BARCELONA LAUFTEXT In jener Nacht, in der die Stadt mich verführt hat, gab es Musik in der Casa Gracia. Ein katalanischer Jazzer traktierte virtuos sein Keyboard, sein kubanischer Freund spielte Gitarre und sang dazu. Es wurde viel Cava getrunken, und ich bin mir sicher: Die urdeutschen Eltern, die sehr aufrecht in der Ecke saßen, haben ihre Teenie-Tochter noch nie so entfesselt die Hüften schwingen sehen. Ein berauschter Einheimischer hatte das Mädchen zum Tanzen aufgefordert, ihn wiederum hatten die Stammgäste und das Personal noch nie gesehen. Ich wohne in jenem ehrwürdigen Jugendstilbau am oberen Ende der Luxusmeile Barcelonas, der Passeig de Gracia, und alleine das scheint mir wie eine wunderbare Fantasie. Ein Hostel, das sich anfühlt wie Wohngemeinschaft, Gastfamilie und Kulturzentrum in einem. Ausgestattet mit mächtigen Ledersesseln, gold gerahmten Spiegeln, einem ächzenden, holzverkleideten Aufzug – als spielten wir alle in einem alten Film. Spät nachts drängeln sich auf dem Balkon Musiker, Geschäftsreisende, Genießer, die Spätschicht der Casa; die Zigarette dabei oft nur ein Vorwand, um die laue, Luft zu spüren und bei denen zu bleiben, die diese Stadt nicht loslässt. Wie Ernesto, der quirlige Mexikaner, der die Bands für das Haus bucht. Ein Stipendium hat ihn nach Europa gebracht, er hat in Paris Klarinette studiert, dann zog er als Straßenmusiker über den Kontinent. In Barcelona ist er sesshaft geworden: Nirgendwo sonst habe er solch menschliche Vielfalt gefunden und wahre Kreativität, so erzählt er bei einem letzten Zug, bevor uns der indische Wachmann sehr sanft vom Balkon lockt, um den Tag für alle glücklich zu beenden. Die Arbeitgeber der Beiden sind Israelis, hängen gebliebene Weltenbummler auch sie. Und weil ihre Wohnung ständig von befreundeten Urlaubern belagert war, haben sie ein paar Straßen weiter in einem früheren Altenheim eine Herberge geschaffen, die die größten Stärken Barcelonas vereint: Kunstsinn, Offenheit, Leidenschaft, aber bitte ordentlich und gut organisiert. Und fast immer gibt es Essen und Trinken dazu. Es ist nicht ganz einfach, diese Stadt zu begreifen. Im Südwesten erhebt sich der 213 Meter hohe Montjuïc, von dort oben, wo das Grün der Parkanlagen einen ruhiger atmen lässt, zeigt Barcelona seine Größe und seine wundertütenhafte Eigenheit. Ein Häuserteppich zwischen Hügeln und Meer, gesäumt von pompösen Marinas und viereinhalb Kilometer Strand, die es vor der Olympiade 1992, kaum vorstellbar, gar nicht gab. Daraus aufragend architektonische Spitzen, die unterschiedlicher nicht seien könnten und doch sinnstiftend sind für Barcelonas Identität: die Sagrada Familia, Antoni Gaudis Lebenswerk zu Ehren des Herrn, selbst aus der Ferne ein gigantischer, fast surrealer Anblick; der phallische Büroturm Torre Agba, hochglänzendes Denkmal der Gegenwart aus Glas und Beton, das auf seine Neubelebung als Luxus-Hotel wartet, die Kolumbussäule, ein Erbstück der Weltausstellung von 1888, die den Höhepunkt Barcelonas wirtschaftlicher und kultureller Glanzzeit markierte, und dem Stolz seiner Einwohner einen ordentlichen Schub verlieh. 133 vor Christus von den Römern gegründet, ist Barcelona heute mit 1,63 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt Spaniens. Doch da geht die Fehlinterpretation schon los. Weil Barcelona vor allem die Hauptstadt Kataloniens ist. Jahrhunderte lang haben die Katalanen um Eigenständigkeit gerungen, das Franco-Regime hat ihnen den Mund verboten, erst nach dem Tod des Diktators konnten sie ihr Nationalgefühl wieder ausleben. Heute darf kein öffentliches Amt bekleiden, wer kein Katalanisch spricht, und bei der inoffiziellen Volksbefragung im November 2014 sprachen sich 80 Prozent der katalanischen Urnengänger für eine Abspaltung von Spanien aus. Das Grundgefühl, das die Bewegung