Pflimlin Conclusions Conférence 2012 D

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SCHLUSSFOLGERUNGEN
der
INTERNATIONALEN RAIFFEISEN-KONFERENZ
« Die Raiffeisenidee – ein Zukunftsmodell »
Etienne Pflimlin,
IRU-Vizepräsident und Co-Präsident von « Cooperatives Europe »
Herr Präsident,
meine Damen und Herren,
liebe Freunde,
wenn ich vernünftig wäre, nach einem so reichen und ausgefüllten, so genossenschaftlichen
Tag, würde ich zu Ihnen Danke, auf Wiedersehen und bis zum nächsten Jahr sagen! Aber das
wird Ihnen Herr Depickere gleich so sagen. Da vernünftig sein keine genossenschaftliche Eigenschaft ist, nehme ich das Risiko auf mich, Schlussfolgerungen zu ziehen.
Zunächst meine ich, dass diese Konferenz zum richtigen Zeitpunkt stattgefunden hat, einmal
wegen des Internationalen Jahres der Genossenschaften 2012 natürlich, aber auch und vor
allem – und ich bin der IRU und dem DGRV dankbar für deren Organisation -, weil uns bewusst ist, dass wir an einem historischen Wendepunkt für die Genossenschaften stehen, aufgrund der Krise natürlich, aber ebenso sowohl glücklicher- wie auch unglücklicherweise aufgrund der Chance, die sie uns gegeben hat, unser Modell besonders hervorzuheben und bekannt zu machen.
Als ich den Titel dieser Konferenz „Ein Zukunftsmodell“ gelesen habe, habe ich mir gesagt:
Waren die Genossenschaften denn nicht zuerst ein Modell für die Vergangenheit, und sind sie
nicht heute noch ein Modell für die Gegenwart? Hinsichtlich der Zukunft fühlte ich mich
ziemlich sicher: Wenn wir 150 Jahre überlebt haben, und Gott weiß, dass die Welt- und Europageschichte umgekrempelt wurde, und wenn es uns gelungen ist, diese Zeiten hinter uns zu
lassen und trotzdem unsere Identität und unsere Entwicklungsfähigkeit zu erhalten, sollten wir
jetzt wohl in der Lage sein, auch ein Modell für die Zukunft zu sein. Aber lassen Sie uns darüber nachdenken: zwar werde ich nicht das Unmögliche versuchen und alle Gedanken, die
heute ausgetauscht wurden, zusammenzufassen oder an die genossenschaftlichen Werte erinnern, aber ich möchte doch zwei oder drei Ideen unterstreichen, die auch keineswegs besonders originell sind.
Die erste Idee ist, dass, wenn ich an Raiffeisen denke – und manche von Ihnen werden morgen den ganzen Tag an ihn denken –ich voller Bewunderung bin für jemanden, der es geschafft hat, ein Unternehmensmodell zu erfinden, etwa wie Athene, die voll bewaffnet aus
dem Kopf von Zeus herauskam; und wenn ich Unternehmen sage, sollte ich auch Gesellschaft
sagen, ein Modell, das sich durch die Jahrhunderte bewährt hat und dem es gelungen ist, sich
anzupassen und zu entwickeln bei gleichzeitiger Treue zum ursprünglichen Modell, wobei es
ihm eine Dimension gegeben hat, die zu der Zeit nicht selbstverständlich war, die eines Unternehmens. Die Unterschrift für das Internationale Jahr der Genossenschaften ist: „Genossenschaftliche Unternehmen bauen eine bessere Welt“. Die französische Vereinigung der Genossenschaften hat kürzlich ihren Namen geändert, sie heißt heute Coop FR – die genossenschaftlichen Unternehmen. Das ist sehr wichtig, denn die Werte, auf die wir uns beziehen,
unsere demokratische Funktionsweise, wir werden sie bestimmt nicht vergessen. Aber in der
Debatte über unsere Identität, einschließlich unserer Positionierung in der gefährlichen wirtschaftlichen Welt, in der wir leben, gegenüber der öffentlichen Hand, müssen wir uns daran
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erinnern, dass wir auch Unternehmen sind, mit eben einer ganz unterschiedlichen Arbeitsweise und einem ganz unterschiedlichen Zweck.
Die Stärke der Genossenschaften liegt wohl in der engen Verflechtung folgender drei grundsätzlicher Faktoren, nämlich die Gründungswerte, die Organisationsweise und schließlich das
tägliche praktische Leben. Solange eine sehr starke Kohärenz zwischen diesen Werten, dieser
Organisationsweise und der täglichen Praxis besteht, sind wir unverwundbar. Unsere Werte,
ich darf daran erinnern, sind letztendlich humanistische Grundwerte. Zunächst der Wert der
Freiheit, unserer Entschlossenheit zur Autonomie als Funktionsweise, wir wollen über unser
Schicksal bestimmen. Die Freiheit, das ist auch die Freiheit des Genossenschafters ein- und
auszutreten.
