Die Tierrechtsbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jhdts.

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Die Tierrechtsbewegung und die
vegetarische Bewegung in der
ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts
Vortrag auf der Sylvestertagung
des Vegetarierbundes
Loccum 31.12.2011
Positionen zu Tierrechten
• Kontra: Tiere haben keine Rechte, da sie
keinen Gesellschaftsvertrag mit Menschen
schließen können
• Pro: Tiere haben das (natürliche/göttliche)
Recht, nicht gequält zu werden (18. Jhdt.
ff, z.B. Hommel 1722-1781) „Tierschutz“
• Tiere sind Rechtssubjekte/Personen, da
sie Interessen haben (Nelson 1882 - 1927,
Schwantje 1877-1959) „Tierrechte“
Begriff der sozialen Bewegung
… „ein mobilisierender kollektiver Akteur,
der mit einer gewissen Kontinuität auf der
Grundlage hoher symbolischer Integration
und geringer Rollenspezifikation mittels
variabler Organisations- und Aktionsformen das Ziel verfolgt, grundlegenden
sozialen Wandel herbeizuführen, zu
verhindern oder rückgängig zu machen.“
(Raschke 1985: 77)
Argumente für Bewegungsbegriff
• Kollektiver Akteur: Organisationen + Individuen
• Mobilisierung erkennbar
• Kontinuität (1867 ff, 1907-1934, 1916-1945) –
zunehmende Aktualität
• Hohe symbolische Integration: kein Fleisch/ keine
tierlichen Produkte (+ Alkohol, Tabak)
• Geringe Rollenspezifikation (Alltagshandeln),
Vernetzung, Internationalität
• Variable Organisations- und Aktionsformen
• Ziel: Grundlegender Sozialer Wandel
• Selbstbeschreibung Schwantje: („Tierschutzbewegung“ )
Tierrechts“bewegung“ (?)
Gegenargumente
• Zu geringe Zahl von Akteuren (Roscher)
• Vgl. aber „Reformhausbewegung“ (Fritzen),
Gandhibewegung (Linse)
• Zu geringe Mobilisierung, allg. Unverständnis
• Unterbrechung der Wirkung durch historische
Ereignisse/ soziale Entwicklung
• Grundlegender Sozialer Wandel nicht erreicht,
Lage der Tiere qualitativ + quantitativ
verschlechtert
Soziale Bewegungen brauchen
Organisationen:
• Bund für radikale Ethik (BfrE 1907-1934)
– Magnus Schwantje (1877-1959),
„Ehrfurcht vor dem Leben“ (1908/9)
• Internationaler Sozialistischer
Kampfbund (IJB/ISK) 1917-1945
– Leonard Nelson (1882-1927)
• Vegetarische Vereine: 1867/1868/1892 ff
Bund für radikale Ethik
• 15.3.1907 „Gesellschaft zur Förderung
des Tierschutzes und verwandter
Bestrebungen“, Vorbild „Humanitarian
League“, cc. 500 Mitglieder, Zs. „Ethische
Rundschau“, Broschüren, Vorträge
• 1.1.1919-20.2.1934 „Bund für radikale
Ethik, cc. 800 Mitglieder, „Mitteilungen“
„Verwandte Bestrebungen“ (1909)
• - sociale und strafrechtliche Reformen,
insbesondere gegen die Todesstrafe
• - Bekämpfung des Alkoholismus
• - Erhaltung des Friedens, Antimilitarismus
• - Erweiterung der Frauenrechte
• - Kinderschutz und Erziehungsreform, • - Reform der Lebens- und Heilweise
Radikale Ethik und Radikaler
Tierschutz
• Radikale Ethik geht an die Wurzel
gesellschaftlicher Übel
• Zusammenhang der Gewalt gegen
Menschen mit der Gewalt gegen Tiere
• „Radikaler Tierschutz“ = (Tierrechte) =
zentral für „radikale Ethik“
• Vegetarismus = zentral für „radikalen
Tierschutz“+ Antivivisektion +Antijagd
Tierrechte/Antispeziesismus
„Die Ansicht, daß eine Handlung, die
einem Wesen schadet, das einer anderen
Gattung als der des Handelnden angehört,
nach andern Grundsätzen beurteilt
werden müsse als eine, die einem
Angehörigen der Gattung des Handelnden
schadet, ist ganz unbegründet.“
(Schwantje 1950a: 31f).
