Eröffnungsgottesdienst Ökumenische FriedensDekade 2015 Predigttext: Der barmherzige Samariter Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen. Mit bekannten Geschichten ist das ja so eine Sache. Man hat sie tausend Mal gehört und glaubt zu wissen, was da passiert. Nichts kann uns mehr überraschen. Und vor allem sind wir ja lernfähig. Wenn das tatsächlich so wäre, liebe Schwestern und Brüder, dann könnten wir jetzt eigentlich zusammen packen. Denn wir wissen ja Bescheid. Wir wissen, was passiert, wenn man pauschale Urteile fällt, wenn man gegen Fremde Ressentiments aufbaut. Wir wissen, dass unser heutiger Sozial- und Rechtsstaat sich gründet auf einer ganz dunklen Erfahrung, die in Tod und Gewalt eskalierte. Wir wissen, dass der Ursprung dafür in der menschenverachtenden Haltung eines ganzen Volkes lag, das irgendwann hasserfüllte Hetzreden als vollkommen normal empfand. Nie wieder wollten wir Grenzen akzeptieren, die zum Tode von Menschen führen. „Grenzerfahrungen“ lautet das Motto der diesjährigen Ökumenischen FriedensDekade. Wie passend, denn dieser Tage scheint man in einem schlechten Film zu leben. Wie aus dem Nichts machen wir auf einmal Grenzerfahrungen ohne Ende. Zwischen Europas Ländern werden hohe Stacheldrahtzäume errichtet, um Menschen den Durchzug zu verwehren. Länder und Kommunen singen einstimmig das Lied, dass jetzt eine „Grenze erreicht sei“ und jetzt „etwas passieren müsse“. Herr Seehofer setzt gar ein Zeitlimit, das mit dem heutigen Tag abläuft. Das Pack, den Dreck wolle man in diesem Land nicht länger haben. Wir reden heute von sehr bekannten Geschichten, liebe Schwestern und Brüder. Aber es scheint, wir haben nichts gelernt. Vor 2000 Jahren wurde die Episode vom Barmherzigen Samariter das erstemal erzählt. Haben Sie sich jemals gefragt, weshalb Jesus immer und immer wieder auf das Thema der Nächstenliebe abgefahren ist? Haben Sie sich jemals gefragt, weshalb er immer und immer wieder auch gefragt wurde, wie man diese Liebe leben könne? Und wundern Sie sich nicht manchmal, weshalb ausgerechnet der Barmherzige Samariter zu einer der bekanntesten Erzählungen in diesem Zusammenhang geworden ist? Die Antwort ist einfach: Weil die Liebe entgegen aller Logik bis heute an Grenzen stößt. Und lassen Sie es uns heute einmal mutig beim Namen nennen, liebe Gemeinde. Die Grenzerfahrung für die Liebe ist nichts Geringeres als der Hass. Es ist Hass, der vor 2000 Jahren ebenso zur Lebenserfahrung von Menschen gehörte wie heute bei uns. In der Geschichte Jesu personalisiert in Gestalt der Räuber begegnet uns der Hass bis heute auf unseren Straßen und überfällt uns hinterrücks. Der Hassende wird – wie die Räuber - in aller Regel reichlich entlohnt. Er gibt nicht, er bekommt. Er besetzt öffentliche Räume und Straßen, er raubt uns Worte und Begriffe, er erpresst sich Aufmerksamkeit. Die Räuber in der Geschichte Jesu begegnen uns auch heute. Sie rotten sich auf den Straßen Dresdens zusammen, um „Spaziergänge“ abzuhalten und „deutsche Weihnachtslieder“ zu singen. Sie nennen sich Patrioten und „besorgte Bürger“. Doch wir müssen längst nicht mehr reisen, um diesen Räubern zu begegnen. Tatsächlich sind sie inzwischen überall. Sie sind gewöhnlich geworden, sie verbreiten ihre Hassreden in gesellschaftsfähigem Gewand, sie twittern, liken und posten wie Du und ich. Längst werden nicht mehr nur