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Universität Basel, Seminar für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie
Seminararbeit 2011/12
Prof. Dr. Walter Leimgruber
DAS BRUNNENSINGEN IN
RHEINFELDEN
Abgabe: Basel, März 2012
Seminararbeit von Monika Philippi
BA Deutsche Philologie und Kulturanthropologie, 6. Semester
Matrikelnummer: 09-051-442
Klybeckstrasse 118
4057 Basel
061 691 43 07
[email protected]
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
Inhalt
1 Einleitung ........................................................................................... 1
2 Das Brunnensingen .............................................................................. 3
2.1
Aussensicht ................................................................................. 3
2.2
Innensicht ................................................................................... 5
2.3
Brauchtum .................................................................................. 7
3 Träger: Die Sebastiani-Bruderschaft .................................................... 10
3.1
Gründungsgeschichte .................................................................. 10
3.1.1 historisch ............................................................................... 10
3.1.2 sagenhaft .............................................................................. 11
3.2
Abgrenzung: Die andere Bruderschaft ........................................... 13
3.3
Zusammensetzung ..................................................................... 14
3.4
Sichtbarkeit ............................................................................... 15
4 Das Brunnensingen durch die Zeit ....................................................... 17
4.1
Das Ritual ................................................................................. 18
4.1.1 Beginn ................................................................................... 18
4.1.2 Rundgang .............................................................................. 20
4.2
Augenfälliges ............................................................................. 20
4.3
Bruderschaftsinterna................................................................... 22
4.4
Das Bruderschaftsbuch................................................................ 24
4.5
Die Brunnen .............................................................................. 26
4.6
Das Lied .................................................................................... 29
4.7
Einbettung und Anschlüsse .......................................................... 33
4.7.1 Neue Traditionen innerhalb der Bruderschaft .............................. 33
4.7.2 Neues nach Aussen ................................................................. 33
4.7.3 Mitternachtsgottesdienst .......................................................... 34
5 Das Brunnensingen als kulturelles Gedächtnis ....................................... 36
5.1
Erinnerung ................................................................................ 36
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
5.2
Gemeinsamkeit .......................................................................... 37
5.3
Kulturelles Gedächtnis ................................................................ 38
5.3.1 Identitätskonkretheit ............................................................... 39
5.3.2 Rekonstruktivität .................................................................... 41
5.3.3 Geformtheit und Organisiertheit................................................ 41
5.3.4 Verbindlichkeit........................................................................ 42
5.3.5 Reflexivität............................................................................. 43
6 Schlusswort ...................................................................................... 45
7 Literaturverzeichnis ........................................................................... 47
8 Abbildungsverzeichnis ........................................................................ 49
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
1
1 EINLEITUNG
Das Brunnensingen in Rheinfelden (CH) ist einer der lokalen Bräuche, die sich
als lebendige Tradition um einen Listenplatz des immateriellen Kulturerbes der
UNESCO bewerben 1 . Es handelt sich hierbei um ein alljährliches Ritual, das
scheinbar lückenlos seit mehreren hundert Jahren von der Rheinfeldener
Sebastianibruderschaft durchgeführt wird. Dies lockt jeweils Zuschauer aus
Rheinfelden und Umgebung an, was sich je nach Besucherzahl zu einer
regelrechten
Prozession
auswachsen
kann.
Der
Brauch
ist
ein
stilles
Wahrzeichen der Stadt; hauptsächlich den Einheimischen vertraut, aber
durchaus auch eine touristische Attraktion, wie sich bei einem Besuch anhand
der Zusammensetzung der Zuschauer unschwer ablesen lässt2.
Diese Seminararbeit möchte sich zunächst angelehnt an Geertz' Technik der
dichten Beschreibung ein möglichst genaues Bild dieses Brauches machen. Wie
sieht das Brunnensingen aus? Wie und wann hat es begonnen? Wer praktiziert
es und warum? Welche Orte, Bedeutungen, Personen und Tätigkeiten sind hier
miteinander verknüpft? Wie ist es ihm auf seiner Reise durch die Zeit
ergangen?
Welche
Funktionen
und
Bedeutungen
haben
Veränderungen
erfahren? Wie ist eine Tradition, die seit 1541 besteht, in den Alltag der
Rheinfeldener
Folgenden
eingebettet?
das
Zur
Beleuchtung
Brunnensingen
und
dieser
seine
Fragen
werden
Trägerschaft,
im
die
Sebastianibruderschaft von Rheinfelden, aus verschiedenen Perspektiven
betrachtet. Kapitel vier unternimmt den Versuch, die Tradition und ihre
wichtigsten Komponenten auf ihrem Weg von der Gründung bis heute zu
beobachten. In seiner Eigenschaft als Pestbrauch kann das Brunnensingen von
Rheinfelden ausserdem im Sinne von Jan und Aleida Assmanns gleichnamiger
Theorie als Teil des kollektiven Gedächtnisses betrachtet werden, da es wie
dieses die Pole Gedächtnis, Kultur und Gruppe aufeinander bezieht3.
1
Liste der lebendigen Traditionen in der Schweiz (Vorschlags-Eingabe der Kantone), Nr. 058, 31.05.2011.
Bei meinen Besuchen habe ich trotz des teilweise sehr unattraktiven schweren Regenwetters
durchschnittlich vier verschiedene Sprachen ausmachen können, wobei Hochdeutsch sicherlich den grössten
Anteil inne hatte. Dies lässt sich durch die grenznahe Lage Rheinfeldens erklären, von dem es auf der
anderen Seite des Rheines einen Namenszwilling deutscher Nation gibt. Rheinfelden CH und Rheinfelden D
sind durch eine Rheinbrücke verbunden, die bequem zu Fuss bewältigt werden kann.
2
Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Ders., Toni Hölscher (Hg.): Kultur und
Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1988, S. 12-13.
3
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
2
Für die Datenerhebung wurden informelle Gespräche und leitfadengestützte
Interviews mit verschiedenen Beteiligten seitens der Bruderschaft, der
Bevölkerung, des örtlichen Museumswesens und des Tourismussektors geführt.
Das
Brunnensingen
wurde
sowohl
an
Weihnachten
darauffolgenden Silvesterabend besucht
4
Perspektivenwechsels
Seminararbeit,
auch
für
die
als
auch
am
. Hierbei entstand die Idee des
da
die
spontane
Entscheidung, das Ereignis zwischendurch aus einer erhöhten Position zu
betrachten ganz neue Einsichten zur Folge hatte.
Das Antreffen von gelegentlich als tendenziös empfundener Darstellungsweise
und Datenverifikation bei den Textquellen zwischen 1935 und 1945 sorgte für
leichtes Misstrauen gegenüber deren Verlässlichkeit. Ich habe mich daher
bemüht, sämtliche dort bezogenen Informationen auch anderweitig und
möglichst
durch
Primärdaten
abzuklären.
Aus
Gründen
der
besseren
Zitierbarkeit (leichterer Zugang, vorhandene Seitenzahlen, eindeutiger Autor
etc.) werden jedoch in der Arbeit oft Sekundärtexte gewählt. Wo ausserhalb
der Sekundärtexte keine Absicherung der Informationen auffindbar war ist
dies kenntlich gemacht. Dies gilt besonders für die Passagen, die sich auf das
Bruderschaftsbuch
der
Sebastianibruderschaft
beziehen.
Das
Bruderschaftsbuch ist nicht öffentlich zugänglich und sowohl aus Rücksicht auf
die Diskretion der Bruderschaft als auch aus konservatorischem Interesse mit
grösster Zurückhaltung zu behandeln. Die einzelnen Brüder besitzen privat
jeweils ein Faksimile des Buches, welches ich kurzzeitig einsehen durfte. Diese
einzigartige Möglichkeit habe ich unter anderem dazu genutzt, die Angaben
von August Brogli 5 , Gottlieb Wyss 6 und Fritz Münzner 7 mit meist positivem
Ergebnis nachzuvollziehen und werde daher bei Passagen über die interne
Organisation der Bruderschaft und das Bruderschaftsbuch und die darin
enthaltenen Statuten meist auch auf diese Autoren rekurrieren.
4
24. 12. 2011 und 31. 12. 2011. Von beiden Veranstaltungen wurden kurze Tonaufnahmen gemacht.
Brogli, August: Die Sebastiansbruderschaft zu Rheinfelden (Schweiz). In: Fricktalisch-badische Vereinigung
für Heimatkunde und Heimatschutz (Hg.): Vom Jura zum Schwarzwald. Blätter für Heimatkunde und
Heimatschutz. 1. Jahrg. 1926, Nr. 12, S. 93-101.
5
Wyss, Gottlieb:1541-1941. Vierhundert Jahre Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in Rheinfelden.
Festschrift im Auftrage der Bruderschaft St. Sebastian zu Rheinfelden. Rheinfelden 1941
6
Münzner, Fritz: Das Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in Rheinfelden. Separata aus Rheinfelder
Neujahrsblätter 1971. Es handelt sich um einen Separatabdruck des Tourismusbüros Rheinfelden, der nicht
die originalen Seitenzahlen der Neujahrsblätter aufweist.
7
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
3
2 DAS BRUNNENSINGEN
2.1 Aussensicht
Jeweils am Abend des 24. Dezember um 23:00 Uhr sowie am Abend des 31.
Dezember um 21:00 Uhr versammeln sich zwölf schwarz gekleidete Männer
mit Zylindern und einer altertümlichen weissen Laterne im Haupteingang der
Stadtkirche (St. Martinskirche) von Rheinfelden.
Nach dem Schlagen der Turmuhr beginnen sie mit einem Rundgang von
Stadtbrunnen
zu
Stadtbrunnen,
der
nach
genau
60
Minuten
am
Ausgangspunkt bzw. dem Brunnen neben der Martinskirche endet. Insgesamt
laufen sie dabei in festgelegter Reihenfolge sechs Brunnen 8 an. Bei jedem
einzelnen davon wird Halt gemacht, die Männer gruppieren sich im Kreis um
die Laterne und es werden jeweils immer dieselben vier Strophen eines alt
klingenden Liedes gesungen. Bei jeder Erwähnung des Namens Gottes lüften
die Männer ihren Hut. In der Silvesternacht ändert sich der Text des Liedes
und endet mit der Anrufung des heiligen Sebastians sowie guten Wünschen
zum neuen Jahr für die Anwesenden, die hier direkt angesprochen werden9.
Der Gang wird von Zuschauern begleitet, die gesamthaft dem Zug der Männer
wie in einer Prozession folgen oder an einzelnen Brunnen auf deren Ankunft
warten. Auch aus den Fenstern der Wohnhäuser verfolgen die Rheinfeldener
das Geschehen. Einige Zuschauer erwarten die Sebastianibrüder bereits vor
der St. Martinskirche, andere stossen irgendwo auf dem Weg dazu. Nicht jeder
geht die gesamte Runde mit, manch einer geniesst das Schauspiel an einem
von ihm favorisierten Brunnen oder lässt sich von dem Zug auf seinem
individuellen Weg ein Stückchen mittragen (dies speziell an Silvester).
An Weihnachten herrscht in den verdunkelten Gassen eine feierlich-ruhige
Atmosphäre, die fast als unheimlich bezeichnet werden kann, je nachdem, wie
oft eines der doch noch übriggebliebenen Lichter auf dem Weg durch die
Altstadt die Stimmung jäh unterbricht. Zu hören sind nur die Schritte der
Menschen in den Gassen, das Plätschern des jeweiligen Brunnens (und
eventuellen Regens) sowie der einstimmige Gesang der Männer, wenn der Zug
stehen bleibt. Das moderne Rheinfelden scheint in eine andere (weit
Storchenbrunnen, Kuttelbrunnen, Albrechtsbrunnen, Theodorsbrunnen, Kapuzinerbrunnen und Brunnen
vor der St. Martinskirche.
8
9
„wir wünschen euch allen ein gutes neues Jahr“.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
4
zurückliegende) Zeit versetzt und mit ihm die Zuschauer, die staunend und
vielleicht sogar etwas furchtsam von den zwölf vorangehenden Sängern durch
ihre plötzlich fremd gewordene Heimatstadt geführt werden.
3
2
1
4
6
5
Abbildung 1: Die Route des Brunnensingens10
Ganz anders an Silvester: Wohl der früheren Uhrzeit und dem weniger ruhigen
Charakter der allgemeingesellschaftlichen Feier des Jahreswechsels geschuldet,
bleibt die Feierlichkeit weitgehend auf der Strecke. Angeregte Unterhaltungen
seitens des Publikums und verfrühte Böller und Raketen sowie unbeteiligte
Passanten,
die
die
Abendveranstaltungen
Gruppierung
auf
durchschneiden,
ihrem
sorgen
Weg
für
zu
eine
den
völlig
diversen
andere
Atmosphäre. Die zwölf schwarzen Gestalten wirken, sogar wenn sie ihr Lied
anstimmen und die sie umgebenden Unterhaltungen verstummen, etwas
verloren. Es scheint nun eher als seien die zwölf Sänger aus einer
vergangenen Zeit ins moderne Rheinfelden katapultiert worden, wo sie ihre
frühere Autorität etwas eingebüsst haben.
1: Storchenbrunnen, 2: Kuttelbrunnen, 3: Albrechtsbrunnen, 4: Theodorsbrunnen, 5: Kapuzinerbrunnen,
6: Brunnen vor der St. Martinskirche
10
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
5
An Weihnachten gehen die zwölf Männer im Anschluss an das Brunnensingen
in den Mitternachtsgottesdienst der Martinskirche. Die Zuschauer schliessen
sich ihnen je nach individueller Weihnachtstradition freiwillig an. An Silvester
findet in gleicher Manier im Anschluss ein Orgelkonzert in der Martinskirche
statt.
2.2 Innensicht
Im Zentrum des Brunnensingens steht die eigentliche Trägerschaft dieser
Tradition, die Rheinfeldener Sebastiani-Bruderschaft. Die Brüder praktizieren
den Brauch des Brunnensingens eigentlich unabhängig von eventuellen
Zuschauern. Seine Durchführung ist für die Bruderschaft existentiell und damit
verpflichtend. Die Beteiligung seitens der Bevölkerung findet unaufgefordert
statt, sozusagen als eigenständige Tradition der Rheinfeldener. So ist in der
vorhandenen Literatur zum Thema Brunnensingen auch immer bereits im Titel
vom „Brunnen“- bzw. „Weihnachtssingen der Sebastianibruderschaft“ die
Rede11.
Die Brüder sammeln sich an jedem Weihnachts- und Silvesterabend in der
Martinskirche. Sie holen dort ihre Laterne vom Sebastiansaltar (wo diese das
Jahr über steht) bevor sie zum Glockenschlag Aufstellung im Haupteingang
draussen vor der Kirche nehmen. Die drei "Amtsinhaber" (Senior, Vizesenior
und jüngstes Mitglied) der Bruderschaft bilden traditionell den Anfang der
Prozession: In der Mitte geht als Laternenträger das neueste Mitglied, rechts
von diesem der Senior und links von der Laterne der Vizesenior. Die restlichen
Brüder folgen in drei Reihen zu jeweils drei Personen.
Nachdem der letzte Stundenschlag der Kirchturmglocke verklungen ist, geht
die Formation gemessenen Schrittes über die Tempelgasse zum ersten
Brunnen an der Froschweid, wo sie die ersten vier Strophen ihres Liedes, die
Überlieferung eines alten christlichen Weihnachtsliedes, anstimmt. Sie tragen
dabei von jeher schwarze Kleidung: schwarze Mäntel und Zylinder. Diese, wie
auch ihre Marschformation mit dem Träger der sogenannten Pestlaterne in der
Führung als auch die Standposition beim Singen an den einzelnen Brunnen
Z. B. Wyss, Gottlieb: Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. Ein Volksbrauch und ein
Volkslied. Rheinfelden 1930 oder Münzner, Fritz: Das Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in
Rheinfelden. Separata aus Rheinfelder Neujahrsblätter 1971.
