Einführung in das Altitalienische - UK

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EINFÜHRUNG IN DAS ALTITALIENISCHE
1
1. Sitzung - 12. April 2010
PROGRAMMÜBERSICHT
2
PROGRAMMÜBERSICHT

12.04.10


19.04.10


Die Epochen der italienischen Sprachgeschichte und die
Positionierung des Altitalienischen
26.04.10


Allgemeine Einleitung; Organisatorisches
Die Grundlagen des sprachhistorischen Arbeitens
03.05.10

Vom Lateinischen zum Italoromanischen: die ältesten
überlieferten Texte (I)
3
PROGRAMMÜBERSICHT

10.05.10


17.05.10


Analyse und Interpretation von Texten aus Norditalien (I)
31.05.10


Vom Lateinischen zum Italoromanischen: die ältesten
überlieferten Texte (I)
Analyse und Interpretation von Texten aus Norditalien (II)
07.06.10

Analyse und Interpretation von Texten aus der Toskana (I)
4
PROGRAMMÜBERSICHT

14.06.10


21.06.10


Analyse und Interpretation von Texten aus der Toskana (II)
Analyse und Interpretation von Texten aus der Toskana (III)
28.06.10

Analyse und Interpretation von Texten aus Mittel- und
Süditalien (I)
5
PROGRAMMÜBERSICHT

05.07.10


12.07.10


Analyse und Interpretation von Texten aus Mittel- und
Süditalien (II)
Die sprachliche Entwicklung in der Renaissance
19.07.10

Das Florentinische des 14. Jahrhunderts als Sprachmodell des
16. bis 19. Jahrhunderts + Allgemeine Wiederholung
6
WAS IST „ALTITALIENISCH“?
7
Allgemeine Einführung
WAS IST ALTITALIENISCH?
(Comic von 1960)
„Scudiero,
percorri lo
bosco e
guarda se
havvi torti
da
raddrizzare,
castella da
difendere,
offese da
cancellare,
abusi da
correggere
e damigelle
da salvare!”.
8
MERKMALE DES SPRECHBLASENTEXTES

Der männliche Artikel lo (vgl. lo bosco) war im
Mittelalter die Normalform. Die heute übliche
Distribution von il (vor Konsonant) und lo (vor s +
Konsonant, z, ps, x, j etc.) exisierte noch nicht:

Belege in mittelalterlichen Texten

Nel cominciamento di ciascuno bene ordinato convivio
sogliono li sergenti prendere lo pane apposito...

E ancora la propria loda e lo proprio biasimo è da fuggire per
una ragione igualmente...

(Dante Alighieri, Convivio I, 2)
9
MERKMALE DES SPRECHBLASENTEXTES

Die Konstruktion havvi (aus: ha ‘es hat’,‘es gibt’, dritte
Person Singular von avere ‘haben’ + vi ‘hier’) ist zwar
typisch für Texte des Mittelalters, doch im vorliegenden
Fall spielt die Enklise an unpassender Stelle auf das
Tobler-Mussafia-Gesetz (it. legge Tobler-Mussafua) an,
da sie im Alttoskanischen nicht im mit se eingeleiteten
Nebensatz eintritt, sondern nur am Satz- bzw.
Versanfang, nach e und ma sowie im Hauptsatz, wenn
diesem ein Nebensatz vorausgeht.
10
MERKMALE DES SPRECHBLASENTEXTES

Belege in mittelalterlichen Texten

Nel primo cerchio avea trecento novanta sette torri,
cioè quello dentro; nel secondo n’avea cinquecento
due; nel terzo n’avea mille cento diece e avievi sette
porte.

