Über die Praxis der Meditation (Inchagiri Navnath Sampradaya Parampara) (Gespräche auf der Krim, Sudak 24. Juni 2004) Sumiran: Ich möchte ein bisschen von der Praxis des „Sitzens“ (Meditation) erzählen. Wenn ihr sitzt, richtet ihr eure Aufmerksamkeit auf das Gefühl „Ich existiere“. Was heißt das eigentlich, seine Aufmerksamkeit auf dieses Gefühl zu lenken? Ihr seid euch eures Bewusstseins bewusst. Weshalb ist das notwendig? Wir brauchen das, damit das Gefühl „Ich bin“, während des Praktizierens, nicht fließend in ein „Ich bin nicht“ übergeht. Manchmal passiert das ja auch. Jemand der viel Übung hat, wird niemals einschlafen, wie müde er auch sein mag. Ein gewöhnlicher Mensch denkt manchmal, wenn er sich zum Üben hin setzt, warum nicht ein bisschen schlafen. Es gibt nichts zu tun, warum nicht ein bisschen vor sich hin dösen. Die Psyche hat diese Neigung, sie befindet sich nur dann in einem echten Wachzustand, wenn es Stimulatoren gibt: Fernseher, Klänge, Bilder. Wenn es wenige Stimulatoren gibt, ist unser Bewusstsein derartig schwach, dass es aufhört sich seiner selbst bewusst zu sein und langsam einschläft. Das Erste, was ihr lernen sollt, ist präsent zu sein, ohne Stimulation. Es reicht völlig aus das Gefühl zu haben „Ich existiere“ um nicht einzuschlafen. Fixiert bitte eure Aufmerksamkeit auf dieses Gefühl und versucht es nicht zu verlieren – dabei sollt ihr nicht einschlafen. Zweitens: Wenn wir wissen, dass wir existieren, dann beginnen wir normalerweise parallel dazu uns selbst zu bestimmen/definieren – wir wissen also WER wir sind. Neben dem Gefühl „Ich bin“, produzieren wir ständig ein Bild von uns selbst. Unsere erste Aufgabe ist es nun, das Gefühl „Ich existiere“ zu halten, dieses Gefühl nicht zu verlieren. Die zweite Aufgabe ist es, keine Bild von sich selbst zu erzeugen, kein Bild von sich selbst zu haben. Der Geist schafft ein Bild, wir aber zerstören dieses Bild. Wir sagen uns, „Ich bin das nicht“. Warum? Wenn wir „sitzen“, dann sind alle Probleme die in der Psyche entstehen nur möglich, wenn wir „Jemand“ sind. Unsere Rechte, unsere Verpflichtungen, unsere Zukunft sind nicht mit dem Gefühl „Ich bin“ verbunden, sondern mit dem Bild, das wir von uns haben. Ihr solltet das beachten. Wenn ein Bild von uns erscheint, dann kommen mit ihm Zukunft und Vergangenheit, Kränkungen, Erwartungen, Probleme. Wenn es kein Bild gibt, dann ist es egal welche Probleme auch immer kommen mögen, für sie ist niemand zu Hause. Für WEN schaffen sie denn Probleme? Das Bild, das wir von haben, ist die Wurzel, aus der alle übrigen psychologischen Schwierigkeiten entstehen. Diese Schwierigkeiten verlassen sich darauf, dass es „Jemanden“ gibt und bei diesem „Jemand“ können dann psychologische Schwierigkeiten auftauchen. Eure Aufgabe ist es nicht, mit Problemen zu arbeiten, sondern dafür zu sorgen, dass der nicht da ist, bei dem Probleme auftauchen könnten. Wenn es „euch“ nicht gibt, gibt es auch keine Probleme. Als ihr noch nicht geboren ward, hattet ihr da etwa Probleme? Tote haben auch keine Probleme. Worin liegt die Intelligenz von Menschen, die meditieren? Meditierende Menschen haben verstanden, dass man nicht unbedingt sterben muss, um keine Probleme mehr zu haben. Die physischen Probleme sind durchaus überschaubar: Essen und Schlafen, der Körper braucht tatsächlich nicht viel. Ein großer Teil unserer Probleme ist jedoch von psychologischer Natur. Diese Probleme sind keine körperlichen Bedürfnisse, sondern gehören in den Bereich der Erwartungen, Ambitionen, Eifersucht, Ängste. Diese psychologischen Charakteristiken haben ihren Ursprung nicht im Körper, sondern im „psychologischen Bild“, das wir von uns haben, d.h. „Wer bin ich“ und „zu wem muss ich werden.