D. Jahn – Uni Greifswald Verfassungsordnung und Verfassungspolitik in der BRD Verfassungsordnung und Verfassungspolitik 1. Funktionen von Verfassungen 2. Politische Rahmenbedingungen der Entstehung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland 3. Grundrechte und Wertordnung des Grundgesetzes 4. Die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ des Grundgesetzes 5. Verfassungsänderung und Verfassungsreform Funktionen von Verfassungen Verfassungsdiskussionen sind Auseinandersetzungen über die Gestaltung der Grundzüge einer politischen Gemeinschaft und einer politischen Ordnung: • Werte • Ziele des Gemeinwesens • Regeln der politischen Auseinandersetzung Politische Rahmenbedingungen der Entstehung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (I) Das Grundgesetz wurde mit Bezug auf die Erfahrungen aus der Weimarer Republik geschrieben. Es lassen sich die folgenden Schritte unterscheiden: • Kommunalverfassungen und Länderverfassungen • Der Herrenchiemseer Konvent • Der Parlamentarische Rat Politische Rahmenbedingungen der Entstehung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (II) Kommunalverfassungen und Länderverfassungen (I) • Alliierte waren gegen staatliche Zentralgewalt. • USA baute überregionale Verwaltungen auf, nachdem die UdSSR dies zuvor in der Sowjetzone veranlasst hatte. • Im Oktober 1945 wurde angekündigt, einen Rat der Ministerpräsidenten der US-Zone (Länderrat) ins Leben zu rufen, der am 6. November 1945 konstituiert wurde. • Januar 1946 fanden Kommunalwahlen in der USZone statt. Politische Rahmenbedingungen der Entstehung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (III) Kommunalverfassungen und Länderverfassungen (II) • Schritte zum Parlamentarismus: Angliederung eines Parlamentarischen Rates an den Länderrat (Frühjahr 1946), Wahlen zu den Landesparlamenten (November/Dezember 1946). • In der britischen Zone ging die Ländergründung wesentlich langsamer vor sich. Stärkere Betonung von Parteien. • Franzosen sperrten sich gegen deutsche Zentralbehörden und interzonale Zusammenarbeit. Annexion des Saarlandes. Politische Rahmenbedingungen der Entstehung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (IV) Kommunalverfassungen und Länderverfassungen (III) • Sonderstellung Berlins • Auflösung Preußens • Kommunalverwaltung wurde noch vor der Ländergründung eingerichtet. Politische Rahmenbedingungen der Entstehung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (V) Kommunalverfassungen und Länderverfassungen (IV) • Zentrale Rolle der Länder in der Gründungsphase der Bundesrepublik • Verfassungen der Länder Politische Rahmenbedingungen der Entstehung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (VI) Kommunalverfassungen und Länderverfassungen (V) • Neuordnungskonzepte für einen westdeutschen Teilstaat ab Sommer 1947 • Londoner Sechsmächte-Konferenz zur Bildung der Bundesrepublik • Die „Frankfurter Dokumente“ • Verfassung oder Grundgesetz Politische Rahmenbedingungen der Entstehung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (VII) Der Herrenchiemseer Konvent • Erarbeitung von Richtlinien für ein Grundgesetz (10. bis 23. August 1948) • Schlussbericht umfasst: Starke Position des Regierungschefs Ablehnung eines Notverordnungsrechts Finanzhoheit der Länder Ablehnung plebiszitärer Elemente „Ewigkeitsgarantie“ • Provisorischer Charakter (Art. 146) • Grundgesetz wurde maßgeblich vom Entwurf des Herrenchiemsee-Konvents bestimmt. Politische Rahmenbedingungen der Entstehung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (VIII) Der Parlamentarische Rat (I) • Zusammensetzung des Parlamentarischen Rates: CDU 19 CSU 8 SPD 27 FDP/ DVP/ LDP 5 DP 2 Zentrum 2 KPD 2 Berlin (1) Berlin (3) Berlin (1) Politische Rahmenbedingungen der Entstehung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (IX) Der Parlamentarische Rat (II) • Dissens über Grundlagen der staatlichen Ordnung Staatsoberhaupt Rolle der zweiten Kammer Finanzverfassung Kirche • Repräsentative Ordnung