Der zweite Wert, das ist die Verantwortung. Eine Verantwortung, die zugleich individuell und
kollektiv ist. Jemand sprach eben von Rechten und Pflichten, ich spreche von den gegenseitigen Verpflichtungen zwischen der Genossenschaft und ihren Mitgliedern. Es ist ein ständiger
Dialog, die Genossenschaft bringt ihren Mitgliedern etwas und die Mitglieder verpflichten
sich ihr gegenüber, in gegenseitiger Verantwortung.
Eine der Schlussfolgerungen ist natürlich die Solidarität. Nicht Solidarität in der Form der
Fürsorge, es wurde vorhin gesagt, dass es sich nicht um Caritas handelt. Eine Solidarität, die
jederzeit Hilfe bietet; wenn man mithilfe der Solidarität seine Schwierigkeiten überwunden
hat, kann man wiederum den anderen helfen, was ich als verantwortliche Solidarität bezeichne.
Es gibt ein afrikanisches Sprichwort – ich weiß nicht, ob unser Freund aus Burkina Faso es
kennt -, das ich sehr gern habe; es besagt: „Alleine geht man schneller, zusammen kommt
man weiter“. Letztendlich ist es wohl die Grundlage der Genossenschaftsidee, dass in einer
Gemeinschaft, in welcher jeder seine Freiheit und Persönlichkeit einbringt, indem er zum gemeinsamen Werk beiträgt, man sehr weit kommt und sehr stark wird. Und in Bezug auf die
gegenwärtige Krise ist eine wesentliche Lektion, die man von den Genossenschaften lernen
kann, dass sie als Unternehmen und vor allem als Gesellschaftsform belastbarer waren als
andere. Denn eine Genossenschaft ist eine Gemeinschaft, nicht nur ein Unternehmen, und
auch eine Schule der Demokratie. Eine noch offene Frage ist, wie wir diese genossenschaftliche Demokratie in unseren Organisationen zum Leben erwecken. Man denkt viel nach über
die eben erwähnten Probleme des Managements und des Risikos eines Ungleichgewichtes
zwischen dem Management mit technischem Fachwissen und den von den Mitgliedern gewählten Verwaltern, die nicht unbedingt so kompetent sind. Jedoch wird für mich das Ganze
im Wesentlichen zusammengehalten durch die Demokratie und die Legitimität der Verwalter, die natürlich ausgebildet werden müssen, um mit dem Management irgendwie gleichzuziehen. Also haben wir beim Crédit Mutuel in dem rein genossenschaftlichen Teil der Gruppe
genauso viele von den Mitgliedern gewählten Verwalter wie Angestellte. Damit haben wir
zwei gleichwertige Kräfte, die miteinander im Dialog sein müssen: die ganze Funktionsweise
des Unternehmens baut sich demokratisch von unten nach oben auf. Zu einer Zeit, wo das
demokratische und politische Leben geprägt wird durch die Kluft zwischen Regierenden und
Regierten, sind die Genossenschaften eine Schule der Demokratie und der Solidarität, sie sind
lebende Gemeinschaften, die diese Werte wachsen lassen, und zwar nicht nur nach innen,
sondern auch nach außen und um sie herum, indem sie die Menschen in die Verantwortung
bringen und solidarisieren.
Es gibt eine alte Debatte, die unsere deutschen Freunde besonders sensibilisiert: „Haben die
Genossenschaften einen Zweck und eine Verantwortung, die über ihre Mitglieder hinaus und
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ins Herzen der Gesellschaft gehen?“. Ich würde sagen, dass heute diese Debatte heute etwas
verzerrt ist, weil wir aufgrund der Regeln, die sich zur Zeit aufstellen, der sogenannten „Corporate Social Responsibility“, gezwungen werden, die „Cooperative Social Responsibility“ zu
erfinden, nur um dann festzustellen, dass wir sie schon immer praktiziert haben; es ist wie bei
Monsieur Jourdain, der Prosa schrieb, ohne es zu wissen. Es wäre schade, wenn das, was sich
in unseren historischen Genen befindet, aufgegeben würde zu einem Zeitpunkt, wo andere
Unternehmen, die nicht die gleiche Konzeption haben wie wir, versuchen es uns nachzumachen, sogar mit Hilfe der öffentlichen Hand, insbesondere auf europäischer Ebene.
