaft und auf die sich
verändernde Rolle der Verwaltung kann als Bestandteil des Governance-Ansatzes die Einführung des
Neuen Steuerungsmodells (New Public Management) gesehen werden mit all seinen inzwischen
hinreichend diskutierten und kritisierten Bestandteilen (Evaluation, Outputsteuerung,
Zielvereinbarungen, Dienstleistungsorientierung, Public Private Partnerships, Abbau und
Privatisierung öffentlicher Aufgaben etc.) (Bogumil/Jann 2005).
Educational Governance
Speziell in der Bildungspolitik hat sich gezeigt, dass der Versuch einer top down Steuerung des
Bildungssystems nicht funktioniert. Daher stellte sich gerade in diesem Bereich mit besonderer
Vehemenz die Frage, wie Innovationen in die Breite des Bildungssystems gelangen können. Vor
diesem Hintergrund gibt es in den letzten Jahren verstärkt Bemühungen, Elemente des GovernanceAnsatzes in der Bildungspolitik zu etablieren, zum Teil, ohne dies explizit so zu benennen, zum Teil
unter dem neuen Label der "Educational Governance".
Altrichter/Maag Merki (2010, 35) identifizieren drei Kernbereiche der Umsetzung des Neuen
Steuerungsmodells im Bildungswesen:
– Schulautonomie und Erhöhung einzelschulischer Gestaltungsspielräume
– Verbetrieblichung der Einzelschule
– evidenzbasierte Bildungspolitik und Schulentwicklung (Bildungsstandards und Qualitätsrahmen,
Lernstandserhebungen und Schulinspektionen, Bildungsberichterstattung und -monitoring).
Zumindest in der Wissenschaft hat dieser Ansatz inzwischen reiche Früchte getragen, denn es
werden immer mehr Professuren im Bereich der Erziehungswissenschaft im Hinblick auf diese
Dimensionen umdefiniert. Daher ist es nötig, sich immer wieder möglicher Kritikpunkte an diesem
Ansatz zu vergewissern. Es gibt dabei eine globale Kritik an dem Ansatz insgesamt, so wie sie in der
Politikwissenschaft formuliert wird: So wird beklagt, dass es ein normatives Defizit dieses Ansatzes
gibt. Man kann zudem feststellen, dass der Machtaspekt kaum berücksichtigt wird. So ist zwar für
jeden ersichtlich, dass es diese Vielzahl unterschiedlicher Akteure gibt, doch wird man feststellen
44
müssen, dass bei den unterschiedlichen Akteure in der Regel nicht berücksichtigt wird, woraus sie
ihre Legitimation für ihre Einmischung beziehen. Zudem wird nicht reflektiert, dass die
unterschiedlichen Akteure einen unterschiedlich großen Einfluss auf die Gestaltung haben können.
Kritik wird zudem an einzelnen Elementen dieses Ansatzes geübt. Man hat ihn zuerst bei der Reform
der Kommunal-Verwaltung Ende der 1980er Jahre angewandt („Tillburger Modell“). Hierbei ist man
von der neuen Sichtweise ausgegangen, die Kommunen und ihre Verwaltungen als Unternehmen zu
sehen, die für ihre Kunden (die Bürgerinnen und Bürger) Dienstleistungen zu erbringen haben. In
diesem Kontext sind viele kommunale Einrichtungen privatisiert worden. Jahre später hat man
erkannt, dass eine Kommune ein politisches Gebilde und kein Unternehmen ist von daher nur
begrenzt einer betriebswirtschaftlichen Sichtweise zugänglich sein kann. Zudem hat man bemerkt,
dass die in der Anfangszeit euphorisch betriebenen Privatisierungen kommunaler Einrichtungen auch
in einer ökonomischen Perspektive wenig erfolgreich waren.
Im Bereich der Erziehungswissenschaft gibt es inzwischen eine reichhaltige kritische Diskussion über
die unterschiedlichen Elemente der educational governance (diese beginnt bei PISA, dem
Bildungsverständnis, der zu starken Orientierung an ökonomischen Bedürfnissen, dem Verlust an
theoretischer und historischer Reflexion, der Unterstellung einer Verwertungslogik etc.).
Cultural Governance
Das demokratisch-parlamentarische System hat sich – nach dem Scheitern eines ersten Versuches
nach dem Ersten Weltkrieg – 70 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland stabilisiert.
Allerdings ist das staatstheoretische Erbe des 19. Jahrhunderts immer noch lebendig, denn nach wie
vor gibt es einen Meinungsstreit darüber, welche Rolle der Staat in der Gesellschaft zu spielen hat.
Man kann sagen, dass sich Behauptungen eines Staatsversagens und eines Marktversagens immer
wieder abwechseln, wobei dann zur Behebung des Staatsversagens die Rolle eines marktorientieren
Denkens in den Vordergrund tritt (Neues Steuerungsmodell) und im Falle eines Marktversagens der
Ruf nach einem stärker regulierenden Staat stärker wird (Beispiel Finanzkrise). Nach wie vor
existieren die im 19. Jahrhundert entstandenen politischen Philosophien und die damit verbundenen
Staatsmodelle (Liberalismus, Konservativismus, Sozialismus), wobei sich Sozialismus und
Konservativismus einig darin sind, dass der Staat eine sehr viel größere Rolle als im Rahmen eines
philosophischen und politischen Liberalismus spielen sollten. Das Problem mit dem aktuellen, als
Partei organisierten Liberalismus besteht zur Zeit darin, dass von den zwei Standbeinen des
philosophischen Liberalismus, nämlich die Betonung des freien Individuums und seiner Bürgerrechte
auf der einen Seite und die These von einem notwendigen freien Markt auf der anderen Seite die
wirtschaftsliberale Denkweise eindeutig dominiert, so dass es ein Defizit im Bereich der Vertretung
der Bürger- und Menschenrechte gibt (abzulesen etwa an Fragen wie der Vorratsspeicherung). In
jedem Fall kann man feststellen, dass die Rolle des Staates im Rückzug ist und ehemals von der
öffentlichen Hand bereitgestellte Leistungen trotz inzwischen vorliegender schlechter Erfahrungen
weiter privatisiert werden sollen.