ohne direkte Eingriffe der Bevölkerung (Ablehnung der Abstimmung über das Grundgesetz durch das Volk) • Verabschiedung des Grundgesetzes am 8. Mai 1949 mit 53 Ja- und 12 Neinstimmen Neinstimmen: 2 Zentrum, 2 Deutsche Partei, 2 KPD und 6 von 8 der CSU-Abgeordneten Politische Rahmenbedingungen der Entstehung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (X) Der Parlamentarische Rat (III) • Am 18., 20. und 21. Mai billigten 10 Landtage das Grundgesetz (und nicht wie vorgesehen die Wähler). • Bayern lehnte mehrheitlich ab (101:63), beschloss aber mit 97:70:6 Stimmen, das Grundgesetz als rechtsverbindlich für Bayern anzuerkennen, wenn zwei Drittel der übrigen Länder dieses annehmen. Vorbildwirkung des Grundgesetzes Grundrechte und Wertordnung des Grundgesetzes (I) Grundrechtskatalog Individualrechte (I) • Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2, ergänzt durch Art. 104 – Rechtsgarantien bei Freiheitsentzug) • Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 GG) • Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 5 GG) • Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) • Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG) • Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG) • Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) Grundrechte und Wertordnung des Grundgesetzes (II) Individualrechte (II) Fortsetzung • Freiheit der Berufswahl und –ausübung (Art. 12 GG) • Freizügigkeit (Art. 11 GG) • Eigentum (Art. 14 GG) • Schutz vor Auslieferung und Asylrecht (Art. 16 GG) • Petitionsrecht (Art. 17 GG mit der Einschränkung in Art. 17 a GG von Grundrechten für Soldaten, z.B. der Meinungs- und Versammlungsfreiheit „soweit es das Recht gewährt“) • Darüber hinaus gewährt Art. 2 Abs. 1 GG die „allgemeine Handlungsfreiheit“ und das „allgemeine Persönlichkeitsrecht“, das v.a. die Privatsphäre schützt. Grundrechte und Wertordnung des Grundgesetzes (III) Gleichheitsgrundrecht: Art. 3 Abs. 1 GG – „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Menschen- und Bürgerrechte Grundrechte als Abwehrrechte der Bürger gegenüber dem Staat (und Partizipationsrechte am Staat) Einführung eines Widerstandsrechts Die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ des Grundgesetzes (I) Die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ wird nicht explizit definiert, sondern Bestrebungen, diese zu beseitigen, werden sanktioniert. Konkretisierung des Begriffs durch das Bundesverfassungsgericht • Verbot der neonationalistischen „Sozialistischen Reichspartei“ 1952 und der KPD 1956 • „Radikalenerlass“ Die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ des Grundgesetzes (II) Nach deutscher Einheit: „Die Vertragsparteien bekennen sich zur freiheitlichen, demokratischen, föderativen, rechtsstaatlichen und sozialen Grundordnung.“ (Art. 2, Abs. 1) Konstitutionelle Vorkehrungen zum Schutz der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes Die „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 Abs. 3 GG für Art. 1 und 20 Die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ des Grundgesetzes (III) Geschützt sind das Gebot der Menschenwürde, die Menschenrechte, die Rechtsbindung der Grundrechte und die Strukturprinzipien der politischen Ordnung: • Der Schutz der Menschenwürde, Art.1 Abs. 1 GG • Das Bekenntnis zu den allgemeinen Menschenrechten, Art. 1 Abs. 2 GG • Die Bindung der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung an die Grundrechte, Art. 1 Abs. 3 GG Die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ des Grundgesetzes (IIIa) Art. 1 GG: „ (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ Die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ des Grundgesetzes (IV) • Die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht, Art. 1 Abs. 3 GG • Das Demokratieprinzip, Art. 20 Abs. 1 GG • Das Leitbild des „demokratischen und sozialen Bundesstaates“, Art. 20 Abs. 1 GG • Das Bundesstaatsprinzip und die föderale Ordnung: Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 