Der Eingeweihte

Werbung
Der Eingeweihte
„Kann ich mich mit einem Eingeweihten auch unterhalten?“, bin ich einmal gefragt worden.
Zögernd und nachdenkend, antwortete ich: „Tja …., unterhalten kannst Du Dich schon mit
ihm - wenn Du nicht eine Unterhaltung zum bloßen ,Plausch‘ und Zeitvertreib im Sinn hast.“
Er verstand.
Rudolf Steiner nannte dies: „Das richtige Wort“. Nur bedeutsames sollte von den Lippen
eines Geistschülers kommen; um so mehr gilt dies für einen spirituellen Lehrer, der diese
Seelenforderung verinnerlicht hat.
Aber ich beginne meine Geschichte am besten ganz von vorn.
Ich weis es noch genau: Ich hatte gerade meinen zweiten Yogakurs an der Volkshochschule
beendet und dieser – Fortgeschrittenenkurs – hinterlies bei mir doch ein sehr
unbefriedigendes Gefühl: Die Yogastellungen, auch „Asanas“ genannt, waren nicht
wesentlich verschieden und anspruchsvoller gewesen als die des Anfängerkurses. Zu den
Übungen selbst, wurde auch kaum etwas gesagt oder erklärt; nur einen Satz hörte man
immer wieder: „Sobald es piekst – Obacht! Dann ist größte Vorsicht geboten.“ Viele
Teilnehmer des Kurses – in überwiegender Zahl Frauen – waren auch Stammgäste, die wohl
bald jedes Semester diesen Fortgeschrittenenkurs belegten. Die ersten fünfzehn Minuten
des Unterrichts vergingen nun meist so, daß sich einige „reifere Damen“ erstmal über das
austauschten, was sie die ganze Woche erlebt hatten. Während der Übungen wurde im
Flüsterton getuschelt und in den Pausen, zwischen den Übungen, auch etwas lauter: Ich
empfand das als sehr störend, kam ich doch in erster Linie wegen des Yogas‘.
,Das war mir alles zu lasch‘, war mein Fazit nach diesem Kurs.
Und: ,Ich möchte endlich mal jemand kennenlernen, der Yoga wirklich lebt! Nicht jemand,
der nur einmal in der Woche einen Yogakurs – oder eher einen Gymnastikkurs –
unterrichtet, um dann ungerührt wieder seinem täglichen Treiben nachzugehen – sondern
einen wirklichen Weisen und Yogi.‘
Es heißt: Wenn man einen spirituellen Lehrer wirklich sucht, dann wird man ihm auch
begegnen. In dieser Zeit war es nun so, daß ich eines Abends‘ meinen Freund Wolfgang
besuchte. Wie das so ist, tauschten wir anfänglich all die Neuigkeiten aus, die jeder seit der
letzten Begegnung erlebt hatte – bis Wolfgang an ein Regal ging, ein Buch herauszog und es
mir zeigte: Es war ein Yoga-Buch in einer Paperback-Ausgabe. Die Fotos‘ darin waren
schwarz-weiß, aber die dargestellten Yogastellungen wurden sehr ästhetisch ausgeführt;
auch die Erklärungen zu den Übungen waren sehr klar und verständlich formuliert. Am
Schluß wurde auch noch auf die Themen Ernährung und Meditation eingegangen.
„Das habe ich mir vor kurzem gekauft. Bemerkenswerterweise ist der Autor mal kein Inder,
sondern kommt hier bei uns aus Bayern. Er bietet sogar Seminare an! Für eines habe ich
mich angemeldet.“
Ein bayerischer Yogi! Das klang interessant. Dazu noch ein Seminar in schöner Natur oder
Umgebung: ,Das wäre auch etwas für mich‘, dachte ich.
„Dann bin ich mal gespannt, wenn Du zurückkommst – was Du von diesem Seminar zu
erzählen hast“, antwortete ich meinem Freund.
Einige Wochen oder Monate später trafen wir uns wieder – diesmal bei mir. Als während des
Abends das Gespräch auf das Seminar fiel, begannen Wolfgangs‘ Augen zu leuchten: „Es war
toll gewesen. Eigentlich alles! Das Essen – natürlich vegetarisch – war sehr schmackhaft und
sehr nahrhaft gewesen…; als Basis Getreide, dazu immer Salat, Süppchen, verschiedene
Soßen; Pizza gab es auch mal und Teigtaschen. Mehrmals hörten wir jeden Tag kleinere
Vorträge – aber es ist schwierig, wenn ich Dir jetzt wiedergeben sollte, was nochmal die
Inhalte der Vorträge gewesen sind. Einmal bin ich gefragt worden, aus was der Mensch
bestehe: Aus Licht wäre die richtige Antwort gewesen. Ich bin auch noch nie einem Mann
begegnet, der solche schmalen Hüften hatte.“
Damit meinte mein Freund, Heinz Grill – den Autor des Yogabuches, für dessen Seminar er
sich angemeldet hatte.
„Nach dem Seminar war ich auch noch wochenlang voller Energie! Bei der Arbeit konnte
passieren, was wollte – es hat mir eigentlich nichts ausgemacht oder mich in irgend einer
Weise aus der Ruhe gebracht.“
Das hörte ich später noch öfter: Das Menschen oder Schüler von dieser „Energie“ sprachen,
wenn sie gerade ein Kurs oder ein Seminar von Heinz Grill besucht hatten. Ich habe das bei
mir nicht bemerken können – obwohl ich angestrengt in mich hinein horchte und nach
einem Seminar immer drauf wartete, daß sich diese „Energie“ endlich auch mal bei mir
zeigen möge. Was ich bemerkte, war eine größere seelische Reinheit; auch ein größerer
Wunsch und eine größere Intensität zum Geistigen hin.