Trotzdem scheint gerade im deutschen praxisbezogenen politischen Denken die spätestens mit
Fichte und Hegel prominent gewordene Idee eines Staates als einer über allen Interessen stehende
Instanz eine wichtige Rolle zu spielen. So wurde in den letzten Jahren der Gedanke eines
„aktivierenden Staates“ entwickelt, der sich zwar aus der bislang öffentlichen Bereitstellung
45
bestimmter Leistungen (etwa im Sozialbereich) zurückzieht, der aber zumindest in einer
strukturierenden und impulsgebenden Funktion weiterhin eine zentrale Rolle spielen will. In der
Kulturpolitik hat man den Gedanken eines „Kulturstaates“ oder sogar die Idee eines "aktivierenden
Kulturstaates" (Scheytt 2008, zur Kritik vgl. Fuchs 2011) aus dem frühen 19. Jahrhundert wieder
aufgegriffen, wobei es heute primär um die Sicherstellung der kulturellen Infrastruktur durch die
öffentliche Hand geht. Dabei hat man kaum reflektiert, dass zum einen der "Kulturstaat" des 19.
Jahrhunderts sich im Wesentlichen um Fragen der Bildung bzw. um das Verhältnis zur Kirche
kümmerte (Romberg 1979) und die Erhaltung der kulturellen Infrastruktur – die ohnehin vor allem in
kommunaler Hand war – keine große Rolle spielte (Wagner 2009). Zum anderen hat man das
dahinter stehende problematische Verständnis von Staat und Gesellschaft kaum berücksichtigt. Es
gibt also (immer noch) eine starke etatistische Tradition in Deutschland, wobei es durchaus zu
eigenartigen Verbindungen von Gedanken eines aktivierenden Kulturstaates mit der Denkweise des
neuen Steuerungsmodells gibt (so tendenziell in Deutscher Bundestag 2008, 125ff., vgl. auch
Knoblich/Scheytt 2009).
Ein anerkannter Grundsatz des modernen Staatsdenkens besteht in der Anerkennung des
Gewaltmonopols des Staates. Ein Blick nicht nur in die europäische Geschichte, sondern auch in
diejenigen Regionen der Welt, in denen es keine entwickelte Form von Staatlichkeit gibt und in
denen daher Warlords und terroristische Banden miteinander um die Herrschaft streiten, überzeugt
sofort von der Notwendigkeit eines solchen Prinzips. Doch muss man unterhalb dieser
Auseinandersetzungen, in denen körperliche Gewalt eine entscheidende Rolle spielt, sehen, dass
auch im modernen demokratischen Staat mit seinem Gewaltmonopol problematische Erscheinungen
auftreten. Es ist gerade die Dimension des Sozialstaates, die immer wieder zu Problematisierungen
führt. Denn zum einen ist die Errichtung eines sozialen Netzes eine wichtige zivilisatorische
Errungenschaft (auch wenn bei der Geburt der Sozialpolitik in der Zeit von Bismarck weniger
altruistische und philanthropische Motive eine Rolle spielten, sondern der Erhalt der Massenloyalität
angesichts einer wachsenden sozialdemokratischen Gefahr), zum anderen führt gerade der Ausbau
des Sozialstaates zu einer enormen Vergrößerung der Verwaltung der entsprechenden Etats, die
durchaus in Kategorien von Macht und Gewalt analysiert werden können. Man muss einfach davon
ausgehen, dass wichtige Grundprinzipien unserer Verfassung miteinander in einem
Spannungsverhältnis stehen, hier etwa das Sozialstaatsprinzip mit der Frage der Menschenwürde.
Auch im Kulturbereich sind derartige Spannungen zu spüren, wenn man einerseits eine öffentliche
Förderung von kulturellen Einrichtungen wünscht (wobei jeder weiß, dass eine Mittelvergabe auch
ein wirksames Instrument von Macht ist), und man sich andererseits auf die Kunstfreiheitsgarantie
des Grundgesetzes bezieht.
Unsere gesellschaftliche Entwicklung hat dazu geführt, dass der Einzelne immer wichtiger wurde.
Allerdings wurde dies in den Wissenschaften durchaus kritisch diskutiert, da es nämlich geradezu zu
einem Ich-Kult gekommen ist, der den Einzelnen weit gehend losgelöst aus sozialen Bindungen
(Individualisierungsthese) und nur noch als konsumierenden Einzelnen betrachten kann.
46
Kulturelle Bildung und Educational Governance
Zu der Entwicklung der modernen Gesellschaft gehört eine Ausdifferenzierung der verschiedenen
Praxis- und Theoriefelder, so dass sich spätestens seit dem 18. Jahrhundert (vorbereitet durch einen
längeren Vorlauf; vgl. Fuchs 2012) nicht bloß die gesellschaftlichen Subsysteme entwickeln, sondern
auch die verschiedenen Theorie- und Praxisfelder an Eigenständigkeit gewinnen. So diskutiert man
die Frage des Wahren, Guten und Schönen, also die klassischen philosophischen Disziplinen der
Erkenntnistheorie, der Moralphilosophie und der Ästhetik, zunehmend getrennt voneinander,
obwohl noch Kant die drei entscheidenden Fragen (Was kann ich wissen? Was darf ich hoffen? Was
soll ich tun?) in der einen Frage gebündelt sah: Was ist der Mensch?
Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der Praxis- und Theoriefelder stellt sich dann das Problem
nach dem Zusammenhang, etwa zwischen Ethik/Politik und Ästhetik. Schiller hat in seinen Briefen zur
ästhetischen Erziehung einen raffinierten Entwurf vorgelegt, der gerade in einer autonomen Kunst
das wirkungsvollste Mittel einer humanistischen Gesellschaftsreform sah. Hannah Arendt hat in
diesem Zusammenhang unter Bezug auf Kant (Kritik der Urteilskraft, 1790) einen interessanten
Deutungsvorschlag unterbreitet. Ihr innovativer Ansatz besteht darin, in dieser ästhetischen
Hauptschrift von Kant eine politische Philosophie zu erkennen (Arendt 2012). Kant setzt sich nämlich
mit der Frage auseinander, inwieweit man bei der höchst individuellen Bildung von
Geschmacksurteilen doch von einer gewissen Allgemeingültigkeit sprechen kann. Er gibt sich nicht
mit der auch damals schon verbreiteten These zufrieden, über Geschmack könne man nicht streiten.