einzelne Menschen oder Handlungen kritisiert, sondern es wird in Kollektiven gedacht. Zur Zeit Jesu waren es „die“ Römer oder „die“ Samariter, denen mit globaler Verachtung begegnet wurde. Und heute? Suchen Sie es sich aus. Gehasst wird nach oben, gegen die sog. Eliten: gegen Politiker, gegen Prominente, die sich für Flüchtlinge einsetzen, gegen Bürgermeister, die in ihren Städten Unterkünfte schaffen. Gehasst wird aber gerne auch nach unten, gegen die vermeintlich anderen: Fremde, Muslime oder Wirtschaftsflüchtlinge. Ganz spannend in unserer Gesellschaft ist noch eine Art Spezialhass, der sich eine besonders kuriose Wendung gibt: Neuerdings wird auch gegen die gehetzt, die selber gar nicht hetzen wollen. Und ein Etikett liegt auch schon bereit: Das sind die Moralisten, die Gutmenschen, die Tugendhaften. Versuchen Sie mal heute, öffentlich eine Grenze zu setzen gegen hasserfüllte Hetze – verborgen oder öffentlich vorgetragen: Sie werden sofort selber zum Hassobjekt, zum Gegenstand von Denunziation und Beschimpfungen. Selbst unsere Politiker bedienen inzwischen wieder in einer unerträglichen Weise die Sprache des Hasses. Da tauchen Worte und Sätze auf, die eigentlich aus dem Dunkel nie wieder auftauchen sollten. Der Hass macht unter der Hand beispielsweise aus Menschen, die neu in unserem Land sind, Fremde. Er macht aus Kinderleichen, die an der Mittelmeerküste angeschwemmt werden, vorbildliche Asylbewerber, die keine Ansprüche mehr geltend machen. Er macht einem offenen, freien, rechts- und sozialstaatlichen Land wie dem unsrigen eine Festung mit zweierlei Rechtsprechung: eine für uns und eine für „die anderen“. Die Räuber sind auch heute unterwegs und sie rauben alles, was uns lieb und teuer war: unsere Großzügigkeit und Gastfreundschaft, unsere Menschenfreundlichkeit und unseren Willen zum Teilen. Und: er macht uns zu Mittätern. Der Hass fordert von uns nicht weniger als die Gleichgültigkeit von Priestern und Leviten, die einfach vorbeischauen am Unrecht und sich nicht einmischen; die vielleicht in ihrem Tempel von der Liebe Gottes erzählen, aber auf keinen Fall draußen in der echten Welt damit rumnerven. Augen zu und einfach weitergehen – das ist die Grundlage auch in unserer Gesellschaft dafür, dass der Hass längst gesellschaftsfähig geworden ist. Er versteckt sich hinter wohlklingenden Worten und kleidet sich in vornehme Anzüge, breitet seine Fähnchen aus bei Günther Jauch. Aber die Folge des Hasses unter uns ist überall, dass Grenzen neu errichtet werden, die fast schon nicht mehr existiert haben. Der Hass ist die Grenzerfahrung für jede Form von menschenfreundlicher Liebe. Mit dem heutigen Gottesdienst eröffnen wir die diesjährige Ökumenische FriedensDekade, liebe Gemeinde. 10 Tage, in denen Christen aufgerufen sind, über Grenzerfahrungen nachzudenken. Wir sind den Weg von Jerusalem nach Jericho abgeschritten. Wir sind dem Hass begegnet und der Gleichgültigkeit, die dem Hass den Boden überlässt. Vielleicht sind wir sogar ein bisschen erleichtert, dass wir einfach vorbeieilen konnten, dass wir nicht zu den Opfern zählen, die am Wegesrand liegenbleiben. Aber jetzt gilt es, liebe Geschwister. Jesus selber hat eine Grenze gesetzt. Er akzeptiert es nicht, dass sich eine ganze Gesellschaft den Begrenzungen unterwirft, die der Hass mit sich bringt. Jesus dreht den Spieß einfach um. Nicht