Universität Basel, Seminar für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie Seminararbeit 2011/12 Prof. Dr. Walter Leimgruber DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN Abgabe: Basel, März 2012 Seminararbeit von Monika Philippi BA Deutsche Philologie und Kulturanthropologie, 6. Semester Matrikelnummer: 09-051-442 Klybeckstrasse 118 4057 Basel 061 691 43 07 [email protected] DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN Inhalt 1 Einleitung ........................................................................................... 1 2 Das Brunnensingen .............................................................................. 3 2.1 Aussensicht ................................................................................. 3 2.2 Innensicht ................................................................................... 5 2.3 Brauchtum .................................................................................. 7 3 Träger: Die Sebastiani-Bruderschaft .................................................... 10 3.1 Gründungsgeschichte .................................................................. 10 3.1.1 historisch ............................................................................... 10 3.1.2 sagenhaft .............................................................................. 11 3.2 Abgrenzung: Die andere Bruderschaft ........................................... 13 3.3 Zusammensetzung ..................................................................... 14 3.4 Sichtbarkeit ............................................................................... 15 4 Das Brunnensingen durch die Zeit ....................................................... 17 4.1 Das Ritual ................................................................................. 18 4.1.1 Beginn ................................................................................... 18 4.1.2 Rundgang .............................................................................. 20 4.2 Augenfälliges ............................................................................. 20 4.3 Bruderschaftsinterna................................................................... 22 4.4 Das Bruderschaftsbuch................................................................ 24 4.5 Die Brunnen .............................................................................. 26 4.6 Das Lied .................................................................................... 29 4.7 Einbettung und Anschlüsse .......................................................... 33 4.7.1 Neue Traditionen innerhalb der Bruderschaft .............................. 33 4.7.2 Neues nach Aussen ................................................................. 33 4.7.3 Mitternachtsgottesdienst .......................................................... 34 5 Das Brunnensingen als kulturelles Gedächtnis ....................................... 36 5.1 Erinnerung ................................................................................ 36 DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 5.2 Gemeinsamkeit .......................................................................... 37 5.3 Kulturelles Gedächtnis ................................................................ 38 5.3.1 Identitätskonkretheit ............................................................... 39 5.3.2 Rekonstruktivität .................................................................... 41 5.3.3 Geformtheit und Organisiertheit................................................ 41 5.3.4 Verbindlichkeit........................................................................ 42 5.3.5 Reflexivität............................................................................. 43 6 Schlusswort ...................................................................................... 45 7 Literaturverzeichnis ........................................................................... 47 8 Abbildungsverzeichnis ........................................................................ 49 DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 1 1 EINLEITUNG Das Brunnensingen in Rheinfelden (CH) ist einer der lokalen Bräuche, die sich als lebendige Tradition um einen Listenplatz des immateriellen Kulturerbes der UNESCO bewerben 1 . Es handelt sich hierbei um ein alljährliches Ritual, das scheinbar lückenlos seit mehreren hundert Jahren von der Rheinfeldener Sebastianibruderschaft durchgeführt wird. Dies lockt jeweils Zuschauer aus Rheinfelden und Umgebung an, was sich je nach Besucherzahl zu einer regelrechten Prozession auswachsen kann. Der Brauch ist ein stilles Wahrzeichen der Stadt; hauptsächlich den Einheimischen vertraut, aber durchaus auch eine touristische Attraktion, wie sich bei einem Besuch anhand der Zusammensetzung der Zuschauer unschwer ablesen lässt2. Diese Seminararbeit möchte sich zunächst angelehnt an Geertz' Technik der dichten Beschreibung ein möglichst genaues Bild dieses Brauches machen. Wie sieht das Brunnensingen aus? Wie und wann hat es begonnen? Wer praktiziert es und warum? Welche Orte, Bedeutungen, Personen und Tätigkeiten sind hier miteinander verknüpft? Wie ist es ihm auf seiner Reise durch die Zeit ergangen? Welche Funktionen und Bedeutungen haben Veränderungen erfahren? Wie ist eine Tradition, die seit 1541 besteht, in den Alltag der Rheinfeldener Folgenden eingebettet? das Zur Beleuchtung Brunnensingen und dieser seine Fragen werden Trägerschaft, im die Sebastianibruderschaft von Rheinfelden, aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Kapitel vier unternimmt den Versuch, die Tradition und ihre wichtigsten Komponenten auf ihrem Weg von der Gründung bis heute zu beobachten. In seiner Eigenschaft als Pestbrauch kann das Brunnensingen von Rheinfelden ausserdem im Sinne von Jan und Aleida Assmanns gleichnamiger Theorie als Teil des kollektiven Gedächtnisses betrachtet werden, da es wie dieses die Pole Gedächtnis, Kultur und Gruppe aufeinander bezieht3. 1 Liste der lebendigen Traditionen in der Schweiz (Vorschlags-Eingabe der Kantone), Nr. 058, 31.05.2011. Bei meinen Besuchen habe ich trotz des teilweise sehr unattraktiven schweren Regenwetters durchschnittlich vier verschiedene Sprachen ausmachen können, wobei Hochdeutsch sicherlich den grössten Anteil inne hatte. Dies lässt sich durch die grenznahe Lage Rheinfeldens erklären, von dem es auf der anderen Seite des Rheines einen Namenszwilling deutscher Nation gibt. Rheinfelden CH und Rheinfelden D sind durch eine Rheinbrücke verbunden, die bequem zu Fuss bewältigt werden kann. 2 Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Ders., Toni Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1988, S. 12-13. 3 DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 2 Für die Datenerhebung wurden informelle Gespräche und leitfadengestützte Interviews mit verschiedenen Beteiligten seitens der Bruderschaft, der Bevölkerung, des örtlichen Museumswesens und des Tourismussektors geführt. Das Brunnensingen wurde sowohl an Weihnachten darauffolgenden Silvesterabend besucht 4 Perspektivenwechsels Seminararbeit, auch für die als auch am . Hierbei entstand die Idee des da die spontane Entscheidung, das Ereignis zwischendurch aus einer erhöhten Position zu betrachten ganz neue Einsichten zur Folge hatte. Das Antreffen von gelegentlich als tendenziös empfundener Darstellungsweise und Datenverifikation bei den Textquellen zwischen 1935 und 1945 sorgte für leichtes Misstrauen gegenüber deren Verlässlichkeit. Ich habe mich daher bemüht, sämtliche dort bezogenen Informationen auch anderweitig und möglichst durch Primärdaten abzuklären. Aus Gründen der besseren Zitierbarkeit (leichterer Zugang, vorhandene Seitenzahlen, eindeutiger Autor etc.) werden jedoch in der Arbeit oft Sekundärtexte gewählt. Wo ausserhalb der Sekundärtexte keine Absicherung der Informationen auffindbar war ist dies kenntlich gemacht. Dies gilt besonders für die Passagen, die sich auf das Bruderschaftsbuch der Sebastianibruderschaft beziehen. Das Bruderschaftsbuch ist nicht öffentlich zugänglich und sowohl aus Rücksicht auf die Diskretion der Bruderschaft als auch aus konservatorischem Interesse mit grösster Zurückhaltung zu behandeln. Die einzelnen Brüder besitzen privat jeweils ein Faksimile des Buches, welches ich kurzzeitig einsehen durfte. Diese einzigartige Möglichkeit habe ich unter anderem dazu genutzt, die Angaben von August Brogli 5 , Gottlieb Wyss 6 und Fritz Münzner 7 mit meist positivem Ergebnis nachzuvollziehen und werde daher bei Passagen über die interne Organisation der Bruderschaft und das Bruderschaftsbuch und die darin enthaltenen Statuten meist auch auf diese Autoren rekurrieren. 4 24. 12. 2011 und 31. 12. 2011. Von beiden Veranstaltungen wurden kurze Tonaufnahmen gemacht. Brogli, August: Die Sebastiansbruderschaft zu Rheinfelden (Schweiz). In: Fricktalisch-badische Vereinigung für Heimatkunde und Heimatschutz (Hg.): Vom Jura zum Schwarzwald. Blätter für Heimatkunde und Heimatschutz. 1. Jahrg. 1926, Nr. 12, S. 93-101. 5 Wyss, Gottlieb:1541-1941. Vierhundert Jahre Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in Rheinfelden. Festschrift im Auftrage der Bruderschaft St. Sebastian zu Rheinfelden. Rheinfelden 1941 6 Münzner, Fritz: Das Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in Rheinfelden. Separata aus Rheinfelder Neujahrsblätter 1971. Es handelt sich um einen Separatabdruck des Tourismusbüros Rheinfelden, der nicht die originalen Seitenzahlen der Neujahrsblätter aufweist. 7 DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 3 2 DAS BRUNNENSINGEN 2.1 Aussensicht Jeweils am Abend des 24. Dezember um 23:00 Uhr sowie am Abend des 31. Dezember um 21:00 Uhr versammeln sich zwölf schwarz gekleidete Männer mit Zylindern und einer altertümlichen weissen Laterne im Haupteingang der Stadtkirche (St. Martinskirche) von Rheinfelden. Nach dem Schlagen der Turmuhr beginnen sie mit einem Rundgang von Stadtbrunnen zu Stadtbrunnen, der nach genau 60 Minuten am Ausgangspunkt bzw. dem Brunnen neben der Martinskirche endet. Insgesamt laufen sie dabei in festgelegter Reihenfolge sechs Brunnen 8 an. Bei jedem einzelnen davon wird Halt gemacht, die Männer gruppieren sich im Kreis um die Laterne und es werden jeweils immer dieselben vier Strophen eines alt klingenden Liedes gesungen. Bei jeder Erwähnung des Namens Gottes lüften die Männer ihren Hut. In der Silvesternacht ändert sich der Text des Liedes und endet mit der Anrufung des heiligen Sebastians sowie guten Wünschen zum neuen Jahr für die Anwesenden, die hier direkt angesprochen werden9. Der Gang wird von Zuschauern begleitet, die gesamthaft dem Zug der Männer wie in einer Prozession folgen oder an einzelnen Brunnen auf deren Ankunft warten. Auch aus den Fenstern der Wohnhäuser verfolgen die Rheinfeldener das Geschehen. Einige Zuschauer erwarten die Sebastianibrüder bereits vor der St. Martinskirche, andere stossen irgendwo auf dem Weg dazu. Nicht jeder geht die gesamte Runde mit, manch einer geniesst das Schauspiel an einem von ihm favorisierten Brunnen oder lässt sich von dem Zug auf seinem individuellen Weg ein Stückchen mittragen (dies speziell an Silvester). An Weihnachten herrscht in den verdunkelten Gassen eine feierlich-ruhige Atmosphäre, die fast als unheimlich bezeichnet werden kann, je nachdem, wie oft eines der doch noch übriggebliebenen Lichter auf dem Weg durch die Altstadt die Stimmung jäh unterbricht. Zu hören sind nur die Schritte der Menschen in den Gassen, das Plätschern des jeweiligen Brunnens (und eventuellen Regens) sowie der einstimmige Gesang der Männer, wenn der Zug stehen bleibt. Das moderne Rheinfelden scheint in eine andere (weit Storchenbrunnen, Kuttelbrunnen, Albrechtsbrunnen, Theodorsbrunnen, Kapuzinerbrunnen und Brunnen vor der St. Martinskirche. 8 9 „wir wünschen euch allen ein gutes neues Jahr“. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 4 zurückliegende) Zeit versetzt und mit ihm die Zuschauer, die staunend und vielleicht sogar etwas furchtsam von den zwölf vorangehenden Sängern durch ihre plötzlich fremd gewordene Heimatstadt geführt werden. 3 2 1 4 6 5 Abbildung 1: Die Route des Brunnensingens10 Ganz anders an Silvester: Wohl der früheren Uhrzeit und dem weniger ruhigen Charakter der allgemeingesellschaftlichen Feier des Jahreswechsels geschuldet, bleibt die Feierlichkeit weitgehend auf der Strecke. Angeregte Unterhaltungen seitens des Publikums und verfrühte Böller und Raketen sowie unbeteiligte Passanten, die die Abendveranstaltungen Gruppierung auf durchschneiden, ihrem sorgen Weg für zu eine den völlig diversen andere Atmosphäre. Die zwölf schwarzen Gestalten wirken, sogar wenn sie ihr Lied anstimmen und die sie umgebenden Unterhaltungen verstummen, etwas verloren. Es scheint nun eher als seien die zwölf Sänger aus einer vergangenen Zeit ins moderne Rheinfelden katapultiert worden, wo sie ihre frühere Autorität etwas eingebüsst haben. 1: Storchenbrunnen, 2: Kuttelbrunnen, 3: Albrechtsbrunnen, 4: Theodorsbrunnen, 5: Kapuzinerbrunnen, 6: Brunnen vor der St. Martinskirche 10 DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 5 An Weihnachten gehen die zwölf Männer im Anschluss an das Brunnensingen in den Mitternachtsgottesdienst der Martinskirche. Die Zuschauer schliessen sich ihnen je nach individueller Weihnachtstradition freiwillig an. An Silvester findet in gleicher Manier im Anschluss ein Orgelkonzert in der Martinskirche statt. 