11
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
6
sind ebenso traditionell festgeschrieben wie das Lüften des Hutes beim Namen
Gottes.
Die Brüder sind unbedingt zu zwölft; für etwaige Krankheitsfälle oder durch
Altersgebrechen verhinderte Mitbrüder stehen spezielle Ersatzmänner zur
Verfügung, die dieses Amt als Vorstufe der vollen Mitgliedschaft inne haben.
Eine feierliche und konzentrierte Atmosphäre ist sehr wichtig und wird durch
gemessenen Schritt und ruhiges Verhalten aufrecht erhalten. Ausser dem
Gesungenen wird kein Wort laut. Die blitzenden und klickenden Kameras der
Touristen werden eher als störend empfunden, ganz zu schweigen von der
Geräuschkulisse einer Silvesternacht. Da mag sich manch einer wehmütig an
die
Zeit
erinnern,
wo
die
Stadtpolizei
so
engagiert
war,
vor
dem
Brunnensingen die übriggebliebenen erleuchteten Schaufenster mit schwarzen
Kehrichtsäcken abzukleben.
Schon der Weg zum ersten Brunnen
birgt
seine
abschüssige
Tücken.
Das
stark
Kopfsteinpflaster
der
Tempelgasse wird je nach Wetterlage
zur
Rutschfalle
und
zwingt
in
extremen Fällen sogar dazu, einen
anderen Weg zu nehmen. Und der
einbetonierte
Verkehrspfosten
auf
dem Weg vom Obertorplatz zurück
zur Martinskirche, in der Dunkelheit
ein gefährliches Hindernis, trägt (wie
ich
beim
Spaziergang
Sebastianibruder
den
internen
‚Kastrierpfosten‘.
Abbildung 2: Steiler Abstieg in der Tempelgasse
mit
erfahren
einem
durfte)
Spitznamen
Eine
andere
Besonderheit ist jeweils der Halt am
Kuttelbrunnen: Um die richtige Route
aufrecht zu erhalten muss am Zähringerplatz im Gegensatz zu allen anderen
Brunnenstops die Prozession umkehren und ein paar Meter den Weg zurück
laufen, den sie gekommen ist. Je nach Anzahl der Zuschauer ist zu hoffen,
dass dieses Wendemanöver ohne grössere Karambolagen vonstattengeht.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
7
Wenn in der Geissgasse auf dem Weg zum Theodorsbrunnen am Obertorplatz
die Kirchenglocke die halbe Stunde schlägt, wissen die Brüder, dass sie gut im
Zeitplan liegen. Drei Brunnen liegen hinter ihnen, drei haben sie noch vor sich.
Schliesslich soll der Rundgang genau eine Stunde dauern. An Weihnachten ist
dies besonders wichtig, damit pünktlich der Mitternachtsgottesdienst beginnen
kann, dessen Besuch mit zu den Pflichten eines Sebastianibruders gehört.
Angeregt hiervon hat sich auf Betreiben eines früheren Sebastiani-Mitgliedes
am Silvesterabend seit einigen Jahren ein Orgelkonzert am gleichen Ort
etabliert.
2.3 Brauchtum
Das Brunnensingen selbst läuft bis auf den Text des gesungenen Liedes an
beiden Terminen völlig identisch ab. Nach Hoffmann-Krayer handelt es sich
hierbei um ein verbreitetes Phänomen:
„Manche Volksbräuche des 1. Januars stimmen mit Weihnachtsbräuchen
überein, was seinen Grund vorwiegend darin hat, dass Jahrhunderte
hindurch der 25. Dezember als Jahresanfang galt.“12
Möglicherweise wollte man das Brunnensingen sowohl dem Kirchenjahr als
auch dem weltlichen Kalender als positives Zeichen vorangestellt wissen. In
der Grenzstadt Rheinfelden hat es auch immer ein Nebeneinander der
verschiedenen christlichen Konfessionen gegeben. So ist z. B. die Gemeinde
der St. Martinskirche bis heute christkatholisch, was lange zeitweise sogar die
katholische Minderheit von jenseits des Rheins, dem heutigen badischen
Rheinfelden 13 , auf die Schweizer Seite zog 14 . Durch die Verdopplung des
Rituals wäre zumindest allen kalendarischen Möglichkeiten Rechnung getragen.
Jedenfalls scheint es, als sei der Brauch nicht schon als Zweifacher begründet
worden. Die im Bruderschaftsbuch niedergeschriebene Gründungsgeschichte
berichtet zunächst von dem Schwur der Brüder, das Brunnensingen jährlich
abzuhalten, während den Beschluss, das gleiche Ritual zusätzlich an Neujahr
abzuhalten
(erweitert
um
einen
Neujahrswunsch)
erst
"deren
spätere
Hoffmann-Krayer, Eduard: Feste und Bräuche des Schweizervolkes. Neubearbeitung durch Paul Geiger.
Zürich 1992, S. 100.
12
Zur Entwicklung von Badisch-Rheinfelden, dem früheren Nollingen, s. Pfunder, Hans: Geschichte der
Namensgebung und Stadterhebung von Rheinfelden (Baden). In: Rheinfelder Geschichtsblätter 1997, S.
166-177.
13
Vgl. Königs, Diemuth: Eine alte Verbundenheit oder Wie reagierte die Schweiz auf die Stadtwerdung
Badisch Rheinfeldens im Jahr 1922?. In: Rheinfelder Geschichtsblätter 1997, S. 184.
14
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
8
Nachfolger"15 gefasst hätten. Ein weiteres Argument hierfür ist die Betitelung
der Gründungssage bei Ernst Ludwig Rochholz mit „Die Zwölf Rheinfeldener
Ratsherren um Weihnachten 16 “. Interessanter Weise ist dazu der Text des
Neujahrsliedes abgedruckt, wobei aber die wichtigste Strophe – eben der
eigentliche
Neujahrswunsch
Bevölkerung
-
fehlt.
Wie
der
Sebastianibrüder
Rochholz
zu
diesem
an
die
Zeugnis
Rheinfeldener
kommt
bleibt
unverständlich, denn der vollständige Text des Weihnachts- sowie des
Neujahrsliedes ist im Bruderschaftsbuch niedergeschrieben 17 und wird auch
heute noch nahezu unverändert gesungen.
Möglicherweise handelt es sich beim Brunnensingen um die Übernahme bzw.
spezialisierte Weiterführung noch älteren Brauchtums: Bei Gottlieb Wyss 18
finden
sich
Andeutungen
zur
alten
Tradition
eines
allgemeinen
Weihnachtssingens in Rheinfelden. „Mit ‚hellstem fröhlichem Stimmgesang‘,
berichten die
Urkunden, verkündeten einzelne
vornehme
Bürger
ihren
Mitchristen die gnadenvolle Geburt des Herrn“19. „Vor alten Zeiten schon“20 soll
dies
Brauch
gewesen
sein,
so
Wyss
in
seinem
ursprünglich
1919
veröffentlichten Aufsatz zum Brunnensingen 21 . Rund zehn Jahre und einige
Recherchen später greift er dieses Thema wieder auf und ist sich nun sicher,
„dass der Brauch als solcher älter ist als die Bruderschaft“ 22 . Im direkt
Folgenden bezieht er sich jedoch auf eine Bruderschaft, die „zu Beginn des 17.
Jahrhunderts“23 gegründet worden sein soll, so dass die Frage offen bleibt, wie
alt die Tradition eines Weihnachtssingens ohne Pesthintergrund in Rheinfelden
wirklich sein könnte. Was Wyss im Artikel von 1919 als „echt germanische[n]
Christbrauch“
24
bezeichnet, von dem nicht näher beleuchtete Urkunden
berichten, verifiziert er 1928 nur mehr durch ein literarisches Beispiel aus dem
19. Jahrhundert: In Annette Droste-Hülshoffs Novelle „Die Judenbuche“ findet
15
Münzner, Fritz: Das Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in Rheinfelden. 1971, S. 9.
Rochholz, Ernst Ludwig: Schweizersagen aus dem Aargau. Nachdruck der Ausgabe Aarau 1856,
Hildesheim 1980, S. 385.
16
17
Vorbericht im Bruderschaftsbuch, S. 26-29.
18
Wyss, Gottlieb: Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. 1930, S. 7, 8-9, 11-12.
19
Ders., S. 7.
20
Ders., S. 7.
Laut Wyss’ Angaben im Vorwort ist die Broschüre „Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in
Rheinfelden“, die 1930 erschien, eine Zusammenstellung zweier Aufsätze zum Thema. Der erste erschien
bereits 1919 in der literarischen Zeitschrift „Die Schweiz“, der zweite in der literarischen Beilage des
„Bund“ im Dezember 1928.
21
22
Wyss, Gottlieb: Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. 1930, S. 11.
23
Ders., S. 11.
24
Ders., S. 7.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
9
sich eine Szene, die ein Weihnachtssingen in einem Dorf im westfälischen
Deutschland beschreibt. Diese, so Wyss, würde „die Weihnachtsstimmung
vermittel[n], wie sie ursprünglich, vor Gründung der Sebastianibruderschaft,
durch den ‚Singsang‘ in der Mitternachtsstunde auch in den verträumten
Gassen Rheinfeldens geherrscht haben muss“ 25 . Dieses literarische Beispiel
kann jedoch nur als Untermalung, nicht aber als Indiz für eine solche Tradition
des Weihnachtssingens dienen. Droste-Hülshoffs Novelle stammt aus dem 19.
Jahrhundert und muss sich, auch wenn die Geschichte früher spielt als sie
entstanden ist, nicht unbedingt auf eine Realität des 16. Jahrhunderts
beziehen. Auch die geografische Verortung trägt nicht unbedingt dazu bei,
Rheinfelden oder auch nur das Fricktal zu assoziieren.
In seiner Festschrift zum 400jährigen Bestehen der Sebastianibruderschaft
1941 merkt Wyss an, er habe "nun auch Kunde davon, dass in Rheinfelden
schon vor der Gründung unserer Bruderschaft Weihnachten in den Strassen
verkündet wurde". "Einige vornehme Bürger" sollen "beim Läuten des ersten
Zeichens zur Mitternachtsmesse" die Stimme erhoben haben. Als Quelle nennt
er die Gründungsakte einer "Rosenkranzbruderschaft zu Rheinfelden, die 1606
gegründet worden sein soll, um diesen 'singsang', der […] als Missbrauch
angesehen wurde, […] abzuschaffen" 26 . Wyss schliesst hieraus, dass in der
Zeit vor 1606 zwei verschiedene Weihnachtssingen nebeneinander existiert
haben 27 . Da der Verfasserin dieser Seminararbeit die besagt Urkunde nicht
vorliegt und somit nicht nachprüfbar ist, über welchen Zeitraum dort berichtet
wird, kann aber nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden, dass mit jenem
missbräuchlichen Singen die Sebastianibrüder selbst gemeint gewesen sein
könnten.
25
Wyss, Gottlieb: Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. 1930, S. 21.
Wyss, Gottlieb: 1541-1941. Vierhundert Jahre Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in Rheinfelden.
Festschrift im Auftrage der Bruderschaft St. Sebastian zu Rheinfelden. Rheinfelden 1941, S. 8.
26
27
Ders., S. 9.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
10
3 TRÄGER: DIE SEBASTIANI-BRUDERSCHAFT
3.1 Gründungsgeschichte
3.1.1 historisch
Das Brunnensingen wie die Gründung der Sebastianibruderschaft geht zurück
auf das Jahr 1541 28 , als aufgrund der Pest die Einwohnerzahl Rheinfeldens
stark dezimiert und die soziale Lage desolat war. Wie desolat, verdeutlicht ein
Bick in Ernst Bröchins Kulturhistorische Rheinfelder Chronik: Im Jahr 1540,
also kurz vor der Gründung der Sebastianibruderschaft, zählte die Stadt
Rheinfelden "ungefähr 800 Personen" 29 . Für das darauffolgende Jahr 1541
weiss er zu berichten "in der Stadt und Umgebung sterben gegen 700
Personen an der Pest. Gründung der Sebastianibruderschaft" 30 . Rochholz
berichtet sogar, dass Rheinfelden selbst „um die Mitte Oktobers 1536 mehr als
zur Hälfte ausgestorben“ war31.
Damals schlossen sich zwölf Männer zu einem Bund zusammen, der es sich
zur Aufgabe machte, unter der Schutzherrschaft des Pestheiligen Sebastian
von Narbonne Pestkranke zu pflegen und die Toten zu bestatten. Um die
weitere Verschonung vor der Pest und anderem Übel vom Himmel zu erflehen
wurde der Schwur abgelegt, fortan jährlich wiederkehrend das damals
gebräuchliche Weihnachtslied an den sieben
32
Hauptbrunnen der Stadt
abzusingen, die seither oft auch als Pestbrunnen bezeichnet wurden. Zu
unbezeichneter Zeit gingen "spätere Nachfolger" die weitere Verpflichtung ein,
dieses Ritual auch in der Neujahrsnacht abzuhalten
"mittels beigefügtem Neujahrswunsch, in welchem sie andachtsvoll die
gnädige Fürbitte des heiligen Blutzeugen und Martirers Sebastian besonders
in Anspruch nahmen, dass er in Pest- und Todesgefahr mit seiner Fürbitte
uns wolle beistehen"33.
Im Vorbericht des Bruderschaftsbuches steht zwar auf den ersten Blick das Jahr 1543, was von allen
Seiten jedoch als irrtümlich bezeichnet wird. Als Gründungsjahr besteht aber bei der Bruderschaft sowie der
einschlägigen Literatur der Konsens 1541 – wohl auch aufgrund der relativ detaillierten zeitlichen Angaben
zu den verschiedenen Pestepidemien im gleichen Bericht. Im sprachlichen Kontext, bezieht sich die
Jahreszahl 1543 auf das zweifache Brunnensingen. Es könnte sich um einen Hinweis darauf handeln, dass
der Neujahrswunsch 1543 eingeführt wurde.
28
29
Bröchin, Ernst: Kulturhistorische Rheinfelder Chronik. Rheinfelden 1944, S. 32.
30
Ders., S. 32.
31
Rochholz, Ernst Ludwig: Schweizersagen aus dem Aargau. 1856/ 1980, S. 387.
Spätestens seit den 1980erjahren werden nur mehr sechs Brunnen angelaufen. Was im Laufe der
Jahrhunderte mit dem siebten Brunnen geschehen ist, liess sich nicht zweifelsfrei ermitteln, s. a. Kap. 4.5, S.
23.
32
33
Münzner, Fritz: Das Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in Rheinfelden. 1971, S. 9.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
11
Da in mittelalterlicher Zeit das Auftreten der Pest auf verdorbenes Wasser
zurückgeführt wurde und die Pest von 1541 laut Überlieferung34 in der Fröschweid ausgebrochen sein soll, beginnt der Zug der Sebastianibrüder an der
dortigen Wasserquelle, dem heutigen Storchenbrunnen. Wyss findet eine
Parallele für einen derartigen Umgang mit Brunnen in Laufen im Berner Jura,
wo in einer Prozession die Statue des Hl. Sebastians um die "grossen Brunnen
des Städtchens" getragen würde35.