„So alle halbes Jahr werde ich jetzt ein Seminar buchen.“ Auch ich beschloß nun – durch
Wolfgangs‘ Beschreibung neugierig geworden – mich einmal für einen Grundlagenkurs
anzumelden. Die frühe Herbstzeit empfand ich für den Termin günstig: Die Hitze des
Sommers war vorüber – was für das Yoga üben doch ganz angenehm war -, die Natur hatte
ihr goldenes Kleid angelegt, und mit den kürzer werdenden Tagen wurde man langsam
innerlich wieder stiller und aufnahmebereiter für geistige Impressionen.
Einen Tag vor Seminarbeginn trat ich schon die Anreise an: Um so gegen alle möglichen und
unmöglichen Eventualitäten und Pannen, die unterwegs auf der Fahrt auftreten konnten,
gewappnet zu sein und reagieren zu können – um mit Sicherheit rechtzeitig am Seminarort,
in Kirchreit bei Wasserburg a. Inn, einzutreffen. ,Mit meiner 250-er Yamaha wird es auch
keine Spazierfahrt werden: Der Tank ist so klein, daß ich jede Autobahn-Tankstelle werde
anfahren müssen - sonst könnte es sein, daß ich die übernächste nicht mehr erreiche. Dazu
fährt die Maschine ja auch nicht viel schneller als Hundert.‘ Immerhin waren es von mir
bestimmt sicherlich 350 Kilometer. Gepäck konnte ich in einer kleinen Tasche nur das
nötigste mitnehmen; in der Hauptsache eine Yogadecke und fürs‘ Üben bequeme Kleidung.
Abends in der Dämmerung, traf ich bei Wasserburg ein – ohne Panne. Da ich nicht im
Dunkeln nach einer Übernachtungsmöglichkeit suchen wollte, blieb keine Zeit mehr, nach
einer schönen Pension Ausschau zu halten. In einem Dorf nahm ich mir in einem Gasthof,
das an der Hauptstraße lag, ein Zimmer. Leider lag mein Zimmer auch zur Hauptstraße hin
und der Schreiner des Bettes hatte Normalmaßen gegenüber wohl eine Abneigung: In
embryonaler Stellung versuchte ich so, die Nacht einigermaßen hinter mich zu bringen. Am
nächsten Tag hatte ich noch genügend Zeit; erst um 18 Uhr sollte der Grundlagenkurs
beginnen. So fuhr ich nach Wasserburg. Nachmittags bestellte ich mir in einem Cafe noch
mal ein großes Stück Torte – vorrausahnend, daß dies in den nächsten Tagen wahrscheinlich
weniger Teil des Speiseplans sein würde. Dabei kamen mir im Cafe noch mal Zweifel: ,Soll ich
jetzt wirklich den Kurs besuchen? Über mehrere Tage sich auf völlig fremde Menschen
einstellen; bei allem – der Meditation, den Mahlzeiten, den Vorträgen,…- immer muß ich
pünktlich sein, und auch der Yoga wird mit Sicherheit anspruchsvoller als meine
Volkshochschulkurse werden. Aber jetzt einfach wieder zurückfahren? Die ganze Hinfahrt
und die ganze Nacht im Gasthof umsonst? Außerdem: Was würde Wolfgang sagen?´ Ihm
hatte ich natürlich von meiner Anmeldung für diesen Kurs erzählt.
,Nein, das kommt nicht in Frage‘, und so brach ich nach Kirchreit auf.
In einem Bauernhaus im ersten Stock waren die Seminarräume. Die Begrüßung war kurz. In
der Küche waren die Yogalehrer – die engsten Schüler Heinz Grills‘ – gerade eifrig dabei, die
Abendmahlzeit vorzubereiten; immerhin hatten sich bestimmt bald dreißig Teilnehmer für
den Kurs angemeldet. Wolfgang erzählte mir später, daß Heinz Grill anfangs noch alles selbst
gemacht hätte: Daß Kochen, die Organisation, die Yoga-Stunden,….. Irgendwann wurde das
natürlich zu viel. Es wurde auch der Würde eines spirituellen Lehrers nicht gerecht, wenn er
auch noch beim Geschirrspülen und Abtrocknen mit Hand anlegte. In Indien hatte man für so
etwas schon immer ein feines Gespür: In Videos‘ über Babaji - einem jungen Yogi, der in den
siebzigern und anfangs der achtziger Jahre im Himalaya auftrat – ist zu sehen, wie er zu
Vorträgen und Begegnungen mit der Bevölkerung in einem Mercedes gefahren wurde.
Babaji fuhr nicht selbst, sondern wurde von einem seiner Schüler „chauffiert“. Das alles und
der Mercedes waren Zeichen der Ehrerbietung, die man einem geweihten oder heiligen
Menschen entgegenbrachte.
Am Abend stand zunächst unter Anleitung einer Yogalehrerin Yogaunterricht auf dem Plan.
