Enquete Reloaded – Bilanz und Ausblick nach zehn Jahren

Werbung
Arbeitskreis Bürgergesellschaft und Aktivierender Staat
Protokoll der siebenundvierzigsten Sitzung
am 30. November 2012, 11.00 bis 17.00 Uhr
Tagesordnung
Schwerpunktthema
Enquete Reloaded – Bilanz und Ausblick nach zehn
Jahren Enquete-Kommission „Zukunft des
Bürgerschaftlichen Engagements“
1.
Grußwort von Dr. Michael Bürsch
Vorsitzender der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen
Engagements“
3
2.
Bestandsaufnahme der Arbeit der Enquete-Kommission und der
aktuellen Engagementpolitik
durch die Mitglieder, Sachverständigen und Mitarbeiter der EnqueteKommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“
4
3.
Analyse der aktuellen Situation des bürgerschaftlichen
Engagements
durch die Mitglieder, Sachverständigen und Mitarbeiter der EnqueteKommission sowie die Mitglieder des „Arbeitskreises Bürgergesellschaft und Aktivierender Staat“
11
Perspektiven für das bürgerschaftliche Engagement
aus Sicht der Mitglieder, Sachverständigen und Mitarbeiter der
Enquete-Kommission sowie die Mitglieder des Arbeitskreises
16
4.
1
Enquete Reloaded – Bilanz und Ausblick nach zehn
Jahren Enquete-Kommission „Zukunft des
Bürgerschaftlichen Engagements“
„Bürgerschaftliches Engagement ist eine unverzichtbare Bedingung für den
Zusammenhalt unserer Gesellschaft“1 – mit dieser Überzeugung hat der Bundestag im Dezember 1999 die Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ eingesetzt. Ihr Auftrag war es, „konkrete politische Strategien und Maßnahmen zur Förderung des freiwilligen, gemeinwohlorientierten, nicht auf materiellen Gewinn ausgerichteten bürgerschaftlichen
Engagements in Deutschland zu erarbeiten“2. Darüber hinaus sollte sie dazu
beitragen, das Bewusstsein von bürgerschaftlichem Engagement in der Öffentlichkeit zu wandeln. Zwischen den Jahren 2000 und 2002 arbeiteten 22
Mitglieder des Bundestages, elf Sachverständige aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft sowie verschiedene Mitarbeiter des Bundestages an diesem Auftrag. Im Februar 2002 legten sie den rund 850-seitigen Bericht „Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft“ mit zahlreichen Handlungsempfehlungen vor.
Seit der Vorlage dieses Berichts sind zehn Jahre vergangen. Aus diesem Anlass veranstaltet der Arbeitskreis eine Sondersitzung unter dem Motto: „Enquete Reloaded – Bilanz und Ausblick nach zehn Jahren Enquete-Kommission
‚Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements’“. An der Sitzung nehmen Mitglieder, Sachverständige, Mitarbeiter und Wegbegleiter der Kommission teil.
Einleitend wird eine Botschaft von Dr. Michael Bürsch, Vorsitzender der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ sowie des
Arbeitskreises Bürgergesellschaft verlesen (1.). Daran anknüpfend folgt eine
Bilanz durch die Mitglieder, Sachverständigen und Mitarbeiter der EnqueteKommission. Rückblickend identifizieren sie aus ihrer fachlichen Perspektive,
was der Enquete gelungen ist und was nicht (2.). Der dritte Teil der Sitzung
konzentriert sich auf die Analyse der aktuellen Situation des bürgerschaftlichen Engagements. Die Gäste und die Mitglieder des Arbeitskreises diskutieren dabei u. a. über den „Ersten Engagementbericht der Bunderegierung“,
gehen auf die Gefahr einer gesellschaftlichen Spaltung ein und thematisieren
die Auswirkungen der Enquete-Kommission auf die Engagementpolitik der
Länder und Kommunen (3.). Abschließend beschäftigen sich die Teilnehmer
mit den Perspektiven des Engagements. Dabei analysieren sie die Rolle der
Politik, von Organisationen, der Wissenschaft und die europäische Ebene des
Engagements (4.).
Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ Deutscher Bundestag: Bericht. Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaf, Leske + Budrich, Opladen 2002, S. 5.
2 Ebd., S. 7.
1
2
1.
Grußwort von Dr. Michael Bürsch3
Vorsitzender der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen
Engagements“
„Liebe Gemeinde der unerschütterlichen, unerbittlichen, unwiderstehlichen
immer noch Engagierten,
zur Enquete Reloaded begrüße ich Sie und Euch zu fröhlichem Debattieren
herzlich bei der Friedrich-Ebert-Stiftung. Als Tageslosung übermittle ich Euch
gerne drei Botschaften für den heutigen, komprimierten Enquete-Tag.
Erste Botschaft: Dank – jede Menge
Dank zunächst an die Enquete-Mitglieder, die Engagement neu ausgeleuchtet
haben und eine Enquete-Kommission bestritten haben, aus der kein Mitglied
so rausgekommen ist, wie es hineinging. Stimmt’s?
Die Enquete hat eine wesentliche Aufgabe erfüllt, die ich mit der Kurzformel
beschreibe: Enquete ist, wenn Politik auf gesellschaftliche Wirklichkeit trifft.
Da ist ein Stein ins Rollen gekommen, der sich trotz aller Rückschläge, Missverständnisse, Ignoranzien und ideologischen Irrwege nicht mehr aufhalten
lässt.
Dank geht weiterhin an die Kerntruppe des Engagements, die sich in den letzten zehn Jahren der Bewegung angeschlossen hat: im Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE), in Verbänden, in Stiftungen, in gemeinnützigen Organisationen, in der Wissenschaft, in der Politik – hier allerdings
noch im Entwicklungsstadium –, in der Wirtschaft, unter den Entbehrlichen
der Bürgergesellschaft (Franz Walter), ja und auch hier und da als Keimzelle
in der Verwaltung.
Dank geht nicht zuletzt an die FES, die Fortschrittliche Engagement Stiftung.
2001 hat Albrecht Koschützke maßgeblich zur Gründung des Arbeitskreises
„Bürgergesellschaft und Aktivierender Staat“ beigetragen. Inzwischen hat Luise Rürup erfolgreich übernommen. Was der Arbeitskreis in fast 50 Sitzungen
zum Engagement zusammen getragen hat, ist ein riesiger Steinbruch an
Ideen, Vorschlägen, Klarstellungen und Perspektiven, der bei Weitem noch
nicht erschlossen ist. Wenn Sie Anregungen brauchen, schauen Sie einfach
mal in den ergiebigen Ergebnissicherungen, vulgo Protokollen nach - Arbeitskreisplagiat ist hochwillkommen.
Zweite Botschaft: Meine Erwartung an den heutigen Tag
Wenn rund 50 Menschen mit großer Erfahrung, Kompetenz und Weisheit auf
dem Gebiet des Engagements zusammen kommen, muss etwas herauskommen an nützlichen Erkenntnissen und weiterführenden Handlungsempfehlungen – da bin ich sicher. Ob solcher Aussichten war mein erster Gedanke natürlich: Mann oh Mann, da wäre ich doch gerne dabei gewesen, an
der Spitze der Bewegung. Aber beim zweiten Nachdenken und bei der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Schreiben, kam mir die Erhellung: Das ist doch dank höherer Gewalt die ideale Gelegenheit zur Delegation. Soll doch die nächste Generation mal zeigen, was sie besser machen
kann – jedenfalls auf Probe. Ich bin jetzt Beobachter und Kontroletti. Und die
Steuerungsgruppe des Arbeitskreises übernimmt. Serge und Susanne modeMichael Bürsch hat aus Krankheitsgründen an der Sitzung nicht mehr teilnehmen können, hat jedoch
eine schriftliche Botschaft beigetragen, die vorgelesen wurde und im Protokoll im Wortlaut widergegeben
wird.
3
3
rieren; Ansgar und Luise passen auf, dass sie alles richtig machen. Und den
Rest der Arbeit übernimmt die Weisheit der vielen und die allzeit bereite
Gruppendynamik oder mit Ludwig Pott „das Innenleben der Enquete Reloaded“.
Dritte Botschaft: Mit Faust voran
MdB Bürsch zitierte bekanntlich oft den Faust: „Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich jetzt endlich Taten sehen“. Also, ran an die Bestandsaufnahme, Analyse und die Perspektiven, liebe Mitglieder der Enquete Reloaded.
Nach Martin Schenkels unübertrefflichen Zeitrechnungen und Arbeitsplänen:
Ihr habt jetzt noch genau eine Nettoarbeitszeit von gut fünf Stunden. Ärmel
hoch, die Debatte um das kommende Jahrzehnt von Engagement und Partizipation beginnt hier. Ich bin sehr gespannt auf die Ergebnisse und drohe
schon mal an: ich werde jede Zeile des Abschlussberichts lesen.
Herzlich
2.
Bestandsaufnahme der Arbeit der Enquete-Kommission und der
aktuellen Engagementpolitik
durch die Mitglieder, Sachverständigen und Mitarbeiter der EnqueteKommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“
Prof. em. Dr. Adelheid Biesecker
ehemals Professorin am Institut für Institutionelle und Soziale Ökonomie der
Universität Bremen
Bürgerschaftliches Engagement lebt! Seit dem Abschluss der Enquete hat es
sich vielerorts neu entwickelt. Beispielhaft hierfür stehen die junge Gemeingüterbewegung, die Bewegung energieautonomer Regionen oder die Gartenbewegung im Rahmen der nachhaltigen Stadtentwicklung.
Soweit die erfreuliche Diagnose. Weniger erfreulich fällt sie aus, wenn wir auf
den Begriff der Ermöglichung schauen, den die Enquete neben der Ermächtigung und der Anerkennung als wichtige Voraussetzung für Engagement definiert hatte. Ermöglichung heißt vor allem, dass Zeit und Raum für Engagement vorhanden sein muss. Genau daran fehlt es neben der Erwerbsarbeit
allerdings häufig. Das gilt insbesondere für Frauen, die sich aufgrund der
Doppelbelastung durch Beruf und Familie noch immer weniger engagieren als
Männer. Hier hat sich im Verhältnis der Geschlechter innerhalb von zehn Jahren nicht viel verbessert. Insofern muss sich ein anderes Verständnis von Engagement etablieren: Engagement ist Arbeit an der Gesellschaft – und diese
Arbeit braucht Zeit.
Dr. Gerd Mutz
Leiter des Münchner Instituts für Sozialwissenschaften
Mit Blick auf die Enquete-Kommission soll kurz auf die Themen Corporate Citizenship und Arbeit eingegangen werden.
Das vor zehn Jahren noch weitgehend unbekannte Konzept Corporate Citi4
zenship hat an Bedeutung gewonnen. Zwar nicht in dem Sinne, dass Unternehmen ihren Mitarbeitern mehr Engagement ermöglichen, aber im Sinne
eines Engagements der Unternehmen selbst. Die Diskussion über Corporate
Citizenship hat dazu beigetragen, dass Unternehmen im Zuge von Corporate
Social Responsibility stärker darüber nachdenken, in welchem Umfang sie gesellschaftlich verantwortlich sind, wenn sie wirtschaften.
Im Hinblick auf Arbeit ist festzustellen, dass sich junge Menschen zunehmend
darüber Gedanken machen, wie sie arbeiten möchten und was sie sich außerhalb der Erwerbsarbeit aufbauen möchten – hierbei spielt auch Engagement
