Nehmen psychische Krankheiten zu?

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Nehmen psychische
Krankheiten zu?
Dr. med. Samuel Pfeifer
Klinik Sonnenhalde, CH-Riehen
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Ein Zitat zu Beginn
„Noch nie waren
Nervenkrankheiten so häufig
wie jetzt, noch nie so
mannigfaltig.“
Der deutsche Arzt Christoph Wilhelm Hufeland
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Anlass zur Besorgnis
 Im Zeitraum von 1997 bis 2001 haben die Krankheitstage
wegen psychischer Erkrankungen von 67 auf 101 Tage
zugenommen. Dies entspricht einer Steigerung von 51
Prozent.
 Besonders stark wuchs in diesem Zeitraum die psychische
Belastung bei den jüngeren DAK-Mitgliedern.
(DAK-Gesundheitsreport 2002)
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Anlass zur Besorgnis
 Die Belegung psychiatrischer Kliniken im Kanton Zürich hat
sich von 1992 bis 2002 verdoppelt, von 4769 (1992) auf
9800 (2002) (Prof. Dr. Daniel Hell)
 In der gleichen Zeit ist die Zahl der IV-Renten aus
psychischen Gründen von 35000 auf 80000 angestiegen
(NZZ, 22.11.2003)
 Die Anzahl der niedergelassenen Fachärzte für Psychiatrie
hat sich in dieser Zeit mehr als verdoppelt.
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Zu allen Zeiten aktuell
„Noch nie waren
Nervenkrankheiten so häufig wie
jetzt, noch nie so mannigfaltig.“
(Hufeland)
1812 !
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Statistiken sind verwirrlich
 Die Frage nach dem Warum lässt sich durch Statistiken nur
unzureichend beantworten.
 Ist die Zahl der IV-Renten aus psychischen Gründen
abhängig von der Anzahl Psychiater?
 Dagegen spricht: im selben Zeitraum hat sich auch die Zahl
der Zahnärzte verdoppelt.
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Schweiz – Argentinien – Papua-Neuguinea
Land
Psychiater
pro 1 Million
Einwohner
Arbeitslosigkeit
Schweiz
300
4%
Argentinien
500
21 %
PapuaNeuguinea
1
70 %
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Erkrankungsrisiko bei Problemen in der Kindheit
Sabine J. Roza et al (2003):
Stable Prediction of Mood
and Anxiety Disorders Based
on Behavioral and Emotional
Problems in Childhood: A
14-Year Follow-Up During
Childhood, Adolescence, and
Young Adulthood.
(Am J Psychiatry 2003;
160:2116–2121)
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Globalisierung und psychische Erkrankungen
 Globalisierung: Ein Prozess, in dem traditionelle Grenzen,
die Einzelpersonen und Gesellschaften getrennt hatten,
zunehmend wegfallen.
 Migranten und Touristen
 „Die Globalisierung macht diejenigen, die arm, ungebildet
und ohne Wurzeln sind, zu Vagabunden, die weder
bleiben können, noch einen besseren Ort für ihre Existenz
suchen können.“
Bhugra D. & Mastrogianni A. (2004), Brit. J. Psychiatry 184:10-20
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Erkrankungsrisiko 1952 bis 1992
Jahr
Störung
Frauen
Männer
1952
Angststörungen
10.7 %
6.1 %
Depression
6.2 %
4.2 %
Angst und Depression
12.2 %
13.7 %
Angststörungen
13.8 %
10.6 %
Depression
6.0 %
5.4 %
Angst und Depression
14.3 %
11.0 %
Angststörungen
14.7 %
10.9 %
Depression
7.2 %
5.7 %
Angst und Depression
15.1 %
11.5 %
1970
1992
Canada, Stirling County
J.M. Murphy et al. (2004). Anxiety and depression: A 40-year perspective on relationships regarding
prevalence, distribution, and comorbidity. Acta Psychiatr Scand 109:355- 375.
