Reiter-Theil - Evangelische Akademie Tutzing

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Lebend-Nierenspende
Erfahrungen aus der Begutachtung
und ethische Reflexionen
Prof. Dr. Stella Reiter-Theil
ANNE FRANK-Professorin und Vorsteherin
Institut für Angewandte Ethik und Medizinethik (IAEME)
Medizinische Fakultät der Universität Basel
Website: www.unibas.ch/aeme
Prof. Dr. Stella Reiter-Theil
Copyright Foto © Marc Tschudin, 2003
Gliederung
1. Begriffliche Unterscheidungen
2. Vier Beispiele zunehmender
Komplexität
3. Beurteilung: Verfahren, Kriterien
4. Offene Fragen und Probleme bei der
Beurteilung der Freiwilligkeit
Prof. Dr. Stella Reiter-Theil
1. Begriffliche Unterscheidungen
Freiwilligkeit (Fw) bei Lebend-Nierenspende (LNS)
1. Unterscheidung
– Fw als Eigenschaft der Person?
– Fw als Eigenschaft der Entscheidung zur LNS?
2. Unterscheidung
– Behauptung von Freiwilligkeit
– Feststellung der Nicht-Erkennbarkeit von
Anzeichen des Gegenteils (Zwang,
Manipulation, Überredung)
Anerkennung der Irrtumsmöglichkeit
Prof. Dr. Stella Reiter-Theil
Beispiel 1: freiwillig = angstfrei?
•
•
Die etwa 40-jährige Ehefrau eines etwa gleichaltrigen
Patienten ist bereit, ihrem Mann eine Niere zu spenden. Der
Gesundheitszustand des Mannes ist bereits kritisch. Das Paar
ist kinderlos.
Aus medizinischer Sicht gibt es auf beiden Seiten keine
Gründe, die gegen eine Lebendspende zwischen beiden
sprechen. Allerdings gibt es bei der Frau ein psychologisches
Problem, welches das Kriterium der Freiwilligkeit tangiert:
•
•
Beim ersten Versuch hat sie die notwendige angiographische
Untersuchung vor Angst nicht ausgehalten und abgebrochen.
Die Chirurgen sind unsicher, ob man ihre Entscheidung als
freiwillig betrachten und ein neuen Versuch starten kann. Sie
bitten um eine Begutachtung.
Prof. Dr. Stella Reiter-Theil
Beispiel 2: zwei ungleiche Brüder
•
•
Ein Brüderpaar, Anfang 30, hat Probleme mit der Entscheidung zur
Lebend-Nierenspende.
Es gibt zwar keine medizinischen Einwände. Jedoch ergeben sich
Probleme in der psychologischen Dimension. Diese sind, wie sich nach
gemeinsamen und Einzelgesprächen mit beiden Brüdern herausstellt,
darauf zurückzuführen, dass die Brüder unterschiedliche Vorstellungen
davon haben, wie ein Problem gelöst werden soll:
•
•
Der eine will es durch gemeinsames Gespräch, der andere eher für sich
allein, durch Rückzug lösen. Der Spendewillige, der die Kommunikation
sucht, will seinem Bruder Fragen stellen wie "Willst du die Niere auch
wirklich?”
Der andere will nicht darüber reden und hat Angst, dass sein Bruder sich
durch ihn zur Spende genötigt fühlen könnte; eine solche Verantwortung
möchte er nicht auf sich laden.
Prof. Dr. Stella Reiter-Theil
Beispiel 3: Reziprozität als Problem?
• Die ca. 40-jährige Ehefrau eines etwa gleichaltrigen Patienten
hat sich entschlossen, ihrem Mann eine Niere zu spenden. Der
Mann ist zurzeit noch in recht gutem Allgemeinzustand; das Paar
hat zwei Kinder.
• Medizinisch spricht nichts dagegen.
• Im Einzelgespräch mit dem Mann wird die Frage gestellt, wie er
die Bereitschaft seiner Frau einschätzt. Seine Antwort lautet, er
finde dies „normal“. Nachgefragt, ob er im umgekehrten Fall
auch bereit wäre, ihr eine Niere zu spenden, entgegnet er: „Die
Frage stellt sich mir nicht“ und ist nicht bereit, auf diesen
Perspektivenwechsel einzugehen.
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Beispiel 4: Über‘s Kreuz - Spende im Viereck?
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Frau A. ist auf Grund der medizinischen Vorgeschichte dringend auf eine
Spenderniere angewiesen. Sie selbst kann sich anscheinend erst seit der in
letzter Zeit erfolgten medizinischen Verschlechterung ihres Zustands mit der
Möglichkeit einer Lebendspende anfreunden.
Aus medizinischen Gründen sind als Spender einer Niere bereits
ausgeschieden: der Ehemann, Herr A., die 25-jährige Tochter der Patientin
(Stieftochter des Herrn A.), die mit der Patientin gut befreundete Frau B.