Er findet den gemeinsamen Nenner, die Basis also dafür, dass auch individuelle Geschmacksurteile
einen überindividuellen Geltungsbereich haben können, darin, dass es einen sensus communis, einen
Gemeinsinn, gibt, den alle Menschen teilen. Seine Grundidee besteht darin, dass auch bei einem
individuellen ästhetischen Geschmacksurteil der Mensch nicht aus seiner sozialen Eingebundenheit
aussteigen kann, sondern die Gemeinschaft quasi mit ihrer Urteilsfähigkeit ein Teil seines Selbst ist.
Hierin sieht Hannah Arendt auch die Basis einer politischen Philosophie, denn auch die Konstitution
des Politischen setzt voraus, dass die beteiligten Menschen eine Gemeinsamkeit haben. Das
Ästhetische wird so zu einem Erprobungsfeld für das Politische.
Nachdem oben skizziert wurde, dass es bei der Entstehung und dem Ausbau des öffentlichen
Bildungs- und Erziehungswesens allen Beteiligten immer bewusst war, dass Politik und Pädagogik
zwei einander bedingende Seiten derselben Medaille sind, kann nunmehr als drittes Element das
Ästhetische in das Denken einbezogen wird. Es liegt auf der Hand, dass dies von höchster Bedeutung
nicht nur dann ist, wenn man über Theorien der kulturellen und ästhetischen Bildung nachdenkt. Es
ist offensichtlich, dass dies auch dann eine zentrale Rolle spielen muss, wenn man über kulturelle
und ästhetische Bildung als Praxisfeld und die Möglichkeiten seiner politischen Gestaltung
nachdenkt.
Im Folgenden sollen einige Bestandteile der Überlegungen zu einer neuen politischen Steuerung im
Hinblick auf kulturelle Bildung angesprochen werden.
Mehrebenensystem
Entsprechend unserem föderalen Aufbau lassen sich die kommunale, die Länder- und die
Bundesebene unterscheiden. An Relevanz gewinnt zudem die europäische und internationale Ebene
47
(Europäische Union, Europarat, UNESCO, Vereinte Nationen, OECD). In der Erziehungswissenschaft
unterscheidet man zudem die Mikro-, die Meso- und Makroebene, wobei die Mikroebene die
unmittelbare pädagogische Arbeit erfasst, sich die Meso-Ebene auf die Institution bezieht und die
Makroebene die politischen Rahmenbedingungen reflektiert. Offensichtlich setzt diese
Unterscheidung die politische Unterscheidung eines Mehrebenensystems nach unten fort.
Kulturelle Bildung findet zudem zumindest in der Schul-, in der Kultur- und in der Jugendpolitik statt.
Es ergibt sich so eine Matrix, bei der man in jedem dieser drei Politikfelder die oben beschriebenen
Ebenen unterscheiden kann. Es lässt sich nunmehr fragen, in welcher Weise kulturelle Bildung in
jedem dieser Matrixfelder behandelt wird.
Eine solche systematische Untersuchung liegt bislang noch nicht vor, obwohl es natürlich
politikfeldspezifische Analysen zur kulturellen Bildung gibt (vergleiche etwa die Beiträge von Schäfer,
Sievers und Hübner in kubi-online jeweils zur Jugend-, Kultur- und Bildungspolitik). Ein Vergleich
dieser unterschiedlichen Felder ist deshalb notwendig, weil die verschiedenen Politikfelder eigenen
Handlungslogiken gehorchen, was unter anderem zu einem unterschiedlichen Verständnis der
jeweils benötigten Professionalität führen kann. So treffen etwa bei der Kooperation von Schulen mit
außerschulischen Trägern Personen aufeinander (nämlich Künstlerinnen und Künstler,
Kulturpädagoginnen und Kulturpädagogen und Lehrerinnen und Lehrer), die ihre Sozialisation jeweils
feldspezifisch absolviert haben.
Akteurskonstellationen
Man unterscheidet (in unterschiedlichen Disziplinen) im Hinblick auf die Gesellschaft drei Bereiche:
den Staat bzw. den öffentlich-rechtlichen Bereich, den Markt und den sogenannten „Dritten Sektor“
als den frei-gemeinnützigen Bereich. Die Güter und Dienstleistungen in einer Volkswirtschaft werden
in diesen drei Bereichen bereitgestellt, wobei es für jeden dieser Bereiche unterschiedliche
Handlungsprinzipien und Ziele gibt. Dass eine marktorientierte Bereitstellung von Gütern und
Dienstleistungen sich an dem Prinzip der Gewinnmaximierung orientiert, gehört zur Logik der
kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Zudem gibt es einen Dritten Sektor, in dem ohne Gewinnabsicht
notwendige Güter und Dienstleistungen hergestellt werden, weshalb dieser Bereich auch besondere
Vorzüge in steuerlicher Hinsicht genießt. Die öffentliche Hand wiederum stellt im Rahmen des
Prinzips der Daseinsvorsorge – auch ein Begriff, der im staatstheoretischen Denken des 19.
Jahrhunderts entwickelt und von dem Staatstheoretiker Ernst Forsthoff systematisiert worden ist –
solche Güter und Dienstleistungen bereit, die in den beiden anderen Sektoren nicht bereitgestellt
werden. Wie oben erwähnt, gibt es seit Beginn des bürgerlichen Staates eine Auseinandersetzung
darüber, welcher Bereich jeweils die Verantwortung für die Bereitstellung bestimmter Güter und
Dienstleistungen übernehmen soll.