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Angst und Depression bei Frauen 1952-1992
16.00%
14.00%
12.00%
Angststörungen
10.00%
Depression
8.00%
Angst und
Depression
6.00%
4.00%
2.00%
J.M. Murphy et al. (2004).
0.00%
1952
1970
1992
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Transkulturelle Variation der depressiven Störungen
Studienzentrum
Land
Aktuell depressiv (%)
Santiago
Chile
29,5 %
Rio de Janeiro
Brasilien
15.8 %
Paris
Frankreich
13.7 %
Manchester
UK
16.9 %
Groningen
NL
15.9 %
Mainz
Deutschland
11.2 %
Ankara
Türkei
11.6 %
Bangalore
Indien
9.1 %
Athen
Griechenland
6.4 %
Berlin
Deutschland
6.1 %
Ibadan
Nigeria
4.2 %
Nagasaki
Japan
2.6 %
Nach Bhugra 2004
Bhugra D. & Mastrogianni A. (2004), Brit. J. Psychiatry 184:10-20
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Transkulturelle Variation der Depression
 Gründe für die unterschiedlichen Zahlen:
• Wie wird psychisches Leiden ausgedrückt?
(„idioms of distress“)
• Psychisch oder somatisch?
• Stigma psychischen Leidens
• Überlebenskampf erlaubt keine „Depression“
• Wie wird psychisches Leiden erfasst?
• Werden die richtigen Fragen gestellt?
(kulturell angepasst)
• In welchem Setting wird die Studie durchgeführt?
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Verstädterung und Depression
 Eine schwedische Studie (2004) untersuchte während drei
Jahren alle Fälle von Depression und Psychosen im Land.
 Korrelation mit Wohnort, Bildung, Familienstand und
Migration.
 Resultate: Mehr Depressionen bei
•
•
•
•
Frauen
In dicht besiedelten Gebieten
Alleinlebenden Menschen
Niedrigem Bildungsgrad
Sundquist K., Gölin F. & Sundquist J. (2004) Brit. J. Psychiatry 184:293-298
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Verstädterung und Depression (II)
 Die Häufigkeit einer Erkrankung an einer Psychose oder
einer Depression stieg mit zunehmender Urbanisierung.
 Diejenigen, die in den dichtest besiedelten Gebieten
lebten, hatten ein um 68 bis 77 % erhöhtes Risiko, ein
Psychose zu entwickeln und ein um 12 – 20 % erhöhtes
Risiko einer Depression.
Sundquist K., Gölin F. & Sundquist J. (2004) Brit. J. Psychiatry 184:293-298
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Migration und Depression
 Migranten erleben 20 mal so viele „negative life events“
(Stressfaktoren) wie normale und stabil lebende
Menschen.
 Stress vor der Migration: Verfolgung, Krieg, Kampf um
Ausreisevisa, Flucht.
 Psychischer Zustand vor der Migration.
 Bindung an die eigene Kultur oder Offenheit für
Anpassung an neue Kultur? Sprache?
 Soziale Unterstützung:
• Familie und Gruppen aus dem gleichen Hintergrund
• Hilfe durch den Glauben / Religion.
Bhugra D. (2004).
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Prof. Paul Kielholz
 „Die Zunahme psychischer Krankheiten ist einerseits auf
die Verbesserung der Diagnostik und der Therapien der
depressiven Zustände zurückzuführen, andererseits liegen
deren Ursachen in der Beziehungslosigkeit und
Vereinsamung der Menschen in unserer Konsum- und
Wegwerfgesellschaft.“
1980
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Studie 2010
 Im Vergleich zu 1938 leiden junge Menschen heute bis zu
sechsmal so häufig unter affektiven Störungen.
 Der auffälligste Wandel: Junge Leute orientieren sich
heute extrinsisch an Status, Geld und Aussehen, während
1938 eine stärkere intrinsische Motivation (Gemeinschaft,
Lebenssinn, Zugehörigkeit) vorhanden war.