trägt: Katalonien ist wirtschaftlich solider aufgestellt als der Rest des Landes, sie wollen dort fleißiger und geschäftstüchtiger sein. Wer sich hineinbegibt in die Stadt, muss oft seine Erwartungen neu justieren. Das Barri Gotic, das mittelalterliche Zentrum, ist Barcelonas erfolgreichster Verführer, wie gerne hätte ich die winzigen Gassen für mich allein, um in Ruhe ihrer Geschichte nachzuspüren. Manche von ihnen sind so schmal, dass der Himmel über mir nur noch ein schmaler Streifen ist, die Häuser aus sandfarbenen Steinen sehen den Menschen schon seit über 500 Jahren beim hektischen Treiben zu. Ich könnte stundenlang Torbögen, Türknäufe, eiserne Gitter studieren, und dabei die Souvenir- und Klamottenläden vergessen, die sich hier viel zu breit gemacht haben. Es kann der fast mystischen Ausstrahlung des Viertels am Ende nichts anhaben, dass es für viele Besucher primär als Einkaufsmeile dient. Ein Glück auch, dass es in der Altstadt immer noch einmalige Fluchtpunkte gibt. Winzige Geschäfte, Enklaven, die wie Wunder wirken. Ein Jugendstilanhänger, der leuchtet wie das Mittelmeer, lockt mich in Señora Adelaidas Reich. Die elegante alte Dame verkauft Antiquitäten am Rande der konfektionierten Flagship-Stores. Mit spitzen Fingern und einem zarten Lächeln angelt sie Pretiosen aus dem Schaufenster, man spürt die Hingabe, mit der sie jedes Stück aufgestöbert hat. „Lassen Sie sich Zeit“, sagt sie. „Kaufen Sie nicht sofort, denken Sie in Ruhe nach.“ Ich solle wiederkommen und nicht böse sein, wenn ich dann auf mein Glück ein wenig warten müsse. Sie habe keine regelmäßigen Öffnungszeiten, manchmal bleibe der Laden einfach zu. Eine handgeschriebene fliederfarbene Visitenkarte drückt sie mir noch in die Hand, in die Ecken hat sie mit zarter Farbe Veilchen gemalt. Ein paar Straßen weiter, in der Herboristeria del Rei widmet man sich seit knapp 200 Jahren der Kraft der Kräuter. In pastellgrünen Vitrinen sind sie in Gläsern sortiert, als sei kein Tag vergangen, da Isabella II. 1857 dem Laden die königliche Gunst gewährte und Theaterausstatter Francesc Soler i Rovirosa ihm sein kunstvolles Aussehen verlieh. Mit ruhiger Hand wiegt Besitzerin Trinitat Sabatés getrocknete Blüten, der Geruch von Lavendel und Pfefferminz hängt in der Luft, eine Spontanheilung für jedes gestresste Gemüt. Als die Entwicklung der Stadt den mittelalterlichen Kern zu sprengen drohte und die Lebensumstände dort untragbar wurden, schenkte die Obrigkeit Barcelona Ende des 19.Jahrhunderts einen neuen Stadtteil. Eixample, zu deutsch die Erweiterung, folgt einer strengen Struktur. Die breiten Straßen sind rechtwinklig angeordnet, die feudalen Jugendstilwohnblocks haben ein Regelmaß von 133,33 Metern im Quadrat. Das Viertel atmet Großzügigkeit, hier wird gelebt und gearbeitet. Eddie Arola betreibt dort ein kleines Restaurant, sein Bruder Sergi kocht mit zwei Sternen dekoriert in einem Luxushotel am Meer. Eddie hat es lieber schlicht, in Combat-Hosen und schwarzem TShirt serviert er bodenständige katalanische Küche auf hohem Niveau. Das zurückhaltende Interieur seines Lokals in braun und beige, so erklärt er, sei ein Spiegel seines katalanischen Gemüts. Er schätze Klarheit und Ordnung, deswegen sei Eixample sein liebstes Viertel in der Heimatstadt. Dazu funkeln seine schwarze Augen von tiefen Lachfalten gerahmt, im selben Atemzug erläutert er die bunte Deko im Eingangsbereich seines Ladens. Unzählige handbemalte Briefumschläge pflastern dort die Wände, ein jeder mit einem anderen Motiv. Er hat sie alle selbst gestaltet, um seine heutige Frau zu erobern. Das ist dann wohl die andere Seite dieser sehr speziellen Sorte Südeuropäer. In Barcelona schlägt das Herz der Katalanen, die beiden Taktgeber, die es antreiben heißen in ihrer Sprache: „seny“ und „rauxa“. Für klaren Verstand und