Tagblatt Online: 3. Oktober 2015, 02:46 Uhr «Es droht eine Versorgungslücke» Eine Studie der Universität St. Gallen zeigt, dass die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2030 massiv steigen wird. Werner Schärer, Direktor von Pro Senectute, sieht Handlungsbedarf – und verlangt eine Debatte, etwa über die Finanzierung. DOMINIC WIRTH Herr Schärer, die Schweizer werden immer älter. Bis 2030 steigt die Zahl der Senioren von derzeit 1,4 auf 2,2 Millionen. Sind wir als Gesellschaft bereit für diesen Wandel? Werner Schärer: Erlauben Sie mir eine Bemerkung: Es ist eine riesige Errungenschaft, dass wir immer älter werden. Allerdings bringt dieser Erfolg auch Herausforderungen… …für die wir derzeit noch nicht bereit sind? Schärer: Im Moment sind wir noch bereit, doch wir stellen auch bei der Pro Senectute fest, dass die Nachfrage nach unseren Angeboten stetig steigt. Wir hatten etwa bei der Sozialberatung in den letzten fünf Jahren jeweils Steigerungen um fünf Prozent. Das heisst: Wir sind zwar derzeit noch bereit, doch für die Zukunft gilt das nicht mehr, wenn wir uns nun nicht vorbereiten auf den demographischen Wandel? Schärer: Genau. Unsere Studie zeigt: Heute leben 90 Prozent der Senioren zu Hause, von den Menschen über 85 Jahre sind es immer noch 57 Prozent. Das sind wichtige und überraschende Zahlen. Wir müssen über sie diskutieren – und auch über die Unterstützung, die diese Menschen künftig brauchen. Wie viele sind auf Hilfe von Dritten angewiesen? Schärer: Heute benötigt rund ein Drittel der Menschen über 65 Unterstützung. Das Ausmass der Hilfe variiert jedoch sehr – von einmal monatlich bei Zahlungen bis täglich im Haushalt. Sie haben die Zahlungen erwähnt. In welchen anderen Bereichen brauchen Senioren Unterstützung? Schärer: Das können Steuererklärungen sein oder Behördengänge, auch Einkaufen, Kochen oder Putzen. Wichtig sind soziale Kontakte. Denn wenn alte Leute einsam sind, steigt auch die Gefahr, dass sie verwahrlosen. Wer leistet diese Unterstützung derzeit vor allem? Schärer: Der grösste Teil wird von den Angehörigen getragen, daneben gibt es Organisationen wie unsere, die Spitex oder Nachbarschaftshilfen. Ist in den Familien die Hilfsbereitschaft noch gleich gross wie früher? Schärer: Da hat sich schon etwas verändert. Früher lebte man tendenziell näher beieinander, heute sind die Distanzen grösser. Zudem sind die Frauen, welche die Betreuung in zwei Drittel der Fälle übernehmen, oft berufstätig und haben deshalb weniger Zeit für die Betreuung der Angehörigen. Droht eine Versorgungslücke? Schärer: Ja. Wenn immer mehr Menschen zu Hause altern, fehlen irgendwann die Freiwilligen und die Finanzen. Bei Pro Senectute spüren wir zunehmend den Druck, erschwingliche Dienstleistungen in ausreichendem Umfang anzubieten. Sie wollen mehr Geld vom Staat? Schärer: Wir haben einen Leistungsauftrag, der plafoniert ist. Uns ist es ein Anliegen, dass heute grundsätzlich diskutiert wird, wie diese Kosten künftig zu finanzieren sind: Was können Angehörige tragen, wie viel der Staat, wie viel die Versicherungen oder Organisationen wie wir? Haben Sie eine Lösung? Schärer: Es gibt spannende Ansätze wie zum Beispiel eine Pflegeversicherung, wobei diese wie die AHV solidarisch funktionieren müsste. Interessant ist auch das Modell der Zeitvorsorge im Kanton St. Gallen. Wer Senioren betreut, sammelt Guthaben. Wenn man dann selber Hilfe benötigt, kann man es wieder einziehen. Weil mehr Menschen Pflege brauchen, steigen auch die Gesundheitskosten. Ihre Studie geht von 3,4 Milliarden Franken bis 2030 aus. Wer ist betroffen? Schärer: In erster Linie die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen. Die obige Zahl ist jedoch eine konservative Schätzung. Viele der Betreuungsaufgaben werden privat finanziert. Deren Höhe ist zurzeit nicht bekannt.