Sabrina Pohlmann, Abteilung Allgemeinmedizin und

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Auf dem Weg zu einer selbstbestimmten Gestaltung der gesundheitlichen
Lebenssituation – Chancen und Herausforderungen der persönlichen
Gesundheitsakte
Sabrina Pohlmann, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Universitätsklinikum Heidelberg
Ines Baudendistel, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Universitätsklinikum Heidelberg
Eva Winkler, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Universitätsklinikum Heidelberg
Oliver Heinze, Zentrum Informations- und Medizintechnik, Universitätsklinikum Heidelberg
Aline Kunz, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Universitätsklinikum Heidelberg
Martina Kamradt, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Universitätsklinikum Heidelberg
Joachim Szecsenyi, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Universitätsklinikum Heidelberg
Dominik Ose, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Universitätsklinikum Heidelberg
Kontakt: [email protected]
Hintergrund, Zielsetzung und Vorgehensweise
Eine zentrale Herausforderung der Gesundheitsversorgung in Deutschland ist, dass diese stark
fragmentiert und – mit Andauer der Erkrankung – von schwer zu bewältigender Komplexität ist. Das
Problem spitzt sich daher für multimorbide chronisch Kranke zu. Hier geht die Schere zwischen der
wachsenden Anzahl an Informationen, Dokumenten, Diagnosen und den sinkenden Kapazitäten, sie
zu verarbeiten, besonders drastisch auseinander (Karagiannis et al., 2007; Mandl, Simons, Crawford,
& Abbett, 2007).
Der Bedarf für die Einführung einer elektronischen persönlichen Gesundheitsakte ist vor diesem
Hintergrund groß. Dennoch ist ihre flächendeckende Implementierung in Deutschland bisher noch
nicht vollzogen. Unser vom BMBF gefördertes Forschungsprojekt INFOPAT verfolgt daher die Absicht,
eine elektronische persönliche Gesundheitsakte erstmalig in Deutschland im Bereich der chronischen
Erkrankungen zu entwickeln und zu implementieren.
Hier knüpft der Beitrag an. Er hat zum einen zum Ziel, bestehende Erfahrungen aus anderen Ländern
auf Basis einer Literaturrecherche zu systematisieren und auf die Entwicklung der persönlichen
Gesundheitsakte in Deutschland zu beziehen. Zum anderen sollen Aufbau und die Struktur einer
solchen Akte im Spiegel der Einstellungen und Erwartungen ihrer Nutzer genauer dargestellt werden.
Methoden
Eine strukturierte Literaturrecherche wurde in Medline, CINHAL und Web of Science (2000 bis April
2013) mit anschließender Literaturanalyse durchgeführt. Folgende Suchbegriffe und deren
Kombinationen wurden eingesetzt, um Literatur zu elektronischen Aktensystemen mit
Patientenbeteiligung zu finden: „personal health record“ / „personal medical record“, „personal
electronic health record“, „shared medical record“, „electronic (health / medical / patient) record“ and
„patient accessible“.
In die Literaturübersicht wurden Artikel zu qualitativen und quantitativen Studien in Englisch und
Deutsch eingeschlossen. Ergänzend dazu wurde eine explorative Internetrecherche durchgeführt, um
Literatur zu elektronischen Aktensystemen im deutschen Gesundheitswesen zu finden. In einem
ersten Schritt erfolgte die Sichtung von Überschriften und Abstracts mit anschließender Auswahl
thematisch relevanter Artikel. In einem zweiten Schritt wurden die ausgewählten Volltexte gesichtet.
Abschließend wurden 27 Artikel für die Literaturübersicht ausgewählt.