Pragmatismus steht das erste Wort, für überbordende Lust und Laune das andere. Und so kann man in den sortierten Straßen von Eixample in sehr vornehmen Restaurants die Ohren von Schweinen verspeisen und muss lernen, dass der entfesselte Baumeister Gaudi streng gläubiger Katholik und rigider Asket war. Auf der Luxusmeile Passeig de Gràcia, schwenken betuchte Besucher aus aller Welt selbstzufrieden Einkaufstüten. Die Einheimischen trinken ihren Kaffee lieber eine Parallelstraße weiter, in der Rambla de Catalunya, auf dem Boden des soliden Mittelstands, der die Stadt prägt, und nehmen das vornehme Theater, wie so vieles, sehr gelassen hin. Als Stadt der Widersprüche ist Barcelona oft beschrieben worden, aber das ist ein zu schnell gedachtes, zu einfaches Label. Es ist wohl eher so, dass sie hier schon länger wissen, dass Bodenhaftung die Voraussetzung für gelungene Luftsprünge ist, der Wille zur Form kein Korsett sein muss und das Leichte nicht ohne das Schwere sein kann. Auch deswegen entfaltet Barcelona seine Eigenheit dort am besten, wo sich Vergangenheit und Gegenwart ganz unspektakulär treffen, wo Tradition Alltag ist. Nördlich der Passeig de Gracia bekommt das Leben einen ruhigen Rhythmus, viele Barceloner zieht es genau aus diesem Grund dorthin. Das Viertel Gracia ist ein eingemeindetes Dorf, den früheren Frieden hat es sich bewahrt. Schlichte Häuser in bunten Pastellfarben umrahmen die Placa del Diamant, ein paar Bäume, wenig Menschen, spielende Kinder. Auf den Stühlen der einzigen Bar sitzen herausgeputzte Teenager-Mädchen und üben das große Leben. Mercè Rodoreda, die große Dame der katalanischen Literatur, hat dem Ort ein Denkmal gesetzt. „Auf der Plaça del Diamant“, ihr berühmtester Roman, erzählt ein Frauenleben zur Zeit des Bürgerkriegs, ihren Mann lernt die Protagonistin bei einem Tanz auf der Plaça kennen. Der Gedanke liegt fern, dass die aufgeregt plaudernden Mädchen wie Colometa einem forschen Kerl nachgeben würden, nur um versorgt zu sein, und doch wirkt der Platz, der im schmeichelnden Spätsommerschein vor sich hin döst, als wäre die Zeit dort stehen geblieben. In Gràcias Markthalle Mercat de la Llibertat, der Gaudís Assistent Francesc Berenguer i Mestres ein Dach geschenkt hat, dessen Giebel aussehen, als seien sie mit Spitze umhäkelt, zerteilen die Fischhändlerinnen Meerestiere seit bald 150 Jahren mit chirurgischer Präzision, begleitet von einem unaufhörlichen Wortschwall. Man muss kein katalanisch können, um zu begreifen, dass ihre Kunden ebenso fachmännisch über die Ware parlieren wie sie und mit dem filetierten Fisch die Neuigkeiten aus dem Viertel ausgetauscht werden. Der Zeitgeist wohnt um die Ecke, Bioläden, Yoga-Studios, Gràcia ist beschaulich und Bohème zugleich. Abends sitzen die Trendsetter in der Bodega Quimet, einer Vermut-Bar wie zu Rodoredas Zeiten, rauschhaft dekoriert mit alten Flaschen und Fässern. Wenn dort mächtige Brotscheiben mit marinierten Makrelen serviert werden, legen die Gäste andächtig ihre Smart-Phones weg. Wer Vermut bestellt, bekommt die Hausmarke aus einem Wandschrank: süßer, roter, mit Kräutern versetzter Wein. „Bis vor ein paar Jahren haben das nur unsere Großeltern getrunken“, erzählt die jugendliche Kellnerin lachend. Aber vielleicht sind Zeiten und Moden relativ in einer Stadt, die seit 133 Jahren an ihrer größten Sehenswürdigkeit baut. Im ersten Drittel dieses Jahrhunderts, so die vagen Vermutungen, soll die Sagrada Famila, Antonio Gaudís Lebensprojekt achtzehn Türme haben und mit 170 Metern das höchste sakrale Gebäude der Welt sein. Jordi Bonet, dessen bescheidene Werkstatt in Gràcia in der dritten Generation existiert, wird dann kaum sagen können, wie viele bunte Glasplatten er geschnitten hat, um die gigantischen Mosaikfenster zusammen zu setzen, die jährlich gut drei Millionen