“ Sobald wir also eine Idee von uns selbst schaffen, eine Idee über unser Leben, darüber, wie es sein muss, entsteht eine große Fülle an Spannungen psychologischer Art. Dem zu Grunde liegt diese Idee von uns selbst. In der Praxis des Zen zerstören wir diese Idee von uns. Ich weiß nicht, „wer“ ich bin, ich bin Niemand, das NICHTS. Wenn ich niemand bin, dann brauche ich wohl nicht an die Zukunft zu denken, ich muss keine Pläne schmieden, es kann keine Kränkungen geben. In diesem Zustand sitzt ihr nun da. Das ist ein überaus interessanter Zustand, versucht ihn zu erfühlen. In diesem Zustand seid ihr unantastbar für den Geist. Der Geist ist ja Gedanke. Nur ein Gedanke kann einen Gedanken berühren, euer Bild von euch ist auch ein Gedanke. Warum binden euch Gedanken? Ihr glaubt, diese Gedanken zu sein. Der Computerpirate kann nur einen Computerhelden töten. Gedanken bringen nur den Gedanken Unruhe. Wie aber identifizieren wir uns mit den Gedanken? Ich identifiziere mich mit dem „Ich - Bild“. Ich weiß, dass ich das oder jenes bin. Dementsprechend korrelieren alle anderen Gedanken, die in unser Bewusstsein kommen mit unserem Bild, binden es, und wir beginnen Emotionen mit hinein zu nehmen, es beginnt das Aufrollen unseres gesamten psychologischen Lebens. Weiters sagen wir uns: „Ich werde mich nicht als Gedanken, Bild kreieren“. Wenn dann in euren Köpfen Gedanken entstehen, dann werdet ihr nicht mit ihnen kämpfen müssen, sie kreieren einfach keine Probleme für euch. Für WEN machen sie denn ein Problem? Eure Aufgabe ist es nicht ein Gedanke zu sein, der mit anderen Gedanken kämpft, wie das häufig Leute in der Praxis machen. Sie sitzen und denken: „Ich bewege mich in Richtung Erleuchtung, ich muss alle anderen Gedanken zerstören, besonders die negativen, die angenehmen kann man ja derweil noch zulassen?“. D.h. diese Praktizierenden sind der Gedanke oder die Vorstellung „Wer bin ich denn“, und diese Vorstellung arbeitet mit anderen Vorstellungen. Natürlich besitzen diese Vorstellungen eine bestimmte Kraft, sie beunruhigen die Vorstellung, die mit ihnen arbeitet usw. Im Zazen hat man einen anderen Zugang: Ihr habt einfach keine Vorstellung von euch, deshalb stellen die Gedanken, die in eurem Kopf herumschwirren überhaupt kein Problem dar. Sie kommen und gehen einfach. Sollte das etwa für euch von Bedeutung sein? Ihr SEID, aber ihr seid kein Bild von euch, sondern einfach nur Präsenz oder Gewahrsein. Deshalb bewegt ihr euch in dieses Gefühl des „Ich bin“ in diese Präsenz hinein und lehnt dabei jede auch nur denkbare Bestimmung/Definition eurer selbst als „Jemand“ ab. Das ist alles, was ihr machen müsst, wenn ihr „sitzt“. D.h. das Gefühl „Ich existiere“ nicht zu verlieren ist besonders wichtig, dabei solltet ihr eure ganze Aufmerksamkeit dort hinein legen und euch dabei nicht als „Jemand“ definieren. Ihr bekommt einen bestimmten psychologischen Effekt zu spüren, eigentlich nicht nur psychologisch, Schritt für Schritt wird sich dieser Zustand vertiefen. Diese Praxis nennt man Inchageri Navnath Parampara. Das ist die uralte Praxis, die auf den Rishi Dattatrej zurückgeht. Dieser gilt als Verkörperung von Vishnu, Brahma und Shiva. Es handelt sich um eine Tradition der Konzentration der Aufmerksamkeit und des Einschließens, Fokussierens des Bewusstseins auf sich selbst, d.h. wir schließen unserer Aufmerksamkeit in die Aufmerksamkeit ein, weil die Aufmerksamkeit selbst ja das Gefühl des Existierens ist. Die Wahrnehmung, die nicht Objekte, sondern sich selbst wahrnimmt, ist das Gefühl „Ich existiere“. Das wird durch das Symbol der Schlange verkörpert, die sich selbst am Schwanz beißt. Ebenso hat parallel dazu folgender Schritt zu passieren: Man darf dem Geist nicht erlauben, dass er UNS als irgendein Objekt definiert. Das wäre alles, was man machen muss, mehr ist es nicht. Diese Praxis ist nicht mit irgendeiner Perspektive oder einem Ziel verbunden, es gibt keinen Handelnden, weil man ja unter handeln normalerweise versteht, dass wir etwas machen, hier aber machen wir überhaupt nichts. Wir sind einfach präsent, gewahr und bestimmen uns dabei nicht selbst d.h. wir schaffen nichts dabei. Die Mehrheit der spirituellen Praktiken beruht auf der Idee, dass ihr zu „Jemanden“ werdet, hier aber werdet ihr zu niemandem. Die Idee des „Werdens zu jemandem“ ist eine Idee des Egos, in jedem Fall wird diese früher oder später zu einem Konflikt führen. In dieser Art des Praktizierens jedoch fällt die Idee des Werdens ganz weg, es gibt keine Zeit, ihr seid immer präsent, ihr seid da. Weil ihr euch nicht definiert, müsst ihr euch auch nicht entwickeln. Ganz automatisch fällt dabei ein Konflikt weg: „Vielleicht schaffe ich es ja