(Anonymus, zit. nach GDLI I, 875-876)
11
MERKMALE DES SPRECHBLASENTEXTES

Die Pluralform castella ‘Schlösser’ gegenüber dem heute üblichen
castelli basiert noch auf dem alten Plural der lateinischen Neutra:
CASTELLUM ‘das Schloss’, CASTELLA ‘die Schlösser’:
quando con trombe, e quando con campane,
con tamburi e con cenni di castella,
e con cose nostrali e con istrane;
né già con sí diversa cennamella…
Ché se ‘l conte Ugolino aveva voce
d’aver tradita te de le castella,
non dovei tu i figliuoli porre a tal croce.
(Dante Alighieri, Divina Commedia, Inferno XXII, 9 und XXXIII, 86)
12
„La maggior purezza della tempera del
linguaggio si combina poi con una
persistenza che rasenta l’invariabilità.
Non c’è così un antico italiano da
contrapporre al moderno, come al
moderno francese si contrappone un
antico.“ (Graziadio Isaia Ascoli)
ZITATE ZUM ALTITALIENISCHEN

13
„Man behauptet, das Italienische habe
sich seit Dante nur unwesentlich
verändert. Ich glaube [...], daß sich das
Italienische im Gegenteil gewaltig
verändert hat und daß diese
Veränderungen einer völligen Auflösung
seines ursprünglichen Bestandes ähnlich
sehen. Und es sind nicht irgendwelche
obskure Skribenten, die diese neue
Sprache verwenden. Noch Machiavelli
kennt keine andere. Trotzdem ist die
Behauptung wahr, so paradox das klingen
mag: das heutige Italienisch
unterscheidet sich nur unwesentlich von
der Sprache Dantes.“ (Huber 1951/52)
ZITATE ZUM ALTITALIENISCHEN

14
„Si parla sì di italiano antico e moderno, ma
queste etichette hanno un valore cronologico
imprecisato e, quel che più importa, non
individuano insiemi di fenomeni caratteristici
dell’età antica e di quella moderna. Più in
generale domina la convinzione che l’italiano
si sia evoluto assai poco dal Trecento in poi,
cosicché la periodizzazione della storia
dell’italiano andrebbe affidata non
all’articolazione delle vicende, bensì a un
criterio meramente cronologico. Orbene
questo punto di vista è inaccettabile perché
assurdo. È mai possibile che dal Trecento al
Novecento, entro un’epoca di rivolgimenti
profondi della condizione umana, la lingua,
strumento di pensiero e di cultura, sia
rimasta pressoché immutata? Evidentemente
questa situazione paradossale si deve a
difetto di ricerche.“ (M. Durante, 1981)
ZITATE ZUM ALTITALIENISCHEN

15
ALLGEMEINE EINFÜHRUNG – DIE PERIODISIERUNG DES ITALIENISCHEN
Italien um das
Jahr 1000
16
DIE THEORETISCHEN GRUNDLAGEN DER PERIODISIERUNG
Die Periodisierung ist ein wichtiger
Bestandteil geschichtswissenschaftlicher
Betätigung.
 Der kontinuierliche Prozess der
sprachlichen Entwicklung wird dabei in
einzelne, zeitlich fassbare und
begründbare Sprachstufen unterteilt,
wobei jede Periodisierung ein künstliches
Gebilde der Wissenschaft in
Auseinandersetzung mit ihrem
Untersuchungsgegenstand darstellt

17
Periodisierungen können aufgrund
unterschiedlicher Kriterien vorgenommen
werden. Diese können sprachexterner
oder -interner Natur sein.
DIE THEORETISCHEN GRUNDLAGEN DER PERIODISIERUNG

18
Zur ersten Kategorie gehören
gesamtgeschichtliche Epochen (Antike,
Mittelalter, Neuzeit),
kirchengeschichtliche Entwicklungen
(Christianisierung, Scholastik,
Reformation etc.), sozialgeschichtliche
(höfische Kultur, Entfaltung des
Bürgertums etc.) und kulturgeschichtliche
(Beginn der schriftlichen Überlieferung,
Auswirkungen des Buchdrucks, der
elektronischen Massenmedien etc.) und
bildungsgeschichtliche (schriftlicher
Ausbau der Volkssprachen, Ausbreitung
der Lese- und Schreibfähigkeit) Faktoren
sowie literaturgeschichtliche Epochen.
DIE THEORETISCHEN GRUNDLAGEN DER PERIODISIERUNG

