Vorlesung: Bezugnahme im Denken und Sprechen Martine Nida-Rümelin Frühling 2008 Handout 10 Thema (Fortsetzung): Selbstbezugnahme 1. Einstellungen de se Beispiele: Mach's Beispiel des schlecht gekleideten Pädagogen Kaplan's Beispiel des Mannes mit den brennenden Hosen Perry's Beispiel des Mannes mit dem Zuckersack im Einkaufwagen Frege's Beispiel der Person mit Gedächtnisverlust bei der Lektüre seiner eigenen Biographie Thesen: T1: De-se-Einstellungen sind nicht einfach de-re- Einstellungen in Bezug auf sich selbst. Gegenbeispiele: siehe oben. Erläuterung (ziemlich vage/ keine theoretisch zufriedenstellende Definition): Eine de-re-Einstellung in Bezug auf X ist eine Einstellung, in welcher X das Objekt der Einstellung ist, wobei das Objekt dem epistemischen Subjekt durch direkten oder indirekten Kontakt bekannt ist. T2: De-se-Einstellûngen sind nicht einfach de-dicto-Einstellungen in Bezug auf sich selbst. Erläuterung (ziemlich vage/ keine theoretisch zufriedenstellende Definition): Eine de-dicto-Einstellung ist eine Einstellung, in welcher das Objekt der Einstellung dem epistemischen Subjekt nur unter einer Beschreibung gegeben ist, wobei eventuell nie direkter oder indirekter Kontakt bestand zwischen dem epistemischen Subjekt und dem fraglichen Objekt. Gegenbeispiele: siehe oben. In keinem der Fälle ist es erforderlich, dass die Person mittels einer sie auszeichnenden Beschreibung auf sich selbst Bezug nimmt. T3: Der mit dem Wort "ich" verbundene Begriff ist nicht deskriptiv. Erläuterung Die folgende These ist falsch: Wenn eine Person mittels "ich" auf sich selbst Bezug nimmt, so verfügt sie über eine Kennzeichnung von sich selbst und nimmt 'unter dieser Kennzeichnung' auf sich Bezug. Ihr Gedanke "Ich habe die Eigenschaft F" ist demnach für eine geeignete Beschreibung B durch "das einzige Individuum mit der Eigenschaft B hat F" zu ersetzen. Mögliche Gegenthesen gegen T3: Gegenthese 1 (These des reflexiven Inhalts): Die These T3 stimmt nur, wenn man sie wie folgt präzisiert: Man kann "Ich habe F" durch keinen Statz der Gestalt "Das einzige Individuum mit der Eigenschaft B hat F" ersetzen, sofern B eine Beschreibung ist, in der keine reflexiven Ausdrücke vorkommen. Dabei sind reflexive Ausdrücke solche, deren Inhalt auf sich selbst Bezug nimmt. Beispiel eines Vorschlags einer Paraphrase von "Ich habe die Eigenschaft B": "Der Sprecher dieses Gedankens hat die Eigenschaft B". Gegenthese 2 (These der Haecceitas): Jede Person hat eine essentielle Eigenschaft, zu der nur sie Zugang hat und die nur ihr bekannt ist. Ist H diese Eigenschaft einer gegebenen Person, so ist der Gedanke "Ich habe die Eigenschaft E" bei dieser Person durch "Das einzige X mit H hat die Eigenschaft E" zu paraphrasieren. 2. Versuche einer Analyse von Ichgedanken, die scheitern (vgl. inbesondere Chisholm, 1981, Kapitel 2) Versuch 1 (Ich-Gedanken als de-re-Gedanken): P denkt "Ich habe F" bedeutet: P denkt in Bezug auf sich selbst, dass er F hat. Versuch 2 P denkt "Ich habe F" bedeutet: P denkt, dass er F hat. Einwand: Damit dieser Versuch akzeptabel ist, genügt es nicht, dass sich "er" auf P bezieht. Man muss ein spezielles rückbezügliches "er*" (vgl. Veröffentlichungen von Hector-Neri Castaneda) einführen, welches gerade darüber erläutert wird, dass der zugeschriebene Gedanke ein Ich-Gedanke ist. Versuch 3: Jeder verfügt über eine nicht-reflexive Beschreibung B seiner selbst, sodass sein Gedanke "Ich habe F" durch "Das einzige Individuum mit B hat F" paraphrasiert werden kann. Versuch 4: P denkt "Ich habe F" bedeutet: Es gibt ein X, von dem P glaubt, dass es F ist und P glaubt, dass er X ist. Einwand: Regress. Versuch 5: P denkt "Ich habe F" bedeutet: Es gibt ein X, von dem P glaubt, dass es F ist und X weiss, dass er X ist. Einwand: Regress. 