Augen zu und vorbeischleichen, sondern stehenbleiben, hinschauen und Gegenbilder schaffen. Der Samariter bezieht Stellung. Er, der sicherlich mehrfach in seinem Leben erniedrigt und diffamiert wurde, hat gewiss auch erleben müssen, wie Menschen ihm ihren Abscheu und Hass entgegen geschleudert haben und andere daneben standen, ohne zu helfen. Auch er hätte vorbeigehen können an diesem jämmerlichen Opfer von Gewalt. Er tut es nicht. Er bleibt stehen. Er macht deutlich: Ich habe eine Haltung zu diesem Thema. Weil ich selber weiß, wie sich Gewalt anfühlt, akzeptiere ich nicht, dass das Böse die Oberhand behält. Er geht hin und hilft. Mit keinem Wort wird uns übrigens verraten, ob er einem Juden hilft oder einem seiner eigenen Landsleute. Er hilft einfach einem Menschen, der unter die Räuber gefallen ist. Er fragt gar nicht erst nach Grenzen, die Menschen sich selbst gesetzt haben. Er fragt nicht nach der Hautfarbe des Mannes, nicht nach seiner Religion, nicht nach seinen Sprachkenntnissen und auch nicht nach seiner Haltung zu bestimmten moralischen Fragen. Er hilft ihm, weil es ein Mensch ist, der Hilfe braucht. Er kann keine Grenze erkennen, die ihn daran hindern könnte. Er handelt vollkommen frei von Ressentiments und Angst, er bleibt unbeeindruckt von religiösen oder kulturellen Grenzen. Er handelt menschlich und damit im Geiste Gottes. Liebe Schwestern und Brüder, die Geschichte vom barmherzigen Samariter vollzieht sich vor dem Hintergrund von vielfach erlebten und durchlittenen Grenzerfahrungen. Was dieser Mann aus der fremden Religionsgemeinschaft der Samariter uns exemplarisch vorführt, ist ein Akt der Befreiung. Er befreit sich von der Angst vor Übergriffen. Er lässt sich nicht länger fesseln durch Abschreckung und Ablehnung. Er nähert sich dem Gewaltopfer und durchbricht damit jede Grenze, die bis dahin Gültigkeit hatte. Und indem er diese Grenze überwindet, wird aus dem Samariter ein Mensch und aus dem Gewaltopfer ein Mitmensch. Liebe Geschwister, unter uns sind Jugendliche, die in Friedensdiensten von Aktion Sühnezeichen mitgearbeitet haben. Alle diese Projekte sind eine Antwort auf Hassgeschichten in unserer Vergangenheit. Auch hier werden alte Grenzen überwunden. Grenzen, die durch unterschiedliche Kulturen gesetzt wurden, durch unterschiedliche Religionen, unterschiedliche Weltanschauungen und viele Jahre des Vergessens und Verdrängens. Aus trockenen Papierseiten, aus Grabsteinen oder anonymen Orten wurden konkrete Lebensgeschichten von Menschen, die diesen jungen Leuten begegnet sind und die sie kennen gelernt haben. Unser Land hat seit vielen Monaten gezeigt, dass viele Menschen hier gesetzte Grenzen nicht akzeptieren wollen. Es werden weit mehr Flüchtlingsunterkünfte geschaffen als niedergebrannt. Tausende und Abertausende engagieren sich als ehrenamtliche Helfer, schrauben Betten zusammen, bieten Sprachkurse an, laden Kinder zum Malen ein oder begleiten Menschen zu Behörden. Und tatsächlich sind es nur relativ wenige – und dann immer dieselben – die zerstören, wo aufgebaut werden soll und die Willkommensrufe niederschreien. Ich habe zu Beginn gesagt: Der Hass ist die Grenzerfahrung für die Liebe. Lassen Sie uns dafür arbeiten, dass es in Zukunft genau andersherum sein wird: Dass die Liebe zur Grenzerfahrung für den Hass wird! Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.