Abbildung 3: Sebastiani Bruderschaft 1941/42 (Wyss 1941)
3.1.2 sagenhaft
Auch die regionale Sage weiss von der Gründung der Bruderschaft zu
berichten. Bei Weber und Fröhlich bleiben in der von der Pest aufs Stärkste
dezimierten Stadt Rheinfelden zwölf (alte) Männer dank ominöser Heilkräuter,
deren Geheimnis ihnen von einem Himmelsvöglein offenbart wurde, von der
Seuche verschont. Sie schliessen sich zu einer Bruderschaft zusammen,
34
So z. B. Münzner, Fritz: Das Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in Rheinfelden. 1971, S. 11.
35
Wyss, Gottlieb: Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. 1930, S. 9.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
12
pflegen verlassene Kranke und bestatten die Toten36. Eine Fortsetzung davon
findet sich bei Rochholz:
"Diese Verbrüderung besteht noch heute [d. i. 1856, d. V.]. An dem Tage,
wo jenes Vögelein erschien, müssen nun alljährlich zwölf Ratsherren oder
auch sonst hierfür bestimmte Männer den Morgen in der Stadt-Kirche
zubringen. Nachmittags ziehen sie zu einem gemeinsamen Mahle in ein
Haus, das man für das älteste der Stadt hält; es soll aus Heidenzeiten
stammen und ein Schatz darinnen vergraben liegen. Zu Weihnachten um
Mitternacht halten sie dann in langen Mänteln und Laternen tragend einen
Umzug, und singen an dem Hauptbrunnen erst das vorlutherische Lied ab
'Der Tag, der ist so freudenreich aller Kreatur', sodann aber nachfolgendes
Lied, das aus den Zeiten der Geissler-Sekten herzustammen scheint und
den heiligen Sebastian als Nothelfer anruft"37
Was Münzner als sich nicht an die Tatsachen haltend empfindet38, weist doch
erstaunlich viele stimmige Details auf. Tatsächlich haben die Sebastiani in
früheren Zeiten den Morgen des Neujahrstages beim Hochamt in der
Martinskirche zugebracht39 und tun dies auch heute noch am 20. Januar, dem
Sebastianstag. Auch ein Bruderschaftsmahl gibt es noch heute, allerdings in
keiner bestimmten Lokalität. Das älteste Haus Rheinfeldens und der darin
vergrabene Schatz sind wohl eher eine Reminiszenz an anderes lokales
Sagengut40 . Die Aussage über das Lied ist aber nachdenkenswert, denn die
Textherkunft besonders des Neujahrsliedes ist nicht abschliessend geklärt 41 .
Eine Verbindung zu den Geissler-Sekten würde evtl. die numerologischen
Fragmente42 erklären.
36
Weber, Ulrich; Fröhlich, Heinz: Aargauer Bräuche. Aarau 1983, S. 29.
37
Rochholz, Ernst Ludwig: Schweizersagen aus dem Aargau. 1856/1980, S.385-386.
38
Münzner, Fritz: Das Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in Rheinfelden. 1971, S. 7.
39
vgl. Kap. 4.3, S. 19.
Wer z. B. eine Stadtführung durch das historische Rheinfelden unternimmt, wird an einem (alten) Haus
Halt machen, um das sich Erzählungen über einen wegen Unterschlagung o. Ä. gesuchten Mann ranken, der
sich dort mit seinem Geld jahrelang unbemerkt versteckt gehalten haben soll. Dies könnte durchaus die
Grundlage für Geschichten über einen vergrabenen Schatz in einem Haus abgeben. Um allerdings die
Sebastiani passend ins Bild zu bekommen müsste das betreffende Haus (einmal) eine Gaststätte (gewesen)
sein.
40
41
s. a. Kap. 4.6, S. 25.
Zwei der Strophen beginnen mit einer Aufzählung „und als es war am achten Tag“ bzw. „und als es war
am zwölften Tag“. Laut PD Dr. theol. Michael Bangert waren religiöse Lieder mit zählenden Strophen bei den
Geisslern des Mittelalters sehr verbreitet. Fragmente davon fänden sich heute noch „wo traditionell
Männergruppen singend draussen herumziehen“ (Vorlesung „Mystik im Mittelalter des christlichen
Abendlandes“ an der Universität Basel, Herbstsemester 2011).
42
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
13
3.2 Abgrenzung: Die andere Bruderschaft
Für Verwechslungen und Vermischungen sorgt ab und an eine andere
Vereinigung:
Zeitweilig
gab
es
eine
zweite
Bruderschaft
des
Heiligen
Sebastians in Rheinfelden, die kurzzeitig neben derjenigen von 1541 existiert
hat. Diese 1682 aus religiösen Gründen ins Leben gerufene, wohl ursprünglich
überregionale
Gemeinschaft
war
im
Vergleich
zu
derjenigen,
die
Das
Brunnensingen durchführt nur von kurzem Bestand, da sie im Zuge der
Aufklärung wieder aufgelöst wurde.
Aus dem aus dieser Zeit erhaltenen Satzungsbuch43 dieser Vereinigung werden
einschneidende Unterschiede sichtbar. Zum Einen beweist die reine Existenz
des Satzungsbüchleins eine stark religiöse Orientierung: Es wurde mit dem
erklärten
Ziel
in
Druck
gegeben,
sich
damit
als
offiziell
anerkannte
Betgemeinschaft „von einer Hochlobl. [sic!] Bischofflichen Baaßlerischen Curiâ
confirmieren zu lassen“44. Zwar besitzt auch die ältere Bruderschaft bis heute
ein Bruderschaftsbuch, welches unter anderem auch Satzungen enthält, dieses
wird jedoch handschriftlich und zu rein internen Zwecken geführt. Auch spielt
bei
der
Bruderschaft
des
Brunnensingens
die
Religion
eher
eine
untergeordnete Rolle. Ihre Gründung geht auf die akute Notwendigkeit von
Krankenpflege
und
Bestattung
zurück
und
bezieht
sich
auf
die
Gesamtbevölkerung Rheinfeldens. Dagegen lagen der Betgemeinschaft eher
auf theoretischer Ebene „Trost und Heyl“ der Kranken als Nächstenliebe „zu
eygner Leibs- und Seelen-Wohlfahrt“ am Herzen 45 . Bei Pestfällen mussten
lediglich die eigenen Mitglieder versorgt werden. Sie war streng organisiert mit
einem geistlichen Oberhaupt, einem Präfekten, zwei Assistenten und einem
Sekretär und besass eine Art Ältestenrat von 32 Personen. Ämtervergaben
mussten vom geistlichen Oberhaupt bestätigt und öffentlich von der Kanzel
verkündet werden46. Abgesehen von den Ämtern und dem Ältestenrat waren in
der Betgemeinschaft auch Frauen zugelassen 47 , die Mitgliederanzahl spielte
keine Rolle.
Das Original findet sich in der Ausstellung zur Stadtgeschichte des Fricktaler Museums Rheinfelden. Für
die Recherchen zu dieser Arbeit wurde ein Faksimile herangezogen, das sich im Archiv des Fricktaler
Museums befindet.
43
44
Ursprung und Satzungen der Sebastiani-Bruderschaft. Luzern 1696, S. 9.
45
Ebd., S. 10.
46
Ebd., S. 13-14.
An allen adäquaten Stellen ist immer von „Bruederen und Schwoesteren“ die Rede. Bei der Beschreibung
der Ämter entfällt dies und beim Ältestenrat ist dezidiert von „den zwey und dreysig aeltisten Bruedern“ die
47
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
14
All dies war der heute noch existierenden Sebastianibruderschaft von jeher
fremd. Sie besteht, wohl in christlicher Anlehnung an die Zahl der Apostel, bis
heute aus zwölf Männern. Deren schlichte Einteilung in Senior, Vizesenior und
Laternenträger ist in keinerlei Hinsicht mit den Hierarchiestrukturen der
anderen, vergangenen Gemeinschaft des Heiligen Sebastians vergleichbar.
Einzig
den
Schutzpatron
Sebastian
von
Narbonne
haben
die
beiden
Vereinigungen gemeinsam und mit ihm die Verpflichtung, am Festgottesdienst
des Heiligen, dem 20. Januar, teilzunehmen. Vor dem Sebastiansaltar – der
älter ist als beide Vereinigungen 48 - trafen die zwei Bruderschaften also
mindestens einmal im Jahr aufeinander. Auch die Möglichkeit von doppelten
Mitgliedschaften muss für die damalige Lebenswirklichkeit angenommen
werden.
3.3 Zusammensetzung
Die Bruderschaft besteht auch heute noch aus zwölf männlichen Mitgliedern.
Derjenige mit der längsten Mitgliedschaft steht der Bruderschaft als Senior vor,
derjenige mit der zweitlängsten Mitgliedschaft wird als Vizesenior bezeichnet.
Das jüngste Mitglied (nach der Anzahl der Jahre als Sebastianibruder, nicht
des Lebensalters) fungiert als Laternenträger beim Brunnensingen. Diese
Regel scheint jedoch mittlerweile dehnbar, denn nach Aussage des derzeitigen
Seniors der Bruderschaft trägt in den letzten Jahren aus internen Gründen der
Vizesenior die Pestlaterne.
Nach Wyss ist es der Sakristan der St. Martinskirche, der - traditionsgemäss
ein Mitglied der Bruderschaft - die Pestlaterne anzündet und voran trägt 49 .
Wyss scheint jedoch hier einem Irrtum unterlegen. Zum Einen ist die Tradition,
das
Licht
dem
jüngsten
Mitglied
anzuvertrauen
mit
einer
solchen
Vorgehensweise nicht vereinbar: Es ist schlicht unmöglich, dass der Sakristan
der
St.
Martinskirche
zu
jeder
Zeit
auch
das
neueste
Mitglied
der
Sebastianibruderschaft ist. Zum Anderen spricht die sehr ernst genommene
Tradition der Brüder, ihre Neuzugänge extrem handverlesen auszuwählen,
stark dagegen, eine blosse Berufsbezeichnung als Passierschein zuzulassen.
Drittens ist z. B. momentan die Stelle des Sakristans von St. Martin weiblich
Rede (Satzungsbuch 1696, S. 13-14), so dass wohl davon ausgegangen werden kann, dass die Führung
Verwaltung dieser Gemeinschaft reine Männersache war.
48
S. dazu Wyss, Gottlieb:1541-1941. Vierhundert Jahre Brunnensingen . 1941, S. 22-25.
49
Wyss, Gottlieb:1541-1941. Vierhundert Jahre Brunnensingen. 1941, S. 6.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
15
besetzt. Da die Brüder ausdrücklich zu keiner Zeit Schwestern aufgenommen
haben (womit auch die vorhandene Literatur konform geht), wäre eine solche
Tradition spätestens seit Anstellung der ersten Sakristanin hinfällig gewesen,
hätte man diese Männerklausel nicht umwerfen wollen.
Mitglieder werden von der Bruderschaft ernannt. Fluktuation möglichst
auszuschliessen ist ein grosses Anliegen der Brüder. Es sind ausnahmslos
langjährige Bewohner, wenn nicht Ortsbürger von Rheinfelden von Interesse.
Es sollte ihnen eine spezielle Verbundenheit mit der Stadt bescheinigt werden
können, denn die Mitgliedschaft endet im Allgemeinen nur mit Wegzug oder
Tod, wobei der Wohnortswechsel als das grössere (weil vermeidbare) Übel
erscheint. Wird ein Platz in der Bruderschaft frei, so rückt einer der zwei
Ersatzmänner nach. Potentielle Neuanwärter, die ihre Zeit in der Bruderschaft
wiederum als Ersatzmänner beginnen, werden von den Brüdern nach reiflicher
Überlegung benannt und kontaktiert. Ausschlaggebende Faktoren sind die
bereits genannte Verbundenheit mit der Stadt, eine gute Singstimme und eine
positive Charaktereinschätzung seitens der Mehrheit der Brüder. Derzeit ist es
z. B. Fall, dass ein ursprünglich durch Wegzug ausgeschiedener Bruder nach
Rheinfelden zurückgekehrt ist. Auch dieser muss nun ein weiteres Mal mit den
Anfangsjahren als Ersatzmann beginnen.
3.4 Sichtbarkeit
Das
Brunnensingen
stellt
die
grundliegende
Hauptaufgabe
der
Sebastianibruderschaft dar. Sie wurde zu diesem Zweck gegründet und
besteht auch heute noch deswegen. Mit dieser Tradition wird die Bruderschaft
in
der
Öffentlichkeit
sichtbar.
Daneben
gibt
es
nur
mehr
wenige
Berührungspunkte mit der Aussenwelt und keiner ist derart zentral und
allgemeingültig.
Wenn die Brüder singend durch die Gassen ziehen, sind sie für jeden
Anwesenden wahrnehmbar, sei er nun absichtlich oder zufällig in ihren Radius
geraten. Dabei ist nicht zu vergessen, dass dieser Radius nicht nur visuell aus
dem Altstadtrundgang und damit dem Erscheinen der Brüder in den Gassen
und an den Plätzen der Brunnen besteht. Je nach Umgebungslautstärke ist er
in akustischer Form noch weiter zu ziehen.
Anschliessend an das Brunnensingen an Weihnachten gehen die Brüder
geschlossen
in
den
Weihnachtsgottesdienst
der
St.
Martinskirche.
Die
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
16
Bruderschaft hat dort ihren eigenen Platz am Sebastiansaltar. So ist sie
einerseits klar als abgesetzte Gruppe erkennbar, allerdings hat sich das
Publikum mittlerweile auf diejenigen Bevölkerungsmitglieder verringert, die
gleichfalls den Mitternachtsgottesdienst besuchen. Auch sind die Brüder nun
nicht mehr zentraler Mittelpunkt des Geschehens. Zudem befinden sich der
Sebastiansaltar und damit auch die Bänke der Sebastianibrüder im linken
Seitenschiff. Nichtsdestotrotz bleibt der von der Tradition der Bruderschaft
vorgeschriebene Besuch des Mitternachtsgottesdienstes an Weihnachten ein
erkennbarer öffentlicher Akt. Eine ähnliche Lage ergibt sich am Orgelkonzert
im Anschluss an das Brunnensingen zu Silvester. Dies allerdings wohl meist
mit
geringerer
Besucherzahl
vorgeschrieben
wäre,
und
anwesend
ohne
zu
dass
sein.
es
den
Weiters
Brüdern
direkt
erscheinen
die
Sebastianibrüder am 20. Januar, dem Sebastianstag, zum Gottesdienst in der
St. Martinskirche.
Zur Tradition der Bruderschaft gehört weiters einmal im Jahr das sogenannte
Bruderschaftsmahl. Alle Mitglieder treffen sich in einem Restaurant zum
gemeinsamen
Essen.
Sebastianibrüder
im
Bei
dieser
Gelegenheit
Bruderschaftsbuch
Entscheidungen getroffen bzw. besprochen.
Abbildung 4: Storchenbrunnen 1941 (Wyss) und 2011
werden
festgehalten
die
Namen
und
der
allfällige
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
17
4 DAS BRUNNENSINGEN DURCH DIE ZEIT
Es macht ganz den Eindruck, als sei das Brunnensingen seit seiner Initiierung
ohne grosse Unterbrüche beibehalten worden. Zumindest seit 1845 lässt sich
anhand der Eintragungen im Bruderschaftsbuch erkennen, dass es seither nur
einmal ausfallen musste. Schuld war die spanische Grippe 1918 und ein
deswegen erlassenes "Versammlungs- & Gesangsverbot"50.
