Gesunde und kranke Menschen MCW, Block 1, WS 2009/10 ao. Univ. Prof. Dr. Oskar Frischenschlager Zentrum für Public Health / Medizinische Psychologie www.oskar-frischenschlager.at Mail: [email protected] Definitionen Gesundheit Krankheit? Normalität? Anomalie? An-omalie Ομαλός: eben, die Ebene An-omalos: un-eben An-omalie? An-omalie? Was ist normal? was ist abnorm? was ist krank? 1) Ontologischer Krankheitsbegriff 2) Statistischer Krankheitsbegriff 3) Funktionaler Krankheitsbegriff 1) Ontologischer Krankheitsbegriff der Krankheit wird eigene Seinsform zugesprochen: z.B. „Besessenheit“, „vom Bösen befallen“ sein) „Genträger“ (entspricht magisch-mythischem Denken der Antike). Antike Konzepte heute? „Tumorträger“, „Krebsträger“, „Bösartigkeit“ des Tumors „Mich hat „die Grippe“ erwischt……“ „Die Kinderlähmung kennt nur zwei Sorten von Menschen: die Geimpften und die nicht Geimpften“ (Werbung für Polioimpfung) Die Therapie trägt folgerichtig Züge von: Austreibung, Exorzismus 2) Statistischer Krankheitsbegriff Die Medizin verfügt über großen Schatz an Erfahrungswerten, demnach ein „Gespür“ für Normalität / Pathologie. Sind Abweichungen von der (vermuteten) Norm grundsätzlich pathologisch? Was ist normal? Ist es normal, evtl. durch Jahrzehnte hindurch abends ein bis zwei Gläser Wein zu trinken? Ist es normal, jeden Vormittag eine Halbe Bier zu trinken? Ist es normal, die Kronenzeitung zu lesen, weil sie von 60% der ÖsterreicherInnen gelesen wird? Wovon hängt es ab, ob etwas normal ist? 3) Funktionaler Krankheitsbegriff Funktional meint, dass ein Teil seine Aufgabe in Bezug auf das Ganze erfüllt. Sollwerte einer Funktion sind ein Hinweis darauf, dass die Funktion erfüllt wird. Wofür steht ein Leiden? Was soll eliminiert werden, das Leiden oder die Störung? Beispiele ? 1) Aluminiumchlorid verengt die Ausführungsgänge der Schweißdrüsen, Konzentration: 10 bis 30 Prozent. Nachteil der ansonsten unproblematischen und preiswerten Therapie: Manchmal treten Hautreizungen auf. 2) Auch Gerbstoffe (z.B. Eichenrindenextrakte) können Linderung bringen. Die Substanzen werden, wie das Aluminiumsalz, äußerlich angewendet und verschließen ebenfalls die Schweißdrüsenausgänge. 3) Leitungswasser-Iontophorese, ein GleichstromWasserbad. Behandlung dauert 20 bis 30 Minuten, 3 Mal pro Woche, keine Nebenwirkungen bekannt. 4) Chirurgische Sympathektomie. Risiko: Verletzung der Lunge, häufig: „kompensatorisches Schwitzen" anderer Körperregionen." 5) Schweißdrüsen-Kürettage oder Absaugung samt dem Fettgewebe (Liposuktion). Problem: Schweißdrüsen wachsen nach. 6) Nervenblockade mit Botulinumtoxin: Was ist den drei beschriebenen Konzepten gemeinsam? 1) Ontologischer Krankheitsbegriff 2) Statistischer Krankheitsbegriff 3) Funktionaler Krankheitsbegriff Sie befassen sich sämtlich mit Krankheit, Gesundheit wird als etwas Gegebenes betrachtet. 19. Jahrhundert Rene Leriche: Gesundheit liegt „im Schweigen der Organe“ Ist diese Definition auf alle möglichen Fälle anwendbar? Kann man ein Konzept von Gesundheit auf das Nicht-Wahrnehmen von Störungen begründen? Falls nein, was spricht dagegen? Beispiele? 20. Jahrhundert WHO (unmittelbar nach der Gründung 1946) „Gesundheit ist umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden (und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit und Schwäche)“ Was ist an dieser Definition neu, besser, komplexer? Was fällt Ihnen sonst auf? a) erstmals: Gesundheit positiv definiert b) nicht nur Körperliches, sondern auch Psychisches und Soziales miteinbezogen. c) subjektives Empfinden Einwände? Kritik? 1) Definition ist statisch 2) ist Zustand absoluten Wohlbefindens erreichbar? 3) falls nicht, sind wir deswegen schon krank? 40 Jahre später….. „Ottawa Charta“ der WHO 1986 Aufruf zu internationalem Handeln Die Konferenz ersucht die Weltgesundheitsorganisation und alle anderen internationalen Organisationen, für die Förderung von Gesundheit Partei zu ergreifen und ihre einzelnen Mitgliedsländer dabei zu unterstützen, Strategien und Programme für die Gesundheitsförderung zu entwickeln. Die Konferenzteilnehmer sind der festen Überzeugung, dass, wenn Menschen in allen Bereichen des Alltags, wenn soziale Verbände und Organisationen, wenn Regierungen, die Weltgesundheitsorganisationen und alle anderen betroffenen Gruppen ihre Kräfte entsprechend den moralischen und sozialen Werten dieser Charta vereinigen und Strategien der Gesundheitsförderung entwickeln, dass dann "Gesundheit für