2.2 Innensicht Im Zentrum des Brunnensingens steht die eigentliche Trägerschaft dieser Tradition, die Rheinfeldener Sebastiani-Bruderschaft. Die Brüder praktizieren den Brauch des Brunnensingens eigentlich unabhängig von eventuellen Zuschauern. Seine Durchführung ist für die Bruderschaft existentiell und damit verpflichtend. Die Beteiligung seitens der Bevölkerung findet unaufgefordert statt, sozusagen als eigenständige Tradition der Rheinfeldener. So ist in der vorhandenen Literatur zum Thema Brunnensingen auch immer bereits im Titel vom „Brunnen“- bzw. „Weihnachtssingen der Sebastianibruderschaft“ die Rede11. Die Brüder sammeln sich an jedem Weihnachts- und Silvesterabend in der Martinskirche. Sie holen dort ihre Laterne vom Sebastiansaltar (wo diese das Jahr über steht) bevor sie zum Glockenschlag Aufstellung im Haupteingang draussen vor der Kirche nehmen. Die drei "Amtsinhaber" (Senior, Vizesenior und jüngstes Mitglied) der Bruderschaft bilden traditionell den Anfang der Prozession: In der Mitte geht als Laternenträger das neueste Mitglied, rechts von diesem der Senior und links von der Laterne der Vizesenior. Die restlichen Brüder folgen in drei Reihen zu jeweils drei Personen. Nachdem der letzte Stundenschlag der Kirchturmglocke verklungen ist, geht die Formation gemessenen Schrittes über die Tempelgasse zum ersten Brunnen an der Froschweid, wo sie die ersten vier Strophen ihres Liedes, die Überlieferung eines alten christlichen Weihnachtsliedes, anstimmt. Sie tragen dabei von jeher schwarze Kleidung: schwarze Mäntel und Zylinder. Diese, wie auch ihre Marschformation mit dem Träger der sogenannten Pestlaterne in der Führung als auch die Standposition beim Singen an den einzelnen Brunnen Z. B. Wyss, Gottlieb: Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. Ein Volksbrauch und ein Volkslied. Rheinfelden 1930 oder Münzner, Fritz: Das Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in Rheinfelden. Separata aus Rheinfelder Neujahrsblätter 1971. 11 DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 6 sind ebenso traditionell festgeschrieben wie das Lüften des Hutes beim Namen Gottes. Die Brüder sind unbedingt zu zwölft; für etwaige Krankheitsfälle oder durch Altersgebrechen verhinderte Mitbrüder stehen spezielle Ersatzmänner zur Verfügung, die dieses Amt als Vorstufe der vollen Mitgliedschaft inne haben. Eine feierliche und konzentrierte Atmosphäre ist sehr wichtig und wird durch gemessenen Schritt und ruhiges Verhalten aufrecht erhalten. Ausser dem Gesungenen wird kein Wort laut. Die blitzenden und klickenden Kameras der Touristen werden eher als störend empfunden, ganz zu schweigen von der Geräuschkulisse einer Silvesternacht. Da mag sich manch einer wehmütig an die Zeit erinnern, wo die Stadtpolizei so engagiert war, vor dem Brunnensingen die übriggebliebenen erleuchteten Schaufenster mit schwarzen Kehrichtsäcken abzukleben. Schon der Weg zum ersten Brunnen birgt seine abschüssige Tücken. Das stark Kopfsteinpflaster der Tempelgasse wird je nach Wetterlage zur Rutschfalle und zwingt in extremen Fällen sogar dazu, einen anderen Weg zu nehmen. Und der einbetonierte Verkehrspfosten auf dem Weg vom Obertorplatz zurück zur Martinskirche, in der Dunkelheit ein gefährliches Hindernis, trägt (wie ich beim Spaziergang Sebastianibruder den internen ‚Kastrierpfosten‘. Abbildung 2: Steiler Abstieg in der Tempelgasse mit erfahren einem durfte) Spitznamen Eine andere Besonderheit ist jeweils der Halt am Kuttelbrunnen: Um die richtige Route aufrecht zu erhalten muss am Zähringerplatz im Gegensatz zu allen anderen Brunnenstops die Prozession umkehren und ein paar Meter den Weg zurück laufen, den sie gekommen ist. Je nach Anzahl der Zuschauer ist zu hoffen, dass dieses Wendemanöver ohne grössere Karambolagen vonstattengeht. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 7 Wenn in der Geissgasse auf dem Weg zum Theodorsbrunnen am Obertorplatz die Kirchenglocke die halbe Stunde schlägt, wissen die Brüder, dass sie gut im Zeitplan liegen. Drei Brunnen liegen hinter ihnen, drei haben sie noch vor sich. Schliesslich soll der Rundgang genau eine Stunde dauern. An Weihnachten ist dies besonders wichtig, damit pünktlich der Mitternachtsgottesdienst beginnen kann, dessen Besuch mit zu den Pflichten eines Sebastianibruders gehört. Angeregt hiervon hat sich auf Betreiben eines früheren Sebastiani-Mitgliedes am Silvesterabend seit einigen Jahren ein Orgelkonzert am gleichen Ort etabliert. 2.3 Brauchtum Das Brunnensingen selbst läuft bis auf den Text des gesungenen Liedes an beiden Terminen völlig identisch ab. Nach Hoffmann-Krayer handelt es sich hierbei um ein verbreitetes Phänomen: „Manche Volksbräuche des 1. Januars stimmen mit Weihnachtsbräuchen überein, was seinen Grund vorwiegend darin hat, dass Jahrhunderte hindurch der 25. Dezember als Jahresanfang galt.“12 Möglicherweise wollte man das Brunnensingen sowohl dem Kirchenjahr als auch dem weltlichen Kalender als positives Zeichen vorangestellt wissen. In der Grenzstadt Rheinfelden hat es auch immer ein Nebeneinander der verschiedenen christlichen Konfessionen gegeben. So ist z. B. die Gemeinde der St. Martinskirche bis heute christkatholisch, was lange zeitweise sogar die katholische Minderheit von jenseits des Rheins, dem heutigen badischen Rheinfelden 13 , auf die Schweizer Seite zog 14 . Durch die Verdopplung des Rituals wäre zumindest allen kalendarischen Möglichkeiten Rechnung getragen. Jedenfalls scheint es, als sei der Brauch nicht schon als Zweifacher begründet worden. Die im Bruderschaftsbuch niedergeschriebene Gründungsgeschichte berichtet zunächst von dem Schwur der Brüder, das Brunnensingen jährlich abzuhalten, während den Beschluss, das gleiche Ritual zusätzlich an Neujahr abzuhalten (erweitert um einen Neujahrswunsch) erst "deren spätere Hoffmann-Krayer, Eduard: Feste und Bräuche des Schweizervolkes. Neubearbeitung durch Paul Geiger. Zürich 1992, S. 100. 12 Zur Entwicklung von Badisch-Rheinfelden, dem früheren Nollingen, s. Pfunder, Hans: Geschichte der Namensgebung und Stadterhebung von Rheinfelden (Baden). In: Rheinfelder Geschichtsblätter 1997, S. 166-177. 13 Vgl. Königs, Diemuth: Eine alte Verbundenheit oder Wie reagierte die Schweiz auf die Stadtwerdung Badisch Rheinfeldens im Jahr 1922?. In: Rheinfelder Geschichtsblätter 1997, S. 184. 14 DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 8 Nachfolger"15 gefasst hätten. Ein weiteres Argument hierfür ist die Betitelung der Gründungssage bei Ernst Ludwig Rochholz mit „Die Zwölf Rheinfeldener Ratsherren um Weihnachten 16 “. Interessanter Weise ist dazu der Text des Neujahrsliedes abgedruckt, wobei aber die wichtigste Strophe – eben der eigentliche Neujahrswunsch Bevölkerung - fehlt. Wie der Sebastianibrüder Rochholz zu diesem an die Zeugnis Rheinfeldener kommt bleibt unverständlich, denn der vollständige Text des Weihnachts- sowie des Neujahrsliedes ist im Bruderschaftsbuch niedergeschrieben 17 und wird auch heute noch nahezu unverändert gesungen. Möglicherweise handelt es sich beim Brunnensingen um die Übernahme bzw. spezialisierte Weiterführung noch älteren Brauchtums: Bei Gottlieb Wyss 18 finden sich Andeutungen zur alten Tradition eines allgemeinen Weihnachtssingens in Rheinfelden. „Mit ‚hellstem fröhlichem Stimmgesang‘, berichten die Urkunden, verkündeten einzelne vornehme Bürger ihren Mitchristen die gnadenvolle Geburt des Herrn“19. „Vor alten Zeiten schon“20 soll dies Brauch gewesen sein, so Wyss in seinem ursprünglich 1919 veröffentlichten Aufsatz zum Brunnensingen 21 . Rund zehn Jahre und einige Recherchen später greift er dieses Thema wieder auf und ist sich nun sicher, „dass der Brauch als solcher älter ist als die Bruderschaft“ 22 . Im direkt Folgenden bezieht er sich jedoch auf eine Bruderschaft, die „zu Beginn des 17. Jahrhunderts“23 gegründet worden sein soll, so dass die Frage offen bleibt, wie alt die Tradition eines Weihnachtssingens ohne Pesthintergrund in Rheinfelden wirklich sein könnte. Was Wyss im Artikel von 1919 als „echt germanische[n] Christbrauch“ 24 bezeichnet, von dem nicht näher beleuchtete Urkunden berichten, verifiziert er 1928 nur mehr durch ein literarisches Beispiel aus dem 19. Jahrhundert: In Annette Droste-Hülshoffs Novelle „Die Judenbuche“ findet 15 Münzner, Fritz: Das Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in Rheinfelden. 1971, S. 9. Rochholz, Ernst Ludwig: Schweizersagen aus dem Aargau. Nachdruck der Ausgabe Aarau 1856, Hildesheim 1980, S. 385. 16 17 Vorbericht im Bruderschaftsbuch, S. 26-29. 18 Wyss, Gottlieb: Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. 1930, S. 7, 8-9, 11-12. 19 Ders., S. 7. 20 Ders., S. 7. Laut Wyss’ Angaben im Vorwort ist die Broschüre „Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden“, die 1930 erschien, eine Zusammenstellung zweier Aufsätze zum Thema. Der erste erschien bereits 1919 in der literarischen Zeitschrift „Die Schweiz“, der zweite in der literarischen Beilage des „Bund“ im Dezember 1928. 21 22 Wyss, Gottlieb: Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. 1930, S. 11. 23 Ders., S. 11. 24 Ders., S. 7. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 9 sich eine Szene, die ein Weihnachtssingen in einem Dorf im westfälischen Deutschland beschreibt. Diese, so Wyss, würde „die Weihnachtsstimmung vermittel[n], wie sie ursprünglich, vor Gründung der Sebastianibruderschaft, durch den ‚Singsang‘ in der Mitternachtsstunde auch in den verträumten Gassen Rheinfeldens geherrscht haben muss“ 25 . Dieses literarische Beispiel kann jedoch nur als Untermalung, nicht aber als Indiz für eine solche Tradition des Weihnachtssingens dienen. Droste-Hülshoffs Novelle stammt aus dem 19. Jahrhundert und muss sich, auch wenn die Geschichte früher spielt als sie entstanden ist, nicht unbedingt auf eine Realität des 16. Jahrhunderts beziehen. Auch die geografische Verortung trägt nicht unbedingt dazu bei, Rheinfelden oder auch nur das Fricktal zu assoziieren. In seiner Festschrift zum 400jährigen Bestehen der Sebastianibruderschaft 1941 merkt Wyss an, er habe "nun auch Kunde davon, dass in Rheinfelden schon vor der Gründung unserer Bruderschaft Weihnachten in den Strassen verkündet wurde". "Einige vornehme Bürger" sollen "beim Läuten des ersten Zeichens zur Mitternachtsmesse" die Stimme erhoben haben. Als Quelle nennt er die Gründungsakte einer "Rosenkranzbruderschaft zu Rheinfelden, die 1606 gegründet worden sein soll, um diesen 'singsang', der […] als Missbrauch angesehen wurde, […] abzuschaffen" 26 . Wyss schliesst hieraus, dass in der Zeit vor 1606 zwei verschiedene Weihnachtssingen nebeneinander existiert haben 27 . Da der Verfasserin dieser Seminararbeit die besagt Urkunde nicht vorliegt und somit nicht nachprüfbar ist, über welchen Zeitraum dort berichtet wird, kann aber nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden, dass mit jenem missbräuchlichen Singen die Sebastianibrüder selbst gemeint gewesen sein könnten. 25 Wyss, Gottlieb: Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. 1930, S. 21. Wyss, Gottlieb: 1541-1941. Vierhundert Jahre Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in Rheinfelden. Festschrift im Auftrage der Bruderschaft St. Sebastian zu Rheinfelden. Rheinfelden 1941, S. 8. 26 27 Ders., S. 9. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 10 3 TRÄGER: DIE SEBASTIANI-BRUDERSCHAFT 3.1 Gründungsgeschichte 3.1.1 historisch Das Brunnensingen wie die Gründung der Sebastianibruderschaft geht zurück auf das Jahr 1541 28 , als aufgrund der Pest die Einwohnerzahl Rheinfeldens stark dezimiert und die soziale Lage desolat war. Wie desolat, verdeutlicht ein Bick in Ernst Bröchins Kulturhistorische Rheinfelder Chronik: Im Jahr 1540, also kurz vor der Gründung der Sebastianibruderschaft, zählte die Stadt Rheinfelden "ungefähr 800 Personen" 29 . Für das darauffolgende Jahr 1541 weiss er zu berichten "in der Stadt und Umgebung sterben gegen 700 Personen an der Pest. Gründung der Sebastianibruderschaft" 30 . Rochholz berichtet sogar, dass Rheinfelden selbst „um die Mitte Oktobers 1536 mehr als zur Hälfte ausgestorben“ war31. Damals schlossen sich zwölf Männer zu einem Bund zusammen, der es sich zur Aufgabe machte, unter der Schutzherrschaft des Pestheiligen Sebastian von Narbonne Pestkranke zu pflegen und die Toten zu bestatten. Um die weitere Verschonung vor der Pest und anderem Übel vom Himmel zu erflehen wurde der Schwur abgelegt, fortan jährlich wiederkehrend das damals gebräuchliche Weihnachtslied an den sieben 32 Hauptbrunnen der Stadt abzusingen, die seither oft auch als Pestbrunnen bezeichnet wurden. Zu unbezeichneter Zeit gingen "spätere Nachfolger" die weitere Verpflichtung ein, dieses Ritual auch in der Neujahrsnacht abzuhalten "mittels beigefügtem Neujahrswunsch, in welchem sie andachtsvoll die gnädige Fürbitte des heiligen Blutzeugen und Martirers Sebastian besonders in Anspruch nahmen, dass er in Pest- und Todesgefahr mit seiner Fürbitte uns wolle beistehen"33. Im Vorbericht des Bruderschaftsbuches steht zwar auf den ersten Blick das Jahr 1543, was von allen Seiten jedoch als irrtümlich bezeichnet wird. Als Gründungsjahr besteht aber bei der Bruderschaft sowie der einschlägigen Literatur der Konsens 1541 – wohl auch aufgrund der relativ detaillierten zeitlichen Angaben zu den verschiedenen Pestepidemien im gleichen Bericht. Im sprachlichen Kontext, bezieht sich die Jahreszahl 1543 auf das zweifache Brunnensingen. Es könnte sich um einen Hinweis darauf handeln, dass der Neujahrswunsch 1543 eingeführt wurde. 