Anfang des 19. Jahrhunderts scheint es Bestrebungen gegeben zu haben, den
alten Brauch abzuschaffen. Dies wurde durch den sehr engagierten Senior
Theodor Nussbaumer verhindert. Zum Dank dafür heisst heute der Brunnen
am Obertorplatz Theodorsbrunnen51. Den zweiten Weltkrieg hat die Tradition
abgesehen von Umleitungen des üblichen Weges oder Anpassung der Uhrzeit
einigermassen
unbeschadet
überstanden.
Ein
im
Bruderschaftsbuch
eingeklebter Brief von 1941 zeugt von der Ergriffenheit eines Kommandanten
der Militärsanitäranstalt: Er bedankt sich bei der Bruderschaft auch im Namen
von Patienten und Personal für ein unvergessliches Erlebnis.
Seit Kriegsende 1945 hat auch für die Sebastiani die Zeit der Diskografie
begonnen. In der Universitätsbibliothek Basel findet sich ein undatiertes
Tondokument,
das
mit
einiger
Wahrscheinlichkeit
eine
der
ersten
ausgestrahlten Audioaufnahmen des Brunnensingens ist. Bruderschaftsbuch
und diverse Literatur berichten von einer Rundfunksendung am Silvesterabend
1945, an dem mit vorgelesenen Texten von Gottlieb Wyss durchsetzt, einige
Strophen für die Auslandsschweizer ausgestrahlt wurden. Das erwähnte
Tondokument deckt sich inhaltlich genau mit diesen Angaben. Auch der
akustische Eindruck, der zwar Wände, aber gleichwohl keinen geschlossenen
Raum erahnen lässt, erklärt sich sehr gut aus den Angaben von Veronika
Günther, diese Aufnahme sei im Spätherbst 1945 von Radio Basel im Hof des
Rathauses entstanden52.
Ab und an interessieren sich örtliche Rundfunk- oder Fernsehsender für das
Brunnensingen. Auf einen solchen Besuch deutet z. B. im Jahr 1964 die kleine
50
Vgl. Bruderschaftsbuch 1917/18.
51
s. a. Kap. 4.5, S. 22
Günther, Veronika: Schwedenlied und Sebastianilied. Schweizerische Volksmusik, Sammlung Constantin
Brailoiuo (1893-1958). In: Neujahrsblätter 1988, S. 121-126.
52
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
18
Zeichnung einer Filmkamera (neben dem schriftlichen Eintrag des Ereignisses)
im Bruderschaftsbuch.
Die vorläufig letzte Station der Discografie bildet die 1996 entstandene DVD
(auch als reine Audio CD vorhanden) "Sebastiani-Bruderschaft Rheinfelden:
Weihnachts- und Neujahrslied"
53
. Dieses Bildmaterial diente 1997 der
Sonderausstellung "Die Pest und die Sebastiani-Bruderschaft Rheinfelden" im
Fricktaler Museum zur Illustration und wird heute noch vom Tourismusbüro
Rheinfelden vertrieben. Eine gekürzte Fassung findet sich immer noch im
Pestzimmer des Fricktaler Museums.
Abbildung 5: Kuttelbrunnen 1941 (Wyss) und 2011
4.1 Das Ritual
4.1.1 Beginn
Beim Glockenschlag beginnt der Zug von Brunnen zu Brunnen, der nach 60
Minuten wieder an der Kirche endet. In der Literatur sowie im Erleben und
Beschreiben
von
Beteiligten
sind
teilweise
missverständliche
bzw.
widersprüchliche Angaben zum Schlagen der Kirchturmuhr und dem davon
abhängenden Beginn des Marsches der Sebastianibrüder zu finden. Dies
kommt nicht daher, dass sich der Startzeitpunkt analog der unterschiedlichen
Beschreibungen über die Zeit verschoben hätte, sondern liegt vermutlich
daran, dass um die jeweiligen Uhrzeiten (und besonders an Weihnachten)
mehrere Glocken zu hören sind. So ist es wohl nur dem genauen Kenner
53
DVD Sebastiani-Bruderschaft Rheinfelden: Weihnachts- und Neujahrslied. Basel 1996.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
19
möglich, die richtige Glocke, nämlich die der St. Martinskirche, herauszuhören.
Für zusätzliche Verwirrung sorgt das heutzutage nicht mehr allgemein
geläufige Schema, nach dem die meisten Kirchenglocken die Zeit angeben:
Vor der Zahl der jeweiligen Uhrzeit zeigt viermaliges Schlagen die volle Stunde
an.
Sowohl die Marschformation mit dem Träger der sogenannten Pestlaterne an
der Spitze als auch die Standpositionen an den einzelnen Brunnen sind
schriftlich festgelegt und durch die Jahrhunderte ungefähr beibehalten worden.
Die Formation war früher paarweise, wie Wyss in einem Vergleich der alten
Satzungen des Bruderschaftsbuches mit den Gebräuchen zur Entstehungszeit
seines Textes (um 1941) feststellt54. Hintergründe für diese Veränderung oder
ein Zeitpunkt sind aber nicht genannt. Obwohl Wyss nach eigenen Angaben
der damalige Senior der Bruderschaft als lebendige Quelle zur Verfügung
stand55, muss er konstatieren "seit wann die heutige Prozessionsform besteht,
vermag ich nicht zu sagen"56. Auch dem heutigen Senior sind diese Umstände
unbekannt. Noch 1926 betont Anton Brogli die paarweise Gruppierung: "Es
sollen alle zwölf Brüder […] sich […] ordentlich versammeln […] sich paarweise
nach Rangordnung […] auf die bestimmten Hauptplätze fortbegeben. […] Nach
ganz
vollendetem
Gesange
verfügen
sich
sämtliche
Brüder
wiederum
paarweise zu den weiteren Stationen"57.
Eine weitere Veränderung lässt sich auch in Bezug auf den Treffpunkt
feststellen: In den Statuten des Bruderschaftsbuches ist zu lesen:
"[Es] sollen alle 12. Brüder in brüderlicher Eintracht und Liebe am Vorabend
des Weihnachtsfestes sowohl als Neujahrstage sich bei einem der 12.
Brüder zur gehörigen Zeit ordentlich versammeln […]"58.
Auch Wyss berichtet später ein Gleiches und betont ausserdem, diese Regel
werde
nebst
anderen
Verordnungen
"noch
heute
[also
1941,
d.
V.]
gewissenhaft befolgt" 59 . 2011 ist hiervon nichts mehr zu bemerken. Das
Brunnensingen startet offiziell vor der Martinskirche, in deren Innerem sich die
Brüder vorher sammeln. Laut Aussage des amtierenden Seniors ist der
54
Wyss, Gottlieb:1541-1941. Vierhundert Jahre Brunnensingen. 1941, S. 18.
55
Ders., S. 36.
56
Ders., S. 6.
57
Brogli, August: Die Sebastiansbruderschaft zu Rheinfelden (Schweiz). 1926, S. 96.
58
Vorbericht des Bruderschaftsbuches, S. 11, §5.
59
Wyss, Gottlieb: Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. 1930, S. 17.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
20
Versammlung in der Kirche auch kein privates Treffen bei einem der Mitglieder
vorgeschaltet.
4.1.2 Rundgang
Ebenfalls statuarisch vorgeschrieben ist das Anlaufen der Hauptbrunnen
grundsätzlich sowie der Beginn bei der Froschweid, was auch heute noch
eingehalten wird. Die Reihenfolge bleibt ungewiss. Wahrscheinlich ist, dass sie
jeweils der Praktikabilität eines reibungslosen Rundgangs unterlag, denn durch
stadtbauliche Neuerungen wurden immer wieder Standortabweichungen bei
den Brunnen vorgenommen. Einer ging über die Jahrhunderte komplett
verloren60, so dass mittlerweile nur mehr sechs Brunnen angelaufen werden.
Ähnlich dem Basler Morgestraich bemühen sich Bevölkerung und offizielle
Stellen um historisch korrekte Erlebbarkeit durch Verdunklung der betroffenen
Strassen. Speziell an Silvester scheint dieses Ziel allerdings zunehmend
schlechter erreichbar zu sein. Im Gegensatz zu den ausgestorbenen Gassen
der pestgeplagten Mittelalterstadt wird der Gang der Brüder aber heutzutage
von vielen Zuschauern begleitet. Anschliessend gehen an Weihnachten die
Sebastianibrüder
wie
auch
die
meisten
Zuschauer
in
den
Weihnachtsgottesdienst der St. Martinskirche. In Anlehnung daran hat sich,
initiiert von einem Bruderschaftsmitglied, an Silvester ein Orgelkonzert am
selben Ort etabliert. Noch 1941 schreibt Wyss über den Silvesterabend:
"Eine kirchliche Feier folgt an diesem Tage nicht; die Mitglieder verbringen
den Abend in freiem Beisammensein gewöhnlich in dem Wirtshaus, das für
das Brudermahl vorgesehen ist für das betreffende Jahr."61
4.2 Augenfälliges
Laut Fricktaler Museum existieren derzeit drei (gleiche) Pestlaternen. Jeweils
eine steht in der Ausstellung des Museums zur Pest in Rheinfelden, eine
befindet sich im Lager und eine steht, als Artefakt der Sebastianibruderschaft,
in der Martinskirche vor dem Sebastiansaltar. Die Gesprächspartner sowohl
aus der Bruderschaft als auch vom Museum sind sich einig, dass diese sehr alt
ist. Hin und wieder müsse eine der kleinen Glasscheiben ausgetauscht werden,
ansonsten sind keinerlei Vorfälle bekannt. Die weisse Farbe der Laterne legt
nahe, dass sie zumindest gelegentliche Farbauffrischungen erfahren hat. Der
60
s. Kap. 4.5, S. 23.
61
Wyss, Gottlieb:1541-1941. Vierhundert Jahre Brunnensingen. 1941, S. 7.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
21
Stab, an dem sie angebracht ist, erinnert mit seiner bunten Farbgestaltung an
mittelalterliche Gegenstände ähnlicher Art. Ob nun genau diese Laterne (oder
auch nur eine der vorhandenen) tatsächlich seit 1541 eine treue Begleiterin
der Bruderschaft und damit des Brunnensingens ist, kann wohl nur durch eine
umfassende kunsthistorische Untersuchung geklärt werden.
Abbildung 6: Albrechtsbrunnen 1941 (Wyss) und 2011
Das feierliche Schwarz der Kleidung wurde, wohl in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts, durch Zylinder ergänzt. Schon Wyss beklagt, nicht genau
feststellen zu können, wann genau dieser Hut Eingang in die Garderobe der
Sebastiani fand62. Dass er nicht seit der Gründung Teil des äusseren Eindrucks
des Brunnensingens gewesen sein kann ergibt sich aus dem im Vergleich zur
Bruderschaft jugendlichen Alter dieser Modeform.
Interessant ist auch die dunkle Kleidung der Brüder. Laut derzeitigem Senior
ist diese nicht durch die Statuten vorgeschrieben. Dass heute schwarze Mäntel,
Handschuhe, Socken, Schuhe und Halstücher unverzichtbar sind, ist schlicht
gängige Praxis. Auch keiner der einschlägigen Autoren weicht in seiner
Beschreibung von diesem dunklen Erscheinungsbild der Brüder ab. Dem
62
Wyss, Gottlieb:1541-1941. Vierhundert Jahre Brunnensingen. 1941, S. 6.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
22
Beobachter fällt sofort die Funktion dieser Gewandung ins Auge: In der
verdunkelten Altstadt ist die Pestlaterne der Bruderschaft das einzige Licht. Sie
und das Lied, das an jedem Brunnen erklingt sind die eigentlichen Kernstücke
des
Brunnensingens.
Nur
schon
weisse
Hemdkragen
würden
hier
die
Aufmerksamkeit ablenken. Rochholz gibt in den Erläuterungen zur Sage der
zwölf Ratsherren folgenden Hinweis zum Umgang mit der Pest in früheren
Zeiten: „Ein Denkmal dieser Schreckenszeiten ist in Basel das sogenannte
graue Tuch, in welches sich sonst die Todtenbruderschaften kleideten“63. Hier
könnte der Ursprung für die Selbstverständlichkeit dunkler Kleidung bei den
Sebastiani liegen.
4.3 Bruderschaftsinterna
Manche kleinere Änderung lässt sich aber auch datieren. So wird 1888/89 der
Beschluss gefasst, nicht mehr (wie früher einmal festgelegt) jedes Jahr ein
anderes Restaurant für das Bruderschaftsmahl anzulaufen. Die hier ausser
Kraft gesetzte Regel diente wohl dazu, die Etablierung eines bevorzugten
Stammlokals zu unterbinden. Anhand der Eintragungen im Bruderschaftsbuch
lässt sich aber ersehen, dass es von 1845 bis heute kein solches gegeben hat.
Das Bruderschaftsmahl wurde durch die Jahrhunderte immer auf die eine oder
andere Art von offizieller Seite her unterstützt. 1889 wird ein "ortsbürgerlicher
Fonds" erwähnt, aus dem der Betrag für das Essen veranlagt würde 64 . Bei
Wyss (1930) heisst es, dass "der Rat einen Beitrag an ein 'Brudermahl'
spendet"65, 1941 ist es die Ortsbürgergemeinde66, was bis heute so geblieben
ist.
Jährlich
erhält
die
Bruderschaft
von
der
Ortsbürgergemeinde
als
Anerkennung 2000 Franken, die zusammen mit den jährlich nach eigenem
Ermessen entrichteten Mitgliederbeiträgen und externen Gaben die Kasse der
Sebastianibruderschaft bilden. Denn die Bruderschaft erhält gelegentlich
Spenden und dies nicht immer in Geldform.
Ihr feierliches Auftreten führ immer wieder dazu, dass der eine oder andere
auf einem Rheinfeldener Dachboden entdeckte Zylinder aus Urgrossvaters
Zeiten eine neue Bleibe findet. So befinden sich immer genügend stilechte
63
Rochholz, Ernst Ludwig: Schweizersagen aus dem Aargau. 1856/ 1980S. 387.
Bruderschaftsbuch 1889; vgl. auch Münzner, Fritz: Das Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in
Rheinfelden. 1971, S. 16.
64
65
Wyss, Gottlieb: Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. 1930, S. 8-9.
66
Ders., S. 8.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
Kopfbedeckungen
im
grossen
23
Schrank
der
Sebastianibruderschaft
im
christkatholischen Gemeindehaus. Allerdings selten in einer passenden Grösse,
denn die Köpfe der Sebastianibrüder fallen heute meist grösser aus als die
ihrer Mitmenschen zur Zeit der Zylinderhüte.
Wenn ein Neues Mitglied ernannt wird, das keinen eigenen Zylinder besitzt,
erhält es aus besagtem Schrank eine Dauerleihgabe. Diesem kleinen Vorritual
folgt beim nächsten besonderen Anlass – z. B. dem Bruderschaftsmahl - die
offizielle Aufnahme in die Bruderschaft.
