Entwicklungstrauma-Störung (Developmental Trauma Disorder, DTD)1 Grundlagen eines neuen Miteinanders von Pädagogik und Therapie 1Bessel A. van der Kolk, Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 58: 572-586 (2009) Dr. med. Dieter Appel FA für Pädiatrie FA für Kinder- und Jugendpsychichatrie und –psychotherapie Traumatherapie, EMDR Vorbemerkungen USA: jährlich 3 Mio. Fälle von Kindesmisshandlung gemeldet, 1 Mio. nachgewiesen, 80% Eltern verantwortlich. 75% der Straftäter, die Kindesmisshandlung begangen hatten, waren während ihrer Kindheit selbst Opfer von sexueller Gewalt. Soziale Tabus verhindern Aufklärungsarbeit. Symptome tiefgreifend und vielschichtig. Ausdruck einer generellen inneren Desorganisation. Behandlung symptomorientiert und damit unsystematisch. „Komplexe Traumatisierung“ = multipel und/oder chronisch, prolongiert, entwicklungshemmend, meist interpersonell. Dr. med. D. Appel, Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Traben-Trarbach ACE-Studie2 2Felitti et al. 1998 Umfrage unter 17337 Erwachsenen nach belastenden Kindheitserinnerungen: 11,0% emotionale Misshandlung 30,1% körperliche Gewalt 19,9% sexueller Missbrauch 23,5 % Alkoholmissbrauch in der Familie 18,8% mit psychischen Krankheiten konfrontiert 12,5% Misshandlung der Mutter erlebt 4,9% Drogenmissbrauch in der Familie Schlussfolgerungen: Kindheitsbelastungen alltäglicher als angenommen, starke Beziehung zur Gesundheit im Erwachsenenalter. Dr. med. D. Appel, Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Traben-Trarbach Thesen: Erfolgreiche Entwicklung des menschlichen Gehirns eher durch sozial übermittelte Informationen als durch physische. Frühe Bindungsmuster bestimmen die Qualität der Informationsverarbeitung während des ganzen Lebens. Kinder lernen ihr Verhalten zu regulieren, indem sie die Reaktionen ihrer Bezugspersonen antizipieren („innere Arbeitsmodelle“). Entwicklungstraumata schaffen die Voraussetzungen für unfokussierte Reaktionen auf nachfolgenden Stress. Dramatischer Anstieg im Gebrauch von medizinischen, sozialen, pädagogischen und psychiatrischen Diensten sowie Einrichtungen des Strafvollzugs. Dr. med. D. Appel, Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Traben-Trarbach Sicher gebundene Kinder ... lernen, dem zu vertrauen, was sie fühlen und wie sie die Welt verstehen. können sich auf ihre Emotionen und Gedanken verlassen. fühlen sich verstanden. haben die Fähigkeit, sich Hilfe zu holen bei der Suche nach Lösungen. haben ein komplexes Vokabular, um ihre Emotionen zu beschreiben. können physiologische Bedürfnisse formulieren. fragen nach alternativen Stressreaktionen. Unsicher gebundene Kinder ... können Erregungen nicht angemessen regulieren. können Geschehenes nicht ausreichend integrieren. dissoziieren Affekte und Kognitionen in Abhängigkeit der Desorganisation der Bezugspersonen und besonders, wenn die Bezugspersonen Ursache des traumatischen Stresses sind. Dr. med. D. Appel, Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Traben-Trarbach Charakteristika des chronisch traumatisierten Kindes I Defizite im Verständnis für die Abfolge von Geschehnissen. Handlungspläne sind oft nicht möglich bzw. nicht passend. Unfähigkeit der emotionalen Selbstregulierung. Sich auf Hilfe anderer zu verlassen, ist nicht möglich. Wut, Angstgefühle und die Sehnsucht, versorgt zu werden, sind vorherrschend. Fehlen von Gefühlen der Sicherheit und Kontrolle. Aktivierung von gegen sich selbst gerichteten Aggressionen. Reaktionsmuster auf Stress mit Kampf, Flucht oder Erstarrung. Stress als aktuelle Wiederholung des Traumas, kein Lerneffekt aus Erfahrung. Viele Probleme von traumatisierten Kindern können als Anstrengung verstanden werden, objektiv erlebte Bedrohung zu minimieren und emotionale Not zu regulieren. Kinder wirken dann „aufsässig“, „unmotiviert“ oder „antisozial“. (Pynoos u. Nader 1989) Dr. med. D. Appel, Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Traben-Trarbach Charakteristika des chronisch traumatisierten Kindes II mangelndes Selbstgefühl, schlecht modulierte Affekt- und Impulskontrolle, Unsicherheit hinsichtlich Berechenbarkeit