Oral History – vom wissenschaftlichen Umgang mit Erinnern und Vergessen Teil 1 „In der Erinnerung gibt es keine Grenzen; nur im Vergessen liegt eine Kluft, unüberwindlich für eure Stimme und euer Auge“ (Gibran: Im Garten des Propheten: 2012), schrieb der libanesische Dichter und Philosoph Khalil Gibran (1883 - 1931). Nur durch Erinnern werden einstige Erlebnisse wieder lebendig, nur durch ihr Andenken gehen sie nicht verloren und nur durch Begegnungen bleiben sie vermittelbar. Das Gefühl eine Teilhabe am Erlebten eines anderen Menschen zu haben, hat wohl jeder schon einmal erfahren. Erzählungen, Fotos, Tagebücher oder andere mit Erinnerung aufgeladene Gegenstände lassen uns eintauchen in eine unbekannte, neue Welt - wenn man es denn schafft jemandem oder etwas seine Geschichte zu entlocken. Die Frage an die Großeltern, „wie es denn so früher war“, stellt wohl jedes Kind einmal. Seit einiger Zeit hat jedoch auch die Wissenschaft diese doch recht persönliche Fragestellung entdeckt. Mit einher geht die Diskussion um die Anerkennung einer wissenschaftlichen Methode, der Oral History. Die Geschichte einer Methode – von Objektivierung zu Individualisierung? Durch die Entstehung und Weiterentwicklung sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschungsmethoden, zog erstmals eine sehr subjektive Herangehensweise der Datenerhebung in die wissenschaftliche Gemeinschaft ein. Anders als bis dahin üblich stützte man sich hier fast ausschließlich auf individuelle Aussagen und Beobachtungen; wissenschaftliche Arbeiten basierten fast ausschließlich auf qualitativen Daten. Bis heute ist diese Form der Feldforschung in sozial- oder kulturwissenschaftlichen Disziplinen, wie der Ethnologie, üblich – bis heute werden diese Disziplinen für genau diese Herangehensweise heftig kritisiert. Vor allem die Vorwürfe nicht objektiv zu urteilen und nicht vergleichbar zu sein stehen insbesondere seit den 1950er Jahren im Raum. Objektivität und Vergleichbarkeit sind für uns zu Inbegriffen einer ehrlichen und ernstzunehmenden Wissenschaft geworden. Schon seit Mitte des 20. Jahrhunderts wurden strikte wissenschaftliche Regeln aber zunehmend aufgeweicht und alte Konzeptionen mehr und mehr hinterfragt. Die „kulturwissenschaftliche Methodik“ wurde mehr und mehr auch für andere Disziplinen in Betracht gezogen. Besonders die Geistes- und Sozialwissenschaften standen vor einem Wendepunkt. Auch in die Geschichtswissenschaft zog dieser neue Trend der „Individualisierung“ ein. Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust und den zwei Weltkriegen, die gerade in jungen Jahren der Bundesrepublik geforderte wurde, stellte die „westliche“ Forschungsgemeinschaft vor die Herausforderung, Geschichte anders zu erfassen, als bis dato üblich. Der Begriff der „Oral History“ war zwar schon in den 1930er Jahren aufgekommen, wirklich publik wurde er jedoch erst in den 1960er Jahren. In dieser Zeit war es vor allem der bekannte Historiker Saul Friedländer, der eine Diskussion um die Erfassung und Vermittelbarkeit von Geschichte anregte. Friedländer, der 1932 in Prag als Kind einer deutschsprachigen, jüdischen Familie geboren und selbst Opfer des Nationalsozialistischen Regimes wurde, gilt bis heute als einer der bedeutendsten Holocaustforscher seiner Zeit. Nicht zuletzt deshalb weil er die Darstellung der Shoa, ganz im Sinne der Oral History, „individualisiert“. Wer ein Buch des Historikers liest wird sich gut unterhalten wissen – immer wieder lässt er Ausschnitte aus persönlichen Briefen, Tagebüchern oder Interviews einfließen. Seine Interpretationen und allgemeinen Darstellungen bekommen so ein Gesicht und eine Stimme. Friedländer betont, dass mit der Historisierung des Holocausts nicht die „Fassungslosigkeit“ angesichts der begangenen Verbrechen verloren gehen dürfe. Die starke emotionale Verbundenheit und Betrachtung, die er fordert, ist