„Ich N. N. gelobe Gott, Maria der heiligen Mutter Jesu und dem heiligen
Sebastian, als Fürbitter und besonderer Patron alles dasjenige heilig zu
halten (:was in meinen Kräften besteht:) was die 12. Brüder Hand in Hand
gelobt haben: Ich gelobe keinen meiner Brüder in Noth und Tod zu
verlassen und nach Kräften allen denjenigen beizustehen, die von der Pest
(:wovon uns Gott, und unsere heiligen Patronen gnädigst verschonen
mögen:) befallen werden sollten. ‚Ich gelobe gleich meinen Brüdern, wann
es Noth thun sollte, die Leute von den Gassen und Strassen wegzuschaffen
und dieselben zu beerdigen helfen‘ – doch wolle uns Gott, Maria die Mutter
Jesu und unser Fürbitter St. Sebastian vor allem Übel gnädigst
bewahren.‘“67
So lautete nach der Überlieferung im Bruderschaftsbuch der Bundesschwur der
ersten Sebastianibruderschaft. Lange Zeit haben auch die jeweils neuen
Mitglieder diesen Schwur geleistet, wenn sie nach Verlesen der Statuten ihren
Namen ins Bruderschaftsbuch eintrugen. Inzwischen läuft die Aufnahme etwas
moderner ab. Schon Wyss weiss zu berichten: "Diese Aufnahme erfolgt heute
[1941, d. V.] weit formloser, ohne Bundesschwur und Gelöbnis, da die
Vereinigung keine Jahresversammlung mehr hält" 68 . Der Schwurtext wurde
über die Jahre immer ein wenig mehr modernisiert, gekürzt und den aktuellen
Gegebenheiten angeglichen. Schon bei der Aufnahme des heutigen Seniors
Mitte der 1980erjahre war dies so und er selbst hat nach seinem Amtsantritt
diese Idee weitergeführt. Insbesondere die Verpflichtung an den drei offiziellen
Terminen der Bruderschaft (den beiden Brunnensingen und dem Gottesdienst
am Sebastianstag) zuverlässig zur Stelle zu sein ist eingearbeitet worden.
Kommt heute ein Neuling dazu, so wird dieser modernisierte Schwur vom
Senior verlesen und der neue Mitbruder gibt feierlich seine Zustimmung. Die
Gelegenheit zu diesem Ereignis ergibt sich oft während des Jahres, z. B. am
Bruderschaftsschwur, wie er im heutigen Bruderschaftsbuch im Vorbericht, S. 9-10, überliefert ist. Alle
Unterstreichungen und sonstigen Zeichen wurden 1:1 aus der Vorlage übernommen.
67
68
Wyss, Gottlieb:1541-1941. Vierhundert Jahre Brunnensingen. 1941, S. 18.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
24
Jahresausflug der Bruderschaft, wenn alle Mitbrüder gemeinsam an einem
speziellen Ort versammelt sind. Es ist also nicht (mehr) an einen speziellen
Termin gebunden.
Laut Wyss schreiben die Satzungen der Sebastianibruderschaft einen weiteren
Kirchenbesuch vor: Dem Frühamt am Neujahrstag sollten die Brüder am
Sebastiansaltar beiwohnen "um Sebastian um Schutz für Menschen und Tiere
vertrauensvoll anzurufen" 69 . Dieser Vorschrift wurde aber bereits zu seiner
Zeit nicht mehr entsprochen. Ebenso fungierten die Brüder auch damals schon
nicht mehr als Sargträger für einen verstorbenen Mitbruder, wie dies
ursprünglich einmal der Fall war. Jedoch sind bei der Bestattung eines
gestorbenen Mitgliedes immer noch alle Mitbrüder anwesend. Ein Kranz wie
ein paar passende Worte, die vom Senior vorgetragen werden, dürfen nicht
fehlen.
4.4 Das Bruderschaftsbuch
Sozusagen der innere Kern der Sebastianibruderschaft von Rheinfelden ist das
Bruderschaftsbuch.
Es
handelt
sich
hierbei
um
eine
Art
fortlaufende
Protokollsammlung bzw. Chronik, die handschriftlich nach eigenem Ermessen
vom jeweiligen Senior geführt wird. In ihm finden sich die Geschichte der
Bruderschaft, ihre Statuten und eine jährliche Liste der zwölf Brüder bzw.
deren
jeweiliger
Unterschrift,
Ein-
und
Austritte
sowie
wichtige,
die
Bruderschaft betreffende Angelegenheiten (meist Todesfälle). Ab der Zeit des
ersten Weltkrieges finden sich kurze Berichte über wichtige Ereignisse des
behandelten Jahres 70 . Das heute in
Gebrauch befindliche Buch ist mit
dem Titel "Kurze Geschichte und
Statuten von der von 12 hiessigen
Bürgern verlobten und gestifteten
Bruderschaft
heiligen
nebst
Anhang
Weihnachts-
Neujahrsliedes"
überschrieben
des
und
und
wurde im Jahr 1845 von Friedrich
Lützelschwab begonnen. Vorhergehendes Material ist bedauerlicherweise
69
Wyss, Gottlieb:1541-1941. Vierhundert Jahre Brunnensingen. 1941, S. 18.
70
s. a. Münzner, Fritz: Das Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in Rheinfelden. 1971, S. 16.
Abbildung 7: Bruderschaftsbuch, Neujahrslied
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
25
verloren gegangen. Jedoch enthält das heutige Buch auf den ersten 31 Seiten
(die
als
einzige
Zusammenfassung
nummeriert
der
sind)
historischen
eine
der
mit
„Vorbericht“
Umstände
der
betitelte
Gründung
der
Bruderschaft sowie deren Statuten, die Lieder und den Beitrittsschwur.
Es gibt in der Geschichte Rheinfeldens verschiedene Gelegenheiten, die zur
Ursache für das Verschwinden eines älteren, ersten Bruderschaftsbuches bzw.
vergleichbarer
Unterlagen
Dreissigjährige
Krieg
geeignet
(1618-1648),
wären:
als
Der
"durch
Schweden-
die
wenig
bzw.
rühmliche
'Evakuierung' von Pfarrer G. Irmler während der Schwedenkriege, […] wichtige
Dokumente
der
Stadtgeschichte
verloren[gingen]"
71
.
Ausserdem
der
Siebenjährige Krieg (1756-1763) oder die verschiedenen Besetzungen von
Rheinfelden, das im 18. Jhd. Duchgangsstadt für die verschiedensten Armeen
war. So manche Plünderung erfolgte "sobald man mit dem Schlüssel und der
Flasche nicht mehr beihalten konnte", wie Probst Anton Challamel von St.
Martin schriftlich dem Bischof von Neveu klagt72.
Der Vorbericht im Bruderschaftsbuch von 1845 bzw. dessen erster Teil macht
allerdings stark den Eindruck einer direkten Abschrift aus älteren Quellen. Dies
stellt auch Wyss fest:
"Die heutige Fassung [der Satzung, d. V.] wurde 1845 von Friedrich
Lützelschwab aufgezeichnet. Es handelt sich um eine Erneuerung, die
durchaus den Eindruck einer getreuen Abschrift eines älteren Buches macht
und im ganzen auf echte Überlieferung zurückgehen dürfte"73.
Demnach muss das verschollene Bruderschaftsbuch 1845 noch existiert haben.
Dass der auf vorherige Aufzeichnungen Bezug nehmende Teil des heutigen
Buches gänzlich aus dem Gedächtnis aufgeschrieben wurde scheint unmöglich.
Die Satzungen sind zu umfangreich und genau gefasst und es finden sich
Hinweise
auf
direkte
Zitate;
ausserdem
ist
ein
Verzeichnis
der
Mitgliedermutationen74 seit 1700 angeschlossen.
71
Bröchin, Ernst: Kulturhistorische Rheinfelder Chronik. Rheinfelden 1944, S. 119.
72
Rheinfelder Neujahrsblätter 1957, S. 35-40.
73
Wyss, Gottlieb:1541-1941. Vierhundert Jahre Brunnensingen. 1941, S. 16.
Namens-Verzeichnis der Zwölf verbrüderten Bürger, wie dieselben seit den Jahren 1700. Abgegangen
oder gestorben, - und bis und mit 1845. In die Löbl: Bruderschaft aufgenommen worden – und eingetreten
sind.“ Vorbericht im Bruderschaftsbuch, S. 30.
74
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
26
Auch der zweite Weltkrieg passt als Zeitperiode des Verschwindens nicht ins
Bild. Denn bereits 1945 sind "alle vorhergehenden Bücher und Manuskripte
vollständig der Vergessenheit anheim gefallen", wie der Senior anlässlich des
100sten Geburtstags des heutigen Bruderschaftsbuches 75 berichtet. Und so
kann auch die Tatsache, dass zwischen Kriegsende und 1966 eine grosse
Lücke in der Berichterstattung des Buches klafft
76
, nichts mit dem
Verschwinden der alten Aufzeichnungen zu tun haben.
Viel wahrscheinlicher ist die unspektakuläre, aber lebensnahe Erklärung, die
sich bei August Brogli findet: "Leider sind die früheren Bücher anlässlich eines
Konkurses eines früheren Seniors verloren gegangen, was im Interesse der
historischen Wichtigkeit derselben sehr zu bedauern ist"77. Brogli stand nach
eigenen Angaben der damalige Senior als Informant zur Verfügung, dessen
gutem Gedächtnis wohl dieser Hinweis zu verdanken ist. Heute ist jedwede
Erinnerung an diesen Konkurs vergangen; innerhalb der Bruderschaft ist über
die Ursache des Verschwindens der alten Aufzeichnungen nichts bekannt.
4.5 Die Brunnen
Die Geschichte der Stadtbrunnen von Rheinfelden ist ein Kapitel, das eine
eigene Forschungsarbeit wert wäre. Dass die heute von den Sebastianibrüdern
angelaufenen Brunnen den ursprünglichen entsprechen ist in diesem Rahmen
schwer nachzuweisen. Tatsache ist,
dass
bzw.
in
der
Gründungsgeschichte
den
Statuten
der
Sebastianibruderschaft wie auch bei
Hoffmann-Krayer
78
veröffentlichten
,
einem
Gedicht
1949
und
79
teilweise bei Gottlieb Wyss
80
von
sieben Brunnen die Rede ist. Von
diesen sind zum heutigen Zeitpunkt
Bruderschaftsbuch 1889; vgl. auch Münzner, Fritz: Das Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in
Rheinfelden. 1971, S. 18.
75
Die Berichterstattung über wichtige Ereignisse des Jahres liegt rein im Ermessen des jeweiligen Seniors.
Verpflichtend ist nur die jährliche Eintragung der Mitglieder; hier gibt es keine Lücke.
76
77
Brogli, August: Die Sebastiansbruderschaft zu Rheinfelden (Schweiz). 1926, S. 94.
Hoffmann-Krayer, Eduard: Feste und Bräuche des Schweizervolkes. 1991, S. 65.
Abbildung 8: Theodorsbrunnen 2011
79
Welti, Adolf: Sebastianibrüder. In: Rheinfelder Neujahrsblätter 1949, S. 47.
78
80
Wyss, Gottlieb: Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. 1930, S. 7 und 11.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
27
(2011) nur mehr sechs bekannt. Wann, wie und warum deren Zahl auf sechs
reduziert wurde, war leider nicht einwandfrei zu ermitteln.
Immerhin berichtet die Stadtgeschichte von "sechs öffentlichen Brunnen", die "in
der kurzen Zeit von 1525 bis 1545" (also zur Zeit der Gründung des
Sebastianibruderschaft) zusammen mit dem neuen Rathaus entstanden81. Gut
denkbar, dass es diese Brunnen waren, die die Sebastiani bei der Gründung
ihrer Bruderschaft statuarisch festlegen wollten. Ein siebenter war wohl schon
vorhanden, denn "In Rheinfelden muss es schon vor dem Jahre 1500
öffentliche Brunnen gegeben haben"82. Vielleicht handelt es sich bei dem heute
nicht mehr bekannten siebten Brunnen um den Spiserbrunnen. Von diesem
wird einerseits berichtet, er sei 1543 dazugekommen83, andererseits schildert
der gleiche Autor an anderer Stelle, er sei 1540 "von einem erhöhten Steinbett
umgeben" worden84 also bereits existent gewesen.
Abbildung 9: Kapuzinerbrunnen 1941 (Wyss) und 2011
Versucht man den Zeitraum des Verschwindens des siebten Brunnens
einzugrenzen, fallen Diskrepanzen bei Gottlieb Wyss ins Auge: Bei den 1930
gemeinsam unter dem Titel "Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in
Rheinfelden. Ein Volksbrauch und ein Volkslied" herausgegebenen Aufsätzen
Senti, A.: Entstehung und bisherige Schicksale des Albrechtsbrunnens. In: Rheinfelder Neujahrsblätter
1960, S. 7.
81
82
Senti, A.: Entstehung und bisherige Schicksale des Albrechtsbrunnens. 1960, S. 8.
83
Ebd.
84
Senti, A.: Der Rheinfelder Stadtbach und die Stadtbrunnen. In: Rheinfelder Neujahrsblätter 1960, S. 19.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
28
ist die Rede von sieben Brunnen85. Der zuerst entstandene Artikel bezieht sich
auf einen Besuche der Brunnensingen 1915 und 1916, entstand 1917 und
wurde
1919
erstmals
in
der
literarischen
Zeitschrift
"Die
Schweiz"
herausgegeben. Der zweite erschien zuerst 1928 in der literarischen Beilage
des "Bund"86. August Brogli (auf den Wyss sich nach eigenen Angaben für die
Neuveröffentlichung seiner Aufsätze 1930 stützt), geht auf die Anzahl der
Brunnen nur im historischen Rückblick ein, ohne eine Bemerkung über die
tatsächliche Lage seiner Zeit (1926) einzubringen. In der späteren Festschrift
zum 400jährigen Bestehen der Sebastianibruderschaft zählt Wyss nur sechs
Brunnen 87 auf. Obwohl er in diesem Text über die ursprüngliche Siebenzahl
der Brunnen reflektiert 88, ist die scheinbar zu dieser Zeit bereits veränderte
Anzahl nicht weiter kommentiert. 1980 findet sich bei Weber und Fröhlich
ebenfalls nur eine Aufzählung der
(sechs) Brunnennamen ohne weitere
Kommentierung89.
Von fast allen heute besungenen
Brunnen
sind
Namens-
und
Standortwechsel überliefert. So hiess
der heutige Albrechtsbrunnen vor der
Errichtung seiner namensgebenden
Figur
zuerst
Standortes
aufgrund
Spitalbrunnen.
seines
Nach
Abriss des unbrauchbar gewordenen Spitals wurde dieser um 90 Grad versetzt
und erhielt in Anlehnung an das auf dem Spitalareal neu errichtete Gebäude
den Namen Casinobrunnen. Als schliesslich durch Renovation die Kriegerfigur
hinzukam, die ihn auch heute noch
ziert,
wurde
aus
ihm
der
Abbildung 10: Brunnen St. Martinskirche 2011
Albrechtsbrunnen.
85
Wyss, Gottlieb: Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. 1930, S. 7 und 11.
Nach Angabe von Wyss selbst im "Kleinen Bund", Weihnachtsausgabe Nr. 52, Jahrg. 9, 1928; s. Vorwort
zu Wyss, Gottlieb: Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. Ein Volksbrauch und ein
Volkslied. Rheinfelden 1930.
86
87
Wyss, Gottlieb: 1541-1941. Vierhundert Jahre Brunnensingen. 1941, S. 6.
88
Ders., S. 16.
89
Weber, Ulrich ; Fröhlich, Heinz: Aargauer Bräuche. Aarau 1983, S. 29.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
29
Viele der Umsetzungen, Namensänderungen etc. haben im 16. Jahrhundert
stattgefunden, welches August Senti als die „Zeit der schönen Brunnen“ 90
bezeichnet, wo kleine und grosse Städte untereinander um die schönsten und
zahlreichsten Brunnen wetteiferten. So auch Rheinfelden, das mit Basel immer
ein Musterbeispiel in Sachen Brunnen direkt vor Augen hatte. In dieser Zeit
wurde die Brunnensituation von Rheinfelden derart gründlich und umfassend
durch Neubauten und vor Allem Renovationen bestehender Brunnen ins Reine
gebracht, dass laut August Senti in den öffentlichen Urkunden „von 1619 an
[…] für nahezu 200 Jahre kaum mehr die Rede [ist] von den öffentlichen
Brunnen, ausser dass sie jährlich mehrmals gereinigt und verkittet werden
mussten“91.
