auf dem Eis - die Andere Gegenwart Der Mensch im Vordergrund ist nicht einfach hingefallen. Er liegt dort freiwillig. Er hat seinen Mantel heruntergestreift und ist hingestreckt auf der weißen Fläche, die Schnee und Eis zeigt. Er liegt im Bild entgegen unserer Leserichtung. Über ihm fliegt ein Vogel in Leserichtung. Der Horizont ist erkennbar, aber er zeigt keine echte Grenze - geht fast über in den Himmel. Was tut dieser Mensch da? Vielleicht übt er, was Menschen immer taten, die Großes erlebten: Er legt sich der Länge nach auf den Boden. So werden z.B. katholische Priester ordiniert. Sie liegen auf dem Kirchenboden als Symbol für die Anerkennung der übergroßen Gegenwart Gottes. Das ist in unseren Augen ein Akt der Demut, im hierarchischen Sinn der katholischen Kirche auch ein Akt der Unterwerfung. Aber bleiben wir bei der Geste. In meinen Ohren höre ich keine Worte. Ich vermute, es ist eine stumme Haltung. Es ist überhaupt sehr still in diesem Bild. Der Mensch, der sich so niederlegt, weiß vermutlich: es ist etwas Ungeheures in meiner Nähe, für dass ich keine Verantwortung trage, das mich aber in meinem Innersten trifft. Wer Natur-Schauspiele erlebt, könnte manchmal niederknien davor. Ein weißes und unberührtes Schneefeld kann plötzlich zu mir sprechen. Ich muss ihm meine Bewunderung geben. Wenn ich es betrete, dann in Ehrfurcht. Oder ich weiß plötzlich: es ist nicht zu betreten, weil es in seiner Einzigartigkeit unberührbar bleiben will. Solches Wissen kann in mir mit großer Unbedingtheit auftauchen. Es lässt keinen Zweifel. Ich muss gewissermaßen gehorchen. Wenn mich etwas so an-spricht, dann erfahre ich die ‚Andere Gegenwart‘. Die hat (noch) keinen Namen. Indem sie zu mir ‚spricht‘ muss sie etwas in sich tragen, das ‚sprechen‘ kann. Das heißt, es ist mindestens so etwas wie eine Person, denn nur Personen können sprechen. Jedenfalls wirkt es/er/sie, und ich weiß im selben Moment, was ich zu tun habe. So kann es auch gehen, wenn ich ein frisch Geborenes auf dem Arm trage oder wann auch immer. Nirgends ist man sicher vor diesem Auftauchen der Gegenwart von etwas Großem. Mich beeindruckt diese stumme, uralte Haltung der Anbetung mitten im kahlen Raum. Keine Ikone da, kein Kreuz, nur Eis und Schnee und Dasein unter dem gleichen Horizont wie der Vogel und ich. Vielleicht wird hier spürbar, was das Wort ‚allein‘ bedeuten kann: Wer sich angefasst weiß von der ‚Anderen Gegenwart‘, gerät in eine Form großen Alleinseins, die er aber – ohne es zu wissen oder zu bedenken - teilt mit ganz vielen Menschen, die so etwas kennen. Sie sind in gleicher Weise angefasst, nur vielleicht an einem anderen Ort oder zu einer anderen Zeit. Insofern ist dieser Liegende allein und gleichzeitig all-eins mit allen und allem. Das nennt man mit einem alten Wort ‚mystische Erfahrung‘. Angekommen auf einem archaischen Grund seines Seins, wissend und nicht-wissend um seine unergründliche Herkunft und Zukunft. Quasi außer sich, weil nicht mehr reflektierend, was das nun grade sei. Vielmehr hingerissen, niedergeworfen - und darin erst eigentlich bei sich. Wir sehen jemanden, der außer sich bei sich ist - in der Gegenwart. Ohne warum, ohne Zeit und Ort. Ewigkeit des Moments. Man ahnt die mystischen Anfänge der jüdisch-christlichen Religion, wenn man diese Eis-Szene in die Wüste Sinai wiedererkennt und Mose zuschaut, wie er vor einem Busch steht, der brennt und nicht verbrennt. Wie er die Schuhe auszieht. Wie ihm die Andere Gegenwart aufgeht und beginnt so zu sprechen, dass er keine Wahl mehr hat als zu tun, was sie ihm sagt. Wie sich die die Stimme selbst nennt: ‚Ich bin der ICH-BIN-DA‘. Ohne Zeit und Ort. Ich bin da. Thomas Hirsch-Hüffell, 10.12