Besucher der Kirche in Begeisterung versetzen. Es ist eine übermächtige Erfahrung in dem gigantischen Bauwerk den Kopf in den Nacken zu legen, die Masse der Details und Formen, das flirrende Licht, es wird einem schnell schwindelig dabei, auch weil man vergeblich versucht zu begreifen, wie groß die Vorstellungskraft seines Architekten gewesen sein muss. Bonet, den zierlichen Mann mit der Glatze, der ein wenig wie ein berühmter Fußballtrainer aussieht, versetzt der Umstand, zu Gaudís Meisterwerk mit seinen Fenstern einen so markanten Beitrag zu leisten, nicht in Aufruhr. Es sei ein Auftrag wie jeder andere, die Kirche hatte er, bevor er dort zu arbeiten begann, noch nie betreten. Und sein Großvater, der Gründer des Betriebs, habe das Gebäude verabscheut. So wie viele dessen Generation, die das exaltierte Formenspiel der Architekten des Modernisme, nach seiner Blüte nicht mehr sehen wollten. Man habe die Gebäude lange vernachlässigt, vor allem in Eixample ist Bonets Handwerk bis heute gefragt. Dort, wo die Straßen sich zu Boulevards ausdehnen, wartet das schönste Freilichtmuseum der Welt. Bis zur Nackenstarre verzückt stolpere ich von einem Kunstwerk des Modernisme zum nächsten. Umrunde die festungsartige Casa Terrades, mit den drei Treppenhäusern: Für jede Tochter des Auftraggebers musste Architekt Josep Puig i Caldafach 1905 ein eigen gestaltetes Entrée bauen. Träume mich auf filigrane, schmiedeeiserne Balkone, versuche Blicke zu erhaschen in von Blumenmalerei berankte, meterhohe Hausflure. Werde sanft verscheucht von Menschen, die versuchen, ihre Wohnstätten, Arztpraxen, Büros zu erreichen. Ganz unglaublich scheint es, dass in den märchenhaften Kulissen Menschen leben, leiden, arbeiten. Selbst in einem von Gaudís Kunstbauten, der Casa Milà, dürfen neugierige Besucher die Namen der Bewohner an den Briefkästen studieren. Nachts kann man dem wundersamen Haus mit der gewellten Fassade aufs Dach steigen. Zwischen Schornsteinen, die aussehen wie eine strenge Alien-Armee, glaubt man auf einem anderen Planeten zu spazieren und verpasst gleichzeitig den Besucheransturm bei Tag. Von oben sieht man den Verkehr die Avenue Diagonal entlang fließen, sie ist die Achse, die Barcelona wie ein schräger Messerschnitt durchtrennt und hinunterführt bis zum Meer. Jüngst hat man ein Herz für Fahrradfahrer entwickelt, mit Citybike-Stationen an jeder Ecke und einem stetig wachsenden Wegenetz. Die Diagonal kann man fast durchgehend entlang radeln und en passant die Normalität reiner Wohnviertel atmen. Angegraute Paare machen im Schatten der Platanen Pause, die Nachbarschaft misst sich im Petanque. Unten am Wasser beherbergt ein scharfkantiger Dreiecksbau von Herzog de Meuron das Naturkundemuseum Museu Blau, die kühle Sachlichkeit moderner Architektur befreit den Blick auf den Horizont. Segelyachten kreuzen das leuchtende Blau des Mittelmeers, auf der offenen Fläche vor dem Museum verlieren sich die Menschen wie Punkte auf eine Leinwand getupft. Der Weg führt weiter am Meer entlang, im Gedränge der wenige Kilometer entfernten Altstadt würde man es sich nicht träumen lassen, dass Barcelona so erholsam sein kann. Salvador Martinez aber hatte das richtige Gespür, als er sich vor einigen Jahren in eine alte Eisenwarenfabrik in Poblenou verliebt hat. Keinen Kilometer vom Strand entfernt liegt das alte Industrieviertel. Die Stadt hatte hochtrabende Pläne mit dem Areal, 22@ nannten sie die Vision eines Zentrums für IT-Unternehmen. Man wünschte sich Global Player und neue Bauten, dann kam die Krise, die Investoren blieben aus und die alten Backsteingebäude zum Glück erhalten. Martinez ist Barceloner mit Leib und Seele, ein silbergrauer Wirbelwind. Eigentlich suchte er eine neue Heimstatt für seinen Betrieb, er fertigt Alurahmen für Galerien und Museen. Lange war er im Altstadtviertel Born ansässig, doch die wachsenden Besucherströme ließen den Lieferverkehr unmöglich werden. In die schmale Gebäudefront in der Roc Boronat ist eine große Uhr eingelassen, Anachronismus im digitalen Zeitalter. Die hatte es Martinez sofort angetan, er hat das Haus gekauft und jahrelang um Genehmigungen gerungen, weil die großen Pläne der Stadt keine kleinen Firmen vorsahen. Aber seine Vision war letztlich die bessere: Er wollte Kreative unter einem Dach versammeln, das Gebäude mit neuem Geist beleben und dessen alteingesessene Bewohner schonen. 