eine Rolle. In diesem Zusammenhang gewinnen Ideen der Eigenarbeit an Bedeutung, also Produkte und Dienstleistungen, die Menschen jenseits des
Marktes selbständig entwickeln. Hier bieten sich neue Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen Arbeit einerseits und Beteiligung, Ermöglichung sowie Partizipation andererseits.
Prof. Dr. Thomas Olk
Professor für Sozialpolitik und Sozialpädagogik an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg
Die wichtigste Leistung der Enquete-Kommission bestand darin, bürgerschaftliches Engagement als eine politische Größe in der Gesellschaft zu etablieren.
Zwar gab es auch vorher eine Förderpolitik. Diese konzentrierte sich aber auf
bestimmte Gruppen im klassischen Ehrenamt. Im Bundesfamilienministerium
dachte man zudem bereits Ende der 1980er Jahre v.a. angesichts des demographischen Wandels darüber nach, wie Ehrenamtliche Lücken im Dienstleistungssektor schließen könnten. Die von der Enquete initiierte erfolgreiche
Etablierung von Engagement als politische Größe weckte bei einigen Akteuren
allerdings die Hoffnung, dass die Bürgergesellschaft zu einer neuen Leitlinie
für die Bundespolitik werden könne. Retrospektiv betrachtet hat sich diese
Hoffnung als falsch erwiesen.
Das Politikfeld bürgerschaftliches Engagement bildet mittlerweile eine Arena
für unterschiedliche Akteure, die Engagement gestalten, Interessen diskutieren und auch um Macht ringen. Hier prallen durchaus ökonomische, dienstleistungsorientierte und zivilgesellschaftliche Ansprüche und Handlungslogiken aufeinander. Insofern gilt es, in der Engagementpolitik – wie in anderen
Politikfeldern auch – mitzuspielen, Koalitionen zu bilden und eigene Interessen durchzusetzen.
Ludwig Pott
ehem. Leiter der Initiative Ehrenamt der Arbeiterwohlfahrt
„Entscheidend is auf’m Platz.“ Dieses Zitat des Fußballers Adi Preißler verdeutlicht, dass letztendlich ausschlaggebend ist, was in der Praxis geschieht.
Aus der Praxisperspektive eines Traditionsverbandes wird die Bewertung der
Arbeit der Enquete dadurch erschwert, dass es eine Zeitgleichheit von drei
Ereignissen gab: Neben der Enquete standen der Freiwilligensurvey, in dem
1999 erstmals die für viele überraschend hohe Zahl von 23 Mio. Engagierten
auftauchte, und das internationale Jahr der Freiwilligen (2001) mit zahlreichen Praxisprojekten. Im Alltagsgeschäft konnte mit der Zahl 23 Mio. Engagierte mehr bewegt werden als mit den Ergebnissen der Enquete. Denn sie
machte vielen Verbänden deutlich, dass es trotz allen Klagens noch immer
viele Menschen gab, die sich engagieren wollten. Gleichzeitig ist der Wert der
5
Arbeit der Enquete in der Praxis des Engagements häufig (noch) nicht angekommen. Positiver gestaltet sich die Bewertung aus persönlicher Perspektive:
Die Enquete war die wahrscheinlich größte Fortbildung. Erhellend war vor allem die demokratiepolitische Dimension von Engagement.
Olaf Zimmermann
Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats
Der Enquete-Kommission ist vieles gelungen: Sie hat es geschafft, das alte
mit dem neuen Ehrenamt zu versöhnen. Hierfür war es wichtig, neben den
Wissenschaftlern auch Funktionäre aus der Praxis einzubinden. Denn diese
trugen das veränderte Bewusstsein eines bürgerschaftlichen Engagements in
ihre Verbände. Darüber hinaus hat sie den Begriff bürgerschaftliches Engagement eingeführt. Bereits bei der Einrichtung der Kommission diskutierten
die Fraktionen kontrovers darüber, ob diese den Begriff Ehrenamt oder bürgerschaftliches Engagement im Titel tragen solle. Diese Frage ist heute, zumindest auf politischer Ebene, weitgehend entschieden – und zwar zugunsten
des umfassenderen bürgerschaftlichen Engagements. Ein weiterer Erfolg liegt
darin, dass zahlreiche Empfehlungen der Enquete umgesetzt wurden. Hierzu
zählen Aspekte des Steuerrechts und Haftungsfragen, aber auch die Einrichtung des BEE. Als trisektorale Organisation, in der zivilgesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Akteure mitwirken, feiert es in diesem Jahr sein 10jähriges Bestehen.
Dem entgegen ist es der Enquete-Kommission nicht gelungen, zu vermitteln,
dass es einen klaren Unterschied zwischen bürgerschaftlichem Engagement
und Erwerbsarbeit gibt. Besonders anschaulich wird dies in dem aktuellen
Entwurf des Gemeinnützigkeitsentbürokratisierungsgesetzes. Hier wird die
Notwendigkeit zur Förderung von Engagement damit begründet, dass sich die
öffentliche Hand aufgrund der unumgänglichen Haushaltskonsolidierung auf
notwendige Aufgaben konzentrieren müsse. Genau diese Begründung hielt
die Kommission für falsch.
Rupert Graf Strachwitz
Direktor des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft
Zunächst ist der Enquete-Kommission der Sprung vom Ehrenamt zum bürgerschaftlichen Engagement gelungen. Es war eine richtige, wichtige und weiterführende Entwicklung von der Ehre und dem Amt hin zu dem Bürger, der
selbständig aktiv wird. Auch wenn der Abschlussbericht und damit der Begriffswandel in der Politik nicht ausreichend rezipiert wurde, so gelang dies
doch in der Engagementszene. Mit seinen zahlreichen Handlungsempfehlungen war er ein Beitrag zu einer wachsenden Dynamik in der Bürgergesellschaft.
Zu wenig in den Blick genommen hat die Kommission die Veränderung in den
Lebensentwürfen vieler Menschen und die damit verbundenen Konsequenzen
für das Engagement. So engagieren sich Menschen zunehmend in kleineren
Organisationen und in flexibleren Formen, während die etablierten Verbände
Engagierte verlieren. Darüber hinaus ist zu kritisieren, dass in den zehn Jahren nach der Enquete zwar viele kleinere Reformen in Sachen Engagement
angestoßen wurden, aber keine kohärente Zivilgesellschaftspolitik entstanden
ist. Im Nachhinein betrachtet wäre zudem der ermutigende Staat ein besseres Leitbild gewesen als der ermöglichende oder aktivierende Staat. Mit der
6
aktuellen Engagementpolitik – sei es durch den Engagementbericht der Bundesregierung oder das Gemeinnützigkeitsentbürokratisierungsgesetz – ermutigt der Staat allerdings nicht eben zu Engagement. Hier wird die Zivilgesellschaft auf die Funktion des Dienstleisters reduziert.
Blickt man auf die aktuelle Situation des Engagements, so liegt eine wichtige
Herausforderung darin, sich näher mit der zerbröckelnden Grenze zwischen
Arbeit und Gemeinnützigkeit auseinander zu setzen. Gemeinwohlorientierung
und staatlich konzedierte Gemeinnützigkeit laufen nicht mehr synchron. So
passt das an Bedeutung gewinnende Phänomen der Social Entrepreneurs
bspw. nicht in diese klassische Einteilung.
Ute Kumpf, MdB
Demokratie braucht Demokraten. Auch das bürgerschaftliche Engagement
brauchte seinerzeit Menschen, die das Thema im Bundestag und in der Regierung vorantrieben. Beispielhaft für die gewachsene und kontinuierliche Verbundenheit vieler parlamentarischer Enquete-Mitglieder mit dem Thema Engagement stehen Michael Bürsch, der u.a. die Reform des Gemeinnützigkeitsrechts mit vorangetrieben hat, und Karin Kortmann, die als Staatssekretärin
den Freiwilligendienst „weltwärts“ in der Entwicklungszusammenarbeit initiiert
hat.
Durch die Arbeit der Enquete und den kontinuierlichen Einsatz vor allem von
Abgeordneten der SPD können folgende Erfolge verbucht werden: Bis heute
gibt es einen Unterausschuss bürgerschaftliches Engagement, der das Thema
auf der parlamentarischen Tagesordnung hält. Zur tieferen Verankerung von
Engagement als Querschnittsthema in allen Politikfeldern wären zweifelsohne
ein Hauptausschuss und die Berufung eines Engagement-Beauftragten im
Kanzleramt hilfreich. Darüber hinaus findet sich das bürgerschaftliche Engagement mittlerweile (wenn auch nur rudimentär) in den Wahlprogrammen
aller Parteien und in der Koalitionsvereinbarung wieder. Zudem ist die Debatte über Infrastruktur für Engagement in Gang gekommen. Als wichtigste Institution in diesem Zusammenhang ist das BBE eingerichtet und – oft gegen
Widerstand aus der Politik und manchen Verbänden – weiter finanziert worden.
Bei allen positiven Impulsen, die die Enquete setzen konnte, bleibt zu konstatieren, dass es immer wieder mächtigere politische Themen wie Hartz IV,
Kurzarbeit und aktuell die Krise des Euro gab und gibt. Vor diesem Hintergrund ist es nicht gelungen, die Vision eines neuen Gesellschaftsvertrages
zwischen Politik, Staat und Zivilgesellschaft in den Mittelpunkt der politischen
Diskussion zu rücken.
Blickt man in die Zukunft, so geht es im Zusammenhang mit Engagement vor
allem um die Fragen, wie der Zusammenhalt der Gesellschaft gestaltet werden kann, wie Ältere verstärkt gesellschaftliche Verantwortung übernehmen
können und wie die rund 15 Millionen Menschen mit anderen kulturellen Wurzeln besser teilhaben können. Hier kann auch eine Enquete-Kommission zu
Demokratie wichtige Impulse liefern.
Prof. Dr. Roland Roth
Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule Magdeburg-Stendal
7
Jenseits der bereits angesprochenen pragmatischen Erfolge soll an dieser
Stelle in zehn Punkten vor allem das beleuchtet werden, was der Enquete und
in den darauffolgenden Jahren nicht gelungen ist:
1. Die Enquete war begrenzt erfolgreich. Es ist gelungen, ein eigenes Politikfeld zu etablieren. Hierfür stehen u.a. das BBE, rechtliche Verbesserungen
und kommunale Ansätze. Dieses Politikfeld bewegt sich aber am Rande
des Geschehens und ist politisch überwiegend zahnlos.
2. Die politischen Implikationen von bürgerschaftlichem Engagement wurden
an den Rand gedrängt. Politische Anerkennung findet es lediglich als sozialer Kitt bzw. Ausfallbürge – genau das wollte die Enquete nicht.
3. Die Gesetzesarbeit erfolgt(e) ohne Engagement-Perspektive und Engagementfolgen-Abschätzung. Große Reformen wie Hartz IV, der BolognaProzess oder die Föderalismusreform wirkten sich destruktiv auf das Engagement aus.
4. In einigen Politikfeldern wird bürgerschaftliches Engagement als Ersatz für
Beteiligung und politische Bürgerrechte gefördert. So gibt es kaum ein
Feld, in dem so viel von Engagement geredet wird wie bei Migranten. Das
Wahlrecht wird vielen allerdings verwehrt.