 Notwendig sei «eine Armee von echten Heilern, die
Patienten wirklich zuhören und sie mit ihren tiefsten
Gedanken und Gefühlen in Kontakt bringen, damit sie ihre
eigenen Emotionen wieder meistern können.»
 Quelle: Twenge J.M. et al. (2010) Birth cohort increases in
psychopathology among young Americans, 1938 – 2007: A crosstemporal meta-analysis of the MMPI. Clinical Psychology Review
30:145-154.
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Verbesserung der Diagnostik
 Bessere Ausbildung der
Ärzte.
 Gezielte Fragebogen.
 Verbessertes Wissen über
Vorgänge im Gehirn
(Neurotransmitter)
 Bessere Aufklärung in den
Medien
 Vermehrte Offenheit über
Ängste und Depressionen
zu sprechen.
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Verbesserung der Therapie
 Mehr geschulte Ärzte und
Psychologen verfügbar.
 Breite Palette von
Antidepressiva verfügbar
 Breiter Zugang zu
ambulanten und
stationären Einrichtungen.
 Verminderung der
Vorurteile gegenüber
Depressionen.
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Soziale Faktoren
 Zunahme der Scheidungen
und der allein erziehenden
Familien.
 Zunahme der
Einzelhaushalte.
 Finanzieller Druck und
schleichende Verarmung
bei gleichzeitiger Betonung
von Konsum und Genuss.
 Soziale Erwartungen:
Geld, Sex und Macht.
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Arbeitsmarkt-Faktoren
 Zunahme der
Anforderungen am
Arbeitsplatz.
 Automatisierung vernichtet
einfache Arbeitsplätze.
 Computerisierung benachteiligt weniger Begabte.
 Globalisierung verlangt
erhöhte Flexibilität und
Sprachkompetenz.
 Verminderte Leistungsbereitschaft junger
Menschen.
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 Persönliche Einstellung
 Schlüsselkompetenzen
• Zielorientierung
• Handlungsorientierung
Erfolg / Misserfolg
• Allgemeiner Optimismus
• Bereitschaft zu
Tätigkeitswechsel
• Selbstwirksamkeit
• Selbstwertgefühl
• Kontrollüberzeugung
(Eigenverantwortung)
•
•
•
•
•
•
•
•
Eigeninitiative
Kreativität
Selbstlernkompetenz
Soziale Auftreten
Teamfähigkeit
Toleranz
Konfliktbereitschaft
Etc.
Diese Erwartungen können von vielen psychisch leidenden
Menschen und sensibleren Persönlichkeiten nicht erfüllt werden.
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Nach W. Durrer, Direktor der IV-Stelle Luzern, 2000
Erwartungen der heutigen Wirtschaft
Jedes Schicksal ist individuell
 Den einzelnen Menschen in seiner ganz besonderen
Geschichte sehen und zu verstehen versuchen.
 Wertschätzung entgegenbringen.
 Fachgerechte ärztlich-psychologische Behandlung
vermitteln.
 Bearbeitung der auslösenden Probleme.
 Wege zur Integration in einem tragenden sozialen Netz
und am Arbeitsplatz suchen.
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Fragen für Wirtschaft und Sozialwerke
 Wie lassen sich Arbeitsplätze schaffen, die einer
verminderten Leistungsfähigkeit Rechnung trägt?
 Gibt es sinnvolle Aufgaben im Freiwilligenbereich, die eine
Tagesstruktur anbieten, ohne zu grosse Kosten zu
verursachen?
 Wie kann man vermindert leistungsfähige
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter integrieren, wenn sie
gleichzeitig Betreuung brauchen?
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Annehmen der Schwachheit
 Das Leben mit Grenzen ist eine Realität unseres Daseins.
 Der Wert eines Menschen darf nicht mit den Kriterien von
Schönheit, Sportlichkeit, äusserer Ausstrahlung, Geld oder
Leistung gemessen werden.
 Oft sind es die inneren Werte, die einen Menschen
wirklich auszeichnen.
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