Danach, zur Abendmahlzeit, gab es warme Teigtaschen – mit Apfelstücken, Nüssen und
Rosinen gefüllt -, die nach mehr schmeckten; dazu wurde ein Feigensoße gereicht. Feigen
mochte ich bis dahin gar nicht, aber an diesen Tagen mundete doch alles köstlich. Nach dem
Abendessen sollten wir alle noch mal im großen Seminarraum des Bauernhauses‘
zusammenkommen, um das erste Mal Heinz Grill zu begegnen. In dem getäfelten Raum, der
viele kleine Fenster besaß, hingen an den Wänden Bilder von Raffael, dem italienischen
Renaissance-Maler; eines zeigte die „Sixtinische Madonna“; ein anderes den Kampf des
Erzengels Michael mit dem „Drachen“. Die Kopfseite des Raumes war dadurch erkennbar,
daß man dort in die Mitte einen kleinen Tisch wie einen Altar aufgestellt hatte; nicht
bombastisch oder kitschig geschmückt, sondern recht hübsch mit ein paar Kerzen, Rosen
und Lilien. Zwei Palmen an jeder Seite umrahmten dieses Bild noch.
Die Gespräche flauten ab und es trat Stille ein. Eine Spannung war jetzt unleugbar zu
bemerken. Mit leichten federnden Schritten betrat nun Heinz Grill den Raum und setzte sich
im Lotussitz vor den kleinen Altar. Als er eintrat, sah ich um ihn ein goldenes Licht.
Unwillkürlich dachte ich: ,Haben die anderen das auch gesehen?‘ Schnell beschloß ich aber,
nicht darüber zu sprechen - um keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen oder unnötige
Unruhe in unsere Gruppe von Teilnehmern hineinzutragen. Was hätte man auch dazu sagen
sollen? „Ja,….wirklich? oder „Ach,… wie schön.“ Da hielt ich es doch für besser zu schweigen.
Heinz Grill begrüßte uns. Er gab uns eine kleine Erläuterung und wies uns darauf hin, daß
neben der täglichen oder regelmäßigen Yoga-Praxis, die mentale Auseinandersetzung mit
den Asanas ebenso wichtig sei: Also, daß Lesen der Texte zu den Yogastellungen als auch das
aufmerksame Betrachten des Bildes einer Asana. Beim Üben selbst, sollten wir nicht
krampfhaft oder mit Muskelkraft versuchen, noch weiter in eine Stellung hineinzugelangen,
sondern der Übende sollte zu einer Ruhe und Beobachtung gelangen. Mit der Beobachtung
und ruhigen Betrachtung der eigenen Gedanken und Spannungen, die bei der Ausführung
einer Asana auftreten, lösen sich diese und der Körper des Übenden bewegt sich – quasi von
allein – tiefer in eine Stellung. Heinz Grill demonstrierte uns das gleich einmal, in dem er am
Boden die Kopf-Knie-Stellung ausführte: Er ging weit nach vorne in die Stellung – so weit es
eben ging – und verharrte dann; nach einem Moment konnte man bemerken, wie ein Ruck
durch sein Körper ging, und er sich noch ein Stück weiter nach vorne bewegte – ohne daß er
dafür seine Arme zu Hilfe genommen hatte.
Wenn Heinz Grill eine Asana vorführte - selbst der schwierigsten – sah dies immer
geschmeidig, souverän und scheinbar mühelos aus – als ob er genau wußte, wie die
Widerstände des Körpers zu überwinden seien. Manche Male hatte ich noch Gelegenheit,
dies beobachten zu dürfen. Als Kind, Jugendlicher und Heranwachsender war er
leidenschaftlich dem Klettern und Bergsteigen zugetan. Schon hier zeigte sich die
außergewöhnliche motorische Begabung. Das Erlebnis am Berg und in der Natur waren ihm
aber immer wichtiger als den Weg der Sportkletterei zu gehen. Heinz Grill wurde schon sehr
früh ein in Fachkreisen bekannter und bewunderter Bergsteiger. Bei einer kleinen Recherche
im Internet fand ich einen Hinweis, der dies eindrucksvoll verdeutlicht: Der Wasserburger
Alpenverein beschloß in den siebziger Jahren, fortan jährlich eines seiner Mitglieder für
vorbildliche alpine Leistungen mit dem „Goldenen Karabiner“ zu prämieren. Ihr erster
Preisträger 1977 war: Heinz Grill. Damals gerade mal siebzehn Jahre alt.
Nach dem Zivildienst und der Arbeit mit Behinderten absolvierte Heinz Grill eine
Heilpraktiker- und eine Yogalehrerausbildung. Für seine Yogalehrerausbildung reiste er nach
Kanada, wo Devananda – ein direkter Schüler Sivanandas‘ – sein Lehrer gewesen ist.
Mehrere Male hatte er zu dieser Zeit schon Indien bereist. Die Yogalehrerprüfung bestand er
ohne Mühe. Als Bergsteiger hatte Heinz Grill schon viele Grenzsituationen erlebt; die
Indienreisen brachten aber noch mal eine Steigerung seiner spirituellen Erfahrungen.
Während einer Reise zum Trasimenischen See in Umbrien – offenbarte Heinz Grill später
einmal bei einem Vortrag – habe er schließlich das Gnadengeschenk der Erleuchtung
empfangen.
Besonders eindrucksvoll war, wenn Heinz Grill in Sanskrit ein indisches Mantra rezitierte.