Alle drei hatten Schritte zur Vorbereitung einer Nierenspende ohne Wissen und
Zustimmung der Patientin unternommen.
Ohne Wissen der Patientin hatte sich inzwischen Herr B. medizinischen
Untersuchungen unterzogen, um die Frage zu klären, ob er als Spender einer
Niere geeignet sei.
Offenbar wäre ein Spenderorgan des Herrn B. nicht nur medizinisch kompatibel;
es sei ihm auch eine „unverschämte Gesundheit“ bestätigt worden, so dass der
Spende einer Niere von dieser Seite nichts im Wege stünde.
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3. Beurteilung: Verfahren, Kriterien 1
Gesetz über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen
5. November 1997
•
Das Gesetz sieht vor, dass vor einer Lebend-Nierenspende eine in
Medizin, Recht und Psychologie kompetente Kommission tätig wird,
die mehrere Kriterien begutachten bzw. prüfen soll:
• die Freiwilligkeit des Spenders
• das Fehlen kommerzieller Interessen (also keine Absichten,
damit Geld zu verdienen oder andere wirtschaftliche Vorteile
zu erlangen)
• die Beziehung zwischen dem potenziellen Spender und
Empfänger
•
Lebend-Nierenspende nur bei
• Verwandten ersten und zweiten Grades
• Ehepartnern, Verlobten und
• anderen, dem Spender in besonderer Verbundenheit
offenkundig nahestehenden Personen
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3. Beurteilung: Verfahren, Kriterien 2
Internationaler Vergleich
•
deutsche Situation einer kriterienorientierten Evaluation ist restriktiver
als die Praxis in anglo-amerikanischen Ländern
Aufgaben der kommenden Jahre
•
Erfahrungen mit der Evaluation sammeln
•
sorgfältige katamnestische Studien
•
Kriterien und deren Umsetzung im Lichte empirischer Daten prüfen
Bedeutung der Ethik
•
Die Evaluation der Kriterien erfordert ethische Kompetenz; Prinzipien
der Selbstbestimmung und Güterabwägungen zum Wohl der
Betroffenen müssen reflektiert und begleitet werden
•
Achtung: Auswirkungen der – internationalen – Ressourcenknappheit
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3. Beurteilung: Verfahren, Kriterien 3
Pilotphase 1998, Freiburg
• 6 Fälle (von den Chirurgen als fraglich / problematisch eingeschätzt),
werden erstmals einer zusätzlichen externen Begutachtung zugeführt.
Evaluationsphase 1999 ff
• Im Anschluss an diese Pilotphase wurde das Freiburger Vorgehen bei
der Evaluation optimiert, routinisiert und diskutiert.
Routinisierung
• gemeinsame Einführung
• Gespräche werden einzeln und gemeinsam (teils zusätzlich mit
Ehepartnern o.a. Angehörigen) geführt; mindestens einmal 45 Minuten
für jeden potenziellen Spender oder Empfänger
• Abschlussbesprechung, in der den Betroffenen mündlich eine vorläufige
Stellungnahme mitgeteilt wird (ausführliches Gutachten an die Klinik)
• Unterschied (Freiburg) in der Pilotphase bis Ende 1999 gegenüber
anderen Zentren: Kombination psychologischer / psychotherapeutischer
und medizinethischer Kompetenz in der Evaluation
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3. Beurteilung: Verfahren, Kriterien 4
Formalisierung
• Ab 2001 kommt es zu einer Formalisierung (TPG,
Verordnung) des Begutachtungsprozesses.
• Die Ärztekammer Baden-Württemberg richtet eine
Kommission ein. Die Autorin / Gutachterin wird deren
Mitglied.
• Einwände gegen das "Vorstellen" (oder Vorführen) der
betreffenden Antragsteller, die zu Lebend-Nierenspende
bereit sind, werden nicht berücksichtigt.
• Die ersten Verfahren vor der Kommission ersetzen
teilweise die Face-to-face Begutachtung.
• Die ersten Durchgänge werden kritisch diskutiert.
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3. Beurteilung: Verfahren, Kriterien 5
Veränderungen
• Die Autorin kündigt wegen Annahme eines Rufes nach außerhalb ihren
Austritt aus der Kommission und ihren Weggang von Freiburg an.
• Die Face-to-face-Begutachtung wird weiterhin als notwendig erachtet.
Die Psychiatrie bewirbt sich um diese Nachfolge.
• Man folgt der Argumentation, dass hier nicht primär die Kompetenz der
Diagnostik psychiatrischer Störungen oder Krankheitsbilder gefordert
ist, sondern dass es eher um "allgemein-psychologische und ethische
Kompetenzen" gehen soll.