28 29 Bröchin, Ernst: Kulturhistorische Rheinfelder Chronik. Rheinfelden 1944, S. 32. 30 Ders., S. 32. 31 Rochholz, Ernst Ludwig: Schweizersagen aus dem Aargau. 1856/ 1980, S. 387. Spätestens seit den 1980erjahren werden nur mehr sechs Brunnen angelaufen. Was im Laufe der Jahrhunderte mit dem siebten Brunnen geschehen ist, liess sich nicht zweifelsfrei ermitteln, s. a. Kap. 4.5, S. 23. 32 33 Münzner, Fritz: Das Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in Rheinfelden. 1971, S. 9. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 11 Da in mittelalterlicher Zeit das Auftreten der Pest auf verdorbenes Wasser zurückgeführt wurde und die Pest von 1541 laut Überlieferung34 in der Fröschweid ausgebrochen sein soll, beginnt der Zug der Sebastianibrüder an der dortigen Wasserquelle, dem heutigen Storchenbrunnen. Wyss findet eine Parallele für einen derartigen Umgang mit Brunnen in Laufen im Berner Jura, wo in einer Prozession die Statue des Hl. Sebastians um die "grossen Brunnen des Städtchens" getragen würde35. Abbildung 3: Sebastiani Bruderschaft 1941/42 (Wyss 1941) 3.1.2 sagenhaft Auch die regionale Sage weiss von der Gründung der Bruderschaft zu berichten. Bei Weber und Fröhlich bleiben in der von der Pest aufs Stärkste dezimierten Stadt Rheinfelden zwölf (alte) Männer dank ominöser Heilkräuter, deren Geheimnis ihnen von einem Himmelsvöglein offenbart wurde, von der Seuche verschont. Sie schliessen sich zu einer Bruderschaft zusammen, 34 So z. B. Münzner, Fritz: Das Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in Rheinfelden. 1971, S. 11. 35 Wyss, Gottlieb: Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. 1930, S. 9. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 12 pflegen verlassene Kranke und bestatten die Toten36. Eine Fortsetzung davon findet sich bei Rochholz: "Diese Verbrüderung besteht noch heute [d. i. 1856, d. V.]. An dem Tage, wo jenes Vögelein erschien, müssen nun alljährlich zwölf Ratsherren oder auch sonst hierfür bestimmte Männer den Morgen in der Stadt-Kirche zubringen. Nachmittags ziehen sie zu einem gemeinsamen Mahle in ein Haus, das man für das älteste der Stadt hält; es soll aus Heidenzeiten stammen und ein Schatz darinnen vergraben liegen. Zu Weihnachten um Mitternacht halten sie dann in langen Mänteln und Laternen tragend einen Umzug, und singen an dem Hauptbrunnen erst das vorlutherische Lied ab 'Der Tag, der ist so freudenreich aller Kreatur', sodann aber nachfolgendes Lied, das aus den Zeiten der Geissler-Sekten herzustammen scheint und den heiligen Sebastian als Nothelfer anruft"37 Was Münzner als sich nicht an die Tatsachen haltend empfindet38, weist doch erstaunlich viele stimmige Details auf. Tatsächlich haben die Sebastiani in früheren Zeiten den Morgen des Neujahrstages beim Hochamt in der Martinskirche zugebracht39 und tun dies auch heute noch am 20. Januar, dem Sebastianstag. Auch ein Bruderschaftsmahl gibt es noch heute, allerdings in keiner bestimmten Lokalität. Das älteste Haus Rheinfeldens und der darin vergrabene Schatz sind wohl eher eine Reminiszenz an anderes lokales Sagengut40 . Die Aussage über das Lied ist aber nachdenkenswert, denn die Textherkunft besonders des Neujahrsliedes ist nicht abschliessend geklärt 41 . Eine Verbindung zu den Geissler-Sekten würde evtl. die numerologischen Fragmente42 erklären. 36 Weber, Ulrich; Fröhlich, Heinz: Aargauer Bräuche. Aarau 1983, S. 29. 37 Rochholz, Ernst Ludwig: Schweizersagen aus dem Aargau. 1856/1980, S.385-386. 38 Münzner, Fritz: Das Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in Rheinfelden. 1971, S. 7. 39 vgl. Kap. 4.3, S. 19. Wer z. B. eine Stadtführung durch das historische Rheinfelden unternimmt, wird an einem (alten) Haus Halt machen, um das sich Erzählungen über einen wegen Unterschlagung o. Ä. gesuchten Mann ranken, der sich dort mit seinem Geld jahrelang unbemerkt versteckt gehalten haben soll. Dies könnte durchaus die Grundlage für Geschichten über einen vergrabenen Schatz in einem Haus abgeben. Um allerdings die Sebastiani passend ins Bild zu bekommen müsste das betreffende Haus (einmal) eine Gaststätte (gewesen) sein. 40 41 s. a. Kap. 4.6, S. 25. Zwei der Strophen beginnen mit einer Aufzählung „und als es war am achten Tag“ bzw. „und als es war am zwölften Tag“. Laut PD Dr. theol. Michael Bangert waren religiöse Lieder mit zählenden Strophen bei den Geisslern des Mittelalters sehr verbreitet. Fragmente davon fänden sich heute noch „wo traditionell Männergruppen singend draussen herumziehen“ (Vorlesung „Mystik im Mittelalter des christlichen Abendlandes“ an der Universität Basel, Herbstsemester 2011). 42 DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 13 3.2 Abgrenzung: Die andere Bruderschaft Für Verwechslungen und Vermischungen sorgt ab und an eine andere Vereinigung: Zeitweilig gab es eine zweite Bruderschaft des Heiligen Sebastians in Rheinfelden, die kurzzeitig neben derjenigen von 1541 existiert hat. Diese 1682 aus religiösen Gründen ins Leben gerufene, wohl ursprünglich überregionale Gemeinschaft war im Vergleich zu derjenigen, die Das Brunnensingen durchführt nur von kurzem Bestand, da sie im Zuge der Aufklärung wieder aufgelöst wurde. Aus dem aus dieser Zeit erhaltenen Satzungsbuch43 dieser Vereinigung werden einschneidende Unterschiede sichtbar. Zum Einen beweist die reine Existenz des Satzungsbüchleins eine stark religiöse Orientierung: Es wurde mit dem erklärten Ziel in Druck gegeben, sich damit als offiziell anerkannte Betgemeinschaft „von einer Hochlobl. [sic!] Bischofflichen Baaßlerischen Curiâ confirmieren zu lassen“44. Zwar besitzt auch die ältere Bruderschaft bis heute ein Bruderschaftsbuch, welches unter anderem auch Satzungen enthält, dieses wird jedoch handschriftlich und zu rein internen Zwecken geführt. Auch spielt bei der Bruderschaft des Brunnensingens die Religion eher eine untergeordnete Rolle. Ihre Gründung geht auf die akute Notwendigkeit von Krankenpflege und Bestattung zurück und bezieht sich auf die Gesamtbevölkerung Rheinfeldens. Dagegen lagen der Betgemeinschaft eher auf theoretischer Ebene „Trost und Heyl“ der Kranken als Nächstenliebe „zu eygner Leibs- und Seelen-Wohlfahrt“ am Herzen 45 . Bei Pestfällen mussten lediglich die eigenen Mitglieder versorgt werden. Sie war streng organisiert mit einem geistlichen Oberhaupt, einem Präfekten, zwei Assistenten und einem Sekretär und besass eine Art Ältestenrat von 32 Personen. Ämtervergaben mussten vom geistlichen Oberhaupt bestätigt und öffentlich von der Kanzel verkündet werden46. Abgesehen von den Ämtern und dem Ältestenrat waren in der Betgemeinschaft auch Frauen zugelassen 47 , die Mitgliederanzahl spielte keine Rolle. Das Original findet sich in der Ausstellung zur Stadtgeschichte des Fricktaler Museums Rheinfelden. Für die Recherchen zu dieser Arbeit wurde ein Faksimile herangezogen, das sich im Archiv des Fricktaler Museums befindet. 43 44 Ursprung und Satzungen der Sebastiani-Bruderschaft. Luzern 1696, S. 9. 45 Ebd., S. 10. 46 Ebd., S. 13-14. An allen adäquaten Stellen ist immer von „Bruederen und Schwoesteren“ die Rede. Bei der Beschreibung der Ämter entfällt dies und beim Ältestenrat ist dezidiert von „den zwey und dreysig aeltisten Bruedern“ die 47 DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 14 All dies war der heute noch existierenden Sebastianibruderschaft von jeher fremd. Sie besteht, wohl in christlicher Anlehnung an die Zahl der Apostel, bis heute aus zwölf Männern. Deren schlichte Einteilung in Senior, Vizesenior und Laternenträger ist in keinerlei Hinsicht mit den Hierarchiestrukturen der anderen, vergangenen Gemeinschaft des Heiligen Sebastians vergleichbar. Einzig den Schutzpatron Sebastian von Narbonne haben die beiden Vereinigungen gemeinsam und mit ihm die Verpflichtung, am Festgottesdienst des Heiligen, dem 20. Januar, teilzunehmen. Vor dem Sebastiansaltar – der älter ist als beide Vereinigungen 48 - trafen die zwei Bruderschaften also mindestens einmal im Jahr aufeinander. Auch die Möglichkeit von doppelten Mitgliedschaften muss für die damalige Lebenswirklichkeit angenommen werden. 3.3 Zusammensetzung Die Bruderschaft besteht auch heute noch aus zwölf männlichen Mitgliedern. Derjenige mit der längsten Mitgliedschaft steht der Bruderschaft als Senior vor, derjenige mit der zweitlängsten Mitgliedschaft wird als Vizesenior bezeichnet. Das jüngste Mitglied (nach der Anzahl der Jahre als Sebastianibruder, nicht des Lebensalters) fungiert als Laternenträger beim Brunnensingen. Diese Regel scheint jedoch mittlerweile dehnbar, denn nach Aussage des derzeitigen Seniors der Bruderschaft trägt in den letzten Jahren aus internen Gründen der Vizesenior die Pestlaterne. Nach Wyss ist es der Sakristan der St. Martinskirche, der - traditionsgemäss ein Mitglied der Bruderschaft - die Pestlaterne anzündet und voran trägt 49 . Wyss scheint jedoch hier einem Irrtum unterlegen. Zum Einen ist die Tradition, das Licht dem jüngsten Mitglied anzuvertrauen mit einer solchen Vorgehensweise nicht vereinbar: Es ist schlicht unmöglich, dass der Sakristan der St. Martinskirche zu jeder Zeit auch das neueste Mitglied der Sebastianibruderschaft ist. Zum Anderen spricht die sehr ernst genommene Tradition der Brüder, ihre Neuzugänge extrem handverlesen auszuwählen, stark dagegen, eine blosse Berufsbezeichnung als Passierschein zuzulassen. Drittens ist z. B. momentan die Stelle des Sakristans von St. Martin weiblich Rede (Satzungsbuch 1696, S. 13-14), so dass wohl davon ausgegangen werden kann, dass die Führung Verwaltung dieser Gemeinschaft reine Männersache war. 48 S. dazu Wyss, Gottlieb:1541-1941. Vierhundert Jahre Brunnensingen . 1941, S. 22-25. 49 Wyss, Gottlieb:1541-1941. Vierhundert Jahre Brunnensingen. 1941, S. 6. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 15 besetzt. Da die Brüder ausdrücklich zu keiner Zeit Schwestern aufgenommen haben (womit auch die vorhandene Literatur konform geht), wäre eine solche Tradition spätestens seit Anstellung der ersten Sakristanin hinfällig gewesen, hätte man diese Männerklausel nicht umwerfen wollen. Mitglieder werden von der Bruderschaft ernannt. Fluktuation möglichst auszuschliessen ist ein grosses Anliegen der Brüder. Es sind ausnahmslos langjährige Bewohner, wenn nicht Ortsbürger von Rheinfelden von Interesse. Es sollte ihnen eine spezielle Verbundenheit mit der Stadt bescheinigt werden können, denn die Mitgliedschaft endet im Allgemeinen nur mit Wegzug oder Tod, wobei der Wohnortswechsel als das grössere (weil vermeidbare) Übel erscheint. Wird ein Platz in der Bruderschaft frei, so rückt einer der zwei Ersatzmänner nach. Potentielle Neuanwärter, die ihre Zeit in der Bruderschaft wiederum als Ersatzmänner beginnen, werden von den Brüdern nach reiflicher Überlegung benannt und kontaktiert. Ausschlaggebende Faktoren sind die bereits genannte Verbundenheit mit der Stadt, eine gute Singstimme und eine positive Charaktereinschätzung seitens der Mehrheit der Brüder. Derzeit ist es z. B. Fall, dass ein ursprünglich durch Wegzug ausgeschiedener Bruder nach Rheinfelden zurückgekehrt ist. Auch dieser muss nun ein weiteres Mal mit den Anfangsjahren als Ersatzmann beginnen. 