Medienservice Travail.Suisse – Ausgabe vom 25. Januar 2016 Die Durchsetzungsinitiative und die gefährliche Macht der Worte Der Begriff „Ausländer“ ruft bisweilen Misstrauen oder Ablehnung hervor, der Begriff „kriminell“ seinerseits flösst unweigerlich Angst ein. 2010 hat die Initiative für die Ausschaffung krimineller Ausländer eine trügerische Wirkung erzielt, aber heute geht die Durchsetzungsinitiative noch weiter und stellt für unser Verfassungssystem und für die schweizerische Demokratie eine reale Gefahr dar. Um sich vor dieser Gefahr zu schützen und die Sicherheit sowie die Integration zu garantieren, ist es an der Zeit, über die Zusammenhänge zu reflektieren. Denn oft lassen wir uns in einem ersten Augenblick durch Gefühle leiten, aber sie sind bei weitem nicht der beste Ratgeber. Hélène Agbémégnah, Leiterin Migrationspolitik, Travail.Suisse Am 28. Februar 2016 geht es nicht nur darum, darüber abzustimmen, ob straffällig gewordene Ausländer des Landes verwiesen werden können. Vielmehr geht es um die Systematisierung der Entscheide über den Landesverweis bzw. um einen Ausweisungsautomatismus, der nicht vereinbar ist mit den internationalen Verpflichtungen der Schweiz, und letztlich um eine Initiative, die die politische und soziale Stabilität der Schweiz bedroht. Ja zur Sicherheit, Nein zur Lüge! Der Wortlaut der Initiative stiftet Verwirrung, indem er uns vormacht, dass keine Ausschaffungen getätigt werden können und dass das Parlament die Initiative «Für die Ausschaffung krimineller Ausländer» nicht umgesetzt hat. Das Gegenteil ist aber der Fall, denn das Parlament hat ein Ausführungsgesetz verabschiedet. Somit ist es nicht nur möglich, Ausländer, die ein Delikt begangen haben, des Landes zu verweisen, sondern es kann dies auch mit einer Gesetzgebung getan werden, die im Vergleich zu vorher verschärft ist. Wieso also ist die Rede von der Durchsetzung des Landesverweises, wenn dieser jetzt schon möglich ist? Die Durchsetzungsinitiative sieht vor, dass Wegweisungsentscheide ohne Einzelfallprüfung automatisch erfolgen; damit wird eine Situation der Rechtsunsicherheit geschaffen, die sich in zahlreichen Bereichen des alltäglichen Lebens niederschlagen wird. Eine Gesetzgebung mit der Aufgabe, die Bürgerinnen und Bürger vor möglichen negativen Auswirkungen zu schützen, muss transparent und berechenbar sein. Doch die Initiative verstösst gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und den Grundsatz der Verhältnismässigkeit, mithilfe derer der willkürlichen Diskriminierung vorgebeugt werden kann. Überdies wird es möglich sein, auch europäische Staatsbürger, die dem Abkommen über den freien Personenverkehr unterstellt sind, des Landes zu verweisen, was die Beziehungen zwischen der Schweiz und Europa noch zusätzlich schwächen wird. Die Nationalität darf kein Kriterium sein für eine schärfere Verurteilung eines Delikts oder eines Verbrechens, sonst dient das Gesetz nicht mehr der Bekämpfung der Kriminalität, sondern dazu, die Fremdenfeindlichkeit zu schüren. Indem man die Integration untergräbt, schafft man den Nährboden für Kriminalität Wenn Ausländer der zweiten und dritten Generation zum zweiten Mal gegen das Gesetz verstossen, müssen sie das Land selbst im Falle von Bagatelldelikten verlassen. Für sie, die entweder in der Schweiz geboren oder sehr früh hierhergekommen sind und grösstenteils im Arbeitsmarkt integriert sind, stellt der automatische Charakter des Landesverweises wahrhaftig ein Integrationshindernis dar. Wie soll man eine Person in ein Land zurückschicken, das sie nur sehr schlecht oder gar nicht kennt, ohne dabei ihren Integrationsprozess zu beeinträchtigen? Welche Botschaft würde man damit an die Ausländerinnen und Ausländer senden, deren kleinster Verstoss eine Trennung von der Familie und einen Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt nach sich ziehen würde? Die Durchsetzungsinitiative ignoriert die schwerwiegenden Auswirkungen, die der automatische Landesverweis einer Person für die Gesellschaft hat – mitsamt den Konsequenzen für die restliche in der Schweiz verbleibende Familie. Gleichzeitig macht sie die Investitionen in Bildung und Berufsbildung zunichte, mit denen die Personen auf dem Schweizer Arbeitsmarkt Fuss fassen können. Schickt man eine in der Schweiz ausgebildete Person in ein Land zurück, das sie kaum kennt, macht man sie dadurch noch verletzlicher. Es ist ein Paradoxon: Mit der Initiative möchten die Initianten scheinbar die Kriminalität eindämmen, aber in Tat und Wahrheit bewirken sie damit nur das Gegenteil, nämlich die Vereitelung der Integration durch Diskriminierung und gesellschaftlichen Ausschluss. Weiter gilt es zu erwähnen, dass im Katalog der Delikte, die eine automatische Ausweisung zur Folge hätten, auch der missbräuchliche Bezug von Leistungen bei den Sozialversicherungen oder der Sozialhilfe enthalten ist. Um die Meinungsbildung der Öffentlichkeit zu manipulieren, wird nicht nur der im Rahmen der Durchsetzungsinitiative verwendete Begriff «Kriminalität» missbräuchlich verwendet, sondern es wird auch in Kauf genommen, dass die Integrationsbemühungen von Ausländern, die nicht «kriminell» sind, torpediert werden. Delikte, die mit einer Geldstrafe oder einer Busse bestraft werden und für welche die Durchsetzungsinitiative eine automatische Ausweisung vorsieht, sollten nicht als «kriminell» eingestuft werden. Der Rechtsstaat darf nicht politisch instrumentalisiert werden Form und Inhalt der Initiative richten sich an einem Gesetz aus, von dessen präzise festgelegten Regeln nicht abgewichen werden darf. Das Ziel besteht also darin, die Arbeit des mit der Ausarbeitung von Gesetzen beauftragten Parlaments zu torpedieren. Diese gefährliche Strategie verletzt die Gewaltentrennung, mit der das Demokratieverständnis eines Staates steht und fällt. Eine Initiative hat nicht die Funktion, ein Gesetz zu diktieren, sondern den Volkswillen auszudrücken. Das Volk will aber sicher nicht auf einen demokratischen Staat, der die Grundrechte garantiert, verzichten. Indem die Initianten ein Gesetz diktieren wollen und die Verfahrensregeln umgehen, wonach zur Beseitigung von Unstimmigkeiten mit dem Parlament das Referendum ergriffen werden kann, setzen die Initianten zu einer Instrumentalisierung des Initiativrechts zu ausschliesslich politischen Zwecken an. Es ist daher eminent wichtig, zu reagieren und am 28. Februar 2016 NEIN zu stimmen, um die sukzessive Aushöhlung des demokratischen Systems zu vermeiden und zu verhindern, dass Worte in einer gefährlichen Art und Weise zur Manipulation der Sicherheits- und Integrationskonzepte eingesetzt werden. Travail.Suisse, Hopfenweg 21, 3001 Bern, Tel. 031 370 21 11, [email protected], www.travailsuisse.ch