Eine Besonderheit ist der ehemalige Obertorbrunnen: Er ist seit Mitte des 20.
Jahrhunderts unter dem Namen Theodorsbrunnen bekannt und hat seinen
Namen als Reminiszenz an Theodor Nussbaumer, den verdienstvollen Senior
(1917-1939) der Sebastianibruderschaft erhalten.
„Januar: 1. Das alte Jahr hat dem neuen einen Denkmalbrunnen geschenkt.
Nach dem Sebastianisingen auf dem Obertorplatz am Silvesterabend
übergab Herr Stadtammann Dr. Beetschen der Öffentlichkeit das Kunstwerk,
das zugleich eine Erinnerung an den langjährigen getreuen Hüter alter
Rheinfelder Tradition, Herrn Theodor Nussbaumer und ein Denkmal an die
Kriegszeit sein soll. […] Er heisst Theodorsbrunnen.”92
So schreibt Senti als Chronist in seinem Rückblick auf das Jahr 1944.
Überhaupt
steht
der
Name
Nussbaumer
für
eine
ganze
Ahnenreihe
verdienstvoller Sebastiani: Theodor Nussbaumer wurde anlässlich des Todes
von Jakob Nussbaumer (seit 1900 Senior) am 22. 12. 1917 zum neuen Senior
gewählt 93 . Später folgte noch ein Senior Arthur Nussbaumer, der z. B. den
Rückblick über die Jahre 1987-89 verfasste.
4.6 Das Lied
Ein ganz besonderes Thema des Brunnensingens ist das dort gesungene Lied.
Zumindest was die Melodie betrifft handelt es sich hier um ‚dies est laetitiae‘,
ein
im
Mittelalter
sehr
gebräuchliches
Weihnachtslied,
dessen
erste
90
Senti, August: Entstehung und bisherige Schicksale des Albrechtsbrunnens. 1960, S. 20.
91
Senti, August: Entstehung und bisherige Schicksale des Albrechtsbrunnens. 1960, S. 14.
92
Ders.: Jahresrückblick des Chronisten über 1944. In: Rheinfelder Neujahrsblätter 1945-1954, S. 43.
93
Bruderschaftsbuch 1916/17.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
30
Aufzeichnungen auf das 16. Jhd. zurückgehen 94 . Minimale Variationen zu
anderen aufgezeichneten Fassungen sind auf mündliche Weitergabe und
textliche Angleichungen zurückzuführen, wie sie unter dem Begriff des
Umsingens auch bei Volksliedern bekannt sind. Die im Bruderschaftsbuch
bewahrte Aufzeichnung, deren Original im Fricktaler Museum zu besichtigen ist,
stammt aus dem 19. Jahrhundert.
Der Text des Liedes ist eine separate Forschungsarbeit wert und kann hier nur
überblickshaft behandelt werden. Zum Teil besteht er aus bekannten Strophen
des ‚dies est laetitiae‘ deutscher Fassungen. Dass dieser Text aus dem
Mittelhochdeutschen modernisiert wurde, zeigen einschlägige Reimpaare. Im
heutigen Deutsch passt der Klang von „Himmelreich“ mit „wunderlich“ nicht
mehr
in
einem
Reim
zusammen.
Bedenkt
man
jedoch
die
seit
dem
Mittelhochdeutschen stattgefundene Diphthongierung wird schnell klar, dass
diese beiden Wörter zu einer Zeit, in der das Himmelreich noch „himelrîch“ hiess
zu keinerlei Beanstandung Anlass gaben. In Angleichung an die Situation lautet
die erste Textzeile bei den Sebastiani an Weihnachten auch nicht (wie in
sonstigen deutschen Fassungen von ‚dies est laetitiae‘ üblich) „Der Tag der ist
so freudenreich“, sondern „die Nacht die ist so freudenreich“. Ansonsten
stimmen die vier Strophen des Weihnachtsliedes inhaltlich und auch in der
Versstruktur mit anderen (und beispielsweise ebenso der noch heute im
evangelischen Gesangbuch als Nr. 94 verwendeten) deutschen Fassungen des
alten Kirchenliedes überein95.
Ganz anders das Neujahrslied. Dieses hat zur gleichen Melodie einen anderen
Text und ist im Gegensatz zum Weihnachtslied refrainartig gestaltet. Der
erzählende Strophenteil erstreckt sich nun nur mehr über vier Zeilen statt
zehn.
Die
fünfte
Zeile
bildet
eine
inhaltliche
Zusammenfassung
des
Vorangegangenen und endet jeweils auf „und das ist wahr“, womit sich
nachher der Neujahrswunsch „Wir wünschen Euch allen ein gutes neues
Jahr“ anschliessen lässt. Die jeweils letzten vier Zeilen sind gleich.
vgl. dazu Kammerer, Immanuel: Das Rheinfelder Sebastianslied. Ursprung und Entwicklung der Melodie in
Notenbeispielen. Separatabdruck aus dem schweizerischen Archiv für Volkskunde, Bd. 42 (1945), Heft 1.
94
s. dazu etwas ausführlicher auch Wyss, Gottlieb: Neues über ein altes Weihnachtslied. In Ders.: Das
Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. 1930, S. 11-21. Wyss revidiert hier auch das von
ihm im vorherigen Aufsatz der gleichen Schrift lancierte Gerücht, die vierte Strophe stelle einen
entschiedenen Bruch dar, da sie aus diversen Gründen nicht aus dem Mittelalter sondern erst aus dem 17.
Jhd. stammen könne (S. 12).
95
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
31
Die grösste Besonderheit ist, dass das Neujahrslied noch eine fünfte Strophe
besitzt. Sie ist eine völlige Eigenschöpfung der Bruderschaft und hat mit dem
althergebrachten Weihnachtslied nichts mehr zu tun. Wyss bescheinigt dieser
Schlussstrophe „keinerlei direkte Vorbilder oder Parallelen in irgendeiner
Liedsammlung aus alter Zeit“96:
„Wir wünschen Euch zum neuen Jahr,
Den heiligen Sebastian,
Dass er in Krieges-, Pest- und Todesgefahr
Mit seiner Fürbitt uns wolle beistehn.
Er wird uns beistehn und das ist wahr,
Wir wünschen Euch allen ein gutes neues Jahr!
96
Wyss, Gottlieb: 1541-1941. Vierhundert Jahre Brunnensingen. 1941, S. 32.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
32
Gott schütze Euch in den Gefahren,
Er gebe Euch Frieden und Einigkeit,
Gesundheit, Segen und Genügsamkeit
Und wolle Euch vor Übel bewahren.“97
Auch hier fällt ein im heutigen Neuhochdeutsch nicht mehr funktionierendes
Reimpaar ins Auge: „beistehn“ reimt sich auf „Sebastian“ nur in seiner älteren
Form „bîstân“, was darauf hinweist, dass auch diese Strophe ihren Ursprung
mindestens zur Gründungszeit der Bruderschaft hat98. Wahrscheinlich ist, dass
sie mit der Verdopplung des Brunnensingens zusammen entstanden ist. Hier
zeigt sich eine weitere Besonderheit der Textangleichung: Obwohl die Tonfolge
offensichtlich an einigen Stellen für zusätzliche Textsilben erweitert wurde 99,
ist es festgesetzte Tradition der Bruderschaft, die Namen Maria und Sebastian
um jeweils eine Silbe zu verkürzen100.
Insgesamt entsteht der Eindruck, dass hier eine Art Collage (auf Basis von
dies est laetitiae) aus verschiedenen gebräuchlichen Strophen, aber evtl. auch
anderen Liedtexten bzw. Liedtraditionen101 vorliegt. Diese kann entweder von
Anfang an für das Brunnensingen so zusammengestellt worden sein oder sich
über längere Zeit in ihre heutige Form entwickelt haben. Bis auf wenige
minimale Ausspracheänderungen (z. B. „Kindlein“ statt „Kindelein“ u. ä.)
singen die Sebastiani heute noch den gleichen Text, wie ihn 1845 Fridolin
Lützelschwab im Bruderschaftsbuch notierte.
97
Text zitiert nach eigener Aufnahme 2011.
Für Wyss scheinen die Datierbarkeit ins Mittelalter und die Tatsache, dass dieser Liedteil speziell für das
Brunnensingen geschaffen ist nicht miteinander vereinbar zu sein (s. Wyss 1941, S. 35). Dies erscheint im
Hinblick auf die Gründungsgeschichte des Brunnensingens unverständlich.
98
99
z. B. um die fünf Silben von „gutes neues Jahr“ in der dreisilbig angelegten Melodie unterzubringen.
100
also „Marja“ und „Sebastjan“
101
vgl. die Erwähnung der Lieder der Geissler-Sekten bei Rochholz, Kap. 3.1.1., S. 10.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
33
4.7 Einbettung und Anschlüsse
4.7.1 Neue Traditionen innerhalb der Bruderschaft
Ab 1952 findet sich im Bruderschaftsbuch am Kopf der Seite mit den
eingetragenen Mitliedern eine kleine Vignette, oft farbig und meist von W. K.
signiert. "Möge die schlichte malerische Ausstattung weitergedeien!"
102
schreibt Münzner 1971. Tatsächlich ist dieser Wunsch in Erfüllung gegangen:
Mittlerweile sind die schlichten Vignetten zu kleinen Kunstwerken aufgeblüht,
die immer offiziell an einen Rheinfelder Künstler vergeben werden.
Ein Ölgemälde von Jakob Strasser, das das Brunnensingen am Obertorplatz
darstellt, obliegt (wohl seit dem Jahr seiner Erwähnung im Bruderschaftsbuch
1966) der Verantwortung des jeweiligen Seniors. Er ist dazu berechtigt, es in
seiner Wohnung aufzuhängen 103 – mittlerweile ist es im Pestzimmer des
Fricktaler Museums zu sehen.
4.7.2 Neues nach Aussen
Doch haben sich durch die Zeit auch ohne Vorschrift neue Verbindungen
zwischen Brunnensingen bzw. der Sebastianibruderschaft und dem übrigen
Rheinfelden entwickelt.
Dem Gründungsgedanken entsprechend hat es sich die Bruderschaft seit ca.
zwölf Jahren zur Aufgabe gemacht, regelmässig einen sozialen Anlass
durchzuführen. Da die
Notwendigkeit
der Betreuung der Mitbürger
in
Seuchenzeiten nicht mehr gegeben ist, wendet sich dieser beispielsweise an
Alte oder Behinderte. Jedes zweite Jahr organisiert und finanziert die
Bruderschaft ein kulturelles Event um auch ohne Pest dem alten Grundsatz
Rechnung zu tragen, sich um die Bevölkerung Rheinfeldens zu kümmern.
Ausserdem trägt die Bruderschaft einmal im Jahr Sorge zur eigenen Gruppe:
Die Brüder unternehmen zusammen einen Ausflug, zu dem auch die
Partnerinnen geladen sind. Alternierend mit dem Sozialanlass ist diese
Veranstaltung im einen Jahr mehr und im anderen weniger umfangreich. Oft
handelt
es
sich
um
Themenfahrten
mit
Bezug
zum
Brunnensingen,
beispielsweise die Erforschung der Region auf den Spuren der Pest.
102
Münzner, Fritz: Das Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in Rheinfelden. 1971, S. 19.
Vgl. Bruderschaftsbuch 1966 bzw. Münzner, Fritz: Das Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in
Rheinfelden. 1971, S. 19.
103
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
34
Schon früher hat es Konzerte in der Stadtkirche von Rheinfelden gegeben, wie
die Klage des Chronisten A. Senti beweist, der im Jahresrückblick von 1944
deren
kriegsbedingtes
Ausbleiben
bedauert
104
.
Mit
seiner
Idee
eines
Orgelkonzertes an Silvester hat das betreffende Sebastianimitglied also keine
totale Innovation getätigt. Durch den gewählten Zeitpunkt aber fügt sich das
Konzert homogen in die bestehenden Traditionen. Schliesslich sind von
Weihnachten her bereits Bruderschaft wie Bevölkerung daran gewöhnt, nach
dem Brunnensingen die Martinskirche aufzusuchen. Dass sich hieraus ein
ungeschriebenes Gesetz entwickelt liegt hauptsächlich am Engagement der
Beteiligten und bleibt noch abzuwarten. Der Prozess scheint jedoch auf gutem
Weg, denn das Orgelkonzert hat sich über die Jahre bereits fest etabliert und
geschlossenes Auftreten, Solidarität und Beständigkeit sind die Grundtugenden
der Sebastianibruderschaft.
4.7.3 Mitternachtsgottesdienst
Durch
den
für
die
Weihnachtsgottesdienstes
Sebastianibrüder
war
das
obligatorischen
Brunnensingen
immer
Besuch
des
fest
die
an
allgemeine Tradition angeschlossen. Inwiefern das Weihnachtssingen im
heutigen nicht mehr ausschliesslich christlich geprägten Leben für seine
Zuschauer
zum
Anlass
wird,
(wieder)
dem
weihnachtlichen
Mitternachtsgottesdienst beizuwohnen und so eine andere christliche Tradition
stärkt, wäre zumindest überlegenswert. Mit dem Besuch der Christmette von
St. Martin, wird ausserdem ein direkter Übergang zu einer anderen Tradition
geschaffen:
„Die besondere Eigenart der Rheinfelder Mitternachtsmesse besteht […] in
den Hirtenmelodien nach ‚Tell‘, die an die Bedeutung des Hirtenamtes
erinnern wollen und von der Empore aus auf einer Tuba geblasen
werden.“105
104
Rheinfelder Neujahrsblätter 1945-1954, S. 42.
105
Wyss, Gottlieb: Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. 1930, S. 9.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
35
Wie Wyss zu der missverständlichen
Bezeichnung "Tuba" kommt wird von
ihm
nicht
bleibt
näher
damit
ausgeführt
und
unverständlich.
Aus
Betrachtung
des
eingehender
Instrumentes liegt eher der Schluss
nahe,
dass
es
sich
um
eine
mittelalterliche Tromba handelt
Auch
wegen
des
106
.
weichen
(hornartigen) Klanges scheint die in
diesem
übliche
weitaus
Diskurs
sonst
Bezeichnung
passender.
Die
allgemein
Hirtenhorn
gespielte
Melodie gibt (sofern sie seit Beginn
dieses
Abbildung 11: Pestlaterne vor dem Sebastiansaltar in St. Martin 2011
Brauches
nicht
geändert
wurde) Auskunft darüber, dass das
Brunnensingen die ältere Tradition ist.
Sie stammt aus der Oper Gulliaume Tell von Gioachino Rossini und kann somit
frühestens seit deren Erscheinen 1829 verwendet worden sein. Dennoch ist die
Verbindung des Brunnensingens mit der Weihnachtstradition des Hirtenhorns
mittlerweile derart stark, dass dem Instrument ein prominenter Platz im vom
Tourismusbüro Rheinfelden vertriebenen Film zur Sebastianibruderschaft
eingeräumt wird: Die erste Filmhälfte über das Weihnachtssingen schliesst mit
einer Grossaufnahme des Instrumentalisten und den Worten „Uralter Tradition
folgend wird der Gottesdienst durch das Blasen des sogenannten Hirtenhorns
eröffnet und ebenso geschlossen“ 107 . Bei oberflächlicher Betrachtung könnte
hier durchaus der Eindruck entstehen, es sei ebenfalls Teil der SebastianiTradition, in der Christmette das Hirtenhorn erklingen zu lassen. Dies ist
jedoch nicht der Fall. Weder sind die beiden Bräuche mehr als durch den
zeitlichen Zusammenfall miteinander verknüpft, noch ist beispielsweise der
ausführende Musiker ein Sebastiani.