5. Die Freiwilligensurveys sind sehr verdienstvoll, aber ihnen fehlt eine differenzierte Analyse des politischen Engagements bspw. in Bürgerinitiativen
oder von Protesten. Dieser organisationslastige Ansatz macht die demokratischen Potentiale der Zivilgesellschaft nur begrenzt sichtbar.
6. Die demokratischen Potentiale der Zivilgesellschaft werden nur marginal
zum Thema und meist nur, um negative Entwicklungen zu kurieren. Deutlich wird dies am Beispiel der zivilgesellschaftlichen Programme gegen
Rechtsextremismus.
7. In der aktuellen Bundespolitik dominiert die Konzentration auf jenes Engagement, das nichts kostet, sondern etwas zusätzlich bringt. Dies drückt
sich in der Vorliebe für Unternehmensengagement und Stiftungen aus,
während andere Bereiche wie Freiwilligenagenturen unterfinanziert bleiben.
8. Aktuell feiert ein Dienst-, Pflicht- und Verantwortungs-Diskurs Urstände,
wobei Freiwilligkeit, Solidarität und Gestaltung marginalisiert werden. Eindrucksvoll nachvollziehbar ist das an den definitorischen Verrenkungen des
„Ersten Engagementberichts“ der Bundesregierung. Hier ging es darum,
einen Gegenpunkt zu der Arbeit der Enquete zu setzen.
9. Bürgerschaftliches Engagement verliert an Konturen, da die Grenzen zu
einem breiter werdenden Feld prekärer Beschäftigung zunehmend verschwimmen. Symptom dieser Entwicklung sind Freiwilligendienste, die Jugendliche primär als Berufvorbereitung nutzen, und die Tendenz zur Monetarisierung des Engagements. Was bleibt hier vom Eigensinn des Engagements?
10. Neben die Engagementlücke zwischen Bereitschaft und faktischem Engagement ist eine Partizipationslücke getreten, die sich erheblich vergrößert.
So wollen 50-80 % der Befragten mehr politische Beteiligung und eine
stärkere Berücksichtigung von Vorschlägen aus der Bürgerschaft. Um diese demokratische Lücke zu füllen, das Wissen der vielen fruchtbar zu machen und ihre Gestaltungsansprüchen ernst zu nehmen, ist eine Demokratie-Enquete im Bundestag sinnvoll.
8
Dr. Martin Schenkel
ehem. Leiter des Sekretariats der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“
Mehr in die Zukunft als zurück blickend sollen hier sieben inkongruente Perspektiven für eine europäische Zivilgesellschaft aufgezeigt werden:
Perspektive 1: Evolution einer neueuropäischen, nicht alteuropäischen dezentralisierten, lokalen Zivilgesellschaft auf der Basis einer zivilgesellschaftlichen Ethik der Akzeptanz, nicht der moralinen Moralität einer Toleranz. Der
Abschied von alteuropäischen Ressentiments ermöglicht eine europäische Zivilgesellschaft.
Perspektive 2: Schaffung neueuropäischer, direkter, informeller Publikumsdemokratien, da es keine europäische dezentralisierte Parteienlandschaft
gibt, die das europäische zivilgesellschaftliche Feld mittragen können.
Perspektive 3: Infrastruktur einer neueuropäischen Zivilgesellschaft durch die
Europäisierung des Netzwerkes BBE. Alleinstellungsmerkmale dieser europäischen Zivilgesellschaft sind die kooperierende Koproduktion kollektiv bindender Entscheidungen, die Trisektoralität und die Bindung der Möglichkeitsüberschüsse für die Kommunikation.
Perspektive 4: Europäische Integration durch eine europäische zivilgesellschaftliche Bildungspolitik. Integration erzeugt sich selbst durch informelle
Bildung immer wieder neu. Bisher findet die Bildungsarmut durch den doppelten Ausschluss der unteren, ärmeren Schichten von der formalen und der informellen Bildung statt. Eine zivilgesellschaftliche Bildungspolitik reduziert
Bildungsarmut und öffnet neue partizipative Räume in einer neueuropäischen
Zivilgesellschaft.
Perspektive 5: Europäische Integration durch eine europäische Bibliothekenpolitik. Das neueuropäische zivilgesellschaftliche Netzwerk öffentlicher Bibliotheken verfügt sowohl über Bibliothekskrankenschwestern als auch über eine
öffentliche europäische Informationsversorgung nach dem Vorbild der amerikanischen public library. Durch Teilen statt Besitzen, durch Teilhabe statt Besitz und durch eine Funktionalisierung der Informationsversorgung entsteht
eine teilhabende Gemeinwirtschaft als zivilgesellschaftliche Parallelwirtschaft
zur sozialen Marktwirtschaft. So evolutioniert sich eine soziale Zivilgesellschaft, eine soziale neueuropäische Zivilgesellschaft.
Perspektive 6: Europäische Integration durch den Aufbau einer zivilgesellschaftlichen Infrastruktur binationaler, dezentraler Freiwilligendienste. Der
derzeitige Bruttoumsatz in den Freiwilligendiensten liegt geschätzt bei 1 Milliarde Euro. Durch eine Monetarisierung der europäischen Freiwilligendienste
entsteht eine unabhängige Machtbasis einer europäischen Zivilgesellschaft.
Dazu wird ein Europabeauftragter für binationale Freiwilligendienste kurzfristig benannt.
Perspektive 7: Die europäische Zivilgesellschaft der Zivilgesellschaften wird
getragen von der Differenz „öffentlich - privat“. Denn durch Globalisierung,
Digitalisierung, Internet, Fragmentierung, Privatisierung ist diese fundamentale demokratische Kategorie bürgerlicher Gesellschaften im Verschwinden
begriffen.
9
Resümee: Es bedarf einer Infrastrukturierung als entlastende Institutionalisierung der neueuropäischen Zivilgesellschaft vor dem Hintergrund der Trennung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft. Die Infrastruktur einer neueuropäischen Zivilgesellschaft wird gebildet durch die öffentlichen Bibliotheken als
partizipative Netzwerkknotenpunkte direkter Publikumsdemokratien, partizipative Teilhabe sowie durch die funktionale Differenzierung der public library
functions und vor allem durch die Europäisierung des Netzwerkes BBE. Die
zivilgesellschaftliche Ökonomisierung ist getragen durch teilhabende Gemeinwirtschaften als zivilgesellschaftliche Parallelwirtschaften zur sozialen
Marktwirtschaft. Nur so kann eine soziale europäische Zivilgesellschaft entstehen. Erst wenn wir aufhören zu wachsen, und zwar in allen drei Sektoren,
kann eine europäische Zivilgesellschaft als Spiegelbild europäischer Integration wachsen.
Dr. Ansgar Klein
ehem. Referent der SPD-Bundestagsfraktion für bürgerschaftliches Engagement
Zum Ende der Bestandsaufnahme sollen zwei perspektivische Bemerkungen
zur Engagementpolitik gemacht werden:
Das Thema Wirtschaft und Zivilgesellschaft wurde zwar von der EnqueteKommission aufgegriffen, nun ist es aber notwendig, dieses ähnlich intensiv
auszuleuchten wie das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft.
Darüber hinaus gilt es, den umstrittenen Begriff der Aktivierung zu ersetzen.
Aus Sicht der SPD war er damals vor allem mit Blick auf die engagementfernen Gruppen wichtig. Nach der Diskreditierung durch die Hartz-Reformen
sollte heute eher von aufsuchenden Formaten der Engagementpolitik gesprochen werden. Diese sind zu ergänzen um Fragen der Partizipation und der
Bürgerrechte.
Birger Hartnuß
ehem. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sekretariat der Enquete-Kommission
„Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“
Zunächst ein Dank: Martin Schenkel hat die häufig schwierige Abstimmungsarbeit zwischen verschiedensten Interessen aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft hervorragend gemanagt.
Mit Blick auf den Zusammenhang zwischen Engagement- und Demokratiepolitik bleibt noch viel zu tun, aber es gibt auch Hoffnungsschimmer. So arbeitet
Rheinland-Pfalz gerade daran, Engagement- und Demokratie-Lernen in Schulen miteinander zu verbinden. Darüber hinaus tut sich auch bei der Bürgerbeteiligung auf Landesebene recht viel. Das spiegelt sich nicht zuletzt in der im
November 2011 in Rheinland-Pfalz eingesetzten Enquete-Kommission Bürgerbeteiligung wider.
Prof. Dr. Gisela Jakob
ehem. Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sekretariat der EnqueteKommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“
Die größten Erfolge der Enquete-Kommission zeigen sich bei den Ländern und
Kommunen, die sich deutlich intensiver mit Engagement auseinander setzen.
Die Entwicklung der Engagementpolitik auf Bundesebene dagegen gibt Anlass
zur Sorge. Hier gibt es das Bestreben, das Engagement zu kontrollieren und
10
zu steuern. Beispielhaft hierfür stehen die Renaissance der Bürgerpflicht in
dem Engagementbericht der Bundesregierung, die Entmachtung des Freiwilligensurveys und die Einrichtung des Bundesfreiwilligendienstes, mit dem der
Staat ein Feld besetzt, das die Zivilgesellschaft erfolgreich organisiert hatte.
Diese negative Entwicklung hat nicht nur mit der politische Couleur der Bundesregierung zu tun, sondern resultiert aus einem strukturellen Problem.
Wenn der Staat sich mit Zivilgesellschaft beschäftigt, trifft er mit seinem Anliegen, zu standardisieren und zu steuern, auf die Eigensinnigkeit von Engagement. Das führt zu einem Dilemma.
Matthias Potocki
ehem. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sekretariat der Enquete-Kommission
„Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“
Ein zentraler Strukturfehler liegt darin, dass es nicht gelungen ist, einen
Hauptausschuss Bürgerschaftliches Engagement zu etablieren. Zwar gibt es
heute ein Feld Engagementpolitik, der Kreis der Engagementpolitiker im Bundestag ist aber noch immer sehr klein, und einige scheiden demnächst aus.
Zudem ist kein starker Unterbau für das Thema auf der Ebene der Fraktionen
gewachsen, der die Ergebnisse der Unterausschusssitzungen weiter tragen
und umsetzen könnte.
3.
Analyse der aktuellen Situation des bürgerschaftlichen
Engagements
durch die Mitglieder, Sachverständigen und Mitarbeiter der EnqueteKommission sowie die Mitglieder des „Arbeitskreises Bürgergesellschaft
und Aktivierender Staat“
Vor dem Hintergrund der Bestandsaufnahme im ersten Teil der Diskussion
wird nun die aktuelle Situation des bürgerschaftlichen Engagements analysiert. Der Schwerpunkt liegt darauf, diejenigen Aspekte zu identifizieren, welche die Enquete-Kommission aus heutiger Perspektive entweder zu wenig berücksichtigt hat oder die sich in den letzten zehn Jahren stark verändert haben. In diese Diskussion fließen auch Erkenntnisse aus den Debatten des Arbeitskreises aus den letzten zehn Jahren ein.
Gegenwind für die Bürgergesellschaft durch neoliberale Politik