3. Beispiel eines Fehlschusses (Beispiel dafür, wie begriffliche oder auch nur semantische Besonderheiten des Wörtchens "ich" zu nicht gerechtfertigten ontologischen Behauptungen führen können) (1) "Ich existiere jetzt" ist unter allen denkbaren Umständen wahr. (2) Wenn ein Satz unter allen denkbaren Umständen wahr ist, so ist er notwendigerweise wahr. (3) "Ich existiere jetzt" ist notwendigerweise wahr. (Aus (1) und (2)). (4) Ich existiere notwendigerweise. Aber (4) stimmt leider nicht. Was ist schiefgegangen? Antwort: Der Sinn von "unter allen Umständen wahr", der in (1) gemeint sein muss (damit (1) wahr ist), ist ein anderer als der Sinn von "unter allen Umständen wahr", der in (2) gemeint sein muss. Daher kann man nicht von (1) und (2) auf (3) schliessen. Erläuterung dieser Antwort: (1) muss so gelesen werden: (1') Unter allen Umständen, in denen eine Person sagt "Ich existiere jetzt", ist das, was sie unter diesen Umständen mit diesem Satz ausdrückt, in der realen Welt (aber keineswegs in jeder kontrafaktischen Welt) wahr. (2) muss so gelesen werden: (2') Wenn das, was ein gegebener Satz (in einem bestimmten Kontext) ausdrückt, unter allen kontrafaktischen Umständen wahr ist, dann ist das, was er in diesem Kontext ausdrückt notwendigerweise wahr. Aus (1') und (2') folgt aber nicht (3). Zwischenbemerkung: Diese Lösung kann im Rahmen der zweidimensionalen Semantik von David Kaplan präzisiert werden. Kaplan führt eine Interpretationsfunktion I ein, die für einen Ausdruck A Paaren von Kontexten k (Situationen, in denen ein Satz geäussert wird) und möglichen Welten w ("worlds of evaluation") eine Extension (Individuum, Menge von Dingen oder Tupen von Dingen, Wahrheitswerte) zuordnet. Ferner ist wk die Welt des Kontextes, d.h. die Welt, in der der Sprecher spricht. Ist A der Ausdruck "Ich existiere jetzt" so gilt: Für alle Kontexte k ist IA (k, wk) = wahr. (Das heisst in der Terminologie von Kaplan: Der Satz ist a priori wahr). Dagegen gilt für keinen Kontext k: Für alle möglichen Welten w ist IA (k, w) = wahr. (Das heisst in der Terminologie von Kaplan: Der Satz - bzw. das was er ausdrückt - ist in keinem Kontext notwendig wahr.) 4. Eine Trivialisierung des mysteriösen Ich-Begriffs Vorschlag: Ein Denker verfügt genau dann über einen Ich-Begriff, wenn er die semantische Regel vestanden hat, welche für jede Verwendung des Wortes "ich" den Bezug von "ich" festlegt. Die semantische Regel lautet: "Ich" bezieht sich immer auf denjenigen der spricht (bzw. denkt). Einwände: Es erscheint klar (und durch gewisse empirischen Experimente gestützt), dass Kinder über einen Ich-Begriff verfügen bevor sie diese Regel verstanden haben. Eine ganze Reihe von Merkwürdigkeiten unseres Denkens bleiben bei diesem Vorschlag unerklärt. 