Dieses Drei-Felder-Schema ist nicht nur interessant im Hinblick auf die Bereitstellungsfunktion, man
kann es auch verwenden im Hinblick auf die Identifikation von Akteuren im Bereich der politischen
Steuerung. Dass der Staat hierbei eine zentrale Rolle spielt, liegt auf der Hand. Aber auch aus dem
Feld des Marktes und dem Dritten Sektor gibt es erhebliche Einmischungen in die politische
Steuerung. Es sind insbesondere die jeweiligen Verbände, die die Interessen der von ihnen
organisierten Institutionen und Menschen artikulieren. Dabei ist die Abgrenzung nicht immer so
einfach, wie es die Aufteilung in drei Felder suggerieren mag. So schließen sich etwa
48
Wirtschaftsbetriebe zu Verbänden zusammen, die wiederum als „zivilgesellschaftliche“
Organisationen auftreten. Auch Stiftungen, die mit privaten Geldern aus dem Bereich der Wirtschaft
errichtet wurden, können aufgrund ihrer Gemeinnützigkeit beanspruchen, zu den
zivilgesellschaftlichen Organisationen gerechnet zu werden, obwohl Motivation und Ausrichtung der
Aktivitäten ihren Ursprung aus dem Feld der Wirtschaft oft nicht verhehlen.
Dieses Drei-Felder-Schema wurde von dem amerikanischen Soziologen Talcott Parsons systematisch
zu einem Vier-Felder-Schema ausgebaut, das die vier gesellschaftliche Subsysteme Wirtschaft, Politik,
Gemeinschaft und Kultur unterschied, die jeweils mit den „Medien“ Geld, Macht, Solidarität und Sinn
kommunizieren. Dieses Vier-Felder-Schema wurde von Helmut Fend bereits vor 40 Jahren dazu
genutzt, gesellschaftliche Funktionen des Bildungssystems generell und auch einzelner
Bildungseinrichtungen zu identifizieren. So erhebt das Subsystem Wirtschaft Anspruch darauf, dass
das Bildungssystem zur Qualifikation der Heranwachsenden beiträgt. Das Subsystem Politik erwartet,
dass die Aufgabe der Legitimation des jeweiligen politischen Systems erfüllt wird. Im Hinblick auf die
Gemeinschaft spricht Fend von den Funktionen der Allokation und Selektion. Im Kulturbereich
schließlich (Kunst, Wissenschaften, Religion) wird erwartet, dass die Funktion der Enkulturation
erfüllt wird.
Auch hierbei lassen sich jetzt in jedem der vier Subsysteme Akteure identifizieren, die die subsystemspezifischen Anliegen und Erwartungen in den politischen Raum kommunizieren und gegebenenfalls
selbst Aktivitäten unternehmen, die ihrem Anliegen einen gewissen Druck verleihen. Die
„Machtmittel“ sind dabei recht unterschiedlich. Die öffentliche Hand hat dabei die üblichen Mittel
des Staates, nämlich Gesetze und finanzielle Förderung, zur Verfügung. Der Bereich der Wirtschaft
kann Geld zur Durchsetzung seiner Interessen einsetzen. Im Bereich der Gemeinschaft kann es zu
Gründungen von Lobbyorganisationen kommen, die bestimmte soziale Interessen verfolgen
(gesellschaftspolitische Themen wie etwa Geschlechterverhältnisse, Nachhaltigkeit und
Umweltschutz, Entwicklungshilfe oder andere humanitäre Anliegen etc.). Auch der Kulturbereich hat
seine Verbände im Bereich der Wissenschaft und der Künste. Zudem mischen sich die Kirchen immer
wieder mit ihren Anliegen in die politischen Gestaltungsprozesse ein.
Ein wesentliches Kennzeichen eines demokratischen Gemeinwesens ist dabei die öffentliche
Kommunikation, also eine gut entwickelte Öffentlichkeit mit einer Vielzahl unterschiedlichster
Medien und Kommunikationsformen. In diesem Feld spielt sich daher auch der Kampf um Einfluss ab
in einer Weise, die etwa Jürgen Habermas im Rahmen seiner Idee einer herrschaftsfreien
Kommunikation zur Grundlage eines demokratischen politischen Denkens genommen hat (durchaus
in der Nachfolge von Hannah Arendt mit ihrer aristotelischen Unterscheidung von Arbeit, Herstellen
und Praxis, vgl. Arendt 1981 und Habermas 1981).
Im Hinblick auf kulturelle Bildung ließe sich jetzt analysieren, welche Entwicklung und
Steuerungsimpulse jeweils aus den vier Subsysteme formuliert und in die öffentliche Kommunikation
gebracht werden, wie das administrative System diese Impulse verarbeitet und in die Praxis
umsetzen will und wie schließlich die Praxis selbst diese Impulse aufgreift und realisiert. Dies wäre
Aufgabe einer zu entwickelnden kulturellen Bildungspolitikforschung, die es bislang bestenfalls in
Ansätzen gibt.
49
Einige Probleme und offene Fragen
Das oben skizzierte Vier-Felder-Schema und die vorgestellte Mehrebenen-Matrix scheinen auf den
ersten Blick eine saubere Strukturierung des Feldes der kulturellen Bildung in Theorie, Praxis und
Politik zu ermöglichen. Es wird jedoch von der angesprochenen empirischen Analyse realer
politischer Gestaltungsprozesse abhängen, ob diese beiden Strukturierungsvorschläge hinreichend
präzise den Sachverhalt beschreiben. Einige Probleme wurden bereits angesprochen, etwa die
Schwierigkeit, bestimmte Akteure wie etwa Stiftungen eindeutig Feldern zuzuordnen. Erschwert wird
dies noch dadurch, dass gerade im Bereich der Stiftungen auch die öffentliche Hand gerne bei der
Organisation der von ihr geförderten Einrichtungen zu diesen juristischen Geschäftsmodellen greift,
was eine eindeutige Zuordnung zu bestimmten Feldern erschwert.
Auch im Bereich des Segments des Staates gibt es Abgrenzungsschwierigkeiten. Viele von uns haben
noch in der Schule gelernt, dass ein Kennzeichen eines demokratischen Staates in der
Gewaltenteilung (Legislative, Exekutive, Rechtswesen) besteht. In der Realität hat es diese saubere
Form der Gewaltenteilung vermutlich nie gegeben. Man muss sich nur einmal anschauen, wer im
Deutschen Bundestag Gesetzesvorlagen einbringt. Die wenigsten Gesetzesvorlagen kommen von
Parlamentsmitgliedern und ihrem (kleinen) Stab von Mitarbeitern, der Großteil der
Gesetzesvorhaben wird von der Regierung vorgelegt, wobei es hier die Aufgabe der
Ministerialbürokratie (also der Verwaltung) ist, nicht bloß die entsprechenden Vorschläge zu
entwickeln, sondern sie auch bis zur Abstimmungsreife auszuarbeiten. Ein anderer Aspekt betrifft das
Bundesverfassungsgericht, das zwar einerseits zu dem Feld des Rechtswesens gehört, dem aber
immer wieder vorgeworfen wird, in den Zuständigkeitsbereich der Legislative und Exekutive
einzugreifen.