alle im Jahre 2000" Wirklichkeit werden kann. An wen richtet sich die WHO? Was folgt daraus? Wie geht es weiter? "Gesundheit für alle im 21. Jahrhundert" Die 10 globalen Ziele der Strategie „Gesundheit für alle (GFA) im 21. Jahrhundert“ 1. Mehr gesundheitliche Chancengleichheit 2. Verbesserung der Lebenserwartung und der Lebensqualität 3. Umkehr der globalen Trends bei fünf wichtigen Pandemien Tuberkulose HIV/Aids Malaria Tabakkonsum Gewalt Moussavi et al (2007): Depression, chronic diseases, and decrements in health: results from the World Health Surveys. Lancet: 370:851-58 (8. September 2007) …..Depression produces the greatest decrement in health compared with chronic diseases angina, arthritis, asthma, and diabetes….. 4. Eliminierung bestimmter Krankheiten 5. Verbesserung der Wasserversorgung, Abwasserentsorgung, Nahrungsmittelversorgung und der Wohnunterkünfte 6. Förderung gesunder Lebensweisen und Eindämmung gesundheitsschädigender Lebensweisen 7. Entwicklung, Umsetzung und Überprüfung nationaler GFA-Konzepte 8. Verbesserung des Zugangs zu einer guten umfassenden primären Gesundheitsversorgung 9. Verwirklichung nationaler Gesundheitsinformations- und -überwachungssysteme 10. Förderung der Gesundheitsforschung Was fällt Ihnen an den beiden Ansätzen der WHO auf? Ist der Ansatz der WHO relevant? Thomas McKeown, 1979 Streptomycin Antibiotika Thomas McKeown (1979): der Einfluss der klinischen auf die Reduktion der Sterblichkeit liegt bei etwa ? Antwort: etwa 3 - 4% Folglich ist das Einflusspotenzial der WHO betreffend die Reduktion der Sterblichkeit bei 96-97% Staatliche Eingriffe in den persönlichen Bereich Staatliche Eingriffe in Ernährung (z.B. jodiertes Salz, Fluortabletten) Staatliche Regelungen (z.B. rauchfreie Zonen, Alkoholabgabe an Jugendliche) Mutter-Kindpass Verpflichtende Impfungen, öffentlich finanziert Vorsorgeuntersuchung, öffentlich finanziert (z.B. Harnuntersuchung, Darmspiegelung, Prostatauntersuchung, Portioabstrich) Staatliche Förderaktivitäten Raucherentwöhnung Informationsprogramme (z.B. Selbstuntersuchung der weiblichen Brust) Verkehrserziehung, Alterslimitierung der Fahrerlaubnis Safer Sex Kontrollieren, Strafen usw. usw. Ungleiche Chancen durch soziale Schicht Soziale Schicht ergibt sich hauptsächlich aus: Einkommen Beruf Bildung gesundheitsrelevant sind: berufsbedingte Gesundheitsrisiken Wohngegend (Lärm, Emissionen…) Konsumfähigkeit Bildung (Wissen über Gefährdungen, Vorsorgeuntersuchungen, Behandlungsmöglichkeiten….) Gesundheitsverhalten, Krankheitsverhalten Einfluss der Person 1. Das Stressmodell Eustress (Herausforderung) Distress (Überforderung) Entscheidend ist die individuelle Bewältigungskompetenz (coping ability) Stressmodell von Lazarus Lazarus (1974): nicht die Situation ist für die Stressreaktion von Bedeutung, sondern die individuelle Verarbeitung des Betroffenen. Jede neue oder unbekannte Situation wird in 2 Phasen bewertet: – Primary appraisal: Bewertung, ob die Situation eine Bedrohung enthält – Secondery appraisal: Bewertung, ob die Situation mit den verfügbaren Ressourcen bewältigt werden kann. Nur wenn die Ressourcen nicht ausreichend sind, wird eine Streßreaktion ausgelöst. Stressmodell von Lazarus Situation Wahrnehmung Person Interpretation Kann ich mit meinen Ressourcen diesen Stressor bewältigen ? Ja Nein Adäquates Coping Stress Stress kann wirken im 1) physiologischen System (Organismus) 2) psychologischen System (Individuum) 3) sozialen System (Familie, Gruppe) Auslösende Faktoren Körperliche Stresssituationen: Verletzungen, Operationen, Verbrennungen, Kälte, Schmerzen, Sauerstoffmangel, niedriger Blutzucker, u.a. Psychische Stressreaktionen: Ärger, Angst, Leistungsdruck, u. a. Bei langfristigem Stress negative Folgen, wie z.B.: Schlafstörungen, Spannungskopfschmerz Infektanfälligkeit Hypertonie etc. Welche Faktoren bestimmen die individuelle Stress-Resistenz? Individuelle Ressourcen A) aus aktuellen Lebensbedingungen B) aus persönlicher Entwicklungsgeschichte Soziale Ressourcen A) Soziale Integration, B) social support Gibt es ärztliche Interventionsmöglichkeiten bzw. Handlungsspielräume? Welche? Ressourcen aus persönlicher Entwicklungsgeschichte Affektive Entwicklung Bindungsentwicklung (Bindungsmuster) Bewältigungs-Repertoire (coping strategies) Bildungsgeschichte Konrad Lorenz: Prägung Danke für Ihre Aufmerksamkeit! ao. Univ. Prof. Dr. Oskar Frischenschlager Zentrum für Public Health / Medizinische Psychologie MUW