Es gibt eine Dimension, die ich in Bezug auf die aktuellen und neuen Bedürfnisse hervorheben möchte: die ethische und moralische Dimension. Es gibt heute einen Bedarf, sogar noch
vor der Transparenz, an einer moralischen Regelung der Beziehungen zwischen den Genossenschaften und ihren Mitgliedern, damit Vertrauen herrscht. Es ist eine der schwierigsten
Sachen, Vertrauen zu erhalten, weil dieses Vertrauen aufgrund der Informationsmenge, aufgrund auch bestimmter Praktiken der kapitalistischen Unternehmen, manchmal zerstört wird.
In unseren Genossenschaften schöpfen wird unsere Kraft daraus, dass dieses Vertrauen von
Anfang an Bestandteil des Beitritts der Mitglieder zur Genossenschaft ist und dass man darauf
natürlich alles andere aufbauen kann.
Als ich vorhin von der Kohärenz zwischen den Werten, der Organisation und der täglichen
Praxis sprach, so setzt das voraus, dass dieses Vertrauen nie gebrochen werden darf. Ich denke insbesondere an die Genossenschaftsbanken, die landwirtschaftlichen Genossenschaften,
die Konsumgenossenschaften usw., wo die Qualität der angebotenen Produkte und Dienstleistungen so sein sollten, dass dieses Vertrauen nie in Frage gestellt wird.
Eine weitere insbesondere von Dirk erwähnte Frage ist eine komplexe Frage, die zugleich das
Management und die Größe einer Genossenschaft betrifft, eine echte Diskussion auch auf
juristischer Ebene über das Thema: „Welches ist die Berufung einer Genossenschaft, größer
zu werden?“. Es gibt eine erste ganz klare Antwort, und zwar, dass die Genossenschaften, wie
jedes andere Unternehmen, dazu berufen sind, sich zu entwickeln. Aber wenn man sich entwickelt, man größer wird, schwächt die privilegierte Beziehung zu den Mitgliedern nicht ab?
Besteht nicht das Risiko, dass die finanziellen und kapitalistischen Ziele die Oberhand gewinnen über unsere Zielsetzung, d.h. die Nutzung des Gewinns zur Verbesserung der Dienstleistungen der Genossenschaft und zu ihrer Stärkung? Welches ist die optimale Größe in Bezug
auf den globalen Wettbewerb? In vielen großen Genossenschaften heute bestehen genossenschaftliche Strukturen, die den historischen Kern bilden spezialisierte Filialen mit kapitalistischem Statut nebeneinander; wobei letzere dazu bestimmt sind, auf dem Markt zu agieren,
z.B. auf den Kapitalmärkten, mit einer ausreichenden Dimension für eine effiziente Intervention. Dabei besteht das Risiko eines Ungleichgewichtes zwischen dem genossenschaftlichen
und dem kapitalistischen Teil. In der Debatte über das allgemeinere Problem des Managements muss die Beherrschung des genossenschaftlichen Kernes über die gesamte Gruppe unberührt bleiben. Hingegen sollten wir uns keine Beschränkungen bei der Größe aufzwingen,
auch nicht in Bezug auf das Verhalten mancher öffentlichen Stellen in Europa und in Brüssel;
für sie ist die ideale Genossenschaft eine kleine Genossenschaft für benachteiligte Personen in
einem im Niedergang begriffenen Sektor. Für uns sind die Genossenschaften moderne Unternehmen, die über eine große Entwicklungsfähigkeit in allen Sektoren verfügen und sich sowohl bei sozialen und technologischen Innovation als auch bei der Hilfe für Menschen, die
sich in Schwierigkeiten befinden engagieren. In der Vertretung unserer Interessen müssen wir
so handeln, dass diese grenzenlose Dimension bezüglich der Region, der Größe, der Berufsart
für die Genossenschaften erhalten bleibt. Dies steht nicht in Widerspruch zu der Notwendigkeit, eine lokale Verankerung beizubehalten. Die Bäume mit den tiefsten Wurzeln erzeugen
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die schönsten Zweige, die schönsten Blüten und die schönsten Früchte. Wir haben Wurzeln,
die bis ins 19. Jahrhundert zurückgehen und sich nicht verändert haben. Sie sind aber anpassungsfähig, so wie ein Baum: Er verändert seine Wurzeln nicht, trägt aber jedes Jahr neue
Blätter, neue Blüten, neue Früchte. Das ist es, was wir praktizieren, indem wir uns ständig
anpassen bei Erhalt unserer Wurzeln; das ist sehr wichtig. Ich bestehe auf diese lokalen Wurzeln, die kein Gegenpol zu einer nationalen und sogar internationalen Entwicklung sind. Bei
Crédit Mutuel benutzen wir das Wort „Netz“: Jede einzelne Primärgenossenschaft muss ihre
Autonomie und Entscheidungsfähigkeit bewahren, sie muss einem Netz von Werkzeugen
angehören, die von dem genossenschaftlichen Kern strikt kontrolliert, jedoch gemeinsam den
Primärgenossenschaften zur Verfügung gestellt werden. Diese lokale und regionale Verankerung ist unsere Stärke.