1985 wurde die Fabrik geschlossen, in Martinez Gebäude waren früher Angestelltenwohnungen. Der letzte Buchhalter, der Chauffeur, der Koch und die Frau des Chemikers wohnen immer noch dort, für je 100 Euro im Monat, sie sind alle über neunzig. Martinez hat ihre Wohnungen renoviert, bis auf eine. Die Frau des Chemikers ist blind, sie würde dann die Orientierung verlieren. Die neuen Mieter sind Grafikdesigner, Künstler, Start-Ups, alle zusammen wie eine große Familie, so Martinez. Er wohnt selbst mit seiner Frau im Haus und ist begeistert davon, wie schnell sich die Gegend gerade dreht. Galerien und Restaurants eröffnen im Wochentakt, doch es sei keine elitäre Gesellschaft, die sich hier breit mache auf Kosten anderer. Die Großmütter, die auf der Rambla del Poblenou seit Jahrzehnten ihre Stammplätze haben, treffe man abends genauso auf Vernissagen. Man sei neugierig auf einander und auf das Leben, ein großer Enthusiasmus liege in der Luft. Die Krise? Barceloner hätten keine Lust zu klagen, sie arbeiteten lieber für bessere Zeiten. Martinez trabt durch sein Viertel, lacht, redet, gestikuliert, und zerrt mich unversehens in einen Hauseingang. Drei junge Menschen stehen, wie zum spontanen Beweis, glücklich strahlend in frisch renovierten Räumen einer ehemaligen Werkstatt, die jetzt DesignBüro und Galerie in einem ist. Die Umgestaltung war ein temporäres Projekt, Abschluss ihres Design-Studiums. Jetzt gefällt es ihnen hier so gut wie dem Hausbesitzer ihre Arbeit, sie sind als Mieter geblieben und wagen den Schritt in die Selbstständigkeit. Salvador Martinez blickt triumphierend um sich. Es sei der Geist dieser Stadt, der ihn und alle anderen antreibe, ihre historisch genährte Offenheit durch den Hafen, dazu das mediterrane Klima und die typisch katalanische Mischung aus Arbeitsethos und Spaß an der Freud. Ein überzeugendes Konzept. Der fleißige Lebemann Salvador hat leere Betriebswohnungen in der Eisenfabrik zu Gästeapartments umgebaut, jeder, der länger bei ihm wohne, so verkündet er stolz, wolle für immer bleiben. Unten am Strand von Poble Nou ruhen sich die Barceloner in sicherer Entfernung vom Zentrum aus. Eine Gruppe älterer Damen diskutiert Nachbarschaftsgeschichten unter geblümten Schirmen, ein Liebespärchen wartet eng umschlungen auf den Sonnenuntergang. Ein paar Mütter versuchen ihre Kinder einzufangen, es fällt ihnen spürbar schwer, die nötige Strenge aufzubringen. Zum Heimgehen ist es viel zu schön. Das Rauschen der Stadt ist hier nur eine Ahnung. Je näher man ihr kommt, umso belebter wird der Meeresrand. In Barceloneta ist das Strandleben eine Art All-InclusiveVergnügen mit Masseusen, fliegenden Hippie-Tuch-Händlern, die Caipirinhas werden direkt am Badetuch serviert. Die Olympiaplaner haben aus dem früheren Viertel der Fischer einen lustigen Ferienort gemacht, in dem mächtige Kräfte wirken. Die Energie der Metropole schwappt bis ans Wasser, die Badenden tragen das hirnverbrannte Gefühl eines Strandtags zurück in die Stadt. Wenn die Sonne sich neigt, locken weiß livrierte Kellner auf romantische Restaurantterrassen. Frischer Fisch und Meeresrauschen, kann es einen besseren Ausklang für einen Ferientag geben? In Barcelona muss die Antwort jeden Abend lauten: Vielleicht ja.