3.4 Sichtbarkeit Das Brunnensingen stellt die grundliegende Hauptaufgabe der Sebastianibruderschaft dar. Sie wurde zu diesem Zweck gegründet und besteht auch heute noch deswegen. Mit dieser Tradition wird die Bruderschaft in der Öffentlichkeit sichtbar. Daneben gibt es nur mehr wenige Berührungspunkte mit der Aussenwelt und keiner ist derart zentral und allgemeingültig. Wenn die Brüder singend durch die Gassen ziehen, sind sie für jeden Anwesenden wahrnehmbar, sei er nun absichtlich oder zufällig in ihren Radius geraten. Dabei ist nicht zu vergessen, dass dieser Radius nicht nur visuell aus dem Altstadtrundgang und damit dem Erscheinen der Brüder in den Gassen und an den Plätzen der Brunnen besteht. Je nach Umgebungslautstärke ist er in akustischer Form noch weiter zu ziehen. Anschliessend an das Brunnensingen an Weihnachten gehen die Brüder geschlossen in den Weihnachtsgottesdienst der St. Martinskirche. Die DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 16 Bruderschaft hat dort ihren eigenen Platz am Sebastiansaltar. So ist sie einerseits klar als abgesetzte Gruppe erkennbar, allerdings hat sich das Publikum mittlerweile auf diejenigen Bevölkerungsmitglieder verringert, die gleichfalls den Mitternachtsgottesdienst besuchen. Auch sind die Brüder nun nicht mehr zentraler Mittelpunkt des Geschehens. Zudem befinden sich der Sebastiansaltar und damit auch die Bänke der Sebastianibrüder im linken Seitenschiff. Nichtsdestotrotz bleibt der von der Tradition der Bruderschaft vorgeschriebene Besuch des Mitternachtsgottesdienstes an Weihnachten ein erkennbarer öffentlicher Akt. Eine ähnliche Lage ergibt sich am Orgelkonzert im Anschluss an das Brunnensingen zu Silvester. Dies allerdings wohl meist mit geringerer Besucherzahl vorgeschrieben wäre, und anwesend ohne zu dass sein. es den Weiters Brüdern direkt erscheinen die Sebastianibrüder am 20. Januar, dem Sebastianstag, zum Gottesdienst in der St. Martinskirche. Zur Tradition der Bruderschaft gehört weiters einmal im Jahr das sogenannte Bruderschaftsmahl. Alle Mitglieder treffen sich in einem Restaurant zum gemeinsamen Essen. Sebastianibrüder im Bei dieser Gelegenheit Bruderschaftsbuch Entscheidungen getroffen bzw. besprochen. Abbildung 4: Storchenbrunnen 1941 (Wyss) und 2011 werden festgehalten die Namen und der allfällige DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 17 4 DAS BRUNNENSINGEN DURCH DIE ZEIT Es macht ganz den Eindruck, als sei das Brunnensingen seit seiner Initiierung ohne grosse Unterbrüche beibehalten worden. Zumindest seit 1845 lässt sich anhand der Eintragungen im Bruderschaftsbuch erkennen, dass es seither nur einmal ausfallen musste. Schuld war die spanische Grippe 1918 und ein deswegen erlassenes "Versammlungs- & Gesangsverbot"50. Anfang des 19. Jahrhunderts scheint es Bestrebungen gegeben zu haben, den alten Brauch abzuschaffen. Dies wurde durch den sehr engagierten Senior Theodor Nussbaumer verhindert. Zum Dank dafür heisst heute der Brunnen am Obertorplatz Theodorsbrunnen51. Den zweiten Weltkrieg hat die Tradition abgesehen von Umleitungen des üblichen Weges oder Anpassung der Uhrzeit einigermassen unbeschadet überstanden. Ein im Bruderschaftsbuch eingeklebter Brief von 1941 zeugt von der Ergriffenheit eines Kommandanten der Militärsanitäranstalt: Er bedankt sich bei der Bruderschaft auch im Namen von Patienten und Personal für ein unvergessliches Erlebnis. Seit Kriegsende 1945 hat auch für die Sebastiani die Zeit der Diskografie begonnen. In der Universitätsbibliothek Basel findet sich ein undatiertes Tondokument, das mit einiger Wahrscheinlichkeit eine der ersten ausgestrahlten Audioaufnahmen des Brunnensingens ist. Bruderschaftsbuch und diverse Literatur berichten von einer Rundfunksendung am Silvesterabend 1945, an dem mit vorgelesenen Texten von Gottlieb Wyss durchsetzt, einige Strophen für die Auslandsschweizer ausgestrahlt wurden. Das erwähnte Tondokument deckt sich inhaltlich genau mit diesen Angaben. Auch der akustische Eindruck, der zwar Wände, aber gleichwohl keinen geschlossenen Raum erahnen lässt, erklärt sich sehr gut aus den Angaben von Veronika Günther, diese Aufnahme sei im Spätherbst 1945 von Radio Basel im Hof des Rathauses entstanden52. Ab und an interessieren sich örtliche Rundfunk- oder Fernsehsender für das Brunnensingen. Auf einen solchen Besuch deutet z. B. im Jahr 1964 die kleine 50 Vgl. Bruderschaftsbuch 1917/18. 51 s. a. Kap. 4.5, S. 22 Günther, Veronika: Schwedenlied und Sebastianilied. Schweizerische Volksmusik, Sammlung Constantin Brailoiuo (1893-1958). In: Neujahrsblätter 1988, S. 121-126. 52 DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 18 Zeichnung einer Filmkamera (neben dem schriftlichen Eintrag des Ereignisses) im Bruderschaftsbuch. Die vorläufig letzte Station der Discografie bildet die 1996 entstandene DVD (auch als reine Audio CD vorhanden) "Sebastiani-Bruderschaft Rheinfelden: Weihnachts- und Neujahrslied" 53 . Dieses Bildmaterial diente 1997 der Sonderausstellung "Die Pest und die Sebastiani-Bruderschaft Rheinfelden" im Fricktaler Museum zur Illustration und wird heute noch vom Tourismusbüro Rheinfelden vertrieben. Eine gekürzte Fassung findet sich immer noch im Pestzimmer des Fricktaler Museums. Abbildung 5: Kuttelbrunnen 1941 (Wyss) und 2011 4.1 Das Ritual 4.1.1 Beginn Beim Glockenschlag beginnt der Zug von Brunnen zu Brunnen, der nach 60 Minuten wieder an der Kirche endet. In der Literatur sowie im Erleben und Beschreiben von Beteiligten sind teilweise missverständliche bzw. widersprüchliche Angaben zum Schlagen der Kirchturmuhr und dem davon abhängenden Beginn des Marsches der Sebastianibrüder zu finden. Dies kommt nicht daher, dass sich der Startzeitpunkt analog der unterschiedlichen Beschreibungen über die Zeit verschoben hätte, sondern liegt vermutlich daran, dass um die jeweiligen Uhrzeiten (und besonders an Weihnachten) mehrere Glocken zu hören sind. So ist es wohl nur dem genauen Kenner 53 DVD Sebastiani-Bruderschaft Rheinfelden: Weihnachts- und Neujahrslied. Basel 1996. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 19 möglich, die richtige Glocke, nämlich die der St. Martinskirche, herauszuhören. Für zusätzliche Verwirrung sorgt das heutzutage nicht mehr allgemein geläufige Schema, nach dem die meisten Kirchenglocken die Zeit angeben: Vor der Zahl der jeweiligen Uhrzeit zeigt viermaliges Schlagen die volle Stunde an. Sowohl die Marschformation mit dem Träger der sogenannten Pestlaterne an der Spitze als auch die Standpositionen an den einzelnen Brunnen sind schriftlich festgelegt und durch die Jahrhunderte ungefähr beibehalten worden. Die Formation war früher paarweise, wie Wyss in einem Vergleich der alten Satzungen des Bruderschaftsbuches mit den Gebräuchen zur Entstehungszeit seines Textes (um 1941) feststellt54. Hintergründe für diese Veränderung oder ein Zeitpunkt sind aber nicht genannt. Obwohl Wyss nach eigenen Angaben der damalige Senior der Bruderschaft als lebendige Quelle zur Verfügung stand55, muss er konstatieren "seit wann die heutige Prozessionsform besteht, vermag ich nicht zu sagen"56. Auch dem heutigen Senior sind diese Umstände unbekannt. Noch 1926 betont Anton Brogli die paarweise Gruppierung: "Es sollen alle zwölf Brüder […] sich […] ordentlich versammeln […] sich paarweise nach Rangordnung […] auf die bestimmten Hauptplätze fortbegeben. […] Nach ganz vollendetem Gesange verfügen sich sämtliche Brüder wiederum paarweise zu den weiteren Stationen"57. Eine weitere Veränderung lässt sich auch in Bezug auf den Treffpunkt feststellen: In den Statuten des Bruderschaftsbuches ist zu lesen: "[Es] sollen alle 12. Brüder in brüderlicher Eintracht und Liebe am Vorabend des Weihnachtsfestes sowohl als Neujahrstage sich bei einem der 12. Brüder zur gehörigen Zeit ordentlich versammeln […]"58. Auch Wyss berichtet später ein Gleiches und betont ausserdem, diese Regel werde nebst anderen Verordnungen "noch heute [also 1941, d. V.] gewissenhaft befolgt" 59 . 2011 ist hiervon nichts mehr zu bemerken. Das Brunnensingen startet offiziell vor der Martinskirche, in deren Innerem sich die Brüder vorher sammeln. Laut Aussage des amtierenden Seniors ist der 54 Wyss, Gottlieb:1541-1941. Vierhundert Jahre Brunnensingen. 1941, S. 18. 55 Ders., S. 36. 56 Ders., S. 6. 57 Brogli, August: Die Sebastiansbruderschaft zu Rheinfelden (Schweiz). 1926, S. 96. 58 Vorbericht des Bruderschaftsbuches, S. 11, §5. 59 Wyss, Gottlieb: Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. 1930, S. 17. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 20 Versammlung in der Kirche auch kein privates Treffen bei einem der Mitglieder vorgeschaltet. 4.1.2 Rundgang Ebenfalls statuarisch vorgeschrieben ist das Anlaufen der Hauptbrunnen grundsätzlich sowie der Beginn bei der Froschweid, was auch heute noch eingehalten wird. Die Reihenfolge bleibt ungewiss. Wahrscheinlich ist, dass sie jeweils der Praktikabilität eines reibungslosen Rundgangs unterlag, denn durch stadtbauliche Neuerungen wurden immer wieder Standortabweichungen bei den Brunnen vorgenommen. Einer ging über die Jahrhunderte komplett verloren60, so dass mittlerweile nur mehr sechs Brunnen angelaufen werden. Ähnlich dem Basler Morgestraich bemühen sich Bevölkerung und offizielle Stellen um historisch korrekte Erlebbarkeit durch Verdunklung der betroffenen Strassen. Speziell an Silvester scheint dieses Ziel allerdings zunehmend schlechter erreichbar zu sein. Im Gegensatz zu den ausgestorbenen Gassen der pestgeplagten Mittelalterstadt wird der Gang der Brüder aber heutzutage von vielen Zuschauern begleitet. Anschliessend gehen an Weihnachten die Sebastianibrüder wie auch die meisten Zuschauer in den Weihnachtsgottesdienst der St. Martinskirche. In Anlehnung daran hat sich, initiiert von einem Bruderschaftsmitglied, an Silvester ein Orgelkonzert am selben Ort etabliert. Noch 1941 schreibt Wyss über den Silvesterabend: "Eine kirchliche Feier folgt an diesem Tage nicht; die Mitglieder verbringen den Abend in freiem Beisammensein gewöhnlich in dem Wirtshaus, das für das Brudermahl vorgesehen ist für das betreffende Jahr."61 4.2 Augenfälliges Laut Fricktaler Museum existieren derzeit drei (gleiche) Pestlaternen. Jeweils eine steht in der Ausstellung des Museums zur Pest in Rheinfelden, eine befindet sich im Lager und eine steht, als Artefakt der Sebastianibruderschaft, in der Martinskirche vor dem Sebastiansaltar. Die Gesprächspartner sowohl aus der Bruderschaft als auch vom Museum sind sich einig, dass diese sehr alt ist. Hin und wieder müsse eine der kleinen Glasscheiben ausgetauscht werden, ansonsten sind keinerlei Vorfälle bekannt. Die weisse Farbe der Laterne legt nahe, dass sie zumindest gelegentliche Farbauffrischungen erfahren hat. Der 60 s. Kap. 4.5, S. 23. 61 Wyss, Gottlieb:1541-1941. Vierhundert Jahre Brunnensingen. 1941, S. 7. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 21 Stab, an dem sie angebracht ist, erinnert mit seiner bunten Farbgestaltung an mittelalterliche Gegenstände ähnlicher Art. Ob nun genau diese Laterne (oder auch nur eine der vorhandenen) tatsächlich seit 1541 eine treue Begleiterin der Bruderschaft und damit des Brunnensingens ist, kann wohl nur durch eine umfassende kunsthistorische Untersuchung geklärt werden. Abbildung 6: Albrechtsbrunnen 1941 (Wyss) und 2011 Das feierliche Schwarz der Kleidung wurde, wohl in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, durch Zylinder ergänzt. Schon Wyss beklagt, nicht genau feststellen zu können, wann genau dieser Hut Eingang in die Garderobe der Sebastiani fand62. Dass er nicht seit der Gründung Teil des äusseren Eindrucks des Brunnensingens gewesen sein kann ergibt sich aus dem im Vergleich zur Bruderschaft jugendlichen Alter dieser Modeform. Interessant ist auch die dunkle Kleidung der Brüder. Laut derzeitigem Senior ist diese nicht durch die Statuten vorgeschrieben. Dass heute schwarze Mäntel, Handschuhe, Socken, Schuhe und Halstücher unverzichtbar sind, ist schlicht gängige Praxis. Auch keiner der einschlägigen Autoren weicht in seiner Beschreibung von diesem dunklen Erscheinungsbild der Brüder ab. Dem 62 Wyss, Gottlieb:1541-1941. Vierhundert Jahre Brunnensingen. 1941, S. 6. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 22 Beobachter fällt sofort die Funktion dieser Gewandung ins Auge: In der verdunkelten Altstadt ist die Pestlaterne der Bruderschaft das einzige Licht. Sie und das Lied, das an jedem Brunnen erklingt sind die eigentlichen Kernstücke des Brunnensingens. Nur schon weisse Hemdkragen würden hier die Aufmerksamkeit ablenken. Rochholz gibt in den Erläuterungen zur Sage der zwölf Ratsherren folgenden Hinweis zum Umgang mit der Pest in früheren Zeiten: „Ein Denkmal dieser Schreckenszeiten ist in Basel das sogenannte graue Tuch, in welches sich sonst die Todtenbruderschaften kleideten“63. Hier könnte der Ursprung für die Selbstverständlichkeit dunkler Kleidung bei den Sebastiani liegen. 4.3 Bruderschaftsinterna Manche kleinere Änderung lässt sich aber auch datieren. So wird 1888/89 der Beschluss gefasst, nicht mehr (wie früher einmal festgelegt) jedes Jahr ein anderes Restaurant für das Bruderschaftsmahl anzulaufen. Die hier ausser Kraft gesetzte Regel diente wohl dazu, die Etablierung eines bevorzugten Stammlokals zu unterbinden. Anhand der Eintragungen im Bruderschaftsbuch lässt sich aber ersehen, dass es von 1845 bis heute kein solches gegeben hat. Das Bruderschaftsmahl wurde durch die Jahrhunderte immer auf die eine oder andere Art von offizieller Seite her unterstützt. 1889 wird ein "ortsbürgerlicher Fonds" erwähnt, aus dem der Betrag für das Essen veranlagt würde 64 . Bei Wyss (1930) heisst es, dass "der Rat einen Beitrag an ein 'Brudermahl' spendet"65, 1941 ist es die Ortsbürgergemeinde66, was bis heute so geblieben ist. Jährlich erhält die Bruderschaft von der Ortsbürgergemeinde als Anerkennung 2000 Franken, die zusammen mit den jährlich nach eigenem Ermessen entrichteten Mitgliederbeiträgen und externen Gaben die Kasse der Sebastianibruderschaft bilden. Denn die Bruderschaft erhält gelegentlich Spenden und dies nicht immer in Geldform. Ihr feierliches Auftreten führ immer wieder dazu, dass der eine oder andere auf einem Rheinfeldener Dachboden entdeckte Zylinder aus Urgrossvaters Zeiten eine neue Bleibe findet. So befinden sich immer genügend stilechte 63 Rochholz, Ernst Ludwig: Schweizersagen aus dem Aargau. 1856/ 1980S. 387. Bruderschaftsbuch 1889; vgl. auch Münzner, Fritz: Das Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in Rheinfelden. 1971, S. 16. 64 65 Wyss, Gottlieb: Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. 1930, S. 8-9. 66 Ders., S. 8. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN Kopfbedeckungen im grossen 23 Schrank der Sebastianibruderschaft im christkatholischen Gemeindehaus. Allerdings selten in einer passenden Grösse, denn die Köpfe der Sebastianibrüder fallen heute meist grösser aus als die ihrer Mitmenschen zur Zeit der Zylinderhüte. Wenn ein Neues Mitglied ernannt wird, das keinen eigenen Zylinder besitzt, erhält es aus besagtem Schrank eine Dauerleihgabe. Diesem kleinen Vorritual folgt beim nächsten besonderen Anlass – z. B. dem Bruderschaftsmahl - die offizielle Aufnahme in die Bruderschaft. „Ich N. N. gelobe Gott, Maria der heiligen Mutter Jesu und dem heiligen Sebastian, als Fürbitter und besonderer Patron alles dasjenige heilig zu halten (:was in meinen Kräften besteht:) was die 12. Brüder Hand in Hand gelobt haben: Ich gelobe keinen meiner Brüder in Noth und Tod zu verlassen und nach Kräften allen denjenigen beizustehen, die von der Pest (:wovon uns Gott, und unsere heiligen Patronen gnädigst verschonen mögen:) befallen werden sollten. ‚Ich gelobe gleich meinen Brüdern, wann es Noth thun sollte, die Leute von den Gassen und Strassen wegzuschaffen und dieselben zu beerdigen helfen‘ – doch wolle uns Gott, Maria die Mutter Jesu und unser Fürbitter St. Sebastian vor allem Übel gnädigst bewahren.‘“67 So lautete nach der Überlieferung im Bruderschaftsbuch der Bundesschwur der ersten Sebastianibruderschaft. Lange Zeit haben auch die jeweils neuen Mitglieder diesen Schwur geleistet, wenn sie nach Verlesen der Statuten ihren Namen ins Bruderschaftsbuch eintrugen. Inzwischen läuft die Aufnahme etwas moderner ab. Schon Wyss weiss zu berichten: "Diese Aufnahme erfolgt heute [1941, d. V.] weit formloser, ohne Bundesschwur und Gelöbnis, da die Vereinigung keine Jahresversammlung mehr hält" 68 . Der Schwurtext wurde über die Jahre immer ein wenig mehr modernisiert, gekürzt und den aktuellen Gegebenheiten angeglichen. Schon bei der Aufnahme des heutigen Seniors Mitte der 1980erjahre war dies so und er selbst hat nach seinem Amtsantritt diese Idee weitergeführt. Insbesondere die Verpflichtung an den drei offiziellen Terminen der Bruderschaft (den beiden Brunnensingen und dem Gottesdienst am Sebastianstag) zuverlässig zur Stelle zu sein ist eingearbeitet worden. Kommt heute ein Neuling dazu, so wird dieser modernisierte Schwur vom Senior verlesen und der neue Mitbruder gibt feierlich seine Zustimmung. Die Gelegenheit zu diesem Ereignis ergibt sich oft während des Jahres, z. B. am Bruderschaftsschwur, wie er im heutigen Bruderschaftsbuch im Vorbericht, S. 9-10, überliefert ist. Alle Unterstreichungen und sonstigen Zeichen wurden 1:1 aus der Vorlage übernommen. 67 68 Wyss, Gottlieb:1541-1941. Vierhundert Jahre Brunnensingen. 1941, S. 18. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 24 Jahresausflug der Bruderschaft, wenn alle Mitbrüder gemeinsam an einem speziellen Ort versammelt sind. Es ist also nicht (mehr) an einen speziellen Termin gebunden. Laut Wyss schreiben die Satzungen der Sebastianibruderschaft einen weiteren Kirchenbesuch vor: Dem Frühamt am Neujahrstag sollten die Brüder am Sebastiansaltar beiwohnen "um Sebastian um Schutz für Menschen und Tiere vertrauensvoll anzurufen" 69 . Dieser Vorschrift wurde aber bereits zu seiner Zeit nicht mehr entsprochen. Ebenso fungierten die Brüder auch damals schon nicht mehr als Sargträger für einen verstorbenen Mitbruder, wie dies ursprünglich einmal der Fall war. Jedoch sind bei der Bestattung eines gestorbenen Mitgliedes immer noch alle Mitbrüder anwesend. Ein Kranz wie ein paar passende Worte, die vom Senior vorgetragen werden, dürfen nicht fehlen. 4.4 Das Bruderschaftsbuch Sozusagen der innere Kern der Sebastianibruderschaft von Rheinfelden ist das Bruderschaftsbuch. Es handelt sich hierbei um eine Art fortlaufende Protokollsammlung bzw. Chronik, die handschriftlich nach eigenem Ermessen vom jeweiligen Senior geführt wird. In ihm finden sich die Geschichte der Bruderschaft, ihre Statuten und eine jährliche Liste der zwölf Brüder bzw. deren jeweiliger Unterschrift, Ein- und Austritte sowie wichtige, die Bruderschaft betreffende Angelegenheiten (meist Todesfälle). Ab der Zeit des ersten Weltkrieges finden sich kurze Berichte über wichtige Ereignisse des behandelten Jahres 70 . Das heute in Gebrauch befindliche Buch ist mit dem Titel "Kurze Geschichte und Statuten von der von 12 hiessigen Bürgern verlobten und gestifteten Bruderschaft heiligen nebst Anhang Weihnachts- Neujahrsliedes" überschrieben des und und wurde im Jahr 1845 von Friedrich Lützelschwab begonnen. Vorhergehendes Material ist bedauerlicherweise 69 Wyss, Gottlieb:1541-1941. Vierhundert Jahre Brunnensingen. 1941, S. 18. 70 s. a. Münzner, Fritz: Das Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in Rheinfelden. 1971, S. 16. Abbildung 7: Bruderschaftsbuch, Neujahrslied DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 25 verloren gegangen. Jedoch enthält das heutige Buch auf den ersten 31 Seiten (die als einzige Zusammenfassung nummeriert der sind) historischen eine der mit „Vorbericht“ Umstände der betitelte Gründung der Bruderschaft sowie deren Statuten, die Lieder und den Beitrittsschwur. Es gibt in der Geschichte Rheinfeldens verschiedene Gelegenheiten, die zur Ursache für das Verschwinden eines älteren, ersten Bruderschaftsbuches bzw. vergleichbarer Unterlagen Dreissigjährige Krieg geeignet (1618-1648), wären: als Der "durch Schweden- die wenig bzw. rühmliche 'Evakuierung' von Pfarrer G. Irmler während der Schwedenkriege, […] wichtige Dokumente der Stadtgeschichte verloren[gingen]" 71 . Ausserdem der Siebenjährige Krieg (1756-1763) oder die verschiedenen Besetzungen von Rheinfelden, das im 18. Jhd. Duchgangsstadt für die verschiedensten Armeen war. So manche Plünderung erfolgte "sobald man mit dem Schlüssel und der Flasche nicht mehr beihalten konnte", wie Probst Anton Challamel von St. Martin schriftlich dem Bischof von Neveu klagt72. Der Vorbericht im Bruderschaftsbuch von 1845 bzw. dessen erster Teil macht allerdings stark den Eindruck einer direkten Abschrift aus älteren Quellen. Dies stellt auch Wyss fest: "Die heutige Fassung [der Satzung, d. V.] wurde 1845 von Friedrich Lützelschwab aufgezeichnet. Es handelt sich um eine Erneuerung, die durchaus den Eindruck einer getreuen Abschrift eines älteren Buches macht und im ganzen auf echte Überlieferung zurückgehen dürfte"73. Demnach muss das verschollene Bruderschaftsbuch 1845 noch existiert haben. Dass der auf vorherige Aufzeichnungen Bezug nehmende Teil des heutigen Buches gänzlich aus dem Gedächtnis aufgeschrieben wurde scheint unmöglich. Die Satzungen sind zu umfangreich und genau gefasst und es finden sich Hinweise auf direkte Zitate; ausserdem ist ein Verzeichnis der Mitgliedermutationen74 seit 1700 angeschlossen. 71 Bröchin, Ernst: Kulturhistorische Rheinfelder Chronik. Rheinfelden 1944, S. 119. 72 Rheinfelder Neujahrsblätter 1957, S. 35-40. 73 Wyss, Gottlieb:1541-1941. Vierhundert Jahre Brunnensingen. 1941, S. 16. Namens-Verzeichnis der Zwölf verbrüderten Bürger, wie dieselben seit den Jahren 1700. Abgegangen oder gestorben, - und bis und mit 1845. In die Löbl: Bruderschaft aufgenommen worden – und eingetreten sind.“ Vorbericht im Bruderschaftsbuch, S. 30. 74 DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 26 Auch der zweite Weltkrieg passt als Zeitperiode des Verschwindens nicht ins Bild. Denn bereits 1945 sind "alle vorhergehenden Bücher und Manuskripte vollständig der Vergessenheit anheim gefallen", wie der Senior anlässlich des 100sten Geburtstags des heutigen Bruderschaftsbuches 75 berichtet. Und so kann auch die Tatsache, dass zwischen Kriegsende und 1966 eine grosse Lücke in der Berichterstattung des Buches klafft 76 , nichts mit dem Verschwinden der alten Aufzeichnungen zu tun haben. Viel wahrscheinlicher ist die unspektakuläre, aber lebensnahe Erklärung, die sich bei August Brogli findet: "Leider sind die früheren Bücher anlässlich eines Konkurses eines früheren Seniors verloren gegangen, was im Interesse der historischen Wichtigkeit derselben sehr zu bedauern ist"77. Brogli stand nach eigenen Angaben der damalige Senior als Informant zur Verfügung, dessen gutem Gedächtnis wohl dieser Hinweis zu verdanken ist. Heute ist jedwede Erinnerung an diesen Konkurs vergangen; innerhalb der Bruderschaft ist über die Ursache des Verschwindens der alten Aufzeichnungen nichts bekannt. 4.5 Die Brunnen Die Geschichte der Stadtbrunnen von Rheinfelden ist ein Kapitel, das eine eigene Forschungsarbeit wert wäre. Dass die heute von den Sebastianibrüdern angelaufenen Brunnen den ursprünglichen entsprechen ist in diesem Rahmen schwer nachzuweisen. Tatsache ist, dass bzw. in der Gründungsgeschichte den Statuten der Sebastianibruderschaft wie auch bei Hoffmann-Krayer 78 veröffentlichten , einem Gedicht 1949 und 79 teilweise bei Gottlieb Wyss 80 von sieben Brunnen die Rede ist. Von diesen sind zum heutigen Zeitpunkt Bruderschaftsbuch 1889; vgl. auch Münzner, Fritz: Das Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in Rheinfelden. 1971, S. 18. 75 Die Berichterstattung über wichtige Ereignisse des Jahres liegt rein im Ermessen des jeweiligen Seniors. Verpflichtend ist nur die jährliche Eintragung der Mitglieder; hier gibt es keine Lücke. 76 77 Brogli, August: Die Sebastiansbruderschaft zu Rheinfelden (Schweiz). 1926, S. 94. Hoffmann-Krayer, Eduard: Feste und Bräuche des Schweizervolkes. 1991, S. 65. Abbildung 8: Theodorsbrunnen 2011 79 Welti, Adolf: Sebastianibrüder. In: Rheinfelder Neujahrsblätter 1949, S. 47. 78 80 Wyss, Gottlieb: Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. 1930, S. 7 und 11. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 27 (2011) nur mehr sechs bekannt. Wann, wie und warum deren Zahl auf sechs reduziert wurde, war leider nicht einwandfrei zu ermitteln. Immerhin berichtet die Stadtgeschichte von "sechs öffentlichen Brunnen", die "in der kurzen Zeit von 1525 bis 1545" (also zur Zeit der Gründung des Sebastianibruderschaft) zusammen mit dem neuen Rathaus entstanden81. Gut denkbar, dass es diese Brunnen waren, die die Sebastiani bei der Gründung ihrer Bruderschaft statuarisch festlegen wollten. Ein siebenter war wohl schon vorhanden, denn "In Rheinfelden muss es schon vor dem Jahre 1500 öffentliche Brunnen gegeben haben"82. Vielleicht handelt es sich bei dem heute nicht mehr bekannten siebten Brunnen um den Spiserbrunnen. Von diesem wird einerseits berichtet, er sei 1543 dazugekommen83, andererseits schildert der gleiche Autor an anderer Stelle, er sei 1540 "von einem erhöhten Steinbett umgeben" worden84 also bereits existent gewesen. Abbildung 9: Kapuzinerbrunnen 1941 (Wyss) und 2011 Versucht man den Zeitraum des Verschwindens des siebten Brunnens einzugrenzen, fallen Diskrepanzen bei Gottlieb Wyss ins Auge: Bei den 1930 gemeinsam unter dem Titel "Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. Ein Volksbrauch und ein Volkslied" herausgegebenen Aufsätzen Senti, A.: Entstehung und bisherige Schicksale des Albrechtsbrunnens. In: Rheinfelder Neujahrsblätter 1960, S. 7. 81 82 Senti, A.: Entstehung und bisherige Schicksale des Albrechtsbrunnens. 1960, S. 8. 83 Ebd. 84 Senti, A.: Der Rheinfelder Stadtbach und die Stadtbrunnen. In: Rheinfelder Neujahrsblätter 1960, S. 19. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 28 ist die Rede von sieben Brunnen85. Der zuerst entstandene Artikel bezieht sich auf einen Besuche der Brunnensingen 1915 und 1916, entstand 1917 und wurde 1919 erstmals in der literarischen Zeitschrift "Die Schweiz" herausgegeben. Der zweite erschien zuerst 1928 in der literarischen Beilage des "Bund"86. August Brogli (auf den Wyss sich nach eigenen Angaben für die Neuveröffentlichung seiner Aufsätze 1930 stützt), geht auf die Anzahl der Brunnen nur im historischen Rückblick ein, ohne eine Bemerkung über die tatsächliche Lage seiner Zeit (1926) einzubringen. In der späteren Festschrift zum 400jährigen Bestehen der Sebastianibruderschaft zählt Wyss nur sechs Brunnen 87 auf. Obwohl er in diesem Text über die ursprüngliche Siebenzahl der Brunnen reflektiert 88, ist die scheinbar zu dieser Zeit bereits veränderte Anzahl nicht weiter kommentiert. 1980 findet sich bei Weber und Fröhlich ebenfalls nur eine Aufzählung der (sechs) Brunnennamen ohne weitere Kommentierung89. Von fast allen heute besungenen Brunnen sind Namens- und Standortwechsel überliefert. So hiess der heutige Albrechtsbrunnen vor der Errichtung seiner namensgebenden Figur zuerst Standortes aufgrund Spitalbrunnen. seines Nach Abriss des unbrauchbar gewordenen Spitals wurde dieser um 90 Grad versetzt und erhielt in Anlehnung an das auf dem Spitalareal neu errichtete Gebäude den Namen Casinobrunnen. Als schliesslich durch Renovation die Kriegerfigur hinzukam, die ihn auch heute noch ziert, wurde aus ihm der Abbildung 10: Brunnen St. Martinskirche 2011 Albrechtsbrunnen. 85 Wyss, Gottlieb: Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. 1930, S. 7 und 11. Nach Angabe von Wyss selbst im "Kleinen Bund", Weihnachtsausgabe Nr. 52, Jahrg. 9, 1928; s. Vorwort zu Wyss, Gottlieb: Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. Ein Volksbrauch und ein Volkslied. Rheinfelden 1930. 86 87 Wyss, Gottlieb: 1541-1941. Vierhundert Jahre Brunnensingen. 1941, S. 6. 88 Ders., S. 16. 89 Weber, Ulrich ; Fröhlich, Heinz: Aargauer Bräuche. Aarau 1983, S. 29. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 29 Viele der Umsetzungen, Namensänderungen etc. haben im 16. Jahrhundert stattgefunden, welches August Senti als die „Zeit der schönen Brunnen“ 90 bezeichnet, wo kleine und grosse Städte untereinander um die schönsten und zahlreichsten Brunnen wetteiferten. So auch Rheinfelden, das mit Basel immer ein Musterbeispiel in Sachen Brunnen direkt vor Augen hatte. In dieser Zeit wurde die Brunnensituation von Rheinfelden derart gründlich und umfassend durch Neubauten und vor Allem Renovationen bestehender Brunnen ins Reine gebracht, dass laut August Senti in den öffentlichen Urkunden „von 1619 an […] für nahezu 200 Jahre kaum mehr die Rede [ist] von den öffentlichen Brunnen, ausser dass sie jährlich mehrmals gereinigt und verkittet werden mussten“91. Eine Besonderheit ist der ehemalige Obertorbrunnen: Er ist seit Mitte des 20. Jahrhunderts unter dem Namen Theodorsbrunnen bekannt und hat seinen Namen als Reminiszenz an Theodor Nussbaumer, den verdienstvollen Senior (1917-1939) der Sebastianibruderschaft erhalten. „Januar: 1. Das alte Jahr hat dem neuen einen Denkmalbrunnen geschenkt. Nach dem Sebastianisingen auf dem Obertorplatz am Silvesterabend übergab Herr Stadtammann Dr. Beetschen der Öffentlichkeit das Kunstwerk, das zugleich eine Erinnerung an den langjährigen getreuen Hüter alter Rheinfelder Tradition, Herrn Theodor Nussbaumer und ein Denkmal an die Kriegszeit sein soll. […] Er heisst Theodorsbrunnen.”92 So schreibt Senti als Chronist in seinem Rückblick auf das Jahr 1944. Überhaupt steht der Name Nussbaumer für eine ganze Ahnenreihe verdienstvoller Sebastiani: Theodor Nussbaumer wurde anlässlich des Todes von Jakob Nussbaumer (seit 1900 Senior) am 22. 12. 1917 zum neuen Senior gewählt 93 . Später folgte noch ein Senior Arthur Nussbaumer, der z. B. den Rückblick über die Jahre 1987-89 verfasste. 4.6 Das Lied Ein ganz besonderes Thema des Brunnensingens ist das dort gesungene Lied. Zumindest was die Melodie betrifft handelt es sich hier um ‚dies est laetitiae‘, ein im Mittelalter sehr gebräuchliches Weihnachtslied, dessen erste 90 Senti, August: Entstehung und bisherige Schicksale des Albrechtsbrunnens. 1960, S. 20. 91 Senti, August: Entstehung und bisherige Schicksale des Albrechtsbrunnens. 1960, S. 14. 92 Ders.: Jahresrückblick des Chronisten über 1944. In: Rheinfelder Neujahrsblätter 1945-1954, S. 43. 93 Bruderschaftsbuch 1916/17. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 30 Aufzeichnungen auf das 16. Jhd. zurückgehen 94 . Minimale Variationen zu anderen aufgezeichneten Fassungen sind auf mündliche Weitergabe und textliche Angleichungen zurückzuführen, wie sie unter dem Begriff des Umsingens auch bei Volksliedern bekannt sind. Die im Bruderschaftsbuch bewahrte Aufzeichnung, deren Original im Fricktaler Museum zu besichtigen ist, stammt aus dem 19. Jahrhundert. Der Text des Liedes ist eine separate Forschungsarbeit wert und kann hier nur überblickshaft behandelt werden. Zum Teil besteht er aus bekannten Strophen des ‚dies est laetitiae‘ deutscher Fassungen. Dass dieser Text aus dem Mittelhochdeutschen modernisiert wurde, zeigen einschlägige Reimpaare. Im heutigen Deutsch passt der Klang von „Himmelreich“ mit „wunderlich“ nicht mehr in einem Reim zusammen. Bedenkt man jedoch die seit dem Mittelhochdeutschen stattgefundene Diphthongierung wird schnell klar, dass diese beiden Wörter zu einer Zeit, in der das Himmelreich noch „himelrîch“ hiess zu keinerlei Beanstandung Anlass gaben. In Angleichung an die Situation lautet die erste Textzeile bei den Sebastiani an Weihnachten auch nicht (wie in sonstigen deutschen Fassungen von ‚dies est laetitiae‘ üblich) „Der Tag der ist so freudenreich“, sondern „die Nacht die ist so freudenreich“. Ansonsten stimmen die vier Strophen des Weihnachtsliedes inhaltlich und auch in der Versstruktur mit anderen (und beispielsweise ebenso der noch heute im evangelischen Gesangbuch als Nr. 94 verwendeten) deutschen Fassungen des alten Kirchenliedes überein95. Ganz anders das Neujahrslied. Dieses hat zur gleichen Melodie einen anderen Text und ist im Gegensatz zum Weihnachtslied refrainartig gestaltet. Der erzählende Strophenteil erstreckt sich nun nur mehr über vier Zeilen statt zehn. Die fünfte Zeile bildet eine inhaltliche Zusammenfassung des Vorangegangenen und endet jeweils auf „und das ist wahr“, womit sich nachher der Neujahrswunsch „Wir wünschen Euch allen ein gutes neues Jahr“ anschliessen lässt. Die jeweils letzten vier Zeilen sind gleich. vgl. dazu Kammerer, Immanuel: Das Rheinfelder Sebastianslied. Ursprung und Entwicklung der Melodie in Notenbeispielen. Separatabdruck aus dem schweizerischen Archiv für Volkskunde, Bd. 42 (1945), Heft 1. 94 s. dazu etwas ausführlicher auch Wyss, Gottlieb: Neues über ein altes Weihnachtslied. In Ders.: Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. 1930, S. 11-21. Wyss revidiert hier auch das von ihm im vorherigen Aufsatz der gleichen Schrift lancierte Gerücht, die vierte Strophe stelle einen entschiedenen Bruch dar, da sie aus diversen Gründen nicht aus dem Mittelalter sondern erst aus dem 17. Jhd. stammen könne (S. 12). 95 DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 31 Die grösste Besonderheit ist, dass das Neujahrslied noch eine fünfte Strophe besitzt. Sie ist eine völlige Eigenschöpfung der Bruderschaft und hat mit dem althergebrachten Weihnachtslied nichts mehr zu tun. Wyss bescheinigt dieser Schlussstrophe „keinerlei direkte Vorbilder oder Parallelen in irgendeiner Liedsammlung aus alter Zeit“96: „Wir wünschen Euch zum neuen Jahr, Den heiligen Sebastian, Dass er in Krieges-, Pest- und Todesgefahr Mit seiner Fürbitt uns wolle beistehn. Er wird uns beistehn und das ist wahr, Wir wünschen Euch allen ein gutes neues Jahr! 96 Wyss, Gottlieb: 1541-1941. Vierhundert Jahre Brunnensingen. 1941, S. 32. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 32 Gott schütze Euch in den Gefahren, Er gebe Euch Frieden und Einigkeit, Gesundheit, Segen und Genügsamkeit Und wolle Euch vor Übel bewahren.“97 Auch hier fällt ein im heutigen Neuhochdeutsch nicht mehr funktionierendes Reimpaar ins Auge: „beistehn“ reimt sich auf „Sebastian“ nur in seiner älteren Form „bîstân“, was darauf hinweist, dass auch diese Strophe ihren Ursprung mindestens zur Gründungszeit der Bruderschaft hat98. Wahrscheinlich ist, dass sie mit der Verdopplung des Brunnensingens zusammen entstanden ist. Hier zeigt sich eine weitere Besonderheit der Textangleichung: Obwohl die Tonfolge offensichtlich an einigen Stellen für zusätzliche Textsilben erweitert wurde 99, ist es festgesetzte Tradition der Bruderschaft, die Namen Maria und Sebastian um jeweils eine Silbe zu verkürzen100. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass hier eine Art Collage (auf Basis von dies est laetitiae) aus verschiedenen gebräuchlichen Strophen, aber evtl. auch anderen Liedtexten bzw. Liedtraditionen101 vorliegt. Diese kann entweder von Anfang an für das Brunnensingen so zusammengestellt worden sein oder sich über längere Zeit in ihre heutige Form entwickelt haben. Bis auf wenige minimale Ausspracheänderungen (z. B. „Kindlein“ statt „Kindelein“ u. ä.) singen die Sebastiani heute noch den gleichen Text, wie ihn 1845 Fridolin Lützelschwab im Bruderschaftsbuch notierte. 97 Text zitiert nach eigener Aufnahme 2011. Für Wyss scheinen die Datierbarkeit ins Mittelalter und die Tatsache, dass dieser Liedteil speziell für das Brunnensingen geschaffen ist nicht miteinander vereinbar zu sein (s. Wyss 1941, S. 35). Dies erscheint im Hinblick auf die Gründungsgeschichte des Brunnensingens unverständlich. 98 99 z. B. um die fünf Silben von „gutes neues Jahr“ in der dreisilbig angelegten Melodie unterzubringen. 100 also „Marja“ und „Sebastjan“ 101 vgl. die Erwähnung der Lieder der Geissler-Sekten bei Rochholz, Kap. 3.1.1., S. 10. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 33 4.7 Einbettung und Anschlüsse 4.7.1 Neue Traditionen innerhalb der Bruderschaft Ab 1952 findet sich im Bruderschaftsbuch am Kopf der Seite mit den eingetragenen Mitliedern eine kleine Vignette, oft farbig und meist von W. K. signiert. "Möge die schlichte malerische Ausstattung weitergedeien!" 102 schreibt Münzner 1971. Tatsächlich ist dieser Wunsch in Erfüllung gegangen: Mittlerweile sind die schlichten Vignetten zu kleinen Kunstwerken aufgeblüht, die immer offiziell an einen Rheinfelder Künstler vergeben werden. Ein Ölgemälde von Jakob Strasser, das das Brunnensingen am Obertorplatz darstellt, obliegt (wohl seit dem Jahr seiner Erwähnung im Bruderschaftsbuch 1966) der Verantwortung des jeweiligen Seniors. Er ist dazu berechtigt, es in seiner Wohnung aufzuhängen 103 – mittlerweile ist es im Pestzimmer des Fricktaler Museums zu sehen. 4.7.2 Neues nach Aussen Doch haben sich durch die Zeit auch ohne Vorschrift neue Verbindungen zwischen Brunnensingen bzw. der Sebastianibruderschaft und dem übrigen Rheinfelden entwickelt. Dem Gründungsgedanken entsprechend hat es sich die Bruderschaft seit ca. zwölf Jahren zur Aufgabe gemacht, regelmässig einen sozialen Anlass durchzuführen. Da die Notwendigkeit der Betreuung der Mitbürger in Seuchenzeiten nicht mehr gegeben ist, wendet sich dieser beispielsweise an Alte oder Behinderte. Jedes zweite Jahr organisiert und finanziert die Bruderschaft ein kulturelles Event um auch ohne Pest dem alten Grundsatz Rechnung zu tragen, sich um die Bevölkerung Rheinfeldens zu kümmern. Ausserdem trägt die Bruderschaft einmal im Jahr Sorge zur eigenen Gruppe: Die Brüder unternehmen zusammen einen Ausflug, zu dem auch die Partnerinnen geladen sind. Alternierend mit dem Sozialanlass ist diese Veranstaltung im einen Jahr mehr und im anderen weniger umfangreich. Oft handelt es sich um Themenfahrten mit Bezug zum Brunnensingen, beispielsweise die Erforschung der Region auf den Spuren der Pest. 102 Münzner, Fritz: Das Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in Rheinfelden. 1971, S. 19. Vgl. Bruderschaftsbuch 1966 bzw. Münzner, Fritz: Das Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in Rheinfelden. 1971, S. 19. 103 DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 34 Schon früher hat es Konzerte in der Stadtkirche von Rheinfelden gegeben, wie die Klage des Chronisten A. Senti beweist, der im Jahresrückblick von 1944 deren kriegsbedingtes Ausbleiben bedauert 104 . Mit seiner Idee eines Orgelkonzertes an Silvester hat das betreffende Sebastianimitglied also keine totale Innovation getätigt. Durch den gewählten Zeitpunkt aber fügt sich das Konzert homogen in die bestehenden Traditionen. Schliesslich sind von Weihnachten her bereits Bruderschaft wie Bevölkerung daran gewöhnt, nach dem Brunnensingen die Martinskirche aufzusuchen. Dass sich hieraus ein ungeschriebenes Gesetz entwickelt liegt hauptsächlich am Engagement der Beteiligten und bleibt noch abzuwarten. Der Prozess scheint jedoch auf gutem Weg, denn das Orgelkonzert hat sich über die Jahre bereits fest etabliert und geschlossenes Auftreten, Solidarität und Beständigkeit sind die Grundtugenden der Sebastianibruderschaft. 4.7.3 Mitternachtsgottesdienst Durch den für die Weihnachtsgottesdienstes Sebastianibrüder war das obligatorischen Brunnensingen immer Besuch des fest die an allgemeine Tradition angeschlossen. Inwiefern das Weihnachtssingen im heutigen nicht mehr ausschliesslich christlich geprägten Leben für seine Zuschauer zum Anlass wird, (wieder) dem weihnachtlichen Mitternachtsgottesdienst beizuwohnen und so eine andere christliche Tradition stärkt, wäre zumindest überlegenswert. Mit dem Besuch der Christmette von St. Martin, wird ausserdem ein direkter Übergang zu einer anderen Tradition geschaffen: „Die besondere Eigenart der Rheinfelder Mitternachtsmesse besteht […] in den Hirtenmelodien nach ‚Tell‘, die an die Bedeutung des Hirtenamtes erinnern wollen und von der Empore aus auf einer Tuba geblasen werden.“105 104 Rheinfelder Neujahrsblätter 1945-1954, S. 42. 105 Wyss, Gottlieb: Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. 1930, S. 9. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 35 Wie Wyss zu der missverständlichen Bezeichnung "Tuba" kommt wird von ihm nicht bleibt näher damit ausgeführt und unverständlich. Aus Betrachtung des eingehender Instrumentes liegt eher der Schluss nahe, dass es sich um eine mittelalterliche Tromba handelt Auch wegen des 106 . weichen (hornartigen) Klanges scheint die in diesem übliche weitaus Diskurs sonst Bezeichnung passender. Die allgemein Hirtenhorn gespielte Melodie gibt (sofern sie seit Beginn dieses Abbildung 11: Pestlaterne vor dem Sebastiansaltar in St. Martin 2011 Brauches nicht geändert wurde) Auskunft darüber, dass das Brunnensingen die ältere Tradition ist. Sie stammt aus der Oper Gulliaume Tell von Gioachino Rossini und kann somit frühestens seit deren Erscheinen 1829 verwendet worden sein. Dennoch ist die Verbindung des Brunnensingens mit der Weihnachtstradition des Hirtenhorns mittlerweile derart stark, dass dem Instrument ein prominenter Platz im vom Tourismusbüro Rheinfelden vertriebenen Film zur Sebastianibruderschaft eingeräumt wird: Die erste Filmhälfte über das Weihnachtssingen schliesst mit einer Grossaufnahme des Instrumentalisten und den Worten „Uralter Tradition folgend wird der Gottesdienst durch das Blasen des sogenannten Hirtenhorns eröffnet und ebenso geschlossen“ 107 . Bei oberflächlicher Betrachtung könnte hier durchaus der Eindruck entstehen, es sei ebenfalls Teil der SebastianiTradition, in der Christmette das Hirtenhorn erklingen zu lassen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Weder sind die beiden Bräuche mehr als durch den zeitlichen Zusammenfall miteinander verknüpft, noch ist beispielsweise der ausführende Musiker ein Sebastiani. Das besagte Instrument ist schnurgerade, ohne Bügel, unterliegt definitiv der Naturtonreihe und weist keinerlei Klappen oder Ventile auf. Alles dies sind Eigenschaften, die nicht einmal auf Frühformen der Tuba zutreffen. 