in wissenschaftlichen Kreisen bis heute eher ungewöhnlich; in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, dem Höhepunkt der Oral-History-Diskussion, klang dies jedoch geradezu unglaublich. Kritik kam deshalb auch von vielen Seiten; vor allem im Zuge des Historikerstreites 1987. Besonders bekannt ist die Auseinandersetzung Friedländers mit dem Historiker Martin Broszat geworden. Dieser wirft vor, ein objektives Urteil sei nicht mehr möglich. Broszat selbst ist ein Vertreter der „Historisierung“ des Holocausts (keinesfalls der Leugnung oder des Vergessens). Eine Normalisierung mit der NS Vergangenheit sei, seiner Ansicht nach, unbedingt nötig. Die Auseinandersetzung auf moralisch-wertender Ebene hingegen, würde eine wissenschaftlichdifferenzierte Betrachtung erschweren. Für Friedländer ist das eine Kampfansage: Broszat unterstütze die Absicht, „die entscheidende Bedeutung der Verfolgung und Vernichtung der Juden [...] zu minimieren; das zu tilgen, was er als Hindernis für den ´rationalen´ Kurs der deutschen Geschichtsschreibung betrachtet, nämlich die ´mystische Erinnerung der Opfer und ihrer Nachfahren´“, so zitiert in seinem Werk „Nachdenken über den Holocaust“. Meiner Meinung nach, haben beide Seiten ihre treffenden Argumente. Wie die Erfahrung zeigt, ist jedoch auch der Mittelweg möglich. Sie Struktur - Zeitzeugen im Gespräch, mehr nicht? „Das menschliche Erinnerungsvermögen [...] zieht das Normale dem Abnormalen, das Verstehbare dem schwer Verstehbaren, das vergleichbare dem Schwervergleichbaren, das Erträgliche dem Unerträglichen vor“ (Saul Friedländer im Briefwechsel mit Martin Broszat, Nachdenken über den Holocaust). Hat man sich näher mit der Lebensgeschichte eines Zeitzeugen oder einer Zeitzeugin beschäftigt und sie oder ihn zum Gespräch ausgewählt, startet man meist mit einem ersten lockeren Kennenlernen. Wie immer im zwischenmenschlichen Kontakt ist der Aufbau einer Vertrauensbasis sehr wichtig - immerhin wird von einem Zeitzeugen erwartet einem meist fremden Menschen häufig intime Details zu offenbaren. Wichtig ist: Wer nicht erzählen will, darf nicht dazu gezwungen werden. Fälschlicherweise wird der Begriff „Oral History“ oft auf alle Formen des Gesprächs mit Zeitzeugen angewandt. Die eigentliche Methode beinhaltet allerdings weniger ein Interview, als ein freies „Sprechenlassen“. Geleitete Gespräche, Nachfragen oder Antwortvorgaben werden möglichst vermieden, um den Interviewten nicht durch die eigene Erlebniswelt zu beeinflussen. Im Fokus vieler Historiker stehen vor allem Menschen, die selbst keine (schriftlichen) Quellen hinterlassen würden. Da Geschichtswissenschaftler in ihrer Methode stark an Quellen, vor allem schriftliche Quellen, gebunden sind und diese häufig nur von einem bestimmten Personenkreis hinterlassen werden, laufen sie Gefahr Teile der Bevölkerung nicht zu berücksichtigen. Durch die Beachtung verschiedener Milieus, Gesellschaftsgruppierungen oder Individuen soll ein holistischer Blick auf eine Zeit geworfen werden. Verschiedenen Lebenswelten und Sichtweisen werden durch die Interviews für die Nachwelt nicht nur konserviert, sondern auch greifbarer. Um eine Natürlichkeit der Situation zu erreichen und damit eine authentische Quelle entstehen zu lassen, muss also von einer herkömmlichen Interviewtechnik abgesehen werden. Am besten eignet sich also ein sogenanntes „narratives Interview“. Emotionen, individuelle Standpunkte und Erinnerungen sollten vom interviewten Individuum möglichst selbstbestimmt abgerufen werden; die Schwerpunktlegung soll ganz dem Erzähler überlassen sein. Vom „Erzählen-lassen“ profitieren außerdem nicht nur die Wissenschaftler, sondern meist auch die ZeitzeugInnen selbst. Hier offenbart sich schon eine der Herausforderungen dieser Methode: Sowohl für den Zuhörer als auch den Erzählenden ist das Heraufbeschwören alter, häufig auch