Gibt bereits auf nationaler Ebene die idealistische Theorie der Gewaltenteilung nicht, so verschiebt
sich auf der Ebene der Europäischen Union die Macht noch stärker in Richtung Exekutive. Auch wenn
das europäische Parlament in den letzten Jahren an Einfluss gewonnen hat, so hat die Kommission
(als Exekutivorgan der Europäischen Union) und dessen zentrale Kontrollinstanz, der Ministerrat (der
wiederum von den Spitzen der nationalen Exekutive besetzt wird) kaum an Einfluss eingebüßt. Die
Exekutive kontrolliert sich also selbst und die parlamentarische Mitsprache spielt kaum die Rolle, die
sich die Theoretiker der Demokratie vorgestellt haben.
Dies gilt insbesondere im Schulwesen. Es wurde oben bereits angesprochen, dass die zentralen
Entwicklungsimpulse beim Auf- und Ausbau des Schulwesens aus der Bildungsverwaltung kommen.
In der Tat ist es eine Besonderheit der Entwicklung der Nationalstaatlichkeit in Deutschland im 19.
Jahrhundert, dass sich die Verwaltungslehre als Verwaltungswissenschaft als wissenschaftliche
Einzeldisziplin konstituierte und dynamisch entwickelte, weil man sie bei der Qualifikation der
benötigten Fachkräfte in der Verwaltung benötigte. Dies gilt insbesondere für den Bereich der
Schule:
„In der gleichen Zeit gewannen Schulrecht und Schulverfassungsgesetz – beide oft unter einem
dieser Namen zusammengefasst – die Prägung einer selbstständigen Disziplin. Seit der
Reformationszeit war das Schulrecht mit dem Kirchenrecht verschmolzen und nach und nach durch
Verordnung sehr ungleichen Rechtscharakters erweitert worden. Als ein Teil des Staatsrechtes wurde
es zuerst in Preußen (1794), dann auch in anderen Staaten bezeichnet, ohne dass es damit zu einer
eigentlichen Schulgesetzgebung kommen wäre.“ (Flitner 1957, 169).
50
Die Schule und das Bildungswesen insgesamt waren also von Anfang an ein Feld, in dem die
unterschiedlichen Akteure Einfluss gewinnen bzw. sichern wollten. Ging es zunächst darum, die
Schule aus der Verantwortung der Kirche in die Verantwortung des Staates zu übernehmen, so
mischen sich zunehmend Kräfte aus der Wirtschaft in die Schulpolitik ein, wobei das staatliche
Interesse an der Schulpolitik immer auch darin bestand, die Loyalität der Massen zu dem jeweiligen
politischen System zu erhalten. Man findet in dieser Konstellation ohne Probleme die
gesellschaftlichen Funktionen wieder, sowie Sie Fend auf der Basis des Vier-Felder-Schemas
entwickelt hat.
Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass sich dies in der aktuellen Situation geändert hätte. Es
wäre daher durchaus von Interesse, auch im Hinblick auf die kulturelle Bildung zu untersuchen,
welche Interessen die unterschiedlichen Akteure in den verschiedenen gesellschaftlichen Feldern
und diese dann auch mit welchen Maßnahmen verfolgen. Es handelt sich also um Aspekte der
Macht, wobei man mit einer gewissen Verwunderung feststellen kann, dass seit den machtsensiblen
Diskursen aus der Zeit der 1960er und 1970er Jahren es geradezu verpönt erscheint, solche
Fragestellungen im Feld der kulturellen Bildung zu verfolgen.
Bei aller Nützlichkeit des Vier-Felder-Schemas ist dabei zu berücksichtigen, dass dieses Schema eine
gewisse Gleichberechtigung der vier Felder suggeriert, die in der Praxis so nicht gegeben ist. So kann
man feststellen, dass es in den letzten Jahren zwar nach wie vor eine Machtdominanz der
Verwaltung bei der Gestaltung der Praxis gibt, dass aber in dem politischen Aushandlungsgeschäft
die demokratisch verfassten zivilgesellschaftlichen Organisationen im Jugend- und Kulturbereich an
Einfluss verlieren zu Gunsten von Akteuren, die ihre Legitimität im Wesentlichen aus der Verfügung
über Geldmittel beziehen. Gerade Ansätze, die im Rahmen eines Educational Governance-Ansatzes
propagiert werden, etwa der Gedanke einer Public-Private-Partnership, liefern dieser
Machtverschiebung ein theoretisches Fundament.
Ebenso wie in theoretischer Hinsicht der Ansatz von Hannah Arendt Hinweise darauf gibt, dass die
Felder des Ästhetischen und des Politischen möglicherweise mehr miteinander zu tun haben, als ein
oberflächlicher Autonomiediskurs heute suggerieren will, scheint es notwendig zu sein, auch in der
Kulturpädagogik die politische Naivität abzulegen.
Literatur
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Perspektiven der Governance-Forschung. In: Maag Merki u.a. 2010.
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52
5. Kulturelle Bildung, das Subjekt und die Menschenrechte
Kulturelle Bildung als Teil der Subjektivität des Menschen
Bildung verstanden als Lebenskompetenz (siehe Kapitel 1) ist die Fähigkeit zur bewussten Gestaltung
eines guten, gelungenen und glücklichen Lebens. Bereits in dieser Begriffsbestimmung tauchen
notwendigerweise zentrale Kategorien der praktischen Philosophie wie das gute Leben oder Glück
auf. Dahinter steckt ein Menschenbild, das im Wesentlichen mit der Neuzeit verbunden ist: der
Mensch ist Gestalter seiner selbst.