GG (Bundesgarantie für die Länderverfassungen), Art. 30 GG (Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern), Art. 31 GG (Vorrang des Bundesrechts) und Art. 50 bis 53 GG (Rechte des Bundesrates) Die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ des Grundgesetzes (IVa) Art. 20 GG: „(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. (3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. (4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Verfassungsänderung und Verfassungsreform Veränderung des Grundgesetzes zu Zeiten der Großen Koalition (19661969) Grundgesetz und deutsche Vereinigung die neue europäische Dimension der Verfassungsfrage GG-Änderungen 1966-1969 Am 10. Mai 1967 verabschiedete der Bundestag das "Stabilitätsgesetz" - genauer, das Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft - und damit zugleich eine Änderung von Artikel 109 des Grundgesetzes. Im neuen Artikel 109 übernahm der Staat eine Mitverantwortung für das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht, indem es heißt, dass Bund und Länder eben dieses in ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik zu beachten hätten. 17. Juni 1968: Annahme des 17. Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ("Notstandsverfassung"), des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses und der sog. Vorsorge- und Sicherstellungsgesetze. - Mit Inkrafttreten des Gesetzes am 28. Juni 1968 erlöschen die alliierten Sicherheitsvorbehalte aus dem Deutschlandvertrag von 1952. 14. Mai 1969: Finanzreform per Grundgesetzänderung in Kraft gesetzt, die zu einer Neuverteilung der Steuern zwischen Bund, Ländern und Gemeinden führte, in deren Zusammenhang auch die "Gemeinschaftsaufgaben vereinbart wurden. Fazit: Rechtsstaat Der Rechtsstaat gewährleistet insgesamt ein hohes Maß an Rechtssicherheit und Schutz vor Willkür. Allerdings weist der Rechtsstaat auch Lücken auf und wird vom Streben nach präventiver Sicherheit bedrängt. Hinzu kommen ein hohes Maß an Juridifizierung der Politik sowie richterstaatliche Züge. Fazit: Demokratie Das Recht zur freien Meinungsäußerung, Interessenartikulation und Interessenbündelung sowie zur Mitwirkung bei der Wahl politischer Repräsentanten gehört ebenso zu den Vorteilen der Demokratie wie die Chance, in Parteien und Verbänden mitzuwirken, und die begründete Erwartung, dass die Regierungen die Rechte der Wähler respektieren und Rechenschaft über ihr Tun und Lassen ablegen. Zu den Schwächen zählen der an Wahlperioden orientierte Zeittakt; das Streben nach Machterwerb und –erhalt hat nicht selten Vorrang vor Sachpolitik; Die Kosten von Entscheidungen werden oft auf zukünftige Generationen abgewälzt. Fazit: Bundesstaat Vorteile: die wirkungsvolle Machtaufteilung, die Integration der verschiedenen Landsmannschaften und Länder sowie die Einbindung, die der Opposition im Bundestag durch die Chance von Wahlerfolgen in den Landtagswahlen zuteil wird. Nachteile: Exekutivlastigkeit, Intransparenz, Schwerfälligkeit beim Umgang mit lösungsbedürftigen Problemen, Langwierigkeit, Effizienzmängel durch Überverflechtung, Nivellierung der Finanzausstattung der Länder und Mitverantwortlichkeit für die Dauerwahlkampfatmosphäre im Lande. Fazit: Sozialstaat Vom Sozialstaatsziel profitieren viele. Mittlerweile bestreitet sogar schon rund die Hälfte der Wählerschaft ihren Lebensunterhalt überwiegend aus Sozialleistungen oder aus der Beschäftigung im Sozialstaat und seinen Zulieferern. Kritisiert werden die hohen Kosten des Sozialstaates sowie die Zielkonflikte, in denen er sich verheddert. Fazit: der „offene Staat“ Er hat Deutschland international wieder salon- und bündnisfähigfähig gemacht und als eine anerkannte „Zivilmacht“ etabliert, die aus dem für sie versperrten Weg zur Machtstaatspolitik eine Tugend gemacht hat. Problematisch ist hier, dass der damit verknüpfte Souveränitätstransfer auf inter- und supranationale Organisationen den Kreis demokratisch entscheidbarer Materien verkleinert hat.