19
Zur zweiten Kategorie zählen
Entwicklungen im Bereich der Lautung,
Grammatik und Lexik.
DIE THEORETISCHEN GRUNDLAGEN DER PERIODISIERUNG

20
DIE THEORETISCHEN GRUNDLAGEN DER PERIODISIERUNG
Die zeitliche Einteilung von
Sprachgeschichte lässt sich weiter
hierarchisch gliedern.
 Eine Epoche kann in Perioden unterteilt
werden, diese wiederum in Etappen und
Phasen

21
Als weiteres wichtiges Kriterium
sprachlicher Periodisierung kann z.B. die
Verstehbarkeit älterer Texte
herangezogen werden, wobei im Falle des
Italienischen aufgrund seines
konservativen Charakters eine besondere
Situation besteht, die sich von der
anderer europäischer Sprachen
grundsätzlich unterscheidet.
DIE THEORETISCHEN GRUNDLAGEN DER PERIODISIERUNG

22
DIE THEORETISCHEN GRUNDLAGEN DER PERIODISIERUNG
Auch heute kann man toskanische Texte
früherer Epochen ohne
Mediävistikstudium verstehen.
 Die Grundlage zahlreicher
germanistischer, anglistischer und
romanistischer Periodisierungsmodelle ist
der Lautwandel.
 Doch auch dieses Kriterium greift beim
Italienischen nicht, da im Gegensatz zum
Deutschen, Englischen oder
Französischen seit dem Mittelalter keine
nennenswerten Lautveränderungen mehr
stattgefunden haben.

23
DIE THEORETISCHEN GRUNDLAGEN DER PERIODISIERUNG
Eine andere Möglichkeit der sprachlichen
Periodisierung besteht darin, eine
Kombination allgemein historischer,
sprachsoziologischer oder auch
literaturhistorischer Kriterien
heranzuziehen.
 Dieser Ansatz scheint im Falle des
Italienischen am fruchtbarsten zu sein.

24
PERIODISIERUNGSMODELLE
Giuseppe
Baretti
History of the
Italian Tongue
(1757)
Erste knappe
Sprachgeschichte des
Italienischen
auf literarischer
Basis
25
Giuseppe Baretti, History of the Italian
Tongue (1757)
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
(6)
(7)
Die erste Phase ist durch mündliche Kommunikation
und das völlige Fehlen schriftlicher Überlieferung in
der Volkssprache geprägt.
In der zweiten Phase werden in Italien neben dem
Lateinischen das Provenzalische und Sizilianische
verwendet.
In der dritten Phase fehlt zwar noch eine
gesamtitalienische Standardsprache, jedoch ist
bereits eine zunehmende Erstarkung des
Florentinischen zu beobachten.
Die vierte Phase (buon secolo) fällt mit dem Wirken
von großen Dichtern wie Petrarca zusammen.
Die fünfte Phase (cattivo secolo) ist geprägt durch
den Barockdichter Giambattista Marino.
Als sechste Phase können wir Barettis eigene Zeit
interpretieren, die literaturästhetisch weder als gut
noch als schlecht eingestuft wird.
Die siebte Phase befasst sich mit der Zukunft des
Italienischen, dem nach Meinung des Verfassers
Gefahr durch den zunehmenden Einfluss des
Französischen und Deutschen drohte.
PERIODISIERUNGSMODELLE