Ohne Zögern oder Stocken und in der richtigen Betonung sprach er zu uns in dieser
geheimnisvollen altindischen Sakralsprache der Rishis (Seher) und Yogis – als ob dies schon
immer seine Muttersprache gewesen wäre. Wir sollten ihm dann ganz genau zuhören. Es
war kein Zweifel: Hier war nicht jemand, der nur aus dem Intellekt sprach oder sich bloß
etwas angelesen hatte – bei Heinz Grill mußte es noch eine höhere Quelle geben.
Was der Inhalt oder die genaue Bedeutung dieser Mantren und Verse war, wußte ich nicht –
aber eins wußte ich: ,Zumindest ein Mantra will ich unbedingt auch einmal lernen.‘ Ein
Mantra wurde als Einstimmung und als Ausklang immer wieder bei unserem Yogaunterricht
vorgetragen. „Asato Ma Sat Gamaya“ heißt es und ist aus den Veden. Es gefiel mir und ist
auch nicht schwer zu erlernen, und so konnte ich es bald auswendig:
„Asato Ma Sat Gamaya,
Tamaso Ma Jyotir Gamaya,
Mrityor Ma Amritam Gamaya.“
„Vom Nichtsein führe mich zum Sein,
Vom Dunkel führe mich ins Licht,
Vom Tod führe mich in die Unsterblichkeit.“
Nach der ersten Begegnung mit Heinz Grill wurde uns abends noch unsere Quartiere gezeigt.
Mit zwei Frauen war ich in einem Privathaus untergebracht. Schlafen konnte ich in dieser
Nacht nur sehr wenig: Ich bemerkte, wie mein Atem ganz ruhig war, mein Herz aber die
ganze Zeit über schneller schlug - als ob ein kleines Männchen darin herumsprang und sich
freute über das, was während des Tages passiert war. Etwas besonderes mußte geschehen
sein.
Mehrmals sprach Heinz Grill in diesen Tagen in Kirchreit davon, daß wir nicht mehr die
gleichen wären, wenn wir wieder nach Hause führen. Was er damit meinte, verstand ich
damals aber nicht wirklich. Später stieß ich in einem Buch auf eine Stelle, die eine mögliche
Erklärung sein könnte. Dort, wo ein Eingeweihter auftritt, so Heinz Grill, wirke auch die Kraft
des Heiligen Geistes. Ein Mensch oder eine Seele, die mit einer solchen Kraft eines
Eingeweihten „in Berührung“ käme, würde auf den Weg des Dienens geführt. So mancher
Mensch und manche Seele ist ja müde, weiter nach Erfolg, Besitz und Anerkennung zu
streben und braucht das nicht mehr. Sie wären bereit und reif für einen neuen Weg. Für
andere gilt dies noch nicht – die noch ein starkes Selbstbewußtsein brauchen und noch nach
Erfolg und Ansehen verlangen. Für sie käme eine Begegnung mit einem Eingeweihten und
dem Impuls und der Kraft des Heiligen Geistes zu früh. Vielleicht ist das der Grund, warum in
unserer heutigen Zeit Eingeweihte und heilige Menschen kaum in Erscheinung treten:
Würden sie in die Öffentlichkeit und „raus in die Welt gehen“, würden sie auf viele
Menschen und Seelen eher zerstörerisch als förderlich wirken.
Die Stimmung während dieser Kurstage hatte etwas mystisches. Einen nicht geringen Anteil
daran, hatte auch Kirchreit – das schon ein merkwürdiges Dorf war. Eigentlich ein Dörflein
mit nur ein paar Häusern und – wie der Name schon sagte – im Mittelpunkt eine Kirche.
Obwohl die Häuser eindeutig bewohnt waren, einen schönen Anstrich, Gardinen und
gepflegte Beete besaßen, sah ich in der ganzen Zeit – immerhin mehrere Tage – nicht einen
Menschen: Keine Erwachsenen, kein Kind, kein Hund, der bellte, keine Katze und kein
fahrendes Auto. Eine Szenerie wie aus einem Kafka-Buch. Einzige Ausnahme bildete die
Familie des Bauernhofes, in dem die Seminarräume waren; er oder sie sah ich manchmal
beim Arbeiten. In der Ferne sah man auf einer Schnellstraße auch mal ein Auto vorbei fahren
– aber sonst? In meinem Quartier war schon alles gestellt gewesen: Frische Handtücher
lagen bereit, das Bett natürlich auch frisch bezogen – meine Gastgeber, die mir
freundlicherweise ein Zimmer überlassen hatten, sah oder hörte ich aber auch nicht einmal.
Ein Geisterdorf, so schien es. Das stündliche Schlagen der Kirchturmglocken verstärkte
diesen Eindruck nur noch: Es klang wie das Läuten von Totenglocken zu einem Begräbnis.
Man schien wie aus der Zeit gefallen - in ein Paralleluniversum versetzt. Fernsehen gab es
natürlich auch nicht. Was in der Welt geschah, bekam man fast nicht mit. Es interessierte
aber auch keinen. In meinem Zimmer hatte ich ein kleines Radio. Einmal, am vorletzten Tag,
schaltete ich es kurz ein – aber auch nur, um zu wissen, wie das Wetter bei meiner
Motorradrückfahrt sein würde.
Am Sonntagmittag ging der Grundlagenkurs zu Ende. In fast idealer Weise war er
harmonisch verlaufen. Vor dem Eingang des Bauernhauses verabschiedete sich Heinz Grill
noch mal von jedem Teilnehmer persönlich. Mich fragte er noch nach meinem Namen.