Die Zeit war in den letzten zehn Jahren nicht mit dem bürgerschaftlichen Engagement. Denn es war eine Zeit der neoliberalen
Durchmärsche. Dass dem so ist, hätte allerdings schon zu Beginn
des Jahrtausends klar sein können. In allen Ländern, in denen es einen solchen Durchmarsch gab - wie die USA, Australien und Großbritannien - war dieser von einer neuen autoritären Politik begleitet. Es gibt , so
die historische Erfahrung, keine gesellschaftliche Zuarbeit des neoliberalen
Wirtschaftsmodells zu mehr Demokratie. Es führt vielmehr zu einer Einhegung von Politik und öffentlichen Räumen, wobei alle Politik jenseits der
Bedürfnisse des Marktes an Bedeutung verliert.
Vor diesem Hintergrund ist auch das weitgehende Scheitern des Konzepts
der Bürgerkommune zu erklären. Schien die Idee von mehr Bürgerbeteiligung zunächst kompatibel mit neuen, neoliberalen Konzepten des Verwaltungsmanagements, so erwies sich diese Hoffnung schnell als Illusion.
11
Angesichts dieser Entwicklung ist es kein Zufall, dass Protagonisten einer
neoliberalen Politik wie das Institut der Deutschen Wirtschaft den Engagementbericht (mit)schreiben durften. Engagement soll Wirtschaft nicht
stören, sondern ihr zuarbeiten. Diese Logik wird bei der Frage danach, wie
Engagementpolitik aussehen soll, auch künftig noch eine Rolle spielen.