Argumente gegen Fleischessen
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Tierethik (Leiden)
Psychologie/ Sozialpsychologie: Gewöhnung an
- Grausamkeit, verminderte Empathiefähigkeit
- Egoismus: Fremdschädigung für minimalen Eigennutzen
- gewaltsame Konfliktlösungen = kriegerische Politik
Ökonomie/ Politik: Fleischproduktion verursacht
- Ressourcen-/Raumverschwendung, kriegerische
Politik
- Landflucht, Lohndrückerei = soziale Ungleichheit
- Überflüssige gesellschaftliche Arbeit (statt Kultur)
- Ungerechtigkeit der Verachtung des Schlächters,
Schlachterlehre = Kindesmisshandlung
• Ästhetische Argumente
• Gesundheitliche Argumente
Leonard Nelson
• Begründung, dass „alle Wesen, die Interessen haben“,
Subjekte von Rechten sind. Subjekte von Pflichten sind
alle, „die darüber hinaus der Einsicht in die Anforderung
der Pflicht fähig sind.“
• Das heißt, dass entweder Menschen und Tiere Rechte
haben oder dass sie gleich rechtlos sind. Daher
•
„folgt das Verbot der Tierquälerei unmittelbar aus dem
Sittengesetz. Wer nämlich das Quälen eines Tieres für
möglich hält, setzt voraus, daß die Tiere Interessen
haben. Er braucht sich daher nach dem Sittengesetz nur
die Frage vorzulegen, wie er selbst in einer der Lage des
Tieres analogen Situation behandelt zu werden
wünschen würde.“
IJB – ISK
• „Wer die Forderung der ausbeutungsfreien
Gesellschaft ehrlich zu Ende denkt, der wird
Vegetarier“ (Willi Eichler)
• Vegetarismus im ISK verbindlich
• Tabak- und Alkoholmeidung aus Gesundheitsgründen (Arbeitsfähigkeit, Disziplin)
• Ausschluss aus KPD und SPD („Sektierertum“),
Mitglieder cc. 600, Sympathisanten bis 1000,
• effektivste Widerstandsarbeit gegen NS, nach
1945 SPD, Vegetarismus meist privat gelebt
Vegetarische Organisationen
• Deutscher Vegetarierbund (DVB) *1892-1935,
1904 1500 Mitgl., Zs. „Vegetarische Warte“
• Vegetarischer Frauenverein * 1910 – 1935
Dresden, (Martha Förster)
• Deutsche Vegetarische Gesellschaft (Georg Förster),
Dresden (1913 – 1935)
• Deutscher Vegetarierverband (Förster, 1923-1935)
• Verband deutscher Vegetariervereine (Bartes, Eden)
• Eden, Freusburg-Arbeitsgemeinschaft, ab 1931
Neuleben (Forschepiepe), VGS (Stuttgart), u.a.m.
Berlin um 1900-1914
• Vegetarische Gesellschaft Berlin
• Vegetarier-Vereinigung Centrale, mit
Mitteilungsblatt am 1.,10., 20. jed. Monats
• Rednerschule „Zukunft“
• Gesangsverein „Thalysia“
• Sportverein „Vegetus“
• 19 Vegetarische Speisehäuser
• Vegetarier Familienheim Schlachtensee
• Eden- Genossenschaft
Deutschland 1927/28
• Cc. 120 veg. Speisehäuser
• Cc. 100 mehr oder weniger veg.
Erholungsheime
• Cc . 630 Reformhäuser
• DVB – sinkende Mitgliederzahl (unter 600)
• DVG – 125 Mitglieder
• VFV – 248/273 Mitglieder
• VDV – Verband dt. Veg.vereine 650 Mitgl. in 10
Einzelvereinen
• Zentrale Idee: Siedeln
Spezialorganisationen um 1914
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Hilfsfond für Not leidende Vegetarier
Altenheimfond
Kinderheimfond „Wohlfahrt“
Vegetarisches Kinderheim in Breslau – Stiftung Prof.