Ein Jahr später, wieder zur Herbstzeit, meldete ich mich für ein Seminar an. Diesmal mit
Wolfgang zusammen. Das Thema des Seminars‘ lautete: Raffael, der Maler der italienischen
Renaissance. Ich hatte einen persönlichen Bezug zu diesem Thema, da mich mit diesem
Maler ein spirituelles Erlebnis verband.
Es war zwei Jahre zuvor, im Sommer 1990 gewesen. Die DDR gab es offiziell noch, aber die
Währungsunion bestand bereits – was das Reisen und Fahren nach „drüben“ wesentlich
einfacher machte. Ich war Student und es waren gerade Semesterferien, und ich beschloß,
bei meiner Großmutter in der Nähe von Kassel zu übernachten, um von dort mit meiner
Yamaha Tagesausflüge in den „wilden Osten“ zu unternehmen. Zunächst kürzere Touren
nach Eisenach und Weimar. In Weimar ist immer noch spürbar, daß es ehemals ein
spirituelles Hochzentrum Europas‘ gewesen ist. Dann wurde ich mutiger und fuhr in das
vierhundert Kilometer entfernt gelegene Dresden – dem schönen „Elbflorenz“ mit seiner
herrlichen Altstadt und seinen Barockbauten von Zwinger, Semper Oper und Elbterrassen.
Dort, in der Altstadt, befindet sich auch eine große Gemäldegalerie mit den Bildern vieler
bekannter und berühmter Meister – auch einer umfangreichen Sammlung der Werke von
Caspar David Friedrich, dem Romantiker. In erster Linie wegen dieses Malers‘ ging ich also in
die Galerie. Als ich mir seine Bilder angeschaut hatte, schlenderte ich – mehr oder weniger
interessiert – noch durch die weiteren Ausstellungsräume. In einem großen Saal hing nun die
„Sixtinische Madonna“ von Raffael. Ich hatte von diesem Gemälde und Raffael bis dahin
noch nichts gehört – so schaute ich nur kurz auf das Bild, beachtete es aber nicht weiter und
ging in die nächsten Räume. Wenige Tage später, bei einem Ausflug nach Berlin, in Potsdam,
im Park Sanssouci, in einem preußisch-königlichen Schloß, sah ich nun – nur als kleiner
Kupferstich und in schwarz-weiß – die „Sixtinische Madonna“ wieder und war berührt. Am
liebsten wäre ich sofort wieder nach Dresden zurückgefahren. Ich schalte mich einen Trottel
und Banausen, daß ich dieses Bild so unbeachtet ließ und von Raffael noch nichts gehört
hatte. Ich nahm mir vor, auf jeden Fall noch einmal nach Dresden zurückzukehren. In den
darauf folgenden Jahren tat ich das dann sogar mehrmals. In aller Ruhe und durchaus mit
Ehrfurcht sah ich mir das Original der „Sixtinischen Madonna“ jetzt an. Mein Erlebnis von
Berlin wiederholte sich aber nicht mehr.
Raffael, so Rudolf Steiner und Heinz Grill übereinstimmend, wußte um die Mysterien des
Lebens und des Christus‘ und in ihm lebte eine eingeweihte Seele. Nach meinem Erlebnis
bezweifelte ich diese Aussage nicht. Es gab viele Bilder; es gab auch viele Madonnen-Bilder;
aber in die „Sixtinische Madonna“ mußte die Kraft ihres Schöpfers übergegangen sein;
anders konnte ich mir mein spirituelles Erlebnis nicht erklären.
Ich war daher gespannt auf das Seminar und was ich von Heinz Grill weiter über diesen
Maler erfahren würde. Wolfgang und ich fuhren nicht nach Kirchreit, sondern der
Seminarort lag diesmal bei Landeck in Österreich. Wir nahmen sein Auto. Unser Seminarhaus
lag erhöht und einsam an einem Berg; es als Schloß zu bezeichnen, wäre falsch und
übertrieben – aber, ganz in weiß, hatte es schon etwas herrschaftliches. Um es zu erreichen,
mußten wir - den erg hoch - ein längeres Stück durch einen dunklen Wald fahren, wobei
uns kein einziges Fahrzeug entgegenkam. ,Jetzt eine Panne – das wär´s‘, dachte ich. DraculaFilme fielen mir ein: Nur mit dem Unterschied, daß wir nicht zu einem Ort des Grauens und
der Finsternis, sondern des Lichts fuhren.
Sehr viele Yogalehrer oder angehende Yogalehrer waren unter den Teilnehmern. Ein paar
kannte ich schon aus Kirchreit. Beim Yogaunterricht konnte jeder selbst entscheiden, ob er
sich einer Anfänger- oder Fortgeschrittenengruppe anschloß. Ich hielt es für klüger, mich
einer Anfängergruppe anzuschließen. Eines Morgens, nach dem Frühstück, hieß es: Der
Yogaunterricht fällt heute Vormittag aus; wir machen eine Bergwanderung. ,Toll‘, dachte ich;
,andererseits: Die Bayer, Österreicher und Schweyzer kommen doch schon mit
Wanderstiefeln auf die Welt – ob man da wohl mithalten kann?‘ Aber ich konnte mithalten.