Neben dem Marktliberalismus und einer damit verbundenen autoritären
Politik wirkt sich auch das Verschwinden der Öffentlichkeit als Ort für bürgerschaftliches Engagement negativ auf dieses aus. Der öffentliche Raum
wird zunehmend durch Privatheit besetzt; das manifestiert sich bspw. in
Kampagnen wie „Du bist Deutschland“.

Wenn wir danach fragen, warum bürgerschaftliches Engagement kaum in
den anderen politischen Vorhaben verankert ist, dürfen wir nicht vergessen, dass die neoliberale Phase zu Beginn der 2000er Jahre erst richtig
begonnen hatte. Das gilt für Hartz-IV, die Flexibilisierung der Arbeit, die
Deregulierung der Finanzmärkte und eine Reform der Besteuerung, die zu
massiven Einnahmerückgängen der Kommunen führte. Obwohl es immer
wieder Stimmen gab, dass man sich nicht instrumentalisieren lassen dürfe, konnten sich die Mitglieder der Enquete-Kommission dieser Entwicklung nicht völlig entziehen.

Die Enquete-Kommission hat die Zivilgesellschaft aus einer deutschen bzw. europäischen Perspektive betrachtet, die sich primär
auf die Rolle des Staates konzentriert. Es wäre gewinnbringend
gewesen, diesen Blickwinkel durch einen internationalen zu ergänzen, der sich stärker auf die Rolle der Wirtschaft richtet. So
setzt sich die Zivilgesellschaft in der Mekong-Region bspw. viel stärker mit
der Wirtschaft auseinander, da die dort agierenden Unternehmen die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen wesentlich beeinflussen.
Diese internationale Perspektive könnte auch die Arbeit des BBE bereichern.
Zur Deutung von Engagement, zur Engagementpolitik der Bundesregierung und zum Engagementbericht der Bundesregierung

Auf das Verständnis von Engagement der Seniorenbüros hatte die Enquete-Kommission einen nachhaltigen Einfluss. Im Rahmen einer Anhörung
wurde ihren Vertretern deutlich, dass es beim Engagement nicht um ein
„Diakonissendienst“ nach dem Motto „dein Lohn ist, dass du darfst“ geht,
sondern auch um Eigensinn und das Initiieren von Veränderungen. Infolge
dieses Impulses sind die Programme „Senior-Trainer“ und „Aktiv im Alter“
entstanden, welche das Engagement und die Beteiligung Älterer in Kommunen unterstützen. Heute ist in vielen Kommunen leider eine entgegengesetzte Entwicklung zu erkennen: Ältere werden zunehmend belächelt und in Dienstleistungsfunktionen zurück gedrängt. Perspektivisch
sollten Ältere wieder stärker zu einem eigensinnigen, beteiligungsorientierten Engagement zurückfinden.

Die Deutung von Engagement hat nicht nur theoretische, sondern ganz
praktische Konsequenzen für dessen Förderung. In diesem Zusammenhang hat die Enquete unterschätzt, wie bedeutsam es ist, Rahmenbedingungen zur Förderung von Engagement zu entwickeln und Institutionen zu
ermächtigen. So ist es sicher kein Zufall, dass die Freiwilligenagenturen
12
weiterhin ein Leben in Prekarität führen, während der Bundesfreiwilligendienst innerhalb weniger Monate aus dem Boden gestampft wurde. Dieser
Förderpolitik liegt eine bestimmte Deutung von Engagement zugrunde.

Einer bisher wenig beachtete neue Definition von Engagement hat die Kriterien der Enquete-Kommission um die Dimension der Gemeingüter ergänzt. Diese Debatte, die das öffentliche Interesse an bestimmten Bereichen der Wirtschaft ins Zentrum rückt, sollte in Zukunft intensiv geführt
werden. Hierzu gehört es auch, andere Formen des Wirtschaftens wie Genossenschaften oder Social Entrepreneurship in die Engagementdiskussion
einzubeziehen.

Betrachtet man das Politikfeld Engagementpolitik, so muss zwischen den
formalen Strukturen und den Inhalten unterscheiden werden. Strukturell
sind das BBE, Stabstellen auf Länderebene und kleine Sachgebiete in Ministerien entstanden. Nun geht es darum, diese Strukturen mit Inhalten zu
füllen. Dabei gibt es nicht – wie von einigen erwartet – einen Konsens, sondern eine Kontroverse über die Inhalte. Deutlichster Ausdruck hierfür ist der Engagementbericht, der eine Gegendeutung
zum Enquete-Bericht bildet.

Das 2009 initiierte und bis Ende 2010 vom BBE durchgeführte „Nationale
Forum für Engagement und Partizipation“ war zugleich Sternstunde für eine partizipative Politik und Ausgangspunkt für eine engagementpolitische
Rückentwicklung. Es hat als zivilgesellschaftliches Projekt begonnen und
wurde im Verlauf vom Bundesfamilienministerium zu einer Dienstleistung
für die eigenen Interessen umdefiniert.