Das besagte Instrument ist schnurgerade, ohne Bügel, unterliegt definitiv der Naturtonreihe und weist
keinerlei Klappen oder Ventile auf. Alles dies sind Eigenschaften, die nicht einmal auf Frühformen der Tuba
zutreffen.
106
107
DVD Sebastiani-Bruderschaft Rheinfelden: Weihnachts- und Neujahrslied. Basel 1996, 07:10-07:22.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
36
5 DAS BRUNNENSINGEN ALS KULTURELLES GEDÄCHTNIS108
Bei all diesen Betrachtungen wird klar, dass das Brunnensingen seine
ursprüngliche
Funktion
überlebt
hat.
Im
21.
Jahrhundert
sind
Missverständnisse was die Entstehung und Verbreitung der Pest betrifft
ausgeräumt. Die Seuche selbst ist, wenn auch nicht komplett ausgerottet, so
doch in den Breitengraden von Rheinfelden nicht mehr existent. Die
Trinkwasserqualität unterliegt offizieller Kontrolle und Impfungen und Hygiene
haben dem Gebet in Sachen Krankheitsprävention den Rang abgelaufen.
Dennoch hat sich der Brauch über Jahrhunderte erhalten und stellt heute
einen wichtigen Faktor der Rheinfelder Identität dar. Alle befragten Personen
gingen völlig konform in der Aussage, das Brunnensingen gehöre einfach zur
Stadt, unabhängig davon ob sie selbst eifrige Besucher desselben oder eher
uninteressiert waren. Abgesehen hiervon sind die Bewerbung um einen
UNESCO-Listenplatz und die museale wie die (wenn auch sehr defensive)
Präsenz im Tourismusbereich Gradmesser für diesen Stellenwert. Auch als
Schulstoff
ist
das
Brunnensingen
Teil
von
Rheinfelden.
Dies
ist
selbstverständlich der Beständigkeit der Sebastianibruderschaft zu danken, die
seit 1541 ihren Bestand und damit den Brauch erhält, "obgleich hin und wieder
Eiferer versucht hatten, ihn abzuschaffen" 109 . In den Augen solcher Kritiker
hatte wohl der Brauch durch das vorangeschrittene medizinische Wissen seine
Berechtigung verloren.
5.1 Erinnerung
Es scheint allerdings mehr ein repräsentativer Wert zu sein, den das
Brunnensingen für Rheinfelden hat und dessentwegen seine Popularität bis
heute ungebrochen ist. Niemand ist der Auffassung, das Besingen der Brunnen
würde vor der Pest oder anderen Seuchen bewahren. Die Tatsache jedoch,
dass es in der Geschichte der Stadt eine derart dramatische Zeit gab, dass
eine Bruderschaft und ein eigens geschaffenes Ritual daraus hervorgingen, ist
Diesem Kapitel liegt zugrunde: Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Ders.,
Toni Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1988, S. 9-19. Sämtliche Zitate, Angaben und
Paraphrasierungen stammen, wenn nicht anders angegeben, aus diesem Artikel und sind nur in
Ausnahmefällen nochmals einzeln nachgeführt.
108
Weber, Ulrich; Fröhlich, Heinz: Aargauer Bräuche. 1983, S. 29. Weber und Fröhlich beziehen sich hier
wahrscheinlich auf eine Bemerkung im Bruderschaftsbuch (1939) über Theodor Nussbaumer, der Anfang
des 19. Jhd. den Brauch gerettet haben soll, "da verschiedene Kräfte am Werk waren, aus
Kleinlichkeitsgründen alles zu sistieren" (zit. nach Münzner 1971, S. 19).
109
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
37
durchaus erinnerungswürdig. Aleida Assmann bezeichnet Repräsentation im
kulturwissenschaftlichen Sinn betrachtet als "Wiedervergegenwärtigung"110und
damit Erinnerung. " Denn Erinnerung ist niemals Wiederherstellung von
Vergangenheit, sondern immer nur eine Repräsentation derselben. Als
Vergegenwärtigung der Vergangenheit lässt sich der spontane Eindruck –
zumindest am weihnachtlichen Brunnensingen – in eine andere Zeit versetzt
worden zu sein
111
durchaus beschreiben. Was neben der besonderen
Atmosphäre als am faszinierendsten geschildert wird ist die Vorstellung der
Zeitspanne,
die
dieser
Brauch
umfasst,
oder
mit
den
Worten
eines
Gesprächspartners "wenn man sich vorstellt, wie lange die da schon so
laufen"112.
Auf diese Weise wird durch das Brunnensingen die Erinnerung an eine
gemeinsame Vergangenheit wachgehalten, die durch diesen Brauch sowie
durch seine Ausführenden, die Sebastianibrüder, oder auch nur ein einzelnes
Artefakt, wie die Pestlaterne, repräsentiert wird. Aus einem schicksalhaften
Ereignis in der Vergangenheit (der Heimsuchung durch die Pest im Mittelalter)
hat sich ein Ritual (das religiöse Besingen der verunreinigten Brunnen)
entwickelt,
das
mittlerweile
"nur
mehr"
ein
kulturelles
Ereignis
(das
Brunnensingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden) darstellt. Jedoch durch
genau
diesen
Weg
ist
das
Brunnensingen
für
Rheinfelden
ein
identitätsstiftendes Element. Nur dem Städtchen Verbundene können seine
Bedeutung entschlüsseln. Einem Fremden ohne Hintergrundwissen entgeht mit
einiger Wahrscheinlichkeit in Dunkelheit und Menschenmenge sogar die
grundliegende Information, weshalb dieses Ereignis überhaupt Brunnensingen
genannt wird.
5.2 Gemeinsamkeit
Die Tradition verbindet diejenigen, die darum wissen. Wer in Rheinfelden
aufgewachsen ist, teilt nicht nur die gemeinsame Vergangenheit eines
besonderen
Heimatkundestoffs
in
der
Primarstufe,
sondern
auch
die
Vergangenheit des gemeinsamen Wohnortes. Ein Gesprächspartner hatte
darauf gründend für sich sogar die Bezeichnung Pestsingen entwickelt. Das
Assmann, Aleida: Gedächtnis als Leitbegriff der Kulturwissenschaften. In: Musner, Lutz; Wunberg,
Gotthart (Hg.): Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen. Wien 2002, S. 27.
110
111
vgl. Kap. 2.1, S. 3.
112
AR am 05.05.2011. Forschungstagebuch, S. 21.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
38
Brunnensingen stabilisiert diese Gemeinsamkeit jedes Jahr aufs Neue. Jan
Assmann fasst "den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen
Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und Riten zusammen, in deren
'Pflege' sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektives Wissen
vorzugsweise (aber nicht ausschliesslich) über die Vergangenheit, auf das eine
Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt" unter dem Begriff des
kulturellen Gedächtnisses zusammen113. Diese Definition trifft in Bezug auf das
Brunnensingen sowohl was die Einwohner Rheinfeldens betrifft als auch in
besonderem Mass auf die Sebastiani-Bruderschaft zu und markiert damit das
Brunnensingen als Teil dieses kulturellen Gedächtnisses, das Assmann auch
das kollektive Gedächtnis nennt.
5.3 Kulturelles Gedächtnis
Massgebend für das kulturelle Gedächtnis nach Assmann ist seine Alltagsferne
bzw. –transzendenz, die den Zeithorizont dieses Gedächtnistyps kennzeichnet.
Die Erinnerung an schicksalhafte Ereignisse in der Vergangenheit, wie es die
Pest von 1541 in Rheinfelden war, wird mithilfe kultureller Formung und
institutionalisierter Kommunikation wachgehalten. Kulturelle Formung findet
sich beispielsweise im Brunnensingens als Ritual, das durch seine Interaktivität
wie das Begehen einer bestimmten Route durch die Altstadt, die Rezitation des
überlieferten Liedes und die Betrachtung des ganzen Ereignisses seitens der
Zuschauer auch auf institutionalisierte Weise kommuniziert. Dies definiert das
Brunnensingen selbst als Erinnerungsfigur bzw. Zeitinsel. In dieser kulturellen
Formgebung "kristallisiert kollektive Erfahrung, deren Sinngehalt sich in der
Berührung blitzartig wieder erschliessen kann"114.
Es
muss
nicht
ausschliesslich
die
pestgeplagte
Ausgangslage
des
Brunnensingens sein, die sich erschliesst - möglicherweise fühlt sich der eine
oder andere Rheinfeldener gesetzten Alters durch die unfeierliche Stimmung
am Silvester-Brunnensingen noch an etwas ganz anderes erinnert: Aus der
Zeit des zweiten Weltkriegs schreibt der Chronist A. Senti pragmatisch über
den Jahreswechsel 1944/45: "Am Silvesterabend mischte sich der Donner der
Geschütze und das Geheul der Sirenen in das Singen der Sebastiani"115. Mit
113
Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. 1988, S. 15.
114
Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. 1988, S. 12.
115
Rheinfelder Neujahrsblätter 1945-1954, Jahresrückblick 1946, S. 43.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
39
der Zeit ist das Brunnensingen selbst zum Fixpunkt für seine Teilnehmer
(Akteure wie Zuschauer) geworden. Anhaltender Regen (wie beispielsweise am
diesjährigen Silvesterabend 2011) ruft wohl bei so manchem Sebastiani
Erinnerungen wach an die Filmproduktion von 1996, als ähnliche Verhältnisse
herrschten. Die Zeitinsel weitet sich, wie Assmann in Anlehnung an Aby
Warburg schreibt, im kulturellen Gedächtnis "zu einem Erinnerungsraum
'retrospektiver Besonnenheit'"116.
In seiner Theorie des kulturellen Gedächtnisses versucht Assmann die
Faktoren Gedächtnis, Kultur und Gruppe bzw. Gesellschaft aufeinander zu
beziehen. Dass diese drei Pole auch im Brunnensingen vereinigt werden, ist
ein weiterer Grund, diese Tradition als Teil des kulturellen Gedächtnisses zu
sehen. Wie bereits dargelegt, lässt sich dem Brunnensingen als kulturellem
Ereignis
eine
gewisse
Gedächtnisfunktion
nicht
absprechen.
Auf
der
gesellschaftlichen Seite lassen sich sogar zwei Gruppen ausmachen. Zum
einen die Rheinfeldener Bevölkerung als Kollektiv, zum anderen die zwar im
Kollektiv
enthaltene,
jedoch
auch
eigenständige
Gruppe
der
Sebastianibruderschaft.
5.3.1 Identitätskonkretheit
Beide Gruppen für sich und gemeinsam bewahren im bzw. durch das
Brunnensingen ein gemeinsames Wissen, aus dem sich wiederum jeweils ein
spezielles „Bewusstsein ihrer Einheit und Eigenart“ 117 speist. Die Sebastiani
überliefern seit Jahrhunderten unter sich sowohl historische Kenntnisse als
auch das Wissen um die genaue Durchführung ihrer Tradition. Daraus ergibt
sich zusätzlich ein Bewusstsein für passende oder notwendige Variationen, die
getätigt werden (können), ohne den Bezug zur Geschichte zu verlieren. Eine
kurze Zeit im Jahr treten sie mit ihrem Ritual aus der Gesellschaft heraus und
werden als eigenständige Gruppe sowohl visuell als auch durch ihr Tun
erkennbar. Ihre Tradition erfüllt sie mit Stolz und manch einer geniesst es, für
kurze Zeit einen besonderen Status inne zu haben. Dieser Status einiger
seiner Bürger wirkt sich wiederum auf das Identitätsgefühl Rheinfeldens aus.
Man ist stolz, so eine Tradition wie das Brunnensingen für sich in Anspruch
nehmen
zu
können.
Hier
zeichnet
sich
ab,
116
Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. 1988, S. 12.
117
Ders., S. 13.
was
Assmann
als
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
40
Identitätskonkretheit des kollektiven Gedächtnisses beschreibt sowie deren
Folgeerscheinung: eine Grenze, die das Eigene vom Fremden, Zugehörigkeit
von Nicht-Zugehörigkeit trennt.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
41
5.3.2 Rekonstruktivität
„Kein Gedächtnis vermag eine Vergangenheit als Solche zu bewahren“ 118
schreibt Assmann. Das im kulturellen Gedächtnis bewahrte Wissen über die
Vergangenheit wird immer in den Bezugsrahmen der jeweiligen Gegenwart
gesetzt; es ist rekonstruktiv. So können z. B. über die Zeit Zylinderhüte zum
festen Bestandteil des Brunnensingens werden ohne die Essenz der Erinnerung
zu verfälschen. Der Ernsthaftigkeit des Anlasses wurde zu gegebener Zeit die
aktuell ernsthafte Garderobe verpasst. Mittlerweile hat diese ehemalige
Aktualität eine Hauptfunktion dazugewonnen: Die Zylinder gemahnen daran,
dass es sich grundsätzlich um ein Ritual handelt, das die Vergangenheit
repräsentiert. Ein noch bedeutsameres Beispiel findet sich im Sozialanlass der
Bruderschaft: Ihrer ursprünglichen Legitimation, der Betreuung der Bewohner
Rheinfeldens in Pestzeiten beraubt, isoliert die Bruderschaft für sich das
dahinterstehende Prinzip der Solidarität und überträgt es in die Gegenwart.
5.3.3 Geformtheit und Organisiertheit
Als Geformtheit bezeichnet Assmann die Objektivation von kollektivem Wissen.
Das Wissen muss in irgendeiner konkreten Form vorliegen, um die Möglichkeit
seiner
Weitergabe
zu
gewährleisten.
Insbesondere
institutionalisierte
Weitergabe bzw. Vererbung von Wissen braucht Fassbares, das weitergegeben
werden kann. Solcherart Formung ist beim Brunnensingen an verschiedensten
Orten anzutreffen. Einerseits ist das
Brunnensingen selbst als Ritual mit
allen
seinen
Teilkomponenten
die
Formung.
Auf
prägnanteste
sprachlich-mündlicher Ebene findet
sich ausserdem das Lied, aber auch
die
Initiierung
der
neuen
Sebastianimitglieder aufgrund eines
zwar
inhaltlich
immer
weiter
angeglichenen, aber in seiner Form
doch fest bestehenden Schwurs, sei
er nun vorgelesen oder auswendig
Abbildung 12: St. Martinskirche 2012
118
Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. 1988, S. 13.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
42
gelernt. Mit der Entwicklung der Vignettenkunst im Bruderschaftsbuch kommt
auch eine bildliche Form für die interne Tradierung von Wissen hinzu, genauso
wie das Bruderschaftsbuch selbst als feste Form des Schriftlichen von Senior
zu Senior weitergegeben wird. Möglicherweise hat sich diese Form erst mit der
Zeit (Notwendigkeit) gebildet. Die Bemühungen, Licht ins Dunkle der
verlorenen Aufzeichnungen der Bruderschaft zu bringen, sowie Erzählungen
des heutigen Seniors über das Buch und das ihm angeschlossene Archiv der
Bruderschaft, geben Anlass zur Vermutung, dass es sich hier um eine lose
Schriftensammlung handelt. Diese wollte wohl der Verfasser des Vorberichts
im heutigen Buch mit seiner Abschrift in eine feste Form bringen.
Diese Punkte beinhalten ein anderes Merkmal des kulturellen Gedächtnisses,
nämlich dessen Organisiertheit. Assmann führt hierfür die Komponente der
institutionellen
Absicherung
Zeremonialisierungen
von
der
Kommunikation,
wie
sie
Kommunikationssituationen
z.