nicht. Das Leben ist ja so kurz“. Man muss nichts erreichen oder schaffen, wohin sollten wir denn eilen. So können wir uns von der Neurose befreien, irgendwo hineilen zu wollen. Ihr sitzt, Probleme können nicht entstehen, weil diese Probleme niemanden haben, bei dem sie entstehen könnten, entwickeln kann sich demnach auch niemand. Ihr fällt in einen Zustand der Stille, des Friedens und der Liebe. In diesem Zustand gibt es keine Angst. Wovor sollte man sich denn fürchten: das „ich“ ist verschwunden, ist aber gleichzeitig da geblieben. Das ist ein sehr, sehr interessanter Zustand: Ich bin als ein „Jemand“ verschwunden, bleibe aber als das Leben selbst hier. Sucher: Könnte man den Gedanken fortspinnen, dass das dann wie in einer Wohnung wäre, in der nichts ist, keinerlei Attribute. Es gibt die bloßen Wände, und ich bin gleichsam die Leere, die diese Wände hat. Oder, was glaubst du? Die Leere eingrenzen, dass keine Gedanken eindringen, können wir das Nichts festhalten? Sollte man sich mit dieser Umgebung, diesen Mauern umgeben oder ist es besser solche Bilder überhaupt nicht zu haben? Sumiran: Warum sollte man sich mit Mauern umgeben? Wenn man alles aus sich hinausträgt, dann trag bitte auch die Mauern hinaus. Sucher: Aber wer bin dann das „ich“, das ja trotzdem irgendwie existiert. D.h. habe ich etwa mehr Raum als die Wohnung, das Haus? Sumiran: Warum nicht. Wir wollen mehr sein, als der Mensch, dabei aber in den Grenzen unserer Mauern bleiben. Sucher: Sehen Sie, Sie sprechen wieder von diesen Mauern, vielleicht bin ich ja hinter den Mauern … Sumiran: Die Analogie, wenn wir die Wohnung mit den Möbeln nehmen, setzt voraus, dass das Zimmer selbst unser persönliches Bewusstsein ist. Warum das persönliche? Weil es Mauern gibt, die unsere Grenzen bestimmen. Innerhalb des Zimmers gibt es Möbel, das sind unsere Emotionen, Gefühle, Erfahrungen – es ist also etwas, das uns ausfüllt. Weiters folgt der erste Schritt: wir tragen die Möbel aus dem Zimmer. Es bleibt einfach Leere – das reine Bewusstsein, aber es hat noch Mauern, die unsere Persönlichkeit bestimmen, unsere Isoliertheit. Sucher 2: Die Mauern sind also die Persönlichkeit, oder? Sumiran: Seht her, die Möbel sind die Ideen von uns selbst, und die Mauern sind die Idee von der Begrenzung d.h. die Möbel sind innerhalb des Zimmers – das ist eine Idee, die Wand ist auch eine Idee. Nur die Möbel sind die Idee davon, wer ich bin, und die Wände sind die Idee, dass ich begrenzt bin. Das ist auch eine Idee. Es lohnt sich nicht diese zu halten, wir können uns daher nicht ein Zimmer vorstellen, sondern einfach Raum, besser wäre da noch ihn sich nicht nur vorzustellen, sondern zu erleben. Die Realität braucht man sich nicht vorzustellen, wir nehmen einfach das wahr, was ist. Das Gefühl „Ich existiere“ ist keine Vorstellung, ist auch kein Gedanke, wie man ihn gewöhnlich als solchen versteht. Das Gute an diesem Gefühl ist, dass es keine Idee ist. Sagen wir mal so, unsere Bilder, Gedanken sind zweitrangig: Ich will, also denke ich, ich will nicht, dann denke ich nicht usw. Deshalb besitzt das Gefühl „Ich existiere“ eine Eigenschaft, die es der Realität annähert, weil man dieses Gefühl „Ich existiere“ nicht denken muss, dass es da wäre. Wir konzentrieren uns darauf, wir denken nicht, dass es ist, wir erleben es, wir verlieren einfach nur unserer Konzentration von diesem Erleben nicht. Das Bewusstwerden von Bildern in der Meditation ist für jene Menschen notwendig, die es nicht schaffen sofort ihre Konzentration auf dem Gefühl „Ich existiere“ zu halten. Dieser Zugang macht die Psyche des Menschen gefestigter und reifer, sodass er in Folge sich auf das Gefühl „Ich existiere“ konzentrieren kann. Dann kann er es auch schaffen seine Konzentration ohne die Hilfe eines Bildes zu halten. Viele Leute haben einen derart schwachen Körper und Psyche, dass sie, sobald sie beginnen sich auf dieses Gefühl zu konzentrieren, beginnen, entweder einzuschlafen oder sie fangen an irgendwelchen Gedanken nachzuhängen. Dann kann man ihnen durchaus behelfsmäßig Bilder geben. Früher oder später muss man diese jedoch aufgeben. Ich schlage euch vor, diese Krücken mit einem Schlag in diesem Moment jetzt einfach abzuwerfen.