Engagementpolitik (die es als Begriff erst seit der EnqueteKommission gibt) auf Bundesebene war häufig schwach, ist aber
in der laufenden Legislaturperiode deutlich kontraproduktiv. Es ist
zu vermuten, dass hier eigene, nicht offen formulierte Interessen
des zuständigen Bundesministeriums mit im Spiel sind. Diese betreffen sowohl die praktische gesellschaftspolitische Gestaltung
als auch die Deutungshoheit über das Thema Engagement. So ist
auch der Schwenk beim Nationalen Forum für Engagement und Partizipation zu erklären, das ab 2010 nicht mehr unabhängig beraten, sondern lediglich das Verständnis von Engagement des Ministeriums legitimieren
sollte. Diese Haltung manifestiert sich nicht zuletzt im neu eingerichteten
Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben. Wenn sich dieses nicht stärker für Selbstregulierung und zivilgesellschaftliche Prinzipien
öffnet, wird es langfristig nicht bestehen können. Ein richtiger Schritt in
Richtung Öffnung ist die Mitgliedschaft des Amtes im BBE.
Insofern ist nicht der Sinn von Engagementpolitik insgesamt in Frage zu
stellen, sondern die Art und Weise, wie die Engagementpolitik in dieser
Legislaturperiode gestaltet wird. Hier gab es bisher auch wenig Gegenwind
aus der Parlament und zu wenig politische Debatte.

Eine der Fehleinschätzungen der Enquete-Kommission ebenso wie
des Arbeitskreises bestand darin, ein genuines Interesse staatlicher Akteure zu unterstellen, Politik und Verwaltungshandeln
durch Einbindung einer beteiligungsbereiten Bürgerschaft besser
zu machen. So ist es auch dem Arbeitskreis der Friedrich-Ebert-Stiftung –
selbst während der Regierungsbeteiligung der SPD – nicht gelungen, poli13
tische Anschlussstellen für das Querschnittsthema Engagement zu finden.
Wenn es dieses Interesse an besserem staatlichem Handeln durch Bürgerbeteiligung und Deliberation aber nicht gibt, dann stellt sich die Frage
nach angemesseren staatstheoretischen Prämissen.

Wenn die Leitidee Bürgergesellschaft als zentrales Element in dem Enquete-Bericht tatsächlich wahr werden soll, bleibt noch viel zu tun. Hier gibt
es vor allem in Politik und Wirtschaft noch erhebliche Defizite.
Zur Politik: Auf dem Hamburger Parteitag hat die SPD 2008 die Leitidee
Bürgergesellschaft, die auf sozialer Gerechtigkeit und Verantwortungsteilung basiert, nicht in ihr Parteiprogramm aufgenommen. Hier müssen sich
auch die sozialdemokratischen Verfechter von bürgerschaftlichem Engagement eingestehen, zu wenig für die Idee der Bürgergesellschaft gekämpft zu haben.
Zur Wirtschaft: In dem Enquete-Bericht ist u. a. von einer neuen
Verantwortungsbalance zwischen Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft die Rede. So viele schöne Einzelbeispiele gesellschaftlichen
Engagements von Unternehmen es gibt, ist diese nicht annähernd mit der
Diversifizierung und Vervielfältigung des Engagements der Zivilgesellschaft
vergleichbar.
Zur Verbindung von Engagement und Partizipation

Die Schwierigkeit, Engagement und politische Partizipation miteinander zu
verbinden, wurde in dem Bericht der Enquete-Kommission unterschätzt.
So nahm das integrative Konzept der Kommission, das Engagement und
politische Partizipation zusammendachte, gegenüber den faktischen Verhältnissen in Deutschland gewissermaßen eine Oppositionsrolle ein. In der
Realität fanden Partizipation und Engagement getrennt voneinander statt.
Auf der einen Seite standen stark politisierte Partizipationsbewegungen.
Sie hatten ihre Wurzeln in der „partizipativen Revolution“ der 1970er Jahre
und wurden durch Phänomene wie die lokalen Agenda-21-Gruppen infolge
des UN-Umweltgipfels von Rio 1992 gestärkt. Auf der anderen Seite standen Vereine, in denen zwar Engagement eine Rolle spielte, nicht aber politische Partizipation. Der Enquete-Kommission war nicht ausreichend bewusst, dass es größerer Anstrengungen bedurft hätte, um diese beiden
Seiten zu integrieren und so Engagement und Partizipation zusammen zu
führen. Heute lässt sich ein kohärenter Begriff von Engagementpolitik am besten über konkrete Praxisformen der Bürgerbeteiligung
vor Ort entwickeln.

Am Beispiel der Energiewende lässt sich im Hinblick auf Beteiligung zweierlei ablesen. Einerseits machen die Stromnetzbetreiber den Ausbau der
Netze weitgehend unter sich aus. In Bürgerforen werden die Bürger zwar
informiert, aber nicht richtig beteiligt. Andererseits gibt es deutliche Gegenbewegungen in Form von lokalen oder regionalen Energiebündnissen.
Hier bauen engagierte Bürger selbständig erneuerbare Energien aus und
machen die Energiewende gewissermaßen selbst. Genau das sollte die Politik stärker unterstützen – das käme der Energiewende und dem bürgerschaftlichem Engagement zugute.
Spaltung der Gesellschaft
14

Die Enquete hat zwei Dinge unterschätzt: Erstens die Gefahr der Spaltung
der Gesellschaft. Engagement ist nicht nur sozialer Kitt, sondern auch Motor von Ungleichheit. Zweitens die Frage, ob und unter welchen Bedingungen Engagement im sozialen Bereich politische Implikationen hat und zu
politischem Lernen führt.

Die aktuelle Engagementpolitik birgt die Gefahr, die gesellschaftliche Spaltung weiter zu vertiefen. Für gesellschaftlich randständige Gruppen wie
Menschen mit Behinderung bedeutet dies, dass sie auch aus dem Engagement gedrängt werden. Dabei kann bürgerschaftliches Engagement
durchaus zu einer gesellschaftlichen Inklusion beitragen, wenn es eine
entsprechend hochwertige Engagementbegleitung gibt.
Die Auswirkung der Enquete-Kommission auf das Engagement in
Ländern und Kommunen

Mit Blick auf die Bundesländer fällt das Fazit zur Wirkung der EnqueteKommission gemischt aus. So gab es vor dem Bericht der Enquete keine
Engagementpolitik in den Ländern, sondern lediglich eine Förderung des
Ehrenamts durch einzelne Ressorts. Heute existieren in den meisten
Ländern interministerielle Arbeitsgruppen zur Koordination der
Maßnahmen für Engagement; eine Engagementpolitik auf Basis einer Leitidee Bürgergesellschaft besteht aber nur in sehr wenigen
Bundesländern. Auch bezüglich der Bund-Länder-Runde zu Engagement
muss eine Bewertung zwiespältig ausfallen: So gab es nach der Etablierung einen durchaus guten Sachdialog, in den vergangenen Jahren trat
aber zunehmend die parteipolitische Differenzierung in den Vordergrund,
die eine konstruktive Zusammenarbeit erschwerte.

Ein wenn auch später, so doch positiver Impuls der Enquete-Kommission
ist die Einrichtung von parlamentarischen Gremien zu bürgerschaftlichem
Engagement in verschiedenen Bundesländern. So hat Rheinland-Pfalz im
September 2011 eine Enquete-Kommission „Aktive Bürgerbeteiligung für
eine starke Demokratie“ eingerichtet, und auch Berlin plant die Schaffung
eines Unterausschusses Bürgerschaftliches Engagement im Abgeordnetenhaus.