106 107 DVD Sebastiani-Bruderschaft Rheinfelden: Weihnachts- und Neujahrslied. Basel 1996, 07:10-07:22. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 36 5 DAS BRUNNENSINGEN ALS KULTURELLES GEDÄCHTNIS108 Bei all diesen Betrachtungen wird klar, dass das Brunnensingen seine ursprüngliche Funktion überlebt hat. Im 21. Jahrhundert sind Missverständnisse was die Entstehung und Verbreitung der Pest betrifft ausgeräumt. Die Seuche selbst ist, wenn auch nicht komplett ausgerottet, so doch in den Breitengraden von Rheinfelden nicht mehr existent. Die Trinkwasserqualität unterliegt offizieller Kontrolle und Impfungen und Hygiene haben dem Gebet in Sachen Krankheitsprävention den Rang abgelaufen. Dennoch hat sich der Brauch über Jahrhunderte erhalten und stellt heute einen wichtigen Faktor der Rheinfelder Identität dar. Alle befragten Personen gingen völlig konform in der Aussage, das Brunnensingen gehöre einfach zur Stadt, unabhängig davon ob sie selbst eifrige Besucher desselben oder eher uninteressiert waren. Abgesehen hiervon sind die Bewerbung um einen UNESCO-Listenplatz und die museale wie die (wenn auch sehr defensive) Präsenz im Tourismusbereich Gradmesser für diesen Stellenwert. Auch als Schulstoff ist das Brunnensingen Teil von Rheinfelden. Dies ist selbstverständlich der Beständigkeit der Sebastianibruderschaft zu danken, die seit 1541 ihren Bestand und damit den Brauch erhält, "obgleich hin und wieder Eiferer versucht hatten, ihn abzuschaffen" 109 . In den Augen solcher Kritiker hatte wohl der Brauch durch das vorangeschrittene medizinische Wissen seine Berechtigung verloren. 5.1 Erinnerung Es scheint allerdings mehr ein repräsentativer Wert zu sein, den das Brunnensingen für Rheinfelden hat und dessentwegen seine Popularität bis heute ungebrochen ist. Niemand ist der Auffassung, das Besingen der Brunnen würde vor der Pest oder anderen Seuchen bewahren. Die Tatsache jedoch, dass es in der Geschichte der Stadt eine derart dramatische Zeit gab, dass eine Bruderschaft und ein eigens geschaffenes Ritual daraus hervorgingen, ist Diesem Kapitel liegt zugrunde: Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Ders., Toni Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1988, S. 9-19. Sämtliche Zitate, Angaben und Paraphrasierungen stammen, wenn nicht anders angegeben, aus diesem Artikel und sind nur in Ausnahmefällen nochmals einzeln nachgeführt. 108 Weber, Ulrich; Fröhlich, Heinz: Aargauer Bräuche. 1983, S. 29. Weber und Fröhlich beziehen sich hier wahrscheinlich auf eine Bemerkung im Bruderschaftsbuch (1939) über Theodor Nussbaumer, der Anfang des 19. Jhd. den Brauch gerettet haben soll, "da verschiedene Kräfte am Werk waren, aus Kleinlichkeitsgründen alles zu sistieren" (zit. nach Münzner 1971, S. 19). 109 DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 37 durchaus erinnerungswürdig. Aleida Assmann bezeichnet Repräsentation im kulturwissenschaftlichen Sinn betrachtet als "Wiedervergegenwärtigung"110und damit Erinnerung. " Denn Erinnerung ist niemals Wiederherstellung von Vergangenheit, sondern immer nur eine Repräsentation derselben. Als Vergegenwärtigung der Vergangenheit lässt sich der spontane Eindruck – zumindest am weihnachtlichen Brunnensingen – in eine andere Zeit versetzt worden zu sein 111 durchaus beschreiben. Was neben der besonderen Atmosphäre als am faszinierendsten geschildert wird ist die Vorstellung der Zeitspanne, die dieser Brauch umfasst, oder mit den Worten eines Gesprächspartners "wenn man sich vorstellt, wie lange die da schon so laufen"112. Auf diese Weise wird durch das Brunnensingen die Erinnerung an eine gemeinsame Vergangenheit wachgehalten, die durch diesen Brauch sowie durch seine Ausführenden, die Sebastianibrüder, oder auch nur ein einzelnes Artefakt, wie die Pestlaterne, repräsentiert wird. Aus einem schicksalhaften Ereignis in der Vergangenheit (der Heimsuchung durch die Pest im Mittelalter) hat sich ein Ritual (das religiöse Besingen der verunreinigten Brunnen) entwickelt, das mittlerweile "nur mehr" ein kulturelles Ereignis (das Brunnensingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden) darstellt. Jedoch durch genau diesen Weg ist das Brunnensingen für Rheinfelden ein identitätsstiftendes Element. Nur dem Städtchen Verbundene können seine Bedeutung entschlüsseln. Einem Fremden ohne Hintergrundwissen entgeht mit einiger Wahrscheinlichkeit in Dunkelheit und Menschenmenge sogar die grundliegende Information, weshalb dieses Ereignis überhaupt Brunnensingen genannt wird. 5.2 Gemeinsamkeit Die Tradition verbindet diejenigen, die darum wissen. Wer in Rheinfelden aufgewachsen ist, teilt nicht nur die gemeinsame Vergangenheit eines besonderen Heimatkundestoffs in der Primarstufe, sondern auch die Vergangenheit des gemeinsamen Wohnortes. Ein Gesprächspartner hatte darauf gründend für sich sogar die Bezeichnung Pestsingen entwickelt. Das Assmann, Aleida: Gedächtnis als Leitbegriff der Kulturwissenschaften. In: Musner, Lutz; Wunberg, Gotthart (Hg.): Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen. Wien 2002, S. 27. 110 111 vgl. Kap. 2.1, S. 3. 112 AR am 05.05.2011. Forschungstagebuch, S. 21. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 38 Brunnensingen stabilisiert diese Gemeinsamkeit jedes Jahr aufs Neue. Jan Assmann fasst "den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und Riten zusammen, in deren 'Pflege' sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektives Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschliesslich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt" unter dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses zusammen113. Diese Definition trifft in Bezug auf das Brunnensingen sowohl was die Einwohner Rheinfeldens betrifft als auch in besonderem Mass auf die Sebastiani-Bruderschaft zu und markiert damit das Brunnensingen als Teil dieses kulturellen Gedächtnisses, das Assmann auch das kollektive Gedächtnis nennt. 5.3 Kulturelles Gedächtnis Massgebend für das kulturelle Gedächtnis nach Assmann ist seine Alltagsferne bzw. –transzendenz, die den Zeithorizont dieses Gedächtnistyps kennzeichnet. Die Erinnerung an schicksalhafte Ereignisse in der Vergangenheit, wie es die Pest von 1541 in Rheinfelden war, wird mithilfe kultureller Formung und institutionalisierter Kommunikation wachgehalten. Kulturelle Formung findet sich beispielsweise im Brunnensingens als Ritual, das durch seine Interaktivität wie das Begehen einer bestimmten Route durch die Altstadt, die Rezitation des überlieferten Liedes und die Betrachtung des ganzen Ereignisses seitens der Zuschauer auch auf institutionalisierte Weise kommuniziert. Dies definiert das Brunnensingen selbst als Erinnerungsfigur bzw. Zeitinsel. In dieser kulturellen Formgebung "kristallisiert kollektive Erfahrung, deren Sinngehalt sich in der Berührung blitzartig wieder erschliessen kann"114. Es muss nicht ausschliesslich die pestgeplagte Ausgangslage des Brunnensingens sein, die sich erschliesst - möglicherweise fühlt sich der eine oder andere Rheinfeldener gesetzten Alters durch die unfeierliche Stimmung am Silvester-Brunnensingen noch an etwas ganz anderes erinnert: Aus der Zeit des zweiten Weltkriegs schreibt der Chronist A. Senti pragmatisch über den Jahreswechsel 1944/45: "Am Silvesterabend mischte sich der Donner der Geschütze und das Geheul der Sirenen in das Singen der Sebastiani"115. Mit 113 Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. 1988, S. 15. 114 Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. 1988, S. 12. 115 Rheinfelder Neujahrsblätter 1945-1954, Jahresrückblick 1946, S. 43. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 39 der Zeit ist das Brunnensingen selbst zum Fixpunkt für seine Teilnehmer (Akteure wie Zuschauer) geworden. Anhaltender Regen (wie beispielsweise am diesjährigen Silvesterabend 2011) ruft wohl bei so manchem Sebastiani Erinnerungen wach an die Filmproduktion von 1996, als ähnliche Verhältnisse herrschten. Die Zeitinsel weitet sich, wie Assmann in Anlehnung an Aby Warburg schreibt, im kulturellen Gedächtnis "zu einem Erinnerungsraum 'retrospektiver Besonnenheit'"116. In seiner Theorie des kulturellen Gedächtnisses versucht Assmann die Faktoren Gedächtnis, Kultur und Gruppe bzw. Gesellschaft aufeinander zu beziehen. Dass diese drei Pole auch im Brunnensingen vereinigt werden, ist ein weiterer Grund, diese Tradition als Teil des kulturellen Gedächtnisses zu sehen. Wie bereits dargelegt, lässt sich dem Brunnensingen als kulturellem Ereignis eine gewisse Gedächtnisfunktion nicht absprechen. Auf der gesellschaftlichen Seite lassen sich sogar zwei Gruppen ausmachen. Zum einen die Rheinfeldener Bevölkerung als Kollektiv, zum anderen die zwar im Kollektiv enthaltene, jedoch auch eigenständige Gruppe der Sebastianibruderschaft. 5.3.1 Identitätskonkretheit Beide Gruppen für sich und gemeinsam bewahren im bzw. durch das Brunnensingen ein gemeinsames Wissen, aus dem sich wiederum jeweils ein spezielles „Bewusstsein ihrer Einheit und Eigenart“ 117 speist. Die Sebastiani überliefern seit Jahrhunderten unter sich sowohl historische Kenntnisse als auch das Wissen um die genaue Durchführung ihrer Tradition. Daraus ergibt sich zusätzlich ein Bewusstsein für passende oder notwendige Variationen, die getätigt werden (können), ohne den Bezug zur Geschichte zu verlieren. Eine kurze Zeit im Jahr treten sie mit ihrem Ritual aus der Gesellschaft heraus und werden als eigenständige Gruppe sowohl visuell als auch durch ihr Tun erkennbar. Ihre Tradition erfüllt sie mit Stolz und manch einer geniesst es, für kurze Zeit einen besonderen Status inne zu haben. Dieser Status einiger seiner Bürger wirkt sich wiederum auf das Identitätsgefühl Rheinfeldens aus. Man ist stolz, so eine Tradition wie das Brunnensingen für sich in Anspruch nehmen zu können. Hier zeichnet sich ab, 116 Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. 1988, S. 12. 117 Ders., S. 13. was Assmann als DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 40 Identitätskonkretheit des kollektiven Gedächtnisses beschreibt sowie deren Folgeerscheinung: eine Grenze, die das Eigene vom Fremden, Zugehörigkeit von Nicht-Zugehörigkeit trennt. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 41 5.3.2 Rekonstruktivität „Kein Gedächtnis vermag eine Vergangenheit als Solche zu bewahren“ 118 schreibt Assmann. Das im kulturellen Gedächtnis bewahrte Wissen über die Vergangenheit wird immer in den Bezugsrahmen der jeweiligen Gegenwart gesetzt; es ist rekonstruktiv. So können z. B. über die Zeit Zylinderhüte zum festen Bestandteil des Brunnensingens werden ohne die Essenz der Erinnerung zu verfälschen. Der Ernsthaftigkeit des Anlasses wurde zu gegebener Zeit die aktuell ernsthafte Garderobe verpasst. Mittlerweile hat diese ehemalige Aktualität eine Hauptfunktion dazugewonnen: Die Zylinder gemahnen daran, dass es sich grundsätzlich um ein Ritual handelt, das die Vergangenheit repräsentiert. Ein noch bedeutsameres Beispiel findet sich im Sozialanlass der Bruderschaft: Ihrer ursprünglichen Legitimation, der Betreuung der Bewohner Rheinfeldens in Pestzeiten beraubt, isoliert die Bruderschaft für sich das dahinterstehende Prinzip der Solidarität und überträgt es in die Gegenwart. 5.3.3 Geformtheit und Organisiertheit Als Geformtheit bezeichnet Assmann die Objektivation von kollektivem Wissen. Das Wissen muss in irgendeiner konkreten Form vorliegen, um die Möglichkeit seiner Weitergabe zu gewährleisten. Insbesondere institutionalisierte Weitergabe bzw. Vererbung von Wissen braucht Fassbares, das weitergegeben werden kann. Solcherart Formung ist beim Brunnensingen an verschiedensten Orten anzutreffen. Einerseits ist das Brunnensingen selbst als Ritual mit allen seinen Teilkomponenten die Formung. Auf prägnanteste sprachlich-mündlicher Ebene findet sich ausserdem das Lied, aber auch die Initiierung der neuen Sebastianimitglieder aufgrund eines zwar inhaltlich immer weiter angeglichenen, aber in seiner Form doch fest bestehenden Schwurs, sei er nun vorgelesen oder auswendig Abbildung 12: St. Martinskirche 2012 118 Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. 1988, S. 13. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 42 gelernt. Mit der Entwicklung der Vignettenkunst im Bruderschaftsbuch kommt auch eine bildliche Form für die interne Tradierung von Wissen hinzu, genauso wie das Bruderschaftsbuch selbst als feste Form des Schriftlichen von Senior zu Senior weitergegeben wird. Möglicherweise hat sich diese Form erst mit der Zeit (Notwendigkeit) gebildet. Die Bemühungen, Licht ins Dunkle der verlorenen Aufzeichnungen der Bruderschaft zu bringen, sowie Erzählungen des heutigen Seniors über das Buch und das ihm angeschlossene Archiv der Bruderschaft, geben Anlass zur Vermutung, dass es sich hier um eine lose Schriftensammlung handelt. Diese wollte wohl der Verfasser des Vorberichts im heutigen Buch mit seiner Abschrift in eine feste Form bringen. Diese Punkte beinhalten ein anderes Merkmal des kulturellen Gedächtnisses, nämlich dessen Organisiertheit. Assmann führt hierfür die Komponente der institutionellen Absicherung Zeremonialisierungen von der Kommunikation, wie sie Kommunikationssituationen z. B. (wie durch dem Beitrittszeremoniell der Bruderschaft oder die in Verse gegossenen guten Wünsche des Neujahrsliedes) gegeben ist, an. Ausserdem die Spezialisierung der Träger des kulturellen Gedächtnisses, die eine spezialisierte Praxis bzw. Pflege des Kulturellen Gedächtnisses betreiben. Als solche Spezialistengruppe lässt sich unschwer die Sebastianibruderschaft erkennen. 5.3.4 Verbindlichkeit Assmann bezeichnet das Wissen des kulturellen Gedächtnisses als verbindlich in Bezug auf eine klare Werteperspektive. Der kulturelle Wissensvorrat und Symbolhaushalt werde durch ein Relevanzgefälle von Symbolen und Funktionen strukturiert. Dieser Ansatz ist beim Brunnensingen schwieriger umsetzbar, da es als kleiner, regionaler Brauch nicht dermassen komplex ist, dass eine Hierarchie von Symbolen und Funktionen zur Strukturierung notwendig wären. Sofern aber beispielsweise die Brunnen im Einzelnen überhaupt eigenen Symbolcharakter besitzen, könnte man den Theodorsbrunnen sicherlich zu den höher rangierenden Werten zählen, da er zumindest für die Bruderschaft einen speziellen Symbolwert besitzt, den die anderen Brunnen nicht haben. Dass aber beispielsweise die Hauptsymbole bzw. Funktionsträger, die singenden Brüder und die besungenen Brunnen, untereinander ein Relevanzgefälle zeigen, scheint mir schon allein aus dem Grund zweifelhaft, als keines dieser Elemente aus dem Brunnensingen wegzudenken ist. Assmann selbst weist auf die Strittigkeit dieser DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 43 Relevanzperspektive hin 119 , es soll daher hier auch keine abschliessende Meinung vertreten werden. Weiterhin zeige sich die Verbindlichkeit des Wissens im kulturellen Gedächtnis an den Aspekten der Formalität und der Normativität. Formativ seien seine „edukativen, zivilisierenden und humanisierenden“ 120 und normativ seine handlungsleitenden Funktionen. Auch hier greift die Theorie ein wenig zu gross. Assmann bezieht sich grundsätzlich auf die Gesamtheit des kulturellen Gedächtnisses beispielsweise einer ganzen Kultur, wovon eine einzelne Tradition wie das Brunnensingen nur einen kleinen Teil ausmachen kann. Das Wissen, das im Brunnensingen kollektiv bewahrt wird, wirkt vielleicht insofern edukativ, als es Geschichte vermittelt; humanisierend möglicherweise durch die Sebastiani, die sich beim Sommeranlass sozial betätigen. Eine Normativität, wie sie eine Institution wie der jüdische Festkalender, auf den sich Assmann auch bezieht, zur Folge hat, kann dem Brunnensingen nicht zugesprochen werden. 5.3.5 Reflexivität Eine Praxis-Reflexivität, wie sie dem kulturellen Gedächtnis eigen ist, indem es z. B. gängige Praxis in Form von Sprichwörtern deutet, findet sich beim Brunnensingen Neujahrsliedes. vielleicht „Wir am deutlichsten wünschen Euch in zum der neuen letzten Jahr Strophe den des heiligen Sebastian“ etc. ist die melodisch ausgesprochene Deutung der Praxishandlung des vorangegangenen Rituals. Auch dies wiederum nur im Kleinen, denn andererseits ist das Brunnensingen selbst ein Ergebnis der Praxisreflexivität des kulturellen Gedächtnisses. Im Ritus des Brunnensingens wird die Lebenspraxis seiner Gründungszeit reflektiert, beispielsweise Bemühungen um sauberes Wasser und Eindämmung der Pest, wie unaufgeklärt sie auch heute erscheinen mögen. Selbstreflexiv ist die Tradition des Brunnensingens innerhalb ihrer Trägerschaft, die immer wieder Anpassungen vornimmt, sei es durch ein modernisiertes Beitrittsversprechen oder die Schaffung eines traditionellen Sozialanlasses zum Ausgleich für weggefallene Funktionen ähnlichen Charakters. Selbst(bild)reflexivität ergibt sich auch im Einzelnen, wenn z. B. ein neues Mitglied in 119 Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. 1988, S. 14-15. 120 Ders., S. 15. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 44 seinem Zylinder die Initialen eines Vorgängers erkennt und sich mit diesem identifizieren kann (oder nicht) und danach handelt121. Gleichzeitig ist aber das Brunnensingen selbst auch Teil der kollektiven Selbstreflektion Rheinfeldens. Wenn z. B. der Chronist der Neujahrsblätter 1944 den bekannten Neujahrswunsch der Sebastiani ans Ende seines Jahresrückblicks stellt, nutzt er diesen zur Reflexion über die derzeitige Lebenssituation der Stadt: "doch noch ernster als je lauschen wir in der Silvesternacht dem Gesang der Sebastianibrüder: Gott schütze Euch in den Gefahren, Er geb Euch Frieden und Einigkeit, Gesundheit, Segen und Genügsamkeit, Und wolle Euch vor Übel bewahren."122 vgl. Heilmann, Klaus: Zwölf wackere Männer… . 1997, S. 37. Der Protagonist erhält bei seiner Ernennung einen Zylinder mit den Initialen F. R., in denen er einen früh verstorbenen Freund erkennt. Er setzt seine Initialen daneben und trägt seither seinen Zylinder mit „grosser Ehrfurcht und einem ständigen, lieben Gedenken an F. R.“. 121 122 Rheinfelder Neujahrsblätter 1945-1954, S. 43. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 45 6 SCHLUSSWORT Diese Seminararbeit ist aus einer kleinen Forschung heraus entstanden, die einen regionalen Brauch auf seine Tauglichkeit hinsichtlich des Kriterienkatalogs der UNESCO für immaterielles Kulturerbe betrachtete. Dieser kurze Überblick weckte grosses Interesse viel weniger an der UNESCOFähigkeit dieses Brauchs als vielmehr am Gegenstand an sich. 1541 wurde die Sebastianibruderschaft Rheinfelden gegründet. Aus konkretem Anlass ging es dabei hauptsächlich darum, Kranke zu pflegen und Tote zu bestatten. Um auch in Zukunft die Bevölkerung Rheinfeldens durch die Kraft des Gebets vor ähnlichem Übel zu schützen, entstand das Ritual des Brunnensingens. Was möglicherweise in der Tradition eines bereits vorher gebräuchlichen Weihnachtssingens begann, wurde in der nachfolgenden Generation auch auf Silvester ausgedehnt. Seit dem scheint sich an der Durchführung wenig geändert zu haben. Natürlich steht heute die Performance stark im Vordergrund. Ein bestimmtes Bild einzuhalten ist wichtig, ausserdem die Qualität des akustischen Eindrucks. Die Sebastiani des 21. Jahrhunderts erarbeiten jedes Jahr aufs Neue ihr Lied mit einem professionellen Chorleiter. Dafür ist die religiöse Komponente so weit als möglich zurückgetreten. Das Brunnensingen heute fällt durch einen extrem minimalistischen Charakter auf: Möglicherweise steckt hierin das Geheimnis seiner langen Haltbarkeit. Es bietet nur wenig Angriffsfläche für notwendig werdende Veränderungen und ist damit relativ problemlos in die jeweilige Gegenwart integrierbar. Dieser heutige Charakter ist einerseits eine Voraussetzung für den problemlosen Transport eines solchen Brauches durch die Zeit, andererseits aber auch Ergebnis dieses stetigen Weitertragens. Einiges im Umfeld hat sich verändert, wie die Zahl der Brunnen, die Kopfbedeckung der Brüder oder Vorgehensweisen innerhalb der Bruderschaft. Bestattung und Krankenpflege zählen lange schon nicht mehr zu ihren Aufgaben. Dennoch hat sich der soziale und gemeinschaftsfördernde Anspruch erhalten, was sich in der neuen Tradition des Sozialanlasses oder der Initiierung des silvesterlichen Orgelkonzertes zeigt. Anhand einiger Komponenten zeigt sich die Beschaffenheit der Tradition des Brunnensingens als Teil des Kulturellen bzw. kollektiven Gedächtnisses nach Assmann. Anpassung an die Gegenwart werden regelmässig vorgenommen, DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN ermöglichen aber Beschaffenheit als 46 gleichzeitig den Blick institutionalisiertes in Ritual die mit Vergangenheit. einer Seine spezialisierten Trägergruppe befähigt das Brunnensingen dazu, gemeinsame Erinnerung durch die Ausführung der Tradition nach Aussen zu vermitteln bzw. wach zu halten. Gleichzeitig wird hierdurch spezielles Wissen bewahrt und von Generation zu Generation weitergetragen. Das Brunnensingen verleiht sowohl seinen Trägern als auch dem Kollektiv der Rheinfeldener Bevölkerung eine spezielle Eigenart und damit Identität. Beispielsweise grenzt es das ältere, schweizer Rheinfelden von dem gleichnamigen jüngeren auf deutscher Seite ab. Es gehört zu Rheinfelden, als "historisch gewachsene Stadt", "deren Bürger auf die Geschichtsträchtigkeit ihres Gemeinwesens stolz waren"123 und es auch heute noch sind. 123 Königs, Diemuth: Eine alte Verbundenheit. 1997, S. 181. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 47 7 LITERATURVERZEICHNIS Literarische Quellen Brunnensingen und Sebastiani-Bruderschaft Brogli, August: Die Sebastiansbruderschaft zu Rheinfelden (Schweiz). In: Fricktalisch-badische Vereinigung für Heimatkunde und Heimatschutz (Hg.): Vom Jura zum Schwarzwald. Blätter für Heimatkunde und Heimatschutz. 1. Jahrg. 1926, Nr. 12, S. 93-101.124 Bruderschaftsbuch der Sebastianibruderschaft. Rheinfelden 1845. Günther, Dr. Veronika: Schwedenlied und Sebastianilied. Schweizerische Volksmusik, Sammlung Constantin Brailoiuo (1893-1958). In: Neujahrsblätter 1988, S. 121-126. Heilmann, Klaus: Zwölf ehrbare Männer… In: Rheinfelder Neujahrsblätter 1997, S. 35-39. Kammerer, Immanuel: Das Rheinfelder Sebastianslied. Ursprung und Entwicklung der Melodie in Notenbeispielen. Separatabdruck aus dem schweizerischen Archiv für Volkskunde, Bd. 42 (1945), Heft 1. Münzner, Fritz: Das Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in Rheinfelden. Separata aus Rheinfelder Neujahrsblätter 1971. Wyss, Gottlieb: a) Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. Ein Volksbrauch und ein Volkslied. Rheinfelden 1930. b) 1541-1941. Vierhundert Jahre Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in Rheinfelden. Festschrift im Auftrage der Bruderschaft St. Sebastian zu Rheinfelden. Rheinfelden 1941. Welti, Adolf: Sebastianibrüder. In: Rheinfelder Neujahrsblätter 1949, S. 47. Rheinfelden Bröchlin, Ernst: Kulturhistorische Rheinfelder Chronik. Rheinfelden 1944. Königs, Diemuth: Eine alte Verbundenheit oder Wie reagierte die Schweiz auf die Stadtwerdung Badisch Rheinfeldens im Jahre 1922? In: Rheinfeldener Geschichtsblätter 1997, S. 181-186. Pfunder, Hans: Geschichte der Namensgebung und Stadterhebung von Rheinfelden (Baden). In: Rheinfeldener Geschichtsblätter 1997. Senti, August: a) Jahresrückblick des Chronisten. In: Rheinfelder Neujahrsblätter 19451957, S. 41-46. Die Zuordnung zum Autor August Brogli erfolgt auf der Erwähnung dieses Artikels mit dem vollen Namen des Verfassers in Wyss 1930 (Vorwort). In den Blättern für Heimatkunde und Heimatschutz ist der Autor lediglich mit „A. Br.“ angegeben. 124 DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 48 b) Entstehung und bisherige Schicksale des Albrechtsbrunnens. In: Rheinfelder Neujahrsblätter 1960, S. 7-17. c) Der Rheinfelder Stadtbach und die Stadtbrunnen. In: Rheinfelder Neujahrsblätter 1960, S. 17-20. Kulturelles Gedächtnis Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Ders., Toni Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1988, S. 9-19. Assmann, Aleida: Gedächtnis als Leitbegriff der Kulturwissenschaften. In: Musner, Lutz; Wunberg, Gotthart (Hg.): Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen. Wien 2002, S. 27-45. Sonstige Bangert, Michael: Vorlesung „Mystik im Mittelalter des Abendlandes“ an der Universität Basel, Herbstsemester 2011. Hoffmann-Krayer, Eduard: Feste und Bräuche Neubearbeitung durch Paul Geiger. Zürich 1991. des christlichen Schweizervolkes. Rochholz, Ernst Ludwig: Schweizersagen aus dem Aargau. Nachdruck der Ausgabe Aarau 1856, Hildesheim 1980. Ursprung und Satzungen der Sebastiani-Bruderschaft. Faksimile Satzungsbüchleins der zweiten Bruderschaft von 1696. (ohne SZ). des Weber, Ulrich; Fröhlich, Heinz: Aargauer Bräuche. Aarau 1983. Ton- und Bildquellen Sebastiani-Bruderschaft Rheinfelden: Weihnachts- und Neujahrslied, DVD. Basel 1996. Eigene Tonaufnahmen vom Brunnensingen Weihnachten und Silvester 2011. DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN 49 8 ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Die Route des Brunnensingens ............................................... 4 Abbildung 2: Steiler Abstieg in der Tempelgasse ......................................... 6 Abbildung 3: Sebastiani Bruderschaft 1941/42 (Wyss 1941) ....................... 11 Abbildung 4: Storchenbrunnen 1941 (Wyss) und 2011 .............................. 16 Abbildung 5: Kuttelbrunnen 1941 (Wyss) und 2011 ................................... 18 Abbildung 6: Albrechtsbrunnen 1941 (Wyss) und 2011 .............................. 21 Abbildung 7: Bruderschaftsbuch, Neujahrslied .......................................... 24 Abbildung 8: Theodorsbrunnen 2011 ....................................................... 26 Abbildung 9: Kapuzinerbrunnen 1941 (Wyss) und 2011 ............................. 27 Abbildung 10: Brunnen St. Martinskirche 2011 ......................................... 28 Abbildung 11: Pestlaterne vor dem Sebastiansaltar in St. Martin 2011 ......... 35 Abbildung 12: St. Martinskirche 2012 ...................................................... 41