Ich möchte nicht vergessen, dass einer der großen Erfolge der Ideen von Raiffeisen in ihrer
Fähigkeit besteht, sich in der ganzen Welt zu entwickeln; wir hatten heute sehr lebendige
Aussagen darüber. Sie wissen, dass diese Ideen aus dem Rheintal stammen. Die Intelligenz,
die Originalität und die Stärke dieses Modells bestehen darin, dass es sich jedem Land, jedem
Klima, jeder Region, jedem Entwicklungsstadium anpasst. Der Crédit Mutuel, der seit 130
Jahren besteht, hat Spar- und Kreditgenossenschaften in Afrika gegründet. Als ich sie besuchte, fand ich die Begeisterung der Gründungspioniere wieder, aber zugleich waren es die gleichen Genossenschaften, die gleichen Prinzipien, die gleichen Funktionsregeln wie für den
Crédit Mutuel von heute. Dank dieser territorialen Verankerung, dieser starken Identität, die
sich in unterschiedlichen Breitengraden anwenden lassen, konnten sich die Genossenschaften
weltweit entwickeln.
Über diese wenigen Bemerkungen hinaus ist wichtig, dass jeder von Ihnen bestärkt in seinen
genossenschaftlichen Überzeugungen nach Hause fährt.
Warum also, wenn wir eine so intensive Identität und Praxis, eine so große Überzeugungskraft, einen so eindeutigen Beweis dafür haben, dass wir die Epochen und die schwierigen
Momente überwinden konnten, warum fällt es uns so schwer, nach außen zu kommunizieren.
Manchmal hoffe ich, dass die Krise nicht zu schnell aufhört, weil ich befürchte, dass die ultraliberalen Ideen wieder dominieren werden, sobald sie aufgehört hat, während wir heute geltend machen können, dass die Erfolge unseres Modells ausreichend begründen, dass es besteht und in der Lage ist, auf dem Markt mit den anderen Unternehmensformen mit gleichen
Waffen zu kämpfen. Wir wollen nicht, dass sie verschwinden, wir wollen Waffengleichheit.
Sie haben die Zahlen gesehen. Unsere Mitglieder sind erfreut, sogar das globale Image, das
wir nach außen haben, ist eher gut, deshalb sage ich, dass wir öfter eher ignoriert als bekämpft
werden. Wir haben Gegner, die gegen die Genossenschaftsbanken sehr entschlossen sind.
Aber für mich ist es ein echtes Rätsel, warum diese lebendige, herzliche, dynamische genossenschaftliche Realität, die eine Lösung für die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, politischen Problemen unserer Zeit bietet, es nicht schafft, mehr auszustrahlen. Natürlich wird das
Jahr 2012 und eine Veranstaltung wie diese die Gelegenheit dafür bieten. Vielleicht - ohne
sagen zu wollen „Leben wir glücklich, leben wir versteckt“ – ist die Tatsache, dass wir ein
Großteil unserer Energie im Dienste unserer Mitglieder nutzen und dadurch weitere anziehen,
im Grunde genommen eine Art Weisheit, auch wenn Kommunikation, Lobbying und Ambition zu den Dingen gehören, die wir in den nächsten Jahren angehen müssen.
Grundsätzlich tragen wir eine Verantwortung gegenüber Raiffeisen: Wir wissen, dass wir die
Genossenschaften, für die wir heute verantwortlich sind, von Generationen von Genossenschaftern geerbt haben und dass unsere erste Verantwortung darin besteht, sie weiterentwi-
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ckelt, reicher und stärker an die nächsten Generationen zu übergeben. Es ist unsere erste Verantwortung, eine Art Treue, die unser Verhalten prägen soll. Es gibt eine zweite Verantwortung aufgrund der Stärke der Genossenschaften, die uns und auch den anderen immer bewusster wird, und darauf können wir stolz sein. Wir haben mehrmals von der Rolle des Vertrauens
gesprochen. Zunächst brauchen wir Vertrauen in uns selbst, in unsere eigenen Kräften, ich
wollte fast sagen, in unsere eigenen Tugenden, in unsere eigenen Fähigkeiten zur Entwicklung und zur Dienstleistung. Und dieses Vertrauen, wenn es in uns tief verankert ist, wird
ausstrahlen, wird Vertrauen nach außen einflößen, und unser Modell wird wirklich ein Modell
für die Zukunft sein.
Vielen Dank.
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