5. Intuitive Erläuterungen einiger Merkwürdigkeiten des Ich-Begriffs, die gegen obige Trivialisierung sprechen (a) Ich-Gedanken im kontrafaktischen Denken (beim Reflektieren über andere mögliche Umstände) Beispiel: Angenommen die Befruchtung der Eizelle, aus der ich entstanden bin hat im Februar des Jahres X stattgefunden. W1: eine Welt, in welcher meine Eltern im Januar des Jahres X ein Kind mit den genetischen Anlagen A gezeugt haben und in der gilt: ich bin dieses Kind. Seien S und E die Samenzelle und die Eizelle, aus der das Kind entsteht. W2: eine Welt, in welcher meine Eltern im Januar des Jahres X ein Kind mit den genetischen Anlagen A gezeugt haben und in der gilt: ich bin dieses Kind nicht. Seien S und E die Samenzelle und die Eizelle, aus der das Kind entsteht. Behauptung: Wir haben (wenn wir den Fall in Bezug auf uns selbst betrachten) ein positives, klares Verständnis des Unterschieds zwischen W1 und W2. Merkwürdigkeit: es besteht aber kein rein deskriptiver Unterschied zwischen W1 und W2. Zusatzbemerkung: Falls zwischen W1 und W2 ein dennoch ein echter Unterschied besteht (d.h. wir erfassen einen echten Unterschied zwischen W1 und W2), so ist das Referenzobjekt von "ich" ein Individuum, dessen Identität über kein deskriptives Merkmal erfasst werden kann. (b) Ich-Gedanken im transtemporalen Denken Beispiel der symmetrischen 'Teilung' einer Person P in zwei Nachfolger N1 und N2 (etwa Teilung des Gehirns und Transplantation beider Hälften in zwei lebende Körper). Sei E die vollständige Beschreibung aller empirischen Fakten, welche das Verhältnis zwischen N1 und P und N2 und P betreffen. M1: E und der Gedanke der Person (vor der Teilung) "Ich werde N1 sein" trifft zu. M2: E und der Gedanke der Person (vor der Teilung) "Ich werde N2 sein" trifft zu. Behauptung: Wir haben ein positives, klares Verständnis des Unterschieds zwischen M1 und M2. 6. Ich-Bezugnahme als Bezugnahme ohne Identifikation (vgl. insbesondere Shoemaker, 1968) Thesen von Shoemaker: T5: "Ich" ist ein bezugnehmender Ausdruck. Mittels "Ich habe F" werden Propositionen ausgedrückt, die wahr und falsch sein können. Was die Person P mittels "Ich habe F" zu t ausdrückt ist genau unter den gleichen Bedingungen wahr, unter denen "P hat zu t die Eigenschaft F" wahr ist. Gegenthese (vgl. Wittgenstein/ Anscombe): In zentralen Verwendungen des Wortes "Ich" (Verwendungen von "ich" als Subjekt) hat "ich" keinen Bezug und der Satz "Ich habe F" drückt keine Proposition aus. In diesen Verwendungen wir der Satz "Ich habe F" ganz anders verwendet. Wittgenstein: "Ich habe Schmerzen" hat den status von "Au!". Den Satz zu äussern ist Teil des Schmerzverhaltens. Wittgeinsteinianer: "avouals" (bestimme Aussagen in der ersten Person) sind Ausdruck eines Zustands ohne Selbstzuschreibungen zu sein. (Vgl. für eine neue Version Dorit Bar-On, Speaking my Mind, 2006 (?)). Wittgensteins Unterscheidung zwischen Verwendungen von "ich" als Subjekt und von "ich" als Objekt. vgl Shoemaker, 1968, 556. Shoemakers Analyse: Wittgensteins Irrtum kommt dadurch zustande, dass Verwendungen von "ich" als Subjekt keine Identifikation involvieren. Erläuterung: Das Urteil "A hat F" involviert eine Identifikation, sofern gilt: Das Urteil der Person beruht darauf, dass sie urteilt in Bezug auf ein X (a) X hat F und (b) X ist A. T6 (Shoemaker): Zentrale Verwendungen von "ich" involvieren keine Identifikation. (Daher sind sie immun gegenüber Irrtümern gegen Fehlidentifikation, vgl. handout 9). Argument für T6: die gegenteilige Annahme führt in einen unendlichen Regress. Vgl. 561.