The Italian
library
containing an
account of the
lives and works
of the most
valuable
authors of Italy,
with a preface,
exhibiting the
changes of the
tuscan
language, from
the barbarous
ages to the
present time
26
PERIODISIERUNGSMODELLE
Ugo
Foscolo
Epoche della
lingua italiana
(1825)
27
(2)
(3)
(4)
(5)
(6)
Die erste Epoche reicht von 1180 bis 1230. Sie ist
geprägt durch das Fehlen einer eigenständigen
italienischen Literatur. Gedichtet wird auf Latein und
Provenzalisch (z.B. durch Sordello da Goito).
In der zweiten Epoche (1230-1280) tritt mit der Scuola
siciliana zum ersten Mal eine italienische Literatur in
Erscheinung.
In der dritten Epoche (1280-1330) wirken die Dichter
des dolce stil nuovo (Guido Cavalcanti, Cino da Pistoia
etc.) sowie Dante mit seiner Divina Commedia.
Die vierte Epoche (1350 bis 1400) wird bestimmt durch
das literarische Wirken Giovanni Boccaccios und
Francesco Petrarcas. Als positiv hervorgehoben wird der
Ausbau des Florentiner Dialektes zur angesehenen
Literatursprache (insbesondere durch Boccaccios
Decameron), als negativ hingegen das Engagement des
späten Petrarca für das Lateinische.
Das Hauptmerkmal der fünften Epoche (1400-1500) ist
der rasche Verfall der Literatursprache nach dem Tode
Boccaccios, der erst zur Zeit von Lorenzo de’ Medici zum
Stillstand kommt.
Die sechste Epoche (1500-1600) wird bestimmt vom
wiedererwachten Interesse an der Literatur der großen
Trecentisten und den Protagonisten der Questione della
lingua (insbesondere Pietro Bembo ).
PERIODISIERUNGSMODELLE
(1)
Sprachgeschichte
auf literaturwissenschaftlicher
Basis
28
Blasco Ferrer (1994, 1999) stützt sich auf
das Periodisierungsmodell der Accademia
della Crusca, das eine Einteilung in
insgesamt fünf Etappen vorsieht.
DIE ETAPPEN DER ITALIENISCHEN SPRACHGESCHICHTE

29
DIE ETAPPEN DER ITALIENISCHEN SPRACHGESCHICHTE
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
Altitaloromanisch (9. – 10. Jh.): Vorhandensein von
italoromanischen Texten aus verschiedenen Regionen
Altitalienisch (1275-1375): Vermehrung der
alttoskanischen Dokumentation und die Entstehung
bedeutender literarischer Werke (bis zum Tode
Boccaccios).
Altitalienisch / Neuitalienisch (1375-1525): Aufnahme
diatopisch und diastratisch markierter Innovationen ins
Florentinische.
Neuitalienisch (1525-1840): Von der Kodifikation des
Trecento-Florentinischen durch Bembo bis zur
Überarbeitung der Promessi sposi auf neuflorentinischer
Grundlage durch Manzoni.
Italiano del Duemila: noch nicht abgeschlossen.
30
DIE ETAPPEN DER ITALIENISCHEN
SPRACHGESCHICHTE

Italiano predocumentario (bis ca. 800). Die italoromanische(n)
Volkssprache(n) existierte(n) bereits vor der ersten Manifestation
schriftlicher Dokumente.

Italiano delle Origini (ca. 800 bis ca. 12./13. Jahrhundert). Die
italoromanischen Dialekte sind in Texten dokumentiert und bildeten
bis zum Spätmittelalter eine eigene literarische Tradition heraus,
wobei die Toskana im Laufe der Zeit eine Führungsrolle einnahm.

Italiano antico (ca. 12./13. Jahrhundert bis ca. 1525). Das
Altitalienische endet mit Bembos sprachprogammatischer
Grammatik Prose della volgar lingua.

Italiano moderno (ca. 1525 bis ca. 1840). Das
Gegenwartsitalienische beginnt mit Manzonis
Romanüberarbeitung.

Italiano contemporaneo e futuro (ca. 1840 bis 2000).
31
DIE ETAPPEN DER ITALIENISCHEN
SPRACHGESCHICHTE

Haase (2007, 52-54) beschränkt sich auf drei Etappen:
(1)
Dialektale Periode (= Altitalienisch): von den Anfängen bis ca.
1500 mit verschiedenen dialektalen Schreibtraditionen
(scriptae).
(2)
Koiné-Periode (= Neuitalienisch): von 1500 bis zur zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einer großen Distanz zwischen
gesprochener und geschriebener Sprache.
(3)
Standard-Periode (= modernes Italienisch): seit der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Entwicklung einer
modernen Standardsprache durch die Einführung der Schulund Wehrpflicht, durch die Medien etc. Zusätzlich hat sich seit
dem frühen 20. Jahrhundert eine sozial und regional stark
differenzierte Umgangssprache herausgebildet.
32
DIE BESCHREIBUNG DES SPRACHLICHEN WANDELS
33
DIE BESCHREIBUNG DES SPRACHLICHEN WANDELS

Alle lebendigen Sprachen, in denen Menschen
kommunizieren, unterliegen einem natürlichen Wandel,
der sich manchmal relativ schnell oder auch langsam
vollzieht. Den Sprechern selbst ist der Wandel
normalerweise nicht bewusst.