• Zielsetzung ist, die Invasivität der Befragung vor der Kommission zu
reduzieren, die persönlichen und intimen Fragen in der Face-to-faceBefragung zu untersuchen und der Kommission zur Vorbereitung eine
ausführliche Aktendarstellung vorzulegen, der sie sich anschließen
kann.
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4. Offene Fragen und Probleme bei
der Beurteilung der Freiwilligkeit
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Waren die Entscheidungen richtig?
Wie lassen sich Entscheidungen optimieren?
Sind die Kriterien des TPG angemessen?
Welches Verfahren wird der Problematik gerecht?
Welche Disziplinen brauchen wir zur Beurteilung?
Was wollen wir erreichen?
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Diskussion
• Ihre Einschätzung der Fälle ?
• Ihre Gründe und Motive ?
Prof. Dr. Stella Reiter-Theil
Relevante Publikationen aus der Arbeitsgruppe
Lebend-Nierenspende
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Reiter-Theil S (1999) Altruismus mit ethischen Komplikationen? Erfahrungen
aus der Begutachtung vor Lebendnierenspende. Zeitschrift für Medizinische
Ethik 45, 2: 139-148
Reiter-Theil S (1999) Anwendung ethischer Prinzipien bei der Begutachtung
am Beispiel der Lebendspende. In: Dierks C, Neuhaus P, Wienke A (Hrsg)
Die Allokation von Spenderorganen. Rechtliche Aspekte. Schriftenreihe
Medizinrecht, Springer, Heidelberg, S. 23-34
Reiter-Theil S (1999) Ethische Aspekte der Lebendnierenspende.
Entscheidungskriterien, kasuistische Beispiele und Thesen zur Orientierung.
In: Kirste G (Hrsg) Nieren-Lebendspende. Symposium Hinterzarten. Pabst,
Berlin, S. 10-21
Reiter-Theil S (2000) Entscheidungskriterien und Begründungen bei der
Lebendnierenspende - ethische und psychologische Aspekte. Ärzteblatt
Thüringen 11, 4: 198-201
Wünsch A, Blümke M, Kirste G, Reiter-Theil S (2001) Auswirkungen einer
Lebendnierenspende (LNS) auf Spender und Empfänger: Eine retrospektive
Katamnese. Poster Session, 10. Jahrestagung der Dt. TransplantationsGesellschaft, Heidelberg, 22.-24. November 2001
Prof. Dr. Stella Reiter-Theil
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Klinische Ethik allgemein
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Reiter-Theil S (2004) Does Empirical Research make Bioethics more
Relevant? “The Embedded Researcher” as a Methodological
Approach. Medicine, Health Care and Philosophy. A European
Journal 7: 17-29
Reiter-Theil S (2003) Ethics of End-of-life Decisions in the Elderly.
Deliberations from the ECOPE Study. Ballière’s Best Practice &
Research Clinical Anaesthesiology, 17, 2: 273-287
Reiter-Theil S (2003) Balancing the perspectives. The patient’s role in
clinical ethics consultation. Medicine, Health Care and Philosophy. A
European Journal, 6 : 247-254
Reiter-Theil S (2001) Ethics consultation in Germany. The present
situation. Health Ethics Committee Forum 13 (3): 265-280
Reiter-Theil S (2000) Ethics consultation on demand. Concepts,
practical experiences and a case study. Journal of Medical Ethics 26:
198-203
Prof. Dr. Stella Reiter-Theil
2. International Conference: Clinical Ethics Consultation
March 17 – 20, 2005, Basel, Switzerland, University of Basel
Institute for Applied Ethics and Medical Ethics (IAEME), University of Basel, Medical Faculty
Department of Bioethics, Cleveland Clinic Foundation, Ohio, USA
Swiss Academy for Medical Sciences (SAMW)
Topics
Clinical Ethics Consultation (CEC)
Clinical Ethics Consultation in Patient Care; Recent Experiences with Developing Services;
CEC in Various Clinical Fields; Case Reports; Methods of CEC; Research on CEC;
CEC with Patients / Families
Ethics Policies
Working with / Making Clinical Ethics Policies; Research on Policies - Empirical, Conceptual
Ethics Committees
Contributions of Hospital / Clinical Ethics Committees to Patient Care; Challenges including
Resource Utilization Issues ; Research on Committees - Empirical, Conceptual;
Organizational Ethics
Qualification
Education Requirements for Entry into Consultant Role; Continuing Education Programs and
Needs; Professional Roles; Quality Assurance and Improvement of Service
Further information available in August 2004 on the website
 of the Institute for Applied Ethics and Medical Ethics: www.unibas.ch/aeme
Please submit your abstract via e-mail to: [email protected]
Due date: September 30, 2004 more info: www.iaeme.ch
Vielen Dank für
Ihre Aufmerksamkeit
Prof. Dr. Stella Reiter-Theil
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