Heinz Grill „marschierte“ natürlich nicht voran, sondern achtete darauf, daß die Gruppe
zusammen blieb und nicht jemand zu weit zurück fiel – schließlich waren auch ältere Herren
und Frauen dabei. Auf dem Gipfel rasteten wir und hielten eine kleine Brotzeit: Apfelstücke
und kleine Schnitten wurden verteilt und aus den Rücksäcken geholt. Heinz Grill hielt danach
noch einen kleinen Vortrag zu unserem Thema. Es erinnerte mich an die Bergpredigt. Ich
bemerkte auch eine völlige Stille - auch eine Windstille. ,Hat der Heinz auch das Wetter
beeinflußt?‘ fragte ich mich heimlich. Ich empfand diesen Umstand aber als angenehm; wir
alle waren ja verschwitzt, und es war schon Herbst.
Der Tagesablauf war aber sonst so wie in Kirchreit. Bei Vorträgen vom Heinz kam es immer
wieder vor, daß ich mich direkt angesprochen fühlte. Ich weis, daß es anderen auch so ging.
Obwohl ich mit ihm bis dahin kein persönliches oder eingehendes Gespräch geführt hatte,
schien er doch genau zu wissen, in welcher seelischen und geistigen Verfassung ich mich
befand und mit welchen Themen ich mich gerade auseinandersetzte. ,Oh, jetzt bin ich
gemeint,‘ sagte ich mir das eine oder andere Mal in dem Moment. An einem Abend,
während einer Meditation, geschah etwas ungewöhnliches: Eine Yogalehrerin brach auf
einmal laut in Weinen aus. Für alle, merkte ich, war das etwas befremdlich – wußte doch
niemand, warum sie weinte. Aber es mußte etwas erfreuliches gewesen sein. ,Vielleicht
hatte sie eine Schau‘, vermutete ich; ,vielleicht hat sie Engel, Christus oder das Paradies
gesehen‘, war mein Gedanke. Weinend stand sie auf, ging auf Heinz zu und nahm aus einer
Vase, die neben Heinz stand, eine Rose und schenkte sie ihm. Sie bedankte sich und verlies
danach laut weinend den Raum.
Am Sonntag, dem letzten Tag, leitete Heinz selbst den Yogaunterricht; alle zusammen
diesmal - Anfänger, Fortgeschrittene und Yogalehrer. Als man dies angekündigte, wurde mir
etwas mulmig: ,Da muß ich mich am Riemen reißen; damit ich mich nicht blamiere.‘ Der
Unterricht war so, daß niemand überfordert, aber auch niemand unterfordert wurde. Für die
Yogalehrer wurden auch schwierigere Übungen eingebaut, wie die Taube – an denen sich
aber auch die Anfänger mal probieren konnten. Während des Unterrichts fühlte ich eine
Verbundenheit zu allen Teilnehmern: Obwohl ich die meisten nur wenige Tage kannte, war
da nichts mehr trennendes oder fremdes.
Nach dem Mittagessen war das Seminar zu Ende. Etwas traurig packte ich meine Sachen
zusammen und rüstete mich für die Heimfahrt. Als Wolfgang und ich die Treppe zur
Ausgangstür hinuntergehen wollten, kam uns in dem Augenblick Heinz Grill entgegen. Etwas
verlegen und unsicher, blieben wir stehen und warteten bis Heinz Grill die Treppe
hinaufgekommen war. Wolfgang bedankte sich zuerst bei ihm für das gelungene Seminar.
Als Heinz Grill sich mir zuwandte, bedankte ich mich auch – aber genau in dem Moment als
ich in Heinz‘ Gesicht schauen wollte, war es, als ob ich in die Sonne geschaut hätte. Sofort
mußte ich meinen Blick senken.
Wolfgang sprach mich darauf nicht an. Ich war mir daher ziemlich sicher, daß er nichts
bemerkt hatte. Ich wollte nicht darüber. Während der ganzen Heimfahrt sprachen wir fast
kein Wort.
Die Begegnungen mit Heinz Grill wirkten nach. Dieses Seminar aber ganz besonders.
Bestimmt zwei Wochen lang nach diesem Raffael-Seminar – so genau weis ich die Zeitdauer
aber nicht mehr – fühlte ich einen Schmerz, der kaum zu ertragen war. Es war kein
körperlicher Schmerz – körperlich war ich völlig gesund; er konnte nur daher rühren, daß die
Seele tief berührt worden war. In einem Buch von Teresa von Avila las ich später, wie sie
genau dieses Erleben oder diesen Schmerz beschrieb; sie mußte diese Erfahrung also auch
gemacht haben. Von der Geschäftigkeit der Welt wollte ich in jener Zeit nichts wissen: Wenn
ich gekonnt hätte, wäre der Tag nur mit Spaziergängen in der Natur, Lesen der Schriften,
Yoga und Meditation vorüber gegangen.
Wolfgang besuchte noch einige Seminare von Heinz Grill, dann sagte er eines Tages zu mir:
„Man kann dort gar nicht seine Meinung sagen; diskutiert wird auch nicht.“ Das verstand ich
nicht. ,Warum diskutieren? Wenn wir alles besser wissen, brauchen wir auch nicht zu einem
spirituellen Lehrer gehen?‘ Das war für mich eine Grusel-Vorstellung: Alle diskutieren
während eines Seminars und am Ende kommt man zu keinem Ergebnis. Wolfgang ging
daraufhin zu einer anderen Yoga-Schule für viele Jahre. Heute schaut er aber wieder gern auf
Heinz Grill und seine Zeit bei ihm zurück.