Diese aktive Form des bewussten Umgangs mit sich, mit anderen und mit der Welt gilt als
Kernelement des Subjektbegriffs. Überzieht man allerdings diesen Gestaltungsaspekt (so wie es etwa
in der Romantik geschehen ist), dann handelt man sich zurecht die Kritik ein, die ab der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts am Subjektbegriff geübt wird und die insbesondere mit der Postmoderne
im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielt. Berücksichtigt man allerdings die
Dialektik von Autonomie und Heteronomie, dann gelangt man zu einem Konzept von
Handlungsfähigkeit, ohne das Pädagogik nicht auskommt.
Sinnvoll ist dabei die Unterscheidung, die Klaus Holzkamp vorgeschlagen hat: nämlich von einer
restringierten und einer verallgemeinerten Handlungsfähigkeit zu sprechen, wobei sich eine
restringierte Handlungsfähigkeit auf das Handeln im Rahmen gegebener Bedingungen bezieht und
eine verallgemeinerte Handlungsfähigkeit in die Gestaltung dieser Rahmenbedingungen eingreift.
Kulturelle Bildungsangebote bieten eine Möglichkeit, eine solche Handlungsfähigkeit zu erlernen und
einzuüben und sind daher ein wichtiger Bestandteil bei der Konstitution von Subjektivität.
Ein Subjekt im Verständnis dieses Textes überprüft daher auch kritisch die Verhaltenserwartungen,
die die Gesellschaft an es stellt. Wichtig an diesem Prozess ist dabei die Möglichkeit, inakzeptable
Handlungsanforderungen abzulehnen. Daher ist Widerständigkeit ein zentrales Bildungsziel. In dieser
Hinsicht hat kulturelle Bildung wie jede Form von Bildung eine politische Dimension. Es geht dabei
auch darum, eine klassische Tradition des Bildungsbegriffs zu bewahren, in der die Sehnsucht nach
Frieden und ein Widerstand gegen Gewalt spätestens seit der Zeit des Dreißigjährigen Krieges
(Comenius) ein integraler Bestandteil des Bildungskonzeptes war. Der Begriff der Bildung gehört
daher zu einem Begriffsgeflecht weiterer großer Begriffe aus der praktischen Philosophie wie
Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität.
Auch in einer zweiten Hinsicht berührt der Bildungsdiskurs diese großen Begriffe, wenn es nämlich
um die politische Gestaltung des Bildungssystems geht. Nicht von ungefähr spricht man auf der Basis
der letztlich empörenden Ergebnisse der PISA-Studien verstärkt von Bildungsungerechtigkeit, von
Ungleichheit im Bildungssystem, von struktureller Demütigung. Der Begriff der Menschenwürde, so
wie er in der Renaissance unter anderem von Pico della Mirandola formuliert wurde, kann dabei als
wichtigster Begriff gesehen werden, auf den sich alle anderen Begriffe wie Freiheit, Gleichheit,
Gerechtigkeit oder Sicherheit beziehen.
53
Zur Menschenwürde
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ So heißt es in Art. 1 des Grundgesetzes. Später ist dann
von einem Bekenntnis des Deutschen Volkes zu den „unverletzlichen und unveräußerlichen
Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der
Gerechtigkeit in der Welt“ die Rede. Man sagt, dass die anschließenden Artikel des Grundgesetzes
nur dazu dienen, den zentralen Begriff der Menschenwürde zu präzisieren.
Damit ist dieser Begriff natürlich auch für die praktische Pädagogik und Erziehungswissenschaft
hochrelevant. Diese Relevanz wird durch weitere, eher zufällig herausgegriffene Befunde
unterstrichen. Wenn etwa im ersten Pisa-Bericht davon die Rede ist, dass unser Schulsystem mit
„struktureller Demütigung“ in Verbindung gebracht werden muss, dann muss man dies auch mit der
Kategorie (verletzter) Menschenwürde in Verbindung bringen. Bei aller noch durchzuführenden
notwendigen Präzisierung der Begrifflichkeit wird man zudem Gewalt (etwa gegen Kinder) als
gravierenden Verstoß gegen die Menschenwürde sehen. Von diesem Hintergrund wird es
überraschen, dass Deutschland erst im Jahre 2000 den Paragraphen 1631 BGB eingeführt hat, der
gewaltfreie Erziehung gesetzlich vorschreibt (Schweden: 1979). Dies hat insofern mit dem durchaus
schillernden Begriff der Menschenwürde zu tun, als man zumindest in einer ersten Annäherung
Gewalt oder Demütigung als Gegenbegriff zur Menschenwürde verstehen kann. Doch was versteht
man positiv darunter?
Als ein früher wichtiger Theoretiker gilt Pico della Mirandola, der in der Renaissance – ohnehin die
Zeit der Entdeckung (Burckhardt) oder sogar Erfindung (Dülmen) der Individualität – das Recht auf
und die Fähigkeit zur aktiven Gestaltung des eigenen Lebens proklamiert hat. Das war insofern neu
und zeugt von einem gestärkten Selbstbewusstsein des Menschen, als im religiösen mittelalterlichen
Denken Gott als zentrale Verantwortungsinstanz für das Leben galt.(Fuchs 2001)
„Würde“ ist also bereits hier erkennbar als Loslösung von vorgegebenen Autoritäten, als Übernahme
von Eigenverantwortung. Der Mensch gilt nunmehr als frei in seiner Gestaltung der Lebensweise.
Dazu gehört die Fähigkeit, selbst zu denken, ganz so, wie Kant es später in seiner bekannten
Definition von „Aufklärung“ formuliert hat: sapere aude, und er beschreibt die Aufklärung als
Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Der Mensch gibt sich die Gesetze
seines Lebens selbst, ist frei und autonom.
Es gibt also ein Netzwerk von Begriffen, die alle aufeinander verweisen: Rationalität und
Selbstdenken, Freiheit und Selbstbestimmung, Selbstgestaltung und Partizipation. Dazu kommt der
zentrale Gedanke in Kants praktischer Philosophie, dass der Mensch niemals als Mittel für einen
fremden Zweck dienen dürfte. Die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen ist Kern der theoretischen
und praktischen Philosophie bei Kant.Mit diesen Überlegungen wird „Menschenwürde“ zu einem
zentralen Begriff der Anthropologie und der praktischen Philosophie.