Im Vergleich mit anderen europäischen Sprachen haben
Sprachwissenschaftler des 19. und 20. Jahrhunderts
auch dem Italienischen ein hohes Maß an
Unveränderlichkeit zugeprochen.
34
DIE BESCHREIBUNG DES SPRACHLICHEN WANDELS

Dies hängt zweifelsohne damit zusammen, dass die
Kodifizierung der schriftlichen italienischen
Standardvarietät zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert
auf der Grundlage literarischer florentinischer Texte
erfolgte und nur von einer kleiner Minderheit
Schriftkundiger praktiziert wurde, während die große
Masse der Bevölkerung ausschließlich den heimischen
Dialekt sprach, der sich wie jede lebendige Sprache
mehr oder minder rasch wandelte.
35
DIE BESCHREIBUNG DES SPRACHLICHEN WANDELS
Auch die kodifizierte Schriftsprache unterlag einem
Wandlungsprozess, der insgesamt allerdings relativ
gering war, so dass wir mit Kenntnissen des modernen
Italienischen Florentiner Texte des 14. Jahrhunderts
ebenso wie Texte des 16., 17. oder 18. Jahrhunderts
ohne größere Schwierigkeiten verstehen können.
 Größere Schwierigkeiten hätten wir hingegen bei
florentinischen Texten des 15. und frühen 16.
Jahrhunderts, die durch starke morphosyntaktische
Dynamik geprägt waren.

36
DIE BESCHREIBUNG DES SPRACHLICHEN WANDELS
Hermann Paul betrachtet in seinen Prinzipien der
Sprachgeschichte als die eigentliche Ursache für die
Veränderung den Usus, d.h. die gewöhnliche
Sprechtätigkeit der Menschen im Alltag, wobei jede
absichtliche Einwirkung auf den Usus ausgeschlossen ist.
 Es wirkt keine andere Absicht auf die Sprache als die auf
das augenblickliche Bedürfnis gerichtete Absicht seine
Wünsche und Gedanken anderen Verständlich zu
machen

37
DIE BESCHREIBUNG DES SPRACHLICHEN WANDELS
Ein weiter Faktor des Wandels ist die Weitergabe der
Sprache von einer Generation an die nächste, wobei ein
Teil als veralteter Elemente nicht mehr weiter tradiert
wird.
 Paul unterscheidet zwischen positiven und negativen
Vorgängen auf der einen Seite und der Unterschiebung
auf der anderen.
 Unter positiv wird die Schöpfung von etwas Neuem
verstanden, unter negativ der Untergang von etwas
Altem, während bei der Unterschiebung der Untergang
des Alten und das Auftreten des Neuen durch ein- und
denselben Akt erfolgt (z.B. beim Lautwandel).

38
DIE BESCHREIBUNG DES SPRACHLICHEN WANDELS
Wenn man beim Lautwandel die Zwischenstufen nicht
beachtet, kann einem entgehen, dass ein Nacheinander
von positiven und negativen Vorgängen vorliegt.
 Die negativen Vorgänge beruhen immer darauf, dass in
der Sprache der jüngeren Generation etwas nicht neu
erzeugt wird, was in der Sprache der älteren vorhanden
war.
 Genaugenommen handelt es sich nicht um negative
Vorgänge, sondern vielmehr um das Nichteintreten von
Vorgängen, welches allerdings dadurch vorbereitet sein
muss, dass das später Untergehende auch schon bei der
älteren Generation selten geworden war.