von Anderen mit Folgen: Misstrauen, Verdächtigungen, Selbstisolation, verändertes Bewusstsein: Amnesie, Hypermnesie, Dissoziation, Derealisation, Depersonalistaion, Flashbacks, Alpträume, Schulprobleme, Schwierigkeiten mit Aufmerksamkeitsregulierung, zeitliche und räumliche Orientierungsstörungen, Störung der sensumotorischen Entwicklung, fehlende Berührung zu eigenen Gefühlen, fehlende Worte zur Beschreibung innerer Zustände, Handeln statt Planen oder Sprechen über eigene Wünsche, Fehlen eines guten Gespürs für Ursache und Wirkung und der eigenen Beteiligung daran. Dr. med. D. Appel, Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Traben-Trarbach Traumatisierung innerhalb des sozialen Systems Kind ist unkontrollierbarem Stress ausgesetzt und(!) Bezugspersonen übernehmen nicht die Erregungsmodulation des Kindes. Loyalitätskrise – das Verhalten so organisieren, um in der Familie zu überleben. Bewältigung der Hilflosigkeit durch Fügsamkeit oder Trotz. Erwartung seitens der Bezugspersonen: Verhalten entsprechend der Erwachsenennormen, Selbstbestimmtheit und Autonomie, rationale Entscheidungen. Reaktion mit Beurteilung und Zurückweisung. Kind wird für Verhalten stigmatisiert, das dem psychoemotionalen Überleben dient! Dr. med. D. Appel, Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Traben-Trarbach Traumadiagnosen „PTBS“ ungeeignet! - ätiologisch fokussiert auf Monotrauma - nicht entwicklungssensibel - unzureichend Beschreibung der Entwicklungsdynamik Studie über 364 misshandelte Kinder in den USA3 über häufig gestellte psychiatrische Diagnosen: 1. Trennungsangststörung 2. Oppositionelle Störung (ODD) 3. Phobien 4. PTBS 5. ADHS 3Ackermann et al., 1998 Durch die Aufspaltung der vollen Bandbreite traumabezogener Probleme in scheinbar nicht zugehörige „komorbide“ Störungen besteht die Gefahr, dass traumaspezifische Behandlungen nicht angewendet und entsprechende wissenschaftliche Untersuchungen nicht durchgeführt werden. Dr. med. D. Appel, Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Traben-Trarbach neue Diagnose: „Entwicklungstrauma-Störung“ Developmental Trauma Disorder (DTD)4 4AG A B zur komplexen Traumatisierung des National Traumatic Stress Network (NCTSN) chronische Exposition getriggerte Muster wiederholter Dysregulation intensive Affekte, Vermeidung, Wiederholung, multiple somatische Probleme, Verhaltensänderungen, Störungen in Wahrnehmung, Ich-Funktionen, auf Beziehungsebene. C als Reaktion auf chronische Traumareize anhaltende veränderte Attributionen und Erwartungen negative Selbstattributionen, Misstrauen, Selbstisolation, Opferrolle. D funktionelle Beeinträchtigungen sozial, kognitiv, auf Beziehungsebene. Dr. med. D. Appel, Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Traben-Trarbach Behandlungsimplikationen I 1.) Herstellen von Sicherheit und Kompetenz: Vermeiden von traumabezogenen Trigger, Gefühl von Sicherheit und Kontrolle, Spaß! Nur wenn die Kinder die Fähigkeit entwickeln, auf vergnügliche Aktivitäten zu fokussieren, ohne dabei zu desorganisieren, haben sie eine Entwicklungschance. 2.) Umgang mit traumatischen Reinszenierungen: eigene Reaktionen als Schlüssel zum Verständnis. Alles Neue ist zunächst Wiederholung der ursprünglichen misshandelnden Beziehungen oder Bestrafung. 3.) Beachtung des Körpers: Integration und Beherrschung Sich auf eine Entdeckungsreise begeben, wie es sich anfühlt, entspannt zu sein und Körper und Emotionen zu beherrschen. Dr. med. D. Appel, Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Traben-Trarbach Behandlungsimplikationen II Herausnahme aus der Familie: Dilemma zwischen Bindung und Sicherheit. Innere heilende Kräfte: Spaß und Freude als Medium zwischen neuer Erfahrung, Emotionen und körperlichen Reaktionen. Bedauerlicherweise übernehmen Medikamente viel zu oft alleine die Funktion, Kindern bei ihrer Suche nach notwendigen Kompetenzen zu helfen. Pädagogik und Psychotherapie sind Versuche, ein Stück Weg mitzugehen, damit das Kind neues Vertrauen in sich selbst und seine Umwelt schöpft. Dr. med. D. Appel, Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Traben-Trarbach