Daneben wurde er aber auch von dem Rechtsdenken übernommen, wurde ganz so, wie der eingangs
zitierte Art. 1 des Grundgesetzes es formuliert, er wird zu einem Begriff des Verfassungsrechts und
der Menschenrechte. Historisch reagierte man mit dem Begriff auf Verletzungstatbestände: Folter,
Zwangsarbeit, Massenmord, Sklaverei. Als Rechtsbegriff, vor allem als Begriff, der mit
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Straftatbeständen zu tun hat, braucht er jedoch präzisere und handhabbare Abgrenzungen als im
philosophischen Diskurs. Bayertz (1999, 826) zitiert die die folgenden Komponenten:
- Sicherheit des individuellen und sozialen Lebens
- rechtliche Gleichheit der Menschen
- Wahrung menschlicher Identität und Integrität
- Begrenzung staatlicher Gewaltanwendung
- Achtung der körperlichen Kontingenz des Menschen.
In pädagogischen Kontexten – bekanntlich gehörte die Pädagogik lange Zeit zur praktischen
Philosophie – ist es ebenfalls nötig, Unterscheidungen zu treffen. Denn nicht jede Einschränkung der
Autonomie ist gleich eine Verletzung der Menschenwürde. Jeder Einzelne braucht nur die eigenen
Lebensumstände zu betrachten, um zu sehen, wie vielfältig wir eingebunden sind in Regelungssystem
(Gesetze, Verordnungen, Hausordnungen, ungeschriebene Regeln bestimmter sozialer Kontexte,
Satzungen etc.), die unsere Handlungsfreiheit begrenzen. Wir können eben nicht immer und überall
das tun, was wir gerade tun wollen, ohne dass wir unsere Menschenwürde beschädigt sehen.
Hilfreich ist in diesem Zusammenhang das Buch des Philosophen und Schriftstellers Peter Bieri: Eine
Art zu leben (2013). Seine Dimensionen des Würdebegriffs sind die folgenden, die sich dann auch als
Kapitelüberschriften wieder finden:
- Würde als Selbstständigkeit
- Würde als Begegnung
- Würde als Achtung vor Intimität
- Würde als Wahrhaftigkeit
- Würde als Selbstachtung
- Würde als moralische Integrität
- Würde als Sinn für das Wichtige
- Würde als Anerkennung der Endlichkeit.
Es geht also darum, wie ich mit mir umgehe, wie ich mit anderen umgehe und wie andere mit mir
umgehen. Bieri entfaltet seine Begriffsarbeit an diskursiv präsentierten Beispielen und Problemfällen,
die oft aus literarischen Vorlagen entnommen werden.
Doch warum braucht man Würde: „Die Lebensform der Würde… ist die existenzielle Antwort auf die
existenzielle Erfahrung der Gefährdung“ (15).
Einige Unterscheidungen: Nicht jede Ohnmacht ist bereits Demütigung, sondern sie wird es „erst
dann, wenn ein anderer einen anderen gezielt in eine Lage der Ohnmacht bringt“ (34), denn:
„Würde ist das Recht, nicht gedemütigt zu werden.“ (35). Auch die Notwendigkeit, andere um etwas
zu bitten, mag den eigenen Stolz beschädigen, wird aber erst dann zur Beschädigung von Würde,
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wenn dieser Andere seine Machtposition demütigend ausnutzt. Das literarische Beispiel ist der
Handelsvertreter Willy Loman, der seinen Chef vergeblich um eine Versetzung in den Innendienst
bittet („Tod eines Handlungsreisenden“). Dieser kostet geradezu aus, dem Wunsch nicht entsprechen
zu wollen. Weitere eindrucksvolle Beispiele sind Patienten, die von Ärzten nicht als Subjekte
behandelt werden. Sogar eine wohlmeinende Entmündigung kann eine Verletzung der Würde sein.
Josef K., der aus unerfindlichen Gründen im „Prozess“ von Kafka zum Angeklagten wird, wird
gedemütigt, weil man ihm Erklärungen für seine Verhaftung vorenthält (124).
Immer wieder drehen sich die Beispiele von Bieri, die selten eine schnelle Bewertung zulassen, um
die Grundidee: „Die Würde des Menschen ist seine Selbstständigkeit als Subjekt, seine Fähigkeit,
über sein Leben selbst zu bestimmen. Seine Würde zu achten, heißt, diese Fähigkeit zu achten.“
(346). Schwierig wird dieser Grundsatz allerdings bei Fragen der Selbsttötung oder bei nachlassender
Selbststeuerungsfähigkeit im Falle von Krankheit.
Man kann auch seine Würde opfern. So leckt die Auschwitzinsassin in dem Lagerleiter Rudolf Höss
die Füße, um ihr Kind retten oder zumindest ein letztes Mal sehen zu können. Und sie tut es, ohne
ihre Würde zu verlieren.
Macht, Gewalt und Unterwerfung der Pädagogik
Körperliche Gewalt in der Erziehung findet sicherlich noch statt, ist jedoch inzwischen zumindest
juristisch geächtet. Doch bleibt nach wie vor die Feststellung von Benner (1987), Pädagogik sei ein –
sich selbst aufhebendes – Gewaltverhältnis. Damit reformuliert Benner die Aussagen Kants in seinen
pädagogischen Schriften (1982, 711), dass das Paradoxe, ja das Widersprüchliche bei der Pädagogik
in dem Problem bestehe, „wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der
Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwang ist nötig! Wie kultiviere ich
die Freiheit bei dem Zwange?"
Dass es sich bei der gesetzlichen Schulpflicht, bei dem Besuch der Zwangsanstalt Schule nicht um
eine Demütigung oder eine Verletzung der Menschenwürde handelt, ist nach dem oben Gesagten
klar. Damit hat die Schule jedoch keinen Blankoscheck. Vielmehr ist ständig sowohl die Struktur des
Bildungswesens, sind die Regelungen – etwa der Leistungsbeurteilung und der (Nicht-) Versetzung –,
ist die Organisation, die Atmosphäre und die Schulkultur der Einzelschule daraufhin zu überprüfen,
ob nicht doch eine solche Verletzung vorliegt. Immerhin ist die vielfach festgestellte
Bildungsungerechtigkeit ein Hinweis darauf, dass die Menschenwürde bedroht sein könnte. In
dieselbe Richtung geht die Rede von einer „strukturellen Demütigung“.