39
DIE BESCHREIBUNG DES SPRACHLICHEN WANDELS

Eine Generation, die ein bloß passives Verhältnis dazu
hat, schiebt sich auf diese Weise zwischen eine
Generation mit noch aktivem und eine spätere mit gar
keinem Verhältnis zu einem bestimmten sprachlichen
Phänomen.
40
DIE BESCHREIBUNG DES SPRACHLICHEN WANDELS




Der Düsseldorfer Germanist Rudi Keller betrachtet den
Sprachwandel wird als Ergebnis des Wirkens einer sogenannten
„unsichtbaren Hand“.
Der Sprachwandel wird hierbei weder als Naturphänomen noch als
Artefakt verstanden, sondern als aus Einzelhandlungen der
Individuen als ungewollt und ungeplant entstandene Struktur.
Er bezeichnet die Entwicklung als „Phänomen der dritten Art“ und
unterscheidet zwischen einer Mikroebene des individuellen
Handelns sowie einer Makroebene der durch dieses Handeln
erzeugten Strukturen.
Wichig dabei ist, dass die handelnden Akteure die Makroebene
nicht im Auge haben und sie auch nicht reflektieren.
41
DIE BESCHREIBUNG DES SPRACHLICHEN WANDELS

Die alltäglichen, zufälligen Regelverletzungen hinterlassen für gewöhnlich
keine Spuren in der Sprache, denn nur die systematischen
Regelverletzungen können sich letztendlich zu den neuen Regeln der
Zukunft entwickeln.

Antriebskraft ist dabei stets das Mitteilungsbedürfnis der Menschen.

Sie haben bei all ihren kommunikativen Unternehmungen in erster Linie
den Erfolg ihrer Bemühungen im Auge, d.h. sie wollen verstanden werden,
freundlich wirken, überzeugen, Aufmerksamkeit erzeugen,
Gruppenzugehörigkeit oder Distanz signalisieren und vieles mehr.

Sprachzustände sind keine Endzustände von Prozessen, sondern
transitorische Episoden in einem potentiell unendlichen Prozess kultureller
Evolution.
42
DIE BESCHREIBUNG DES SPRACHLICHEN WANDELS

Die Wortbedeutungen ändern sich beispielsweise durch eine
Veränderung der Gebrauchsregeln.

Beim Bedeutungswandel verändern die Sprecher die Gebrauchsregeln
eines Wortes dadurch, dass die Sprecher einen zunächst okkasionellen
Sinn so häufig erzeugen, dass innerhalb der Sprachgemeinschaft mit
der Zeit ein Umlernen erfolgt.

Morphologischer Wandel entsteht in der Regel durch
Regelverletzungen, Bedeutungswandel als Sinnspezifizierung durch
regelkonforme Morphologischer Wandel entsteht in der Regel durch
Regelverletzungen, Bedeutungswandel als Sinnspezifizierung durch
regelkonforme Spezialverwendung.

Von den Zeitgenossen wird Sprachwandel normalerweise nicht als
Wandel, sondern als Sprachverfall wahrgenommen, denn die
menschliche Sprache stellt ein komplexes System konventioneller
Regeln dar.

Jede Veränderung beginnt automatisch mit der Übertretung der Regel.
43
DIE BESCHREIBUNG VON SPRACHWANDELPROZESSEN
Die sprachlichen Veränderungen, die sich von mehreren
Generationen vollzieht und für den Sprachbenutzer
kaum oder meistens überhaupt nicht wahrnehmbar
sind, müssen vom Sprachhistoriker erkannt und
beschrieben werden können.
 Am vielfältigsten sind die Lautveränderungen, die nicht
selten morphosytaktische oder semantische
Konsequenzen nach sich ziehen.
 Bei der Entwicklung vom Lateinischen zum Italienischen
sind z.T. neue Laute entstanden, wie beispielsweise die
stimmhaften und stimmlosen Affrikaten.

44
SEMANTISCHER WANDEL
Semantische Veränderungen (it. cambiamenti
semantici) können sowohl durch Lautwandel (z.B.
Homophonie) oder aber auch durch kulturellen und
gesellschaftlichen Wandel initiiert werden.
 Auch der Abbau von Polysemie und damit von
Missverständnissen kann eine Rolle spielen.