B.
(wie
durch
dem
Beitrittszeremoniell der Bruderschaft oder die in Verse gegossenen guten
Wünsche des Neujahrsliedes) gegeben ist, an. Ausserdem die Spezialisierung
der Träger des kulturellen Gedächtnisses, die eine spezialisierte Praxis bzw.
Pflege des Kulturellen Gedächtnisses betreiben. Als solche Spezialistengruppe
lässt sich unschwer die Sebastianibruderschaft erkennen.
5.3.4 Verbindlichkeit
Assmann bezeichnet das Wissen des kulturellen Gedächtnisses als verbindlich
in Bezug auf eine klare Werteperspektive. Der kulturelle Wissensvorrat und
Symbolhaushalt
werde
durch
ein
Relevanzgefälle
von
Symbolen
und
Funktionen strukturiert. Dieser Ansatz ist beim Brunnensingen schwieriger
umsetzbar, da es als kleiner, regionaler Brauch nicht dermassen komplex ist,
dass eine Hierarchie von Symbolen und Funktionen zur Strukturierung
notwendig wären. Sofern aber beispielsweise die Brunnen im Einzelnen
überhaupt
eigenen
Symbolcharakter
besitzen,
könnte
man
den
Theodorsbrunnen sicherlich zu den höher rangierenden Werten zählen, da er
zumindest für die Bruderschaft einen speziellen Symbolwert besitzt, den die
anderen Brunnen nicht haben. Dass aber beispielsweise die Hauptsymbole bzw.
Funktionsträger,
die
singenden
Brüder
und
die
besungenen
Brunnen,
untereinander ein Relevanzgefälle zeigen, scheint mir schon allein aus dem
Grund zweifelhaft, als keines dieser Elemente aus dem Brunnensingen
wegzudenken
ist.
Assmann
selbst
weist
auf
die
Strittigkeit
dieser
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
43
Relevanzperspektive hin 119 , es soll daher hier auch keine abschliessende
Meinung vertreten werden.
Weiterhin zeige sich die Verbindlichkeit des Wissens im kulturellen Gedächtnis
an den Aspekten der Formalität und der Normativität. Formativ seien seine
„edukativen, zivilisierenden und humanisierenden“
120
und normativ seine
handlungsleitenden Funktionen. Auch hier greift die Theorie ein wenig zu gross.
Assmann bezieht sich grundsätzlich auf die Gesamtheit des kulturellen
Gedächtnisses beispielsweise einer ganzen Kultur, wovon eine einzelne
Tradition wie das Brunnensingen nur einen kleinen Teil ausmachen kann. Das
Wissen, das im Brunnensingen kollektiv bewahrt wird, wirkt vielleicht insofern
edukativ, als es Geschichte vermittelt; humanisierend möglicherweise durch
die Sebastiani, die sich beim Sommeranlass sozial betätigen. Eine Normativität,
wie sie eine Institution wie der jüdische Festkalender, auf den sich Assmann
auch bezieht, zur Folge hat, kann dem Brunnensingen nicht zugesprochen
werden.
5.3.5 Reflexivität
Eine Praxis-Reflexivität, wie sie dem kulturellen Gedächtnis eigen ist, indem es
z. B. gängige Praxis in Form von Sprichwörtern deutet, findet sich beim
Brunnensingen
Neujahrsliedes.
vielleicht
„Wir
am
deutlichsten
wünschen
Euch
in
zum
der
neuen
letzten
Jahr
Strophe
den
des
heiligen
Sebastian“ etc. ist die melodisch ausgesprochene Deutung der Praxishandlung
des vorangegangenen Rituals. Auch dies wiederum nur im Kleinen, denn
andererseits ist das Brunnensingen selbst ein Ergebnis der Praxisreflexivität
des kulturellen Gedächtnisses. Im Ritus des Brunnensingens wird die
Lebenspraxis seiner Gründungszeit reflektiert, beispielsweise Bemühungen um
sauberes Wasser und Eindämmung der Pest, wie unaufgeklärt sie auch heute
erscheinen mögen.
Selbstreflexiv ist die Tradition des Brunnensingens innerhalb ihrer Trägerschaft,
die immer wieder Anpassungen vornimmt, sei es durch ein modernisiertes
Beitrittsversprechen oder die Schaffung eines traditionellen Sozialanlasses
zum Ausgleich für weggefallene Funktionen ähnlichen Charakters. Selbst(bild)reflexivität ergibt sich auch im Einzelnen, wenn z. B. ein neues Mitglied in
119
Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. 1988, S. 14-15.
120
Ders., S. 15.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
44
seinem Zylinder die Initialen eines Vorgängers erkennt und sich mit diesem
identifizieren kann (oder nicht) und danach handelt121. Gleichzeitig ist aber das
Brunnensingen selbst auch Teil der kollektiven Selbstreflektion Rheinfeldens.
Wenn
z.
B.
der
Chronist
der
Neujahrsblätter
1944
den
bekannten
Neujahrswunsch der Sebastiani ans Ende seines Jahresrückblicks stellt, nutzt
er diesen zur Reflexion über die derzeitige Lebenssituation der Stadt:
"doch noch ernster als je lauschen wir in der Silvesternacht dem Gesang der
Sebastianibrüder: Gott schütze Euch in den Gefahren, Er geb Euch Frieden
und Einigkeit, Gesundheit, Segen und Genügsamkeit, Und wolle Euch vor
Übel bewahren."122
vgl. Heilmann, Klaus: Zwölf wackere Männer… . 1997, S. 37. Der Protagonist erhält bei seiner Ernennung
einen Zylinder mit den Initialen F. R., in denen er einen früh verstorbenen Freund erkennt. Er setzt seine
Initialen daneben und trägt seither seinen Zylinder mit „grosser Ehrfurcht und einem ständigen, lieben
Gedenken an F. R.“.
121
122
Rheinfelder Neujahrsblätter 1945-1954, S. 43.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
45
6 SCHLUSSWORT
Diese Seminararbeit ist aus einer kleinen Forschung heraus entstanden, die
einen
regionalen
Brauch
auf
seine
Tauglichkeit
hinsichtlich
des
Kriterienkatalogs der UNESCO für immaterielles Kulturerbe betrachtete. Dieser
kurze Überblick weckte grosses Interesse viel weniger an der UNESCOFähigkeit dieses Brauchs als vielmehr am Gegenstand an sich.
1541 wurde die Sebastianibruderschaft Rheinfelden gegründet. Aus konkretem
Anlass ging es dabei hauptsächlich darum, Kranke zu pflegen und Tote zu
bestatten. Um auch in Zukunft die Bevölkerung Rheinfeldens durch die Kraft
des Gebets vor ähnlichem Übel zu schützen, entstand das Ritual des
Brunnensingens. Was möglicherweise in der Tradition eines bereits vorher
gebräuchlichen Weihnachtssingens begann, wurde in der nachfolgenden
Generation auch auf Silvester ausgedehnt. Seit dem scheint sich an der
Durchführung wenig geändert zu haben. Natürlich steht heute die Performance
stark im Vordergrund. Ein bestimmtes Bild einzuhalten ist wichtig, ausserdem
die Qualität des akustischen Eindrucks. Die Sebastiani des 21. Jahrhunderts
erarbeiten jedes Jahr aufs Neue ihr Lied mit einem professionellen Chorleiter.
Dafür ist die religiöse Komponente so weit als möglich zurückgetreten.
Das Brunnensingen heute fällt durch einen extrem minimalistischen Charakter
auf: Möglicherweise steckt hierin das Geheimnis seiner langen Haltbarkeit. Es
bietet nur wenig Angriffsfläche für notwendig werdende Veränderungen und ist
damit relativ problemlos in die jeweilige Gegenwart integrierbar. Dieser
heutige Charakter ist einerseits eine Voraussetzung für den problemlosen
Transport eines solchen Brauches durch die Zeit, andererseits aber auch
Ergebnis dieses stetigen Weitertragens. Einiges im Umfeld hat sich verändert,
wie
die
Zahl
der
Brunnen,
die
Kopfbedeckung
der
Brüder
oder
Vorgehensweisen innerhalb der Bruderschaft. Bestattung und Krankenpflege
zählen lange schon nicht mehr zu ihren Aufgaben. Dennoch hat sich der
soziale und gemeinschaftsfördernde Anspruch erhalten, was sich in der neuen
Tradition
des
Sozialanlasses
oder
der
Initiierung
des
silvesterlichen
Orgelkonzertes zeigt.
Anhand einiger Komponenten zeigt sich die Beschaffenheit der Tradition des
Brunnensingens als Teil des Kulturellen bzw. kollektiven Gedächtnisses nach
Assmann. Anpassung an die Gegenwart werden regelmässig vorgenommen,
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
ermöglichen
aber
Beschaffenheit
als
46
gleichzeitig
den
Blick
institutionalisiertes
in
Ritual
die
mit
Vergangenheit.
einer
Seine
spezialisierten
Trägergruppe befähigt das Brunnensingen dazu, gemeinsame Erinnerung
durch die Ausführung der Tradition nach Aussen zu vermitteln bzw. wach zu
halten. Gleichzeitig wird hierdurch spezielles Wissen bewahrt und von
Generation zu Generation weitergetragen.
Das Brunnensingen verleiht sowohl seinen Trägern als auch dem Kollektiv der
Rheinfeldener Bevölkerung eine spezielle Eigenart und damit Identität.
Beispielsweise
grenzt
es
das
ältere,
schweizer
Rheinfelden
von
dem
gleichnamigen jüngeren auf deutscher Seite ab. Es gehört zu Rheinfelden, als
"historisch gewachsene Stadt", "deren Bürger auf die Geschichtsträchtigkeit
ihres Gemeinwesens stolz waren"123 und es auch heute noch sind.
123
Königs, Diemuth: Eine alte Verbundenheit. 1997, S. 181.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
47
7 LITERATURVERZEICHNIS
Literarische Quellen
Brunnensingen und Sebastiani-Bruderschaft
Brogli, August: Die Sebastiansbruderschaft zu Rheinfelden (Schweiz). In:
Fricktalisch-badische Vereinigung für Heimatkunde und Heimatschutz (Hg.):
Vom Jura zum Schwarzwald. Blätter für Heimatkunde und Heimatschutz. 1.
Jahrg. 1926, Nr. 12, S. 93-101.124
Bruderschaftsbuch der Sebastianibruderschaft. Rheinfelden 1845.
Günther, Dr. Veronika: Schwedenlied und Sebastianilied. Schweizerische
Volksmusik, Sammlung Constantin Brailoiuo (1893-1958). In: Neujahrsblätter
1988, S. 121-126.
Heilmann, Klaus: Zwölf ehrbare Männer… In: Rheinfelder Neujahrsblätter 1997,
S. 35-39.
Kammerer, Immanuel: Das Rheinfelder Sebastianslied. Ursprung und
Entwicklung der Melodie in Notenbeispielen. Separatabdruck aus dem
schweizerischen Archiv für Volkskunde, Bd. 42 (1945), Heft 1.
Münzner, Fritz: Das Brunnensingen der Sebastianibruderschaft in Rheinfelden.
Separata aus Rheinfelder Neujahrsblätter 1971.
Wyss, Gottlieb:
a) Das Weihnachtssingen der Sebastianibrüder in Rheinfelden. Ein
Volksbrauch und ein Volkslied. Rheinfelden 1930.
b) 1541-1941.
Vierhundert
Jahre
Brunnensingen
der
Sebastianibruderschaft in Rheinfelden. Festschrift im Auftrage der
Bruderschaft St. Sebastian zu Rheinfelden. Rheinfelden 1941.
Welti, Adolf: Sebastianibrüder. In: Rheinfelder Neujahrsblätter 1949, S. 47.
Rheinfelden
Bröchlin, Ernst: Kulturhistorische Rheinfelder Chronik. Rheinfelden 1944.
Königs, Diemuth: Eine alte Verbundenheit oder Wie reagierte die Schweiz auf
die Stadtwerdung Badisch Rheinfeldens im Jahre 1922? In: Rheinfeldener
Geschichtsblätter 1997, S. 181-186.
Pfunder, Hans: Geschichte der Namensgebung und Stadterhebung von
Rheinfelden (Baden). In: Rheinfeldener Geschichtsblätter 1997.
Senti, August:
a) Jahresrückblick des Chronisten. In: Rheinfelder Neujahrsblätter 19451957, S. 41-46.
Die Zuordnung zum Autor August Brogli erfolgt auf der Erwähnung dieses Artikels mit dem vollen Namen
des Verfassers in Wyss 1930 (Vorwort). In den Blättern für Heimatkunde und Heimatschutz ist der Autor
lediglich mit „A. Br.“ angegeben.
124
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
48
b) Entstehung und bisherige Schicksale des Albrechtsbrunnens. In:
Rheinfelder Neujahrsblätter 1960, S. 7-17.
c) Der Rheinfelder Stadtbach und die Stadtbrunnen. In: Rheinfelder
Neujahrsblätter 1960, S. 17-20.
Kulturelles Gedächtnis
Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Ders., Toni
Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1988, S. 9-19.
Assmann, Aleida: Gedächtnis als Leitbegriff der Kulturwissenschaften. In:
Musner, Lutz; Wunberg, Gotthart (Hg.): Kulturwissenschaften. Forschung –
Praxis – Positionen. Wien 2002, S. 27-45.
Sonstige
Bangert, Michael: Vorlesung „Mystik im Mittelalter des
Abendlandes“ an der Universität Basel, Herbstsemester 2011.
Hoffmann-Krayer, Eduard: Feste und Bräuche
Neubearbeitung durch Paul Geiger. Zürich 1991.
des
christlichen
Schweizervolkes.
Rochholz, Ernst Ludwig: Schweizersagen aus dem Aargau. Nachdruck der
Ausgabe Aarau 1856, Hildesheim 1980.
Ursprung und Satzungen der Sebastiani-Bruderschaft. Faksimile
Satzungsbüchleins der zweiten Bruderschaft von 1696. (ohne SZ).
des
Weber, Ulrich; Fröhlich, Heinz: Aargauer Bräuche. Aarau 1983.
Ton- und Bildquellen
Sebastiani-Bruderschaft Rheinfelden: Weihnachts- und Neujahrslied, DVD.
Basel 1996.
Eigene Tonaufnahmen vom Brunnensingen Weihnachten und Silvester 2011.
DAS BRUNNENSINGEN IN RHEINFELDEN
49
8 ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Abbildung 1: Die Route des Brunnensingens ............................................... 4
Abbildung 2: Steiler Abstieg in der Tempelgasse ......................................... 6
Abbildung 3: Sebastiani Bruderschaft 1941/42 (Wyss 1941) ....................... 11
Abbildung 4: Storchenbrunnen 1941 (Wyss) und 2011 .............................. 16
Abbildung 5: Kuttelbrunnen 1941 (Wyss) und 2011 ................................... 18
Abbildung 6: Albrechtsbrunnen 1941 (Wyss) und 2011 .............................. 21
Abbildung 7: Bruderschaftsbuch, Neujahrslied .......................................... 24
Abbildung 8: Theodorsbrunnen 2011 ....................................................... 26
Abbildung 9: Kapuzinerbrunnen 1941 (Wyss) und 2011 ............................. 27
Abbildung 10: Brunnen St. Martinskirche 2011 ......................................... 28
Abbildung 11: Pestlaterne vor dem Sebastiansaltar in St. Martin 2011 ......... 35
Abbildung 12: St. Martinskirche 2012 ...................................................... 41
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