schmerzlicher Erinnerungen emotional belastend. Erlittene Traumata und Verletzungen, fordern vom Historiker Einfühlungsvermögen, Taktverhalten und Rücksicht. Häufig bleibt eine Beziehung zwischen Forscher und ZeitzeugenIn über lange Zeit bestehen. Abhilfe schaffen können Erinnerungsstützen, wie etwa Fotos oder Tagebücher. Begleitet wird ein solches Treffen meist durch Tonband- und oder Filmaufnahmen, sowie Notizen. Die anschließende Transkription der Aufnahmen ist zwar recht (zeit)aufwendig, allerdings ist erst dann eine schriftliche Quelle erschaffen worden, aus der man zweifelsfrei zitieren kann. Diese Quelle kann zur Überprüfung der Rückschlüsse des Historikers dienen. Oral History – vom wissenschaftlichen Umgang mit Erinnern und Vergessen Teil 1 Chancen und Herausforderungen Allerdings sind auch Interviewtranskriptionen Quellen, die man einer Quellenkritik unterziehen muss. Für viele Geschichtswissenschaftler ungewohnt ist ihre starke persönliche, individuelle und subjektive Ausrichtung. Aber sie wurden ja auch aus den subjektiven Erfahrungen eines einzelnen Menschen geschaffen. Zudem sind sie Abdruck des gegenwärtigen Erinnerungsstandes und damit autobiografisch geprägt. Da sie jedoch eigentlich erst durch den Historiker selbst entstanden sind, darf auch die eigenen Persönlichkeit und der eigene Hintergrund dess Fragestellers nicht außer Acht gelassen werden. Vor allem die Interpretation des Gesagten und die Verbindung von individuellen Aussagen mit allgemeingültigen, sind geprägt von der Identität des Wissenschaftlers. Durch die Diskussion um die Wissenschaftlichkeit der Oral History wurden also nicht nur wissenschaftliche Methoden neu überdacht, sondern die ganze geschichtswissenschaftliche Herangehensweise hinterfragt. Zum ersten Mal stand nicht mehr nur das Material, also die Quellen, sondern auch der Forscher selber im Fokus. Denn, Darstellungen und Deutungen historischer Ereignisse sind immer abhängig von der gegenwärtigen Zeit und dem kulturellen Hintergrund, indem sie entstehen. Man könnte also sagen, dass eine Oral-History-Quelle immer für mehrere Betrachtungsebenen Aufschluss gibt: Der reine Inhalt befasst sich zunächst mit einer vergangenen Zeit und stellt entweder individuelle Erlebnisse oder allgemeingültige Aussagen dar. Bei genauerer Betrachtung und Quellenkritik gibt sie zweitens Aufschluss über die Persönlichkeit des Erzählers. Wird im Nachhinein über etwas Vergangenes erzählt, können zudem auch noch Rückschlüsse auf die Zeit gemacht werden, in der sie erzählt wurden (häufig die Gegenwart). Zumindest halten sie einen in diesem Moment gegenwärtigen Erinnerungs- und Interpretationsstand fest, der fluid ist und sich immer wieder verändern wird. Entsteht eine Quelle erst durch Transkription des Historikers, hat diese viertens auch noch Einflüsse des Wissenschaftlers selbst verzeichnet (wurde alles Wortgetreu abgeschrieben, was ist mit der Mimik oder Gestik der Person, welche Fragen wurde (nicht) gestellt usw.). Die Interpretation und Deutung, sowie die Einbettung einer Quelle in einen holistischen zeitlichen Zusammenhang schließlich, ist vollends an den wissenschaftlichen und persönlichen Kontext des Wissenschaftlers gebunden. Eine ausführliche Kenntlichmachung der eigenen Person und der Datengewinnung oder Forschungsmethodik, wie in den Sozial- und Kulturwissenschaften bereits üblich, ist also meiner Meinung nach auch unerlässlich. Ein Chemiker oder Physiker legt ja schließlich auch seinen Versuchsaufbau offen. Der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit wird dadurch sogar entkräftet. Immerhin kann jeder genau nachvollziehen unter welchen Umständen die Daten erhoben wurden. Klar ist aber, dass anders als bei einem chemischen Experiment, der „Versuchsaufbau“ nicht vollständig von einer dritten Person oder unter anderen Umständen nachgebaut werden kann. Die Arbeit mit