Es geht also um andere Formen von Gewalt als bloßer körperlicher Gewalt. Zwei Begriffe sind hierbei
relevant: der seinerzeit von Johan Galtung eingeführte Begriff der "strukturellen Gewalt" und der
Begriff von Bourdieu der "symbolischen Gewalt". Zu diesen Gewaltformen gehören Euro- und
Ethnozentrismus, Rassismus, Vorstellungen von „Normalität“, an denen Schülerinnen und Schüler
gemessen werden, Ideologien. Es geht also stets darum, dass äußere Verhältnisse den
Subjektcharakter des Einzelnen bedrohen oder sogar diesen Einzelnen unterwerfen, so dass Gefühle
der Machtlosigkeit, des Ausgeliefertseins, der Sinnlosigkeit, der Verdinglichung entstehen. Allerdings
genügen diese nicht, wie Bieri in seinen Einzelstudien zeigt. In jedem Fall muss sorgfältig befolgt
56
werden, was Bayertz (a.a.O., 826) fordert: „Grundsätzlich ist daran festzuhalten, dass begründet
werden muss, was Menschenwürde ist und warum im gegebenen Fall ein Verstoß dagegen vorliegt.“
Auch und gerade im Umgang mit den Künsten ist dabei Sorgsamkeit angesagt, dass die von Bourdieu
(1987) detailliert erforschten Distinktionsmechanismen, die die Künste bewirken, eben auch
Mechanismen der Wertung, des Ausschlusses von Teilhabe und der Diskriminierung sind.
Widerstandsfähigkeit als notwendiger Teil von Bildung
Wird Bildung als Lebenskompetenz verstanden, dann erfasst dies insbesondere die Disposition, sich
(für sich und andere) für menschenwürdige Verhältnisse einzusetzen. Dazu gehören die Fähigkeiten,
wie sie Bieri (2013) beschreibt: Steigerung der Achtsamkeit, Offenheit für Fragen und für die Suche
nach Antworten, eine wache, kenntnisreiche und kritische Aneignung von Kultur. „Kritisch“ meint
hierbei auch, wohlmeinende Angebote auch ablehnen zu können. Empowerment gegen
Entmachtung, Selbstbestimmung gegen Unterdrückung, Selbstwirksamkeit gegen behauptete und
organisierte Einflusslosigkeit gehören dann zu der Stärkung des Subjektes mit seinem Anspruch auf
autonome Lebensgestaltung. In dieser Hinsicht ist eine Pädagogik der (Stärkung der) Würde eine
„Befreiungswissenschaft“ (so Bernhard 1996 im Anschluss an Heydorn), die die emanzipativen
Potenzen von Erziehungs- und Bildungsvorgängen ermittelt.
Vor diesem Hintergrund erhalten die üblichen Ziele der Pädagogik und speziell der Kulturpädagogik
eine erneute Begründung (Fuchs 2008): Es geht um Selbstwirksamkeit (zu spüren, dass man etwas
lernen kann und dass man etwas beherrscht), um Anerkennung und Wertschätzung (dass die eigene
Leistung im sozialen Kontext gewürdigt wird), um Möglichkeitsdenken (um so die scheinbare und oft
behauptete Unveränderbarkeit der Realität zu durchbrechen und Fantasien freizusetzen). Es geht um
Partizipation und das Einüben in Meinungsbildungsprozesse, es geht um Ichstärkung etc.
Allerdings genügt es nicht, alle diese wichtigen Ziele, die offensichtlich zu einem Leben in Würde
gehören, nur erneut plausibel zu machen: Es geht auch darum zu belegen, dass und wie eine
ästhetisch-künstlerische Praxis diese Ziele realisieren kann. Bislang wird die Debatte noch zu stark
von bloßen Legitimationsdiskursen geprägt, in denen mehr behauptet als belegt wird. Es muss dabei
gerade bei solchen Nachweisen darauf geachtet werden, dass nicht wieder die Subjekte als bloße
Objekte einer Forschungsmethodologie betrachtet werden. Deshalb basiert etwa der
Kompetenznachweis Kultur der BKJ auf dem dialogischen Verfahren, bei dem beide Lernenden
(Projektleiter und Jugendliche) gemeinsam Lernfortschritte ermitteln: Subjekte müssen auch
Subjekte ihres Lernens und dessen Bewertung sein.
Literatur
Bayertz, K.: Menschenwürde. In: Sandkühler, H.-J. (Hg.): Enzyklopädie Philosophie. Hamburg 1999
Benner, D.: Allgemeine Pädagogik. Weinheim 1987
57
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Bieri, P.: Eine Art zu leben. München 2013
Bieri, P.: Wie wollen wir leben? München 2014
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Heitmeyer, W./Schröttle, M. (Hg.): Gewalt. Bonn 2006
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Schmidt, R./Woltersdorff, V.(Hg.): Symbolische Gewalt. Konstanz 2008
Wulf, Chr./Zirfas, J. (Hg.): Handbuch Pädagogische Anthropologie. Wiesbaden 2014
58
6. Schlussbemerkungen
Sowohl auf der Ebene der Realität und in der Praxis als auch auf der Ebene der theoretischen
Reflexion lässt sich der enge Zusammenhang von Pädagogik, Politik, den Künsten und der Ästhetik
nachweisen. Eine Theorie, die sowohl die personenbezogene Sicht der Bildung als auch die
gesellschaftsbezogene Sicht der politischen Gestaltung miteinander verbindet, ist der
Befähigungsansatz (capability approach) von Amartya Sen und Martha Nussbaum:
„Die „Befähigungsperspektive“, die seit einiger Zeit genauer untersucht wird, passt genau zu dem
Verständnis von Gerechtigkeit, das sich an der Lebensführung und den Freiheiten orientiert, die für
Personen tatsächlich erreichbar sind.“ (Sen 2010, 11)
Literatur
Sen, Amartya: Die Idee der Gerechtigkeit. München: Beck 2010
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