Julius Baron
Verband vegetarischer Erholungsheime
Verband vegetarischer Gaststätten
Vegetarische Siedlergemeinschaft
Vegetarische Siedlungen Eden + Heimgarten
Baltzerstiftung
Später: Opferwochen für Werbung
Aktivitäten, Werbung
• 1929 7 veg. Zeitschriften: u.a. Vegetarische Warte,
Vegetarische Frauenzeitung, Vegetarische Presse,
Lebenskunst, Die erste Sprosse, V-Nadel
• Vorträge, Wanderredner, Leihbibliothek
• Ausstellungen (Malerei, Literatur),
• Kochvorführungen, -kurse, -schulen, Verkostungen,
„Rohkostsalons“
• Gaststätten, Pensionen, Pensionate,
• Sportereignisse, Präsentation von Kindern
• Regelmäßige Wanderungen, Versammlungen, Feiern,,
Stellenvermittlung durch VFV
Gesundheits- oder ethische
Motive? DVB + DVG
• 1892-1904, Ernst Hering, Lehrer, Erfüllung der
„natürlichen Lebensbedingungen“, Tierschutz,
„Schlachtgräuel“, Gesundheit
• 1905-1915, Dr. med. Gustav Selss Gesundheit,
Natur, Lebensreform, 1914 !, Nationalökonomie
• 1915-1930 Dr. Gustav Schläger, StR
• 1931-1935 Bruno Wolff, StR, Ethik, Tierrechte
• Georg + Martha Förster (DVG, VP) Tendenz zu
Tierrechten (VP: Struve: „reine Pflanzenkost“)
„Hochvegetarismus“ DVB (WR)
„Ethik der unbedingten Ehrfurcht vor dem Leben“
Ethische Frage ist allein wirklich wesentlich (VW
5,1931)
DVB verficht „reinen ethischen Vegetarismus“
„Gar nichts mehr vom Tier“ statt „vom toten Tier“
(= Parole der Zukunft)
DVB = einziger wirklicher Tierschutzbund in
Deutschland, einziger „ethischer Bund“, Versagen
des Tierschutzes (Konkurrenz mit BfrE)
Hochvegetarismus = Veganismus
• Milch „bedingt Tiermord“ - Alkohol „kleineres
Übel“
• Kleidung aus Pflanzenstoffen (Bezug: Baltzer)
• Lederersatz (VW 1897 – engl. Schuhe,
Sattlermeister Paech Kongress Eden 1932)
• Ablehnung der Jagd (vgl. Walter Hammer1914)
• Ablehnung von Zoo + Zirkus
• Ablehnung von Tierversuchen + Impfung
Möglicherweise günstiges Umfeld
Lebensreformbewegung
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Antivivisektion
Tierschutz
Naturheilkunde
Impfgegnerschaft
Naturschutz
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Jugendbewegung
Friedensbewegung
Frauenbewegung
Anarchistischlibertäre Bewegung
• Ethische Bewegung
• Neubuddhismus
• Neuhinduismus
Gandhibewegung
• Theosophie
„Gleichschaltung“ Deutsche
Gesellschaft für Lebensreform
(1934 München)
• Leiter PG. Müller, Zs. Leib + Leben
• Anfang 1935 Eintritt VdV (Eden, Bartes)
Neuleben (Forschepiepe) +DVV (Förster)
• Planung der DGLf für „Baltzer-Bund“
• „Erhebliche finanzielle Forderungen
• DVB + DVG + VFV + VdV z.1.1.1936 aufgelöst
Auflösung
• These (Fritzen): Vegetariervereine machten sich
selbst überflüssig, Gesundheit neuer Wert der
Weimarer Republik
• VW + DVB „zunehmend esoterisch, „verkappte
Religion“
• 1933 positive Erwartungen („Wendezeit“)
• Kritik ausländischer Vegetarierverbände an dts.
Politik
• Behinderungen ausl. Kontakte (Internat. Veg.
Kongress in Dänemark August 1935), antiveget.
Polemik
Was bleibt
• Vegetarische Verbände ab 1.1.1936, BfrE seit
20.2.1934 aufgelöst, ISK illegal
• Arbeitskreis für Vegetarierfragen in der DGfLref.
Vegetarismus als „Weltanschauung“ wg. Pazifismus abgelehnt, als reine Ernährungsform
begrenzt akzeptiert
• Neuleben (Forschepiepe) verbleibt in DGfLref.
• VP erscheint bis 1941
Nach 1945
• Rückkehr zur Formel „Nichts vom toten
Tier“
• Seit 1990-er Jahre zunehmende vegane +
Tierrechtsorientierung
• Korrektur der These von der Distanz von
Tierschutz-, Tierrechts- und vegetarischer
Bewegung (historisch)
Vergleich früher - heute
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Größe/ Bevölkerungsanteil? schon weiter?
Berlin 1900: cc. 19 veg. Speisehäuser
Erholungsheime, Stiftungen,
Werbemaßnahmen: theoretisch/praktisch
Medien: Zeitschriften/ Internet/ Film
Öffentliche Präsens (Medien, Sport, Politik)
Professionalisierung % Ehrenamt
Motivation (Gesundheit % Tierrechte)
Verfügbarkeit veg. Nahrungsmittel/ Recht auf
veg. Ernährung (vegane Mensa)
Danke
für Ihre Aufmerksamkeit !
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