Ergebnisse
Der Stand der Forschung zu diesem Thema macht deutlich, dass es bisher keine einheitlichen
Begriffe und Kategorien gibt, die zur Anwendung kommen. Werden die damit verbundenen
Patientenakten in der deutschsprachigen Diskussion oftmals als „Elektronische Gesundheitsakten“
(EGA) und im Englischen als „Personal Health Records“ (PHR) bezeichnet (Arbeitskreis EPA/EFA,
2011), so ist die Terminologie doch sehr heterogen (Heinze, Brandner, & Bergh, 2009; Krist et al.,
2012; Weitzman, Kelemen, Kaci, & Mandl, 2012). Ein wichtiger Schritt wird daher sein, die
verschiedenen Systeme in ihrer konzeptionellen und terminologischen Unterschiedlichkeit zu erfassen
und ihre Gemeinsamkeiten zu analysieren. Grundsätzlich lassen sich hier drei idealtypische Ansätze
aus der Literatur benennen: „Stand-Alone-Systeme“, „Anbindende Systeme“ und „Vernetzte Systeme“
(Kaelber, Jha, Johnston, Middleton, & Bates, 2008; Tang, Ash, Bates, Overhage, & Sands, 2006).
In der Anwendung zeigen sich die vorhandenen elektronischen Gesundheitsinformationssysteme in
Deutschland derzeit zu eng begrenzt. Sie beziehen sich vornehmlich auf die rein elektronische
Erfassung von Patientendaten. Dabei schränken sie den Zugriff auf die verfügbaren Akten auf die
Ärzte sowie auf ausgewählte Vertreter anderer Gesundheitsberufe ein (Arbeitskreis EPA/EFA, 2011;
Haas, 2006; Warda, 2005). International betrachtet erweitert sich das Feld der vorhandenen und
erprobten Systeme. Hier spielen insbesondere Bemühungen eine größere Rolle, Patienten mehr
Verantwortung im Umgang mit ihren persönlichen Gesundheitsinformationen zu ermöglichen.
Bezogen auf die Nutzererwartungen und -erfahrungen zeigt sich bisher sehr deutlich, dass nur eine
Minderheit der Patienten die Einführung einer elektronischen persönlichen Gesundheitsakte ablehnt
(Ross et al., 2005, Barmer, 2011). Auch für Deutschland wird deutlich, dass Stand-Alone-Lösungen für
die Patienten unzureichend sind (Barmer, 2011). Die Bereitschaft von Patienten ihre
Gesundheitsinformationen mit dem familialen Umfeld sowie dem medizinischen Fachpersonal zu
teilen ist groß, solange sie die Zugriffe auf die Inhalte ihrer Gesundheitsakte selbst steuern können
(Weitzman et al., 2012; Zulman et al., 2011). Die Besorgnisse bezüglich des Datenschutzes sind
moderat, und reduzieren sich weiter mit der Schwere und Andauer der Krankheit (Lafky & Horan,
2011, Barmer, 2011). Die Ärzte und Experten der Gesundheitsberufe stehen der Einführung allgemein
eher ambivalent gegenüber (Earnest, Ross, Wittevrongel, Moore, & Lin, 2004), Dies liegt u.a. in der
vermuteten Erhöhung der Arbeitsbelastung sowie der erwarteten Unsicherheiten der Patienten im
Umgang mit solchen Informationen begründet (Earnest et al., 2004; Walker et al., 2011).
Diskussion und Ausblick
Eine flächendeckende Implementierung einer persönlichen Gesundheitsakte ist in Deutschland noch
nicht absehbar. In Teilsegmenten der Medizin, gerade in Bezug auf chronische Erkrankungen, jedoch
notwendig und auch denkbar. Vor dem Hintergrund unserer Literaturauswertung wird klar, dass die
Breite des Datenzugangs sowie die Zuweisung von mehr Eigenverantwortung für die Patienten
wichtige Erfolgsdeterminanten für die Entwicklung und Einführung der persönlichen Gesundheitsakte
sind. Auch die Erleichterung der Arbeit für die Ärzte und Gesundheitsexperten sowie die
patientenkompatible Informationsaufbereitung sind wichtige Faktoren. Welche Systeme mit welchen
Anwendungsformen zum Einsatz kommen, muss sich auch daran entscheiden, wie gut sie diese
Erfolgsfaktoren berücksichtigen können.
Literaturangaben
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Downloads/PDFs__Bilder__Broschueren__und__Downloads/Downloads/Forschung/Abschlussber
icht,property=Data.pdf am 21.04.2014.
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