Ich fuhr noch ein paar Mal zu Kursen nach Österreich, aber die Pausen und Abstände
dazwischen wurden größer. Ab 1993/94 wich die Hochphase und Harmonie der ersten Jahre
auch einer anderen Atmosphäre. Ich bekam dies nur am Rande mit oder hörte es von
Wolfgang, wenn er wieder von einem Seminar zurückgekommen war: Heinz Grill und seine
Yogalehrer wurden zunehmend von Seiten der Kirche attackiert. Enttäuschte Schüler, die
nicht zur Yogalehrerausbildung zugelassen wurden oder sie nicht bestanden hatten, liefen
zur katholischen Kirche und verbreiteten Behauptungen von Guru- und Sektierertum; gegen
andere mußten man sich vor Gericht verteidigen, weil sein Yogaunterricht angeblich
Wirbelsäulenschäden verursacht hätte.
Ich war nicht sonderlich erstaunt über diese Entwicklung, weil ich die Biographien anderer
Eingeweihter etwas kannte. Jakob Böhme, der Schuster aus Görlitz, beschreibt in seinem
ersten Werk „Aurora oder die Morgenröte im Aufgang“ seine Erleuchtung oder das
Schauerlebnis, das er hatte. Kurz darauf wird er vom Görlitzer Pfarrer, während eines
Gottesdienstes, als schwarzes Schaf der Stadt öffentlich an den Pranger gestellt und damit
beginnt für Jakob Böhme ein Martyrium, das bis zum Rest seines Lebens dauern sollte.
Johanna von Orleans hatte Visionen; sie wurde verurteilt und auf dem Scheiterhaufen
verbrannt. Meister Eckart wurde der Häresie bezichtigt und entzog sich dem Urteil eines
Inquisitionsverfahrens nur dadurch, daß er vorzeitig verstarb. Und schließlich Christus selbst:
Nach seiner Taufe im Jordan und dem Empfang des Heiligen Geistes begann für Christus erst
der ganze „Ärger“ mit den Pharisäern und den Schriftgelehrten, die ihn am Ende an das
Kreuz brachten. Wer sind in unserer Zeit heute die Schriftgelehrten?
Die Vorwürfe des Guru- oder Sektentums kann man nur als Unwahrheit bezeichnen. Nach
jedem Kurs oder Seminar kehrten jeder Teilnehmer wieder zu seiner Familie und in seinen
Beruf zurück – und zwar nicht geschwächt, sonder in all seinen Gliedern – Körper, Seele,
Geist – gestärkt und freier. In der Psychologie wird es Projektion genannt, wenn das, was in
einem selbst ist, dem anderen vorgeworfen wird.
Ich hörte auch, daß sogar Yogalehrer Heinz Grill bei öffentlichen Diskussionsrunden
regelrecht niedergeschrien haben sollen. ,Kaum zu glauben – aber es wird wohl schon
stimmen‘, war meine Reaktion darauf. ,Solche Lehrer führen sich doch selbst ad absurdum:
Sie sprechen von Liebe, Nächstenliebe und Gelassenheit – und dann solch ein Verhalten!‘
Wäre die Situation nicht dramatisch gewesen, hätte Heinz Grill bestimmt nicht sein Land und
seine Heimat Bayern verlassen. In Österreich wiederholten sich die gleichen Vorkommnisse,
so daß Heinz Grill Ende der neunziger Jahre seinen Wohnsitz nach Arco am Gardasee
verlegte. Man mag jetzt wohl denken: Aber in Italien und in Rom ist doch der Vatikan, das
Zentrum der katholischen Kirche. Ja, aber das italienische Gemüt sieht alles doch etwas
gelassener – abgesehen von den Themen Fußball und Ferrari - und läßt sich vielleicht mit
dem indischen vergleichen.
2001 rief ich Heinz Grills Sekretärin an und bat um einen Gesprächstermin. Schon seit einer
ganzen Zeit, hatte ich den Eindruck, daß meine spirituelle Entwicklung stillstand. Eigentlich
übte ich nur für mich. Wenn ich Yoga übte und meditierte, und deshalb seelisch
ausgeglichen war, kam das auch anderen zu gute – trotzdem: Eigentlich schien alles – der
Yoga, das Lesen spiritueller Schriften, die Meditation dem Eigennutz zu dienen. An eine
Yogalehrerausbildung hatte ich schon während meiner ersten Yogatage gedacht. Während
des Studiums wollte ich aber nicht noch eine zweite Ausbildung beginnen – und: Es war auch
nicht so leicht, sich mit seiner ganzen Person vor eine Gruppe zu stellen und den Vorturner
zu geben. Zumindest für mich. Heinz Grill bildete schon lange nicht mehr neue Yogalehrer
aus, und von denen, die er ausgebildet hatte, fühlte sich noch niemand bereit, selber eine
Ausbildung anzubieten. Es gab andere Yogaschulen – aber diesen übten einen anderen
Yogastil, und ich hatte Bedenken, ob ich damit zu recht käme. Daher wollte ich Heinz Grill
einmal um Rat fragen.
