Jugendhilfetag 2010-2_Entwicklungstrauma

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Entwicklungstrauma-Störung
(Developmental Trauma Disorder, DTD)1
Grundlagen eines neuen Miteinanders
von Pädagogik und Therapie
1Bessel
A. van der Kolk, Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 58: 572-586 (2009)
Dr. med. Dieter Appel
FA für Pädiatrie
FA für Kinder- und Jugendpsychichatrie
und –psychotherapie
Traumatherapie, EMDR
Vorbemerkungen
USA: jährlich 3 Mio. Fälle von Kindesmisshandlung gemeldet,
1 Mio. nachgewiesen, 80% Eltern verantwortlich.
75% der Straftäter, die Kindesmisshandlung begangen hatten,
waren während ihrer Kindheit selbst Opfer von sexueller Gewalt.
Soziale Tabus verhindern Aufklärungsarbeit.
Symptome tiefgreifend und vielschichtig.
Ausdruck einer generellen inneren Desorganisation.
Behandlung symptomorientiert und damit unsystematisch.
„Komplexe Traumatisierung“ = multipel und/oder chronisch,
prolongiert, entwicklungshemmend,
meist interpersonell.
Dr. med. D. Appel, Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Traben-Trarbach
ACE-Studie2
2Felitti
et al. 1998
Umfrage unter 17337 Erwachsenen nach belastenden Kindheitserinnerungen:
11,0% emotionale Misshandlung
30,1% körperliche Gewalt
19,9% sexueller Missbrauch
23,5 % Alkoholmissbrauch in der Familie
18,8% mit psychischen Krankheiten konfrontiert
12,5% Misshandlung der Mutter erlebt
4,9% Drogenmissbrauch in der Familie
Schlussfolgerungen:
Kindheitsbelastungen alltäglicher als angenommen,
starke Beziehung zur Gesundheit im Erwachsenenalter.
Dr. med. D. Appel, Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Traben-Trarbach
Thesen:
Erfolgreiche Entwicklung des menschlichen Gehirns
eher durch sozial übermittelte Informationen als durch physische.
Frühe Bindungsmuster bestimmen die Qualität der Informationsverarbeitung während des ganzen Lebens.
Kinder lernen ihr Verhalten zu regulieren, indem sie die Reaktionen
ihrer Bezugspersonen antizipieren („innere Arbeitsmodelle“).
Entwicklungstraumata schaffen die Voraussetzungen für
unfokussierte Reaktionen auf nachfolgenden Stress.
Dramatischer Anstieg im Gebrauch von medizinischen, sozialen,
pädagogischen und psychiatrischen Diensten sowie
Einrichtungen des Strafvollzugs.
Dr. med. D. Appel, Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Traben-Trarbach
Sicher gebundene Kinder ...
lernen, dem zu vertrauen, was sie fühlen und wie sie die Welt verstehen.
können sich auf ihre Emotionen und Gedanken verlassen.
fühlen sich verstanden.
haben die Fähigkeit, sich Hilfe zu holen bei der Suche nach Lösungen.
haben ein komplexes Vokabular, um ihre Emotionen zu beschreiben.
können physiologische Bedürfnisse formulieren.
fragen nach alternativen Stressreaktionen.
Unsicher gebundene Kinder ...
können Erregungen nicht angemessen regulieren.
können Geschehenes nicht ausreichend integrieren.
dissoziieren Affekte und Kognitionen in Abhängigkeit der
Desorganisation der Bezugspersonen und besonders,
wenn die Bezugspersonen Ursache des traumatischen Stresses sind.
Dr. med. D. Appel, Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Traben-Trarbach
Charakteristika des chronisch traumatisierten Kindes I
Defizite im Verständnis für die Abfolge von Geschehnissen.
Handlungspläne sind oft nicht möglich bzw. nicht passend.
Unfähigkeit der emotionalen Selbstregulierung.
Sich auf Hilfe anderer zu verlassen, ist nicht möglich.
Wut, Angstgefühle und die Sehnsucht, versorgt zu werden, sind vorherrschend.
Fehlen von Gefühlen der Sicherheit und Kontrolle.
Aktivierung von gegen sich selbst gerichteten Aggressionen.
Reaktionsmuster auf Stress mit Kampf, Flucht oder Erstarrung.
Stress als aktuelle Wiederholung des Traumas, kein Lerneffekt aus Erfahrung.
Viele Probleme von traumatisierten Kindern können als
Anstrengung verstanden werden, objektiv erlebte
Bedrohung zu minimieren und emotionale Not zu regulieren.
Kinder wirken dann „aufsässig“, „unmotiviert“ oder „antisozial“.