Im Zuge der Kommunal- und Verwaltungsreform in Rheinland-Pfalz sollten
bürgerschaftliches Engagement und Beteiligung gestärkt werden. Ein zentrales Element bestand darin, bürgerschaftliches Engagement und Partizipationsrechte als eine Möglichkeit in den Kommunalverfassungen zu verankern und so die Bürgerkommune zu verwirklichen. Die hierfür notwendigen rechtlichen Änderungen sind allerdings nicht gelungen.
Im Gegensatz hierzu haben viele Kommunen in Nordrhein-Westfalen begriffen, dass aktive Bürger für das soziale, politische und bürgerschaftliche
Gemeinwesen unverzichtbar. Vor diesem Hintergrund haben sie ein eigenes Regime zur Engagementförderung entwickelt.

Auf der Kommunal- und Landesebene gibt es in Bezug auf Beteiligung
mehr Lichtblicke als auf der Bundesebene. So führen in BadenWürttemberg immer mehr Kommunen Leitlinien für die Bürgerbeteiligung
ein. Dies wirkt sich positiv auf die Landespolitik aus. Zudem haben die
Proteste gegen Stuttgart 21 mittlerweile auch in der Verwaltung zu einem
Umdenken geführt. Um zu verhindern, dass die Verdrossenheit von Bür15
gern, die sich von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen fühlen, in weitere Massenproteste in der Fläche umschlägt, wird hier zunehmend auf
Beteiligung gesetzt.
Weitere Verdienste und Versäumnisse der Enquete-Kommission

Ein wichtiger Verdienst der Enquete besteht darin, dass sie zur Klärung
zentraler Begriffe beigetragen hat. Gleichzeit ist es nicht gelungen, diese
teilweise komplexen Begriffe wie engagementfördernde Infrastruktur oder
Welfaremix in die Praxis zu transferieren. Die Verantwortung für diesen
misslungenen Transfer liegt allerdings nicht alleine bei der Enquete, sondern auch bei den Verbands- und Organisationsvertretern, die die Begriffe
in ihren Einrichtungen nicht ausreichend erklärt haben.

Das von der Enquete-Kommission entwickelte Begriffsverständnis der unterschiedlichen Handlungsformen von Engagement ist in den Hintergrund
gerückt. Bei dessen Neudefinition im Engagementbericht bleiben Begriffe
der Selbstbestimmung, Selbstorganisation und Freiwilligkeit der Selbsthilfe
außen vor. Gleichzeitig kann die gesetzliche Verpflichtung der Krankenkassen zur Selbsthilfeförderung als ein Erfolg der Enquete gesehen werden.

Mit dem aktuellen Druck zur Monetarisierung von Engagement lässt sich
ein weiterer Aspekt anführen, den die Enquete unterschätzt hat. So sprachen sich kürzlich auf einer Veranstaltung 120 von 140 Aktiven im Bereich
Pflege und Demenz dafür aus, den Ehrenamtlichen bei ambulanter und
stationärer Pflege eine Entschädigung zu zahlen. Auf diese Weise wird die
Grenze zwischen Engagement und Erwerbsarbeit aufgelöst.
4.
Perspektiven für das bürgerschaftliche Engagement
aus Sicht der Mitglieder, Sachverständigen und Mitarbeiter der
Enquete-Kommission sowie der Mitglieder des Arbeitskreises
Im Hinblick auf die Perspektiven für das bürgerschaftliche Engagement
lassen sich aus der vorangegangenen Diskussion – ohne Anspruch auf
Vollständigkeit – die folgenden fünf Aspekte mitnehmen:
Erstens: Es ist zu einer Politisierung der Debatte über Engagement
gekommen, und die Konfliktkonstellationen sind deutlich offensichtlicher geworden. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass
sich mittlerweile auch eine konservative Engagementpolitik herausgebildet
hat, die sich in Teilen als Gegenentwurf zu den Ergebnissen der EnqueteKommission versteht.
Zweitens: Es ist wichtig, den Streit um Begriffe und Leitbilder zu
führen. In dieser Auseinandersetzung muss betont werden, dass bürgerschaftliches Engagement und Demokratie zusammen gehören. Denn hier
gibt es keinen selbstverständlichen Zusammenhang, wie die Engagementpolitik der Bundesregierung in den letzten drei Jahren zeigte. In diesem
Kontext gilt es auch, die Verbindung zwischen Bürgerbeteiligung und bürgerschaftlichem Engagement zu verdeutlichen.
Drittens: Es fehlt eine Diskussion über die gesellschaftliche Rolle
und Verantwortung der Wirtschaft und das, obwohl einzelne Unternehmen in den letzten zehn Jahren erhebliche Fortschritte mit Blick auf
Engagement und Corporate Social Responsibility gemacht haben und es
positive Entwicklungen wie die Wiederbelebung von Genossenschaften
16
gibt.
Viertens: Es ist ausreichend Geld vorhanden, um Engagement zu
fördern. Die Bürger im allgemeinen und die Zuwendungsempfänger im
Besonderen lassen sich zu schnell mit dem Argument abwimmeln, der
Staat habe kein Geld. Wofür die vorhandenen Ressourcen verwandt werden, ist eine politische Entscheidung. Es ist die politische Auseinandersetzung um die Gestaltungsinteressen, nicht das Lamento um die Knappheit
der Ressourcen, die geführt werden sollte.
Fünftens: Es stellt sich die grundsätzliche Frage, wie es mit dem
Feld Engagementpolitik weiter geht und ob sie überhaupt Aufgabe
des Staates sein sollte? Während es auf kommunaler und teilweise auch
auf Landesebene durchaus positive Entwicklungen gibt, wird auf Bundesebene zunehmend deutlich, dass es hier für gute Engagementpolitik mehr
braucht als gute Politikberatung.
Die Rolle der Politik

Um eine gute Engagementpolitik zu gestalten, braucht es die Zivilgesellschaft und die Politik: Einerseits sollten die zivilgesellschaftlichen Akteure – unter ihnen auch das BBE – bei ihrer Arbeit weniger regierungszentriert vorgehen und das Parlament als Entscheidungsinstanz stärker einbeziehen. Zwar spielt die Bundesregierung als
Zuwendungsgeber für viele zivilgesellschaftliche Aktivitäten eine Rolle,
dies darf aber nicht dazu führen, dass die Zivilgesellschaft die Regierung nicht mehr kritisiert.
Andererseits braucht es vor allem in der Bundespolitik mehr Menschen,
die sich mit Engagement beschäftigen. So ist vielen Abgeordneten in
der SPD-Bundestagsfraktion der Ausdruck „bürgerschaftliches Engagement“ noch immer fremd. Mit Blick auf konkrete Maßnahmen braucht
es vor allem auf der lokalen Ebene statt kurzfristiger Projektförderungen mehr engagementfördernde Infrastruktur. Einer Unterstützung der
Länder und Kommunen durch den Bund steht hier allerdings seit der
Föderalismusreform II das Kooperationsverbot im Wege. Diese konkreten Anliegen müssen sich, neben der Forderung nach einer EnqueteKommission Demokratie, im Wahlprogramm der SPD wiederfinden.

Wenn wir uns die vielfältigen Demokratiedebatten ansehen, so wird
deutlich, dass diese vieles, mitunter widersprüchliches beinhalten: von
der beteiligungsorientierten Gestaltung der Energiewendebis zu Schauplätzen einer „fake democracy“. Daher ist es wichtig, dieses Thema näher zu beleuchten und eine breite öffentliche Debatte zu führen. Eine
geeignete Form der Thematisierung läge darin, eine parlamentarische
Enquete Kommission Demokratie einzurichten. Diese könnte auch den
demokratiepolitischen Impetus der Engagementdebatte stärken.

Ein zentraler Verdienst der Enquete war es, das Leitbild einer solidarischen Bürgergesellschaft als maßstäblich für eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung zu formulieren. In den letzten Jahren hat die Bundespolitik diesen Diskurs zwar aufrechterhalten, das tatsächliche Handeln
spricht aber eine andere Sprache. Hier gilt es künftig, den falschen
Konsens aufzubrechen und Differenzen im Verständnis von Engagement klar offen zu legen: Engagement ist keine Hilfe beim Sparen,
sondern es geht um Demokratie. Engagement ist auch nicht der soziale
17
Kitt der Gesellschaft, sondern beinhaltet eine integrative Perspektive.
In diesem Sinne gilt es mehr Klarheit zu wagen und den Kampf
um die Begriffe zu führen.