Lebewesen hat allerding, denke ich, immer diesen vermeidlichen Fallstrick. Doch nur durch die Einzigartigkeit der Situation wird sie so spannend. Die Kritik an der starken Subjektivität und teilweise mangelnde Glaubwürdigkeit der Quellen, kann so natürlich nicht widerlegt werden. Fraglich ist jedoch, ob reine Objektivität und Wahrheit in der Geschichtswissenschaft überhaupt möglich und vor allem notwendig ist. Hier stellt sich die Frage, wie Geschichte entsteht. Ist sie nicht das Konglomerat von sehr individuellen Erinnerungen und Ereignissen? Kann Geschichte überhaupt allgemeingültig sein? Wie entsteht sie? Und ist Geschichte immer eine kollektive Erfahrung? Die konservative Ansicht auf Geschichte könnte man in mathematischer Umschreibung als Kleinstes gemeinsames Vielfaches umschreiben. Hierzu zählen Kriege, Gesetze, Herrschaftsformen usw. – all die großen Dinge eben, die sehr viele Menschen betroffen haben und die relativ ähnlich aufgenommen wurden. Fraglich ist jedoch, ob nicht auch sehr individuelle, vielleicht sogar außergewöhnliche Erlebnisse ihren Weg in die Geschichtsschreibung finden sollten. Haben sie nicht ebensoviel Daseinsberechtigung? Die Antwort auf diese Frage kann nicht einfach beantwortet werden. Sie umfasst, denke ich sowohl philosophische, methodische, geschichtswissenschaftliche, als auch ethische Bereiche. Jeder Historiker sollte sie sich also seinerseits stellen und eine eigene, für sich zufriedenstellende Antwort finden. Fazit - Erinnern oder Vergessen? „Memory is a central part of the brain´s attempt to make sense of experience, and tell coherent stories about it. These tales are all we have of our past (…)” (Schacter: Searching for memory) Abschließend muss festgehalten werden, dass die Oral History bis heute eine umstrittene Methode ist. Trotzdem halte ich die durch sie geborene Debatte für äußerst gewinnbringend. Gerade im Zusammenhang mit der Holocaustforschung findet sie immer mehr Anhänger. Der Drang die Katastrophe fassbar und vermittelbar zu machen, führte unweigerlich dazu, dass immer mehr Projekte entstanden, die sich als Erinnerungsarchiv begriffen. Mit einher ging die Entdeckung neuer Medien, wie Film oder Social Networks für die Geschichtswissenschaft. Als erste Bearbeitung in diese Richtung könnte man Claude Lanzmanns Dokumentarfilm „Shoah“ (1985) zählen. Aber auch Projekte, wie Steven Spielbergs „Shoah Foundation“ oder die Biografieprojekte von Yad Vashem, um nur zwei zu nennen, trugen ihren Wert dazu bei, dass Zeitzeugengespräche trotz aller Kritik immer populär blieben. Schulen bitten zu Zeitzeugengesprächen, Autobiografien erfreuen sich äußerster Beliebtheit und Museen stellen den reinen Menschen aus, wie kürzlich im Jüdischen Museum Berlin umgesetzt. Geschichte wird fassbar, ja geradezu „anfassbar“. Jeder, ist ein Zeuge seiner Zeit. Was also ist Geschichte? Nun, aus Sicht der Oral History, wohl geschriebene Erinnerung oder ungeschriebenes Vergessen. Literaturverzeichnis: Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: 1999. Geiger, Ruth-Esther Weigel, Sigrid: Sind das noch Damen? Vom gelehrten Frauenzimmer-Journal zum feministischen Journalismus, München 1981 Friedländer, Saul: Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte, Weimar 2007. Friedländer, Saul: Nachdenken über den Holocaust, München 2007. Machtans, Karolin: Zwischen Wissenschaft und autobiografischen Projekt. Saul Friedländer und Ruth Krüger, Tübingen 2009. Obertreis, Julia (Hg.): Oral history, Stuttgart 2012. Schacter, Daniel L.: Searching for memory. The brain, the mind, and the past, New York 1996 Ritchie, Donald (Hg.): The Oxford handbook of oral history, Oxford 2012. Gibran, Khalil: Im Garten des Propheten, München 2012. Görner, Rüdiger: Erinnerung und Gedächtnis - oder: Weil wir sind, was wir erinnern. Sendung des SWR2 vom 20.04.2009, 22.05 – 23.00 Uhr, Redaktion: Stephan Krass.