(Pynoos u. Nader 1989)
Dr. med. D. Appel, Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Traben-Trarbach
Charakteristika des chronisch traumatisierten Kindes II
mangelndes Selbstgefühl,
schlecht modulierte Affekt- und Impulskontrolle,
Unsicherheit hinsichtlich Berechenbarkeit von Anderen
mit Folgen: Misstrauen, Verdächtigungen, Selbstisolation,
verändertes Bewusstsein: Amnesie, Hypermnesie,
Dissoziation,
Derealisation, Depersonalistaion,
Flashbacks, Alpträume,
Schulprobleme, Schwierigkeiten mit Aufmerksamkeitsregulierung,
zeitliche und räumliche Orientierungsstörungen,
Störung der sensumotorischen Entwicklung,
fehlende Berührung zu eigenen Gefühlen,
fehlende Worte zur Beschreibung innerer Zustände,
Handeln statt Planen oder Sprechen über eigene Wünsche,
Fehlen eines guten Gespürs für Ursache und Wirkung
und der eigenen Beteiligung daran.
Dr. med. D. Appel, Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Traben-Trarbach
Traumatisierung innerhalb des sozialen Systems
Kind ist unkontrollierbarem Stress ausgesetzt und(!)
Bezugspersonen übernehmen nicht die Erregungsmodulation des Kindes.
Loyalitätskrise – das Verhalten so organisieren, um in der Familie zu überleben.
Bewältigung der Hilflosigkeit durch Fügsamkeit oder Trotz.
Erwartung seitens der Bezugspersonen:
Verhalten entsprechend der Erwachsenennormen,
Selbstbestimmtheit und Autonomie,
rationale Entscheidungen.
Reaktion mit Beurteilung und Zurückweisung.
Kind wird für Verhalten stigmatisiert, das dem psychoemotionalen Überleben dient!
Dr. med. D. Appel, Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Traben-Trarbach
Traumadiagnosen
„PTBS“ ungeeignet!
- ätiologisch fokussiert auf Monotrauma
- nicht entwicklungssensibel
- unzureichend Beschreibung der Entwicklungsdynamik
Studie über 364 misshandelte Kinder in den USA3
über häufig gestellte psychiatrische Diagnosen:
1. Trennungsangststörung
2. Oppositionelle Störung (ODD)
3. Phobien
4. PTBS
5. ADHS
3Ackermann
et al., 1998
Durch die Aufspaltung der vollen Bandbreite traumabezogener Probleme
in scheinbar nicht zugehörige „komorbide“ Störungen besteht die Gefahr,
dass traumaspezifische Behandlungen nicht angewendet und entsprechende
wissenschaftliche Untersuchungen nicht durchgeführt werden.
Dr. med. D. Appel, Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Traben-Trarbach
neue Diagnose: „Entwicklungstrauma-Störung“
Developmental Trauma Disorder (DTD)4
4AG
A
B
zur komplexen Traumatisierung des National Traumatic Stress Network (NCTSN)
chronische Exposition
getriggerte Muster wiederholter Dysregulation
intensive Affekte, Vermeidung, Wiederholung,
multiple somatische Probleme,
Verhaltensänderungen,
Störungen in Wahrnehmung, Ich-Funktionen,
auf Beziehungsebene.
C
als Reaktion auf chronische Traumareize
anhaltende veränderte Attributionen und Erwartungen
negative Selbstattributionen, Misstrauen,
Selbstisolation, Opferrolle.
D
funktionelle Beeinträchtigungen
sozial, kognitiv, auf Beziehungsebene.
Dr. med. D. Appel, Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Traben-Trarbach
Behandlungsimplikationen I
1.) Herstellen von Sicherheit und Kompetenz:
Vermeiden von traumabezogenen Trigger,
Gefühl von Sicherheit und Kontrolle,
Spaß!
Nur wenn die Kinder die Fähigkeit entwickeln,
auf vergnügliche Aktivitäten zu fokussieren,
ohne dabei zu desorganisieren, haben sie eine
Entwicklungschance.
2.) Umgang mit traumatischen Reinszenierungen:
eigene Reaktionen als Schlüssel zum Verständnis.
Alles Neue ist zunächst Wiederholung der
ursprünglichen misshandelnden Beziehungen
oder Bestrafung.
3.) Beachtung des Körpers: Integration und Beherrschung
Sich auf eine Entdeckungsreise begeben,
wie es sich anfühlt, entspannt zu sein
und Körper und Emotionen zu beherrschen.
Dr. med. D. Appel, Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Traben-Trarbach
Behandlungsimplikationen II
Herausnahme aus der Familie: Dilemma zwischen Bindung und Sicherheit.
Innere heilende Kräfte: Spaß und Freude als Medium zwischen
neuer Erfahrung, Emotionen und körperlichen Reaktionen.
Bedauerlicherweise übernehmen Medikamente viel zu oft alleine die Funktion,
Kindern bei ihrer Suche nach notwendigen Kompetenzen zu helfen.
Pädagogik und Psychotherapie sind Versuche, ein Stück Weg mitzugehen,
damit das Kind neues Vertrauen in sich selbst und seine Umwelt schöpft.
Dr. med. D. Appel, Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Traben-Trarbach
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