Ich reservierte ein Hotelzimmer und fuhr mit dem Zug nach Rovereto, und von dort mit dem
Bus nach Arco. Am nächsten Morgen stand ich vor der Wohnung von Heinz Grill. Seine
Sekretärin und Haushälterin öffnete mir. Ich kannte sie von früheren Kursen, und sie war da
meist in recht heiterer Stimmung gewesen; an diesem Morgen schaute sie aber sehr ernst
und war sehr schweigsam. Ich maß dem aber keine größere Bedeutung bei. ,Vielleicht sollte
in Heinz‘ Wohnung noch bewußter auf das Sprechen geachtet werden, vielleicht hatte es
auch gerade wieder Unannehmlichkeiten mit einem ehemaligen Schüler gegeben‘, kam mir
in den Sinn.
Gern hätte ich meinen Blick noch etwas in der Wohnung umherschweifen lassen, aber Heinz
Grill begrüßte mich und wir gingen auch gleich in sein Arbeitszimmer. Wir setzten uns an
einen Tisch, und Heinz fragte mich nach meinem Anliegen. Ich erzählte ihm von meinen
Erwägungen hinsichtlich einer Yogalehrerausbildung, aber auch von meinen Bedenken.
Heinz erzählte mir nun von zwei Schülern, die die Ausbildung an einer anderen Yogaschule
versucht hatten: Der eine habe sogar noch eine Zusatzausbildung absolviert; danach habe er
aber zwei Jahre gebraucht, um sich von diesem Yogastil wieder zu erholen. Zu sehr führe
dieser Yogastil zu einer Energetisierung des Körpers; Bewußtseinsinhalten schenke man dort
weniger Beachtung. Der andere Schüler wollte die Ausbildung nach drei Wochen abbrechen;
als man erfuhr, daß er von Heinz Grill sei, wollte man ihm auch so den Yogalehrerschein
geben – nur damit er zu ihnen käme.
Ich konnte nur mit dem Kopf schütteln.
„Es ist aber schon ganz gut, wenn Du selbst mal einen Kurs buchst und Dir ein Urteil bildest;
ein Wochenende vielleicht - nicht gerade eine Ausbildung.“
Ich nickte.
„Was hast Du denn gelernt?“, wechselten wir das Thema.
„Ich habe mal Geschichte studiert.“
„Geschichte – das ist aber ein schönes Gebiet!“ zeigte sich Heinz erfreut. „Kannst Du in
dieser Richtung nicht beruflich etwas unternehmen?“
„In meinem Alter, mit 37, wird es immer schwieriger in der Richtung eine Stelle zu finden“,
antwortete ich. Das einzige, was mir in diesem Moment einfiel, war, daß man versuchen
könnte, ein Buch zu schreiben – um über diesen Weg eventuell einen beruflichen Einstieg zu
erreichen. Ein Buch – das schien mir aber zu vermessen, und so traute ich mich nicht, Heinz
gegenüber diesen Einfall auszusprechen.
„Da hast Du natürlich recht; in diesem Alter wird es zunehmend schwieriger; trotzdem
könntest Du Dich schon mal in die Literatur einlesen.“
Ich wandte dagegen ein: „Man kann Bücher lesen – dann hat man sie erst nur intellektuell
verstanden, nicht seelisch.“
„Trotzdem muss man sie erstmal lesen.“ Damit hatte Heinz natürlich Recht. Ich nahm mir
vor, von weiteren Einwänden abzusehen.
„Wie sieht es denn auf dem Gebiet Partnerschaft aus? Ich sehe immer wieder, wie viele
meiner Schüler allein zurechtzukommen versuchen. Vorausgesetzt – es besteht Interesse?“
Heinz erwischte mich hier „auf dem falschen Fuß“. Ich war überrascht, daß er dieses Thema
ansprach, war in seinen Büchern bis lang nur am Rande etwas dazu zu finden gewesen.
„Ja…“, druckste ich herum; „eigentlich schon. Erzwingen läßt sich aber auch nichts!“ Mir
wurde langsam heiß. Es war ein herrlicher Sonnentag, und der Sommer lag vor der Tür. In
Italien wurde es jetzt schon früh morgens sehr warm. Wir saßen am Fenster, und die Sonne
schien auch noch direkt auf uns.
„Es wäre günstig, wenn Du vielleicht in dieser Hinsicht etwas aktiv werden würdest. Es wäre
auch gut, wenn Du weiterhin Deine Freundschaften pflegen und gelegentlich einen Kurs oder
ein Seminar besuchen würdest.“
Die Zeit drängte nun etwas. Nach mir war noch jemand zu einem Gespräch angemeldet. Wir
standen auf. Als wir durchs Wohnzimmer gingen, nahm Heinz Grill aus einem Bücherregal
einen Band aus der Reihe der Initiatorischen Schulung - „ Der Neue Yogawille“ – heraus und
empfahl mir es. „Es wäre gut für Dich, wenn Du dieses Buch lesen würdest.“ Ich bedankte
mich dann bei ihm für das Gespräch.
Noch am selben Tag und in den nächsten Tagen kamen mir sehr viele Gedanken zu dem
Thema Geschichte und Spiritualität. Schnell hatte ich auch ein Konzept dazu; den Einfall mit
dem Buch hatte ich noch nicht aufgegeben. Es schien vermessen – aber andererseits:
Heutzutage schrieb doch fast jeder ein Buch. Bei Rudolf Steiner hatte ich schon einiges zu
der Thematik gelesen, was mir gefiel. Auch das Buch, das Heinz mir empfohlen hatte,
besorgte ich mir bald. ,Der Neue Yogawille! Das klingt interessant. Was sich dahinter
verbergen mag?‘
Aber das ist eine andere Geschichte.
Herunterladen