Für eine bessere Engagementpolitik in der kommenden Legislaturperiode sind drei Dinge notwendig:
1. Eine Demokratie-Enquete: Sie bildet die Grundlage für einen Diskurs, der den Akteuren der repräsentativen Demokratie ihre eigenen
Rollenprobleme (inklusive der dramatischen Entwicklung der Volksparteien) und die Chancen einer Erweiterung der repräsentativen Demokratie verdeutlichen würde.
2. Eine Aufhebung des Kooperationsverbots: Eine solche Aufhebung würde in Kombination mit einer Bottom-up-Strategie die Voraussetzung für die Schaffung einer nachhaltigen Engagementinfrastruktur
bilden. Statt wie bei den Mehrgenerationenhäusern ein Haus je Landkreis zu fördern, sollte der Bund gezielt vorgehen: Zunächst identifizieren die Kommunen zusammen mit den Ländern Korridore für wirkungsvolle Innovationen, in denen der Bund dann Engagementinfrastruktur
fördern kann.
3. Aufsuchende Formate der Engagementförderung: Vor dem
Hintergrund der bereits diskutierten Spaltung der Gesellschaft müssen
aufsuchende Formate der Engagementförderung systematisch zu einem
Schwerpunkt einer neuen Engagementstrategie weiterentwickelt werden. Das bedeutet, Kümmerer vor Ort müssen die intellektuellen Begriffe zu Engagement und Partizipation in alltagstaugliche und anschlussfähige Praktiken übersetzen, sodass auch bildungsferne Gruppen sie umsetzen können.
Die Rolle der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft

Mit dem BBE wurde das Anliegen der Enquete-Kommission, Infrastruktur zu schaffen in besonderer Form umgesetzt. Als trisektoraler Zusammenschluss von Akteuren aus Bürgergesellschaft, Staat und Wirtschaft hat es den Auftrag, die Bürgergesellschaft und das bürgerschaftliche Engagement in allen Gesellschafts- und Politikbereichen zu fördern. Angesichts dieses Auftrags braucht das BBE unabhängige, gesicherte finanzielle Strukturen.
Zudem muss ein Staat, der ein solches trisektorales Netzwerk mitträgt,
sich zurücknehmen können. So war auch die ursprüngliche Idee im
Bundesfamilienministerium, dem BBE Geld zur Verfügung zu stellen,
die Ziele und Themenfindung aber nicht zu beeinflussen. Wer ernsthaft
Engagementpolitik betreiben will, muss dafür sorgen dass das BBE seine Netzwerkfunktion unabhängig wahrnehmen kann.

Die Bedeutung von Netzwerken für Engagementförderung und –politik
ist noch immer nicht hinreichend erkannt. Vielmehr droht auch bei diesen Infrastruktureinrichtungen die Gefahr der Instrumentalisierung für
„gewolltes“ Engagement. Interessante Gestaltungsvorschläge macht
das Gutachten „Netzwerke der Engagementförderung in Deutschland.
Analyse und Empfehlungen zur Weiterentwicklung“.Neben den zahlreichen praktischen Aspekten gilt es grundlegend zu klären, welches Demokratieverständnis der Diskussion zugrundeliegt. Geht es hier um
partizipative Demokratie, eine Reform repräsentativer Demokratien, di18
rekte Demokratie oder andere Formen. Diese Diskussion böte auch die
Chance, den Begriff der politischen Partizipation zu erweitern und zu
reflektieren. In der Politikwissenschaft herrscht noch immer ein enges
Verständnis von politischer Partizipation vor, das sich stark am Rational-Choice-Modell orientiert. Hier ist eine wissenschaftlich-theoretische
Reflexion darüber notwendig, was die Erfahrungen aus dem bürgerschaftlichen Engagement in Bezug auf den Begriff verändert haben.

Im Zusammenhang mit Engagementpolitik sollten Parteien stärker in
den Blick genommen werden, die im Engagement eine interessante
Doppelrolle spielen: zum einen sind sie Teil der repräsentativen Demokratie, zum anderen Teil des bürgerschaftlichen Engagements. Die Parteien reflektieren zu wenig darüber, wo es Schnittstellen mit anderen
zivilgesellschaftlichen Akteuren gibt bzw. geben kann. Eine Chance läge
darin, die sozialen „ein-Thema-Bewegungen“ zusammen mit den Parteien als gemeinwohlorientierte Akteure zu untersuchen und hierbei
den Begriff „active Citizenship“ zu betrachten.
Die europäische Ebene

Die deutsche Zivilgesellschaft denkt die europäische nicht ausreichend
mit und bezieht sich systematisch kaum auf diese. Besonders deutlich
wird dies am Beispiel des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses. Als Repräsentant der „organisierten Bürgergesellschaft“
nimmt er zu Vorschlägen der Europäischen Kommission für EURechtsakte Stellung und legt seine Standpunkte dem Europäischen Parlament und dem Rat der EU dar. Neben den Arbeitgebern und Arbeitnehmern bildet die Zivilgesellschaft die dritte Säule in diesem Ausschuss mit 344 Mitgliedern aus allen EU-Ländern. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern wie Großbritannien geht das Auswahl- und
Berufungsverfahren der Mitglieder für den Ausschuss hierzulande allerdings völlig an der Zivilgesellschaft vorbei. Neben den acht Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern gehören dem Ausschuss acht weitere
Vertreter anderer (zivilgesellschaftlicher) Interessen an, bspw. eine Repräsentantin der Bundesarbeitsgemeinschaft der SeniorenOrganisationen, der Hauptgeschäftsführer des Verbands Beratender
Ingeneure, ein Direktor der Umweltstiftung EuroNatur und ein Mitglied
der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (zur Übersicht der Mitglieder aus Deutschland). Diese Aufzählung macht deutlich,
dass die meisten deutschen Vertreter mit Zivilgesellschaft, wie sie hier
diskutiert wird, nichts zu tun haben.

In anderen europäischen Ländern wie Frankreich, Schweden und Großbritannien gibt es „Chartas der Mitbestimmung“. Eine solche Charta
auch in Deutschland einzuführen, wäre sinnvoll, um einen Minimalkonsens mit der Regierung und der Wirtschaft zu erarbeiten, sodass bestimmte Mindeststandards der Beteiligung nicht mehr unterlaufen werden können.
Der Europarat hat im NGO-Forum einen interessanten Entwurf für eine
solche Charta vorgelegt, der sechs Stuften der Mitbestimmung umfasst.
Mit dem „Nationalen Forum für Engagement und Partizipation“ hatte
Deutschland zwischenzeitlich Stufe vier erreicht. Durch das weitgehen19
de Scheitern ist Deutschland allerdings wieder auf Stufe eins zurückgefallen.
Engagement vor Ort

Um die politische Dimension des bürgerschaftlichen Engagements und die Beteiligung zu stärken, sollte auch die praktische
Ebene vor Ort einbezogen werden. Wenn Engagierte in Vereinen
verstärkt darauf achten, dass demokratische Normen wie Mitgestaltungsmöglichkeiten, Solidarität, Gerechtigkeit, Inklusion
und Teilhabe eingefordert und eingehalten werden, ist bereits
viel gewonnen.
Zudem gibt es auf kommunaler Ebene zahlreiche Anknüpfungspunkte
zur Stärkung der politischen Engagementdimension. Hierzu gehört es
auch, gemäß der UN-Kinderrechskonvention Kinderrechte in Kommunen zu verankern und zur Geltung zu bringen. Artikel 12 der Konvention schreibt vor, Kinder in allen Bereichen anzuhören und zu beteiligen,
die das Kinderleben betreffen. Dieser Anspruch sollte auf kommunaler
Ebene institutionalisiert werden, denn auf diese Weise kann auch Beteiligungslernen etabliert werden. Darüber hinaus sollte auch in dem Bereich der Bildungslandschaften, die zu einer Vernetzung von Schulen
und außerschulischen Bildungseinrichtungen beitragen, der Beteiligungsansatz stärker integriert werden.
20
Herunterladen