45
SEMANTISCHER WANDEL
Bedeutungserweiterung (it. estensione semantica;
allargamento di significato; z.B. lat. BRACCHIUM
‘Unterarm‘ > it. braccio ‘Arm’);
 Bedeutungsverengung (it. restrizione semantica;
restringimento di significato; z.B. lat. ALTUS, -A, -UM
‘hoch’,‘tief’ > it. alto, -a ‘hoch’);
 Bedeutungsverschiebung (it. spostamento semantico;
z.B. lat. COXAM ‘Hüfte’ > it. coscia ‘Schenkel’);

46
SEMANTISCHER WANDEL
Bedeutungsverbesserung (it. miglioramento semantico;
nobilitazione di significato; z.B. lat. CABALLUM ‘Klepper‘
> it. cavallo ‘Pferd’ oder CASAM ‘Hütte’ > it. casa ‘Haus’),
 Bedeutungsverschlechterung (it. peggioramento
semantico; peggioramento di significato; z.B. arab. faqīh
‘Zollschreiber’ > it. facchino ‘Kofferträger’)
 Bedeutungsübertragung (it. metafora; z.B. spiegare <
lat. EXPLICARE ‘auseinanderfalten’ > ‘erklären’).

47
48
PHONETISCHER WANDEL

Phonetische Prozesse lassen sich in vier Haupttypen
untergliedern:
 a) die Veränderung von Segmenten in ihren
Merkmalen,
 b) die Tilgung von Segmenten,
 c) die Hinzufügung von Segmenten sowie
 d) die Umstellung von Segmenten.
49
PHONETISCHER WANDEL

Die Veränderung von Segmenten



Affrizierung (it. affricazione): die Bildung von
Affrikaten aus Nichtaffrikaten ([j] > [d]), z.B. lat.
IAM > it. già.
Assibilierung (it. assibilazione): die Erzeugung von
Zischlauten ([t] > [ts]), z.B. lat. PLATEAM > it. piazza.
Assimilierung (it. assimilazione): die Anpassung eines
Lautes an einen anderen, z.B. lat. FACTUM > it. fatto.
50
PHONETISCHER WANDEL

Die Veränderung von Segmenten



Betazismus (it. betacismo): der Zusammenfall von [v]
und [b] zu [b], z.B. lat. SERVARE > it. serbare (im
Italienischen ein eher sporadisches Phänomen).
Degeminierung (it. degeminazione): die Reduzierung
von Doppelkonsonanten, z.B. lat. COMMUNEM > it.
comune.
Diphthongierung (it. dittongamento): die
Aufspaltung eines Einzelvokals in zwei Vokale, z.B. in
lat. PEDEM > it. piede oder lat. FOCUM > it. fuoco.
51
PHONETISCHER WANDEL

Die Veränderung von Segmenten



Desonorisierung (it. dezonorizzazione): die
Umwandlung eines stimmhaften Lautes in einen
stimmlosen, z.B. im Lomb. bei der Auslautverhärtung:
lat. NOVUM > *nov > mail. noeuf.
Dissimilierung (it. dissimilazione): die Differenzierung
identischer oder ähnlicher Laute, z.B. lat. VENENUM
> it. veleno, di raro > di rado
Geminierung (it. geminazione): die Bildung von
Doppelkonsonanten aus Einzelkonsonanten, z.B. lat.
FEMINAM > it. femmina.
52
PHONETISCHER WANDEL

Die Veränderung von Segmenten


Monophthongierung (it. monottongamento): die
Reduzierung von Diphthongen ([au] > []), z.B. lat.
AURU(M) > it. oro.
Nasalierung (it. nasalizzazione): die Bildung von
nasalen Lauten aus nichtnasalen ([l] > [n]), z.B. lat.
MULGERE > it. mungere.
53
PHONETISCHER WANDEL

Die Veränderung von Segmenten



Palatalisierung (it. palatlizzazione): die Entstehung
von palatalen Lauten aus nichtpalatalen, z.B. lat.
['kentum] > it. ['tento]; lat. ['gentem] > it. ['dente].
Sonorisierung (it. sonorizzazione): die Umwandlung
von stimmlosen Lauten in stimmhafte, z.B. lat.
PACARE > it. pagare, lat. ACUM > it. ago.
Spirantisierung (it. spirantizzazione): die
Umwandlung von Verschlusslauten in Reibelaute ([b]
> [v]), z.B. lat. HABERE > it. avere.
54
PHONETISCHER WANDEL

Die Veränderung von Segmenten


Triphthongierung: die Entstehung von drei
vokalischen Elementen aus einem Vokal ([o] > [wi]),
z.B. lat. BOVES > it. buoi.
Velarisierung (it. velarizzazione): die Erzeugung von
velaren Konsonanten oder Vokalen aus nicht velaren
([e] > [o]), z.B: lat. DEBERE > it. dovere.
55
PHONETISCHER WANDEL

Die Tilgung von Segmenten



Aphärese (it. aferesi): die Tilgung eines Lautes oder
einer Lautgruppe am Wortanfang, z.B. lat. ECCLESIAM
> it. chiesa.
Apokope (it. apocope): die Tilgung eines Lautes am
Wortende, z.B. lat. FELICITATEM > alttosk. felicitade >
it. felicità.
Synkope (it. sincope): die Ausfall von Lauten im
Wortinneren, z.B. lat. FRIGIDU(M) > *FRIGDU.
56
PHONETISCHER WANDEL

Die Hinzufügung von Segmenten
Anaptyxe (it. anaptissi oder epentesi vocalica): der
Einschub eines Vokals in eine Konsonantengruppe
(z.B. frz. flèche > siz. filiccia).
 Epenthese (it. epentesi): der Einschub eines
Konsonanten zwischen zwei Vokale, z.B. RUINAM > it.
rovina.
 Epithese (it. epitesi): die Anhängung eines Vokals an
das Wortende, z.B. lat. SUM > it. sono.
 Pro(s)these (it. prostesi): die Voranstellung eines
etymologisch nicht begründbaren Vokals, z.B. per
scherzo > tosk. per ischerzo.

57
PHONETISCHER WANDEL

Die Umstellung von Segmenten

Metathese (it. metatesi): die Lautumstellung ([-er] >
[-re]), z.B. lat. SEMPER > it. sempre; lat. CASTRATUM
> siz. crastatu.
58
ALTITALIENISCHE TEXTKORPORA IM INTERNET
TLIO
59
DAS CORPUS TESTUALE DEL TESORO DELLA LINGUA
ITALIANA DELLE ORIGINI (TLIO)


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Das Textkorpus Tesoro della Lingua Italiana delle Origini ist die
größte Datenbank ihrer Art, in der der altitalienische
Wortschatz vor 1375 erfasst ist.
Sie enthält insgesamt 1960 Texte mit 21.779.245 Wörtern
(Okkorrenzen) und ist in dem lokalen System GATTO
implementiert, in dem die Lemmatisierung erfolgt.
Das lemmatisierte Korpus kann seit 2005 im Internet über
GattoWeb abgerufen werden.
Eine nichtlemmatisierte Fasung desselben Korpus kann seit
1998 im Internet über ItalNet abgerufen werden. Dieses Jahr
istfür das auf der literarischen Produktion basierende Modell
von großer Bedeutung, da mit Boccaccio der wichtigste
Prosaautor gestorben war.
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DAS CORPUS TESTUALE DEL TESORO DELLA LINGUA
ITALIANA DELLE ORIGINI (TLIO)
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KURZBIBLIOGRAPHIE
Castellani, Arrigo: I più antichi testi italiani. Edizione e
commento. Bologna 21976.
 Castellani, Arrigo: Nuovi testi fiorentini del Dugento. 2
Bde. Firenze 1982.
 D’Achille, Paolo: Breve grammatica storica dell'italiano.
Roma 2001.
 Michel, Andreas: Einführung in das Altitalienische.
Tübingen 1997.
 Serianni, Luca: Lezioni di grammatica storica italiana.
Roma 21998.
 Wiese